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Bücher mit Farbschnitt

Bücher mit farbigem Buchschnitt

Limitierte und exklusive Schmuckausgaben

Ein wahrer Blickfang fürs Bücherregal - das sind unsere Bücher mit farbigem Buchschnitt. Unser Grafik-Team steckt viel Herzblut und Kreativität in die Gestaltung jedes Romans - so wird jedes Piper- und everlove-Buch zu einem ganz besonderen Sammlerstück.

Die Sonderausgabe sind üblicherweise auf die 1. Auflage limitiert. Falls die Farbschnitt-Ausgabe bei uns bereits ausverkauft ist, lassen sich einzelne Exemplare noch im stationären Buchhandel finden. Schnell sein lohnt sich also!

Die neue sommerlich prickelnden RomCom von Christina Lauren

Blick ins Buch
The Paradise Problem – Wenn das Herz den perfekten Plan durchkreuztThe Paradise Problem – Wenn das Herz den perfekten Plan durchkreuzt

Roman

Verheiratet im Paradies: Fake it till you make it!

Anna hat nicht damit gerechnet, West jemals wiederzusehen. Die selbstbewusste Künstlerin und der zurückhaltende junge Standford-Professor haben sich seit dem College nicht mehr gesehen. Aber jetzt braucht er Annas Hilfe: Um an sein beachtliches Erbe zu kommen, muss er seiner verhassten Familie vorspielen, dass Anna und er glücklich verheiratet sind – auf der luxuriösen Traumhochzeit seiner Schwester. Wenn alles klappt, bekommt sie auch einen Teil des Erbes. Da Anna ihm helfen möchte und das Geld momentan mehr als nötig hat, lässt sie sich darauf ein. Doch als sie auf der paradiesischen Insel ankommen, entwickelt sich ihre rein platonische Freundschaft schnell in eine emotional komplizierte Richtung. Als Wests Familie dann auch noch Verdacht schöpft und die beiden auf die ein oder andere Probe stellt, ist das Gefühlschaos perfekt … 

Nach dem SPIEGEL-Bestseller „The Unhoneymooners“ ist das internationale Erfolgsautorenduo Christina Lauren endlich mit einer neuen sommerlich prickelnden RomCom zurück!

„Christina Lauren in absoluter Höchstform! Das Knistern, das Setting, der Humor! Man verliebt sich Hals über Kopf! Ein weiteres Meisterwerk der unangefochtenen Königinnen der Romance.“ – Ali Hazelwood, New-York-Times-Bestsellerautorin

Prolog

Anna

Der Tag, an dem mein Mann aus unserer Wohnung auszieht, ist gleichzeitig der Tag, an dem Resident Evil Village für die PlayStation rauskommt. Es überrascht euch vielleicht, welches dieser Ereignisse einen größeren emotionalen Einfluss auf mich hat.

Aber da ich ja auch kein Monster bin und wir in dieser Wohnung tatsächlich zwei schöne Jahre miteinander verbracht haben, tue ich das, was jede Frau, der bei einer Scheidung die Couch und der Fernseher überlassen wurden, tun würde: Ich beobachte mit einem ermutigenden Lächeln, wie West und seine zwei muskelbepackten und frisch gebackenen Doktoranden-Freunde Karton um Karton, Stuhl um Stuhl, Koffer um Koffer und die restlichen neunzig Prozent der Möbel und der Deko zu dem Umzugslaster tragen, der draußen auf dem Gehsteig parkt. Kaum noch irgendwelche Gegenstände sind mir geblieben, die ich mein Eigen nennen darf – die letzten Jahre habe ich Wests Sachen benutzt –, was ein bisschen traurig ist, aber dieser Moment war unausweichlich.

Etwas Trost finde ich allerdings in dem Wissen, dass es in zwei Wochen, wenn ich meine Sachen zusammenpacke, wesentlich leichter wird.

Draußen kommt West gerade hinten aus dem Laster, springt graziös auf die Straße und betrachtet sein mit Sicherheit ausgezeichnet organisiertes Pack-Meisterwerk. Ihr hättet unsere Vorratskammer sehen sollen: wahrhaftig das Werk eines Ordnungsgenies.

Mein penibler Ex ist achtundzwanzig, redet nicht viel und ist einer dieser unglaublich fähigen Männer, die es schaffen, so etwas wie die Steuererklärung zu machen oder Löcher in Gipswänden zu stopfen, einfach aussehen zu lassen. Ich gebe zu, abgesehen von dieser überaus sexy fähigen Ausstrahlung, ist West auch ein Fuchs. Er verkörpert die perfekte Kombination aus Größe und Muskeln, obwohl ich keine Ahnung habe, wie groß er ist.

Ist es nicht seltsam, dass ich ihn das nie gefragt habe? Mir ist bewusst, dass die meisten großen Frauen ganz besessen davon sind, wie groß andere Menschen sind, aber mir war das immer egal. Ich habe viele Männer kennengelernt – Männer, die größer als ich waren, Männer, die kleiner waren, Männer, die genau gleich groß waren wie ich. Ich weiß nur, dass meine Augen auf Höhe von Wests Kinn sind. Bei unserer Hochzeit musste er sich bücken, um mich zu küssen.

Ich habe schon ewig nicht mehr an diesen Tag gedacht, aber wahrscheinlich macht es Sinn, dass ich jetzt daran denke. Es kommt mir vor, als wäre dieser Kuss schon ein ganzes Leben her. Nach zwei Jahren dieses Abenteuers bin ich mit der Couch, die er mir hinterlässt, vertrauter als mit ihm.

Als ich jetzt so auf dem Gehweg stehe, dreht er sich um und schaut mich an. Unsere Blicke treffen sich, und ein seltsames, schwankendes Gefühl breitet sich in meinem Magen aus, geradezu benommen. Es kann kein Unterzucker sein – ich habe eine halbe Tüte Jalapeño-Chips gegessen, während ich ihm beim Packen zugeschaut habe. Und es ist auch nicht die Hitze. Im März trifft das Wetter in L. A. perfekt auf die Definition von gemäßigt zu.

Seltsamerweise denke ich, es liegt an ihm.

Wests Augen haben die Farbe von Sonnenlicht, das durch ein Whiskeyglas strahlt. Seine Haare haben genau die gleiche Farbe, nur mit mehr Sonnenlicht, und sind so dicht, dass sie mich wahrscheinlich für alle anderen Männer ruiniert haben. Ich habe einmal versucht, sie zu malen, und die Farben Transparent Red-Oxide mit Old Holland Yellow-Brown gemischt, aber es war nicht ganz richtig. Und sobald mir klar geworden ist, wie sehr es mich geärgert hat, dass ich seine korrekte Haarfarbe nicht auf die Leinwand bringen konnte, habe ich mich gefragt, warum ich davon überhaupt so besessen geworden war.

Mit diesem immer noch intensiven Augenkontakt geht West auf mich zu und bleibt nur wenige Zentimeter vor mir stehen. Für einen seltsamen, aufgeheizten Moment frage ich mich, ob er mich tatsächlich küssen wird.

„Ich glaube, ich bin hier fertig“, sagt er, und – ich muss mir ein Lachen verkneifen – natürlich wird er mich nicht küssen. „Aber wenn ich was vergessen habe, dann kann Jake es abholen.“

Jake: jüngerer Bruder von West (fast genauso gut aussehend) und der Typ Collegefreund, der alles über mein Leben an der UCLA weiß, aber noch nie meinen Vater kennengelernt hat, der nur eine Stunde von hier entfernt wohnt. Jake hat mich West vorgestellt, und jetzt wird er die einzig verbleibende Verbindung zu West sein. Der Gedanke macht mich ein bisschen traurig, aber dann rufe ich mir wieder in Erinnerung, dass ich die Couch habe und ein paar T-Virus-Zombies in der Wohnung auf mich warten.

„Okay“, sage ich.

„Du hast Kopien von den Papieren?“, fragt er. „Mein Anwalt hat sich alles angeschaut, und es sollte alles in Ordnung sein. Aber falls doch was ist – seine Telefonnummer steht auch drauf.“ Er hält inne und sucht meinen Blick auf eine Art und Weise, von der ich nicht denke, dass er es je zuvor getan hat – als würde er versuchen, mich zum ersten Mal zu sehen. „Meine Nummer bleibt natürlich dieselbe. Lies dir alles durch und ruf mich an, wenn du Fragen hast.“

„Klar. Danke, dass du dich um alles gekümmert hast.“

Er lächelt, wobei sich sein Gesicht so richtig aufhellt.

Ich frage mich, warum er das nicht öfter tut. Aber vielleicht tut er es ja. Ich sehe ihn schließlich kaum. Er steht vor Sonnenaufgang auf, um laufen zu gehen, und dann verbringt er jede wache Stunde an der Uni oder in der Bibliothek, bevor er gegen Mitternacht ins Fitnessstudio geht.

Ich hingegen lebe im Atelier oder auf seiner – jetzt meiner – Couch.

Ich weiß nicht, was ich sonst noch sagen soll, also versuche ich, das Ganze abzukürzen. „Gratuliere zu deinem Abschluss, West. Du musst richtig glücklich sein.“

Ein Auto fährt vorbei, und ich erhasche ein paar Zeilen eines Popsongs, der letzten Sommer überall gelaufen ist. Jetzt frage ich mich, ob ich dieses Lied je wieder hören kann, ohne an diesen Moment zu denken. Wird es mich nostalgisch machen? Werde ich den Kopf schütteln und über diese impulsive Sache lachen, die ich getan habe?

„Und wie“, sagt er und steckt die Hände in die Taschen seiner Jeans.

Ich habe ihn eigentlich meistens in Basketball-Shorts und Marathon-T-Shirts gesehen, also überrascht mich diese Kombi aus der abgewetzten Levi’s und dem gemütlichen grauen T-Shirt ein bisschen. Ich komme mir fast verraten vor, weil ich das erst jetzt zu Gesicht kriege. Ein winziger Streifen seiner Boxershorts ist zu sehen, und es fällt mir schwer, meine Aufmerksamkeit auf sein Gesicht zu lenken.

„Dir gratuliere ich auch“, fügt er hinzu. „Auf zu neuen, großen Abenteuern.“

„Genau“, sage ich lachend. „Die Welt erwartet atemlos meinen nächsten Schritt.“

Er lacht auch, und der Klang jagt mir einen Schauer über den Rücken.

Dann legt sich unbehagliches Schweigen über uns, aber er schaut mir direkt in die Augen, und ich habe das Gefühl, nicht wegsehen zu können. Dieser Blickkontakt erinnert mich an einen Wettbewerb oder an einen Spionagefilm, in dem jemand auf eine Ziffernfolge starrt, um sich die Zahlen zu merken.

Ich zwinge mich dazu, nicht zuerst wegzusehen.

„Also“, sagt er schließlich. „Das war’s dann wohl.“

„Ich wünsche dir ein schönes Leben.“ Das klingt abgedroschen, aber ich meine es ernst.

„Ich dir auch.“ West schenkt mir wieder dieses Lächeln, und ich wünschte wirklich, ich hätte es öfter gesehen. „Mach’s gut, Anna.“

„Mach’s gut, West.“

Wir schütteln uns die Hände. Er dreht sich um und geht zu seinen Freunden, die sich mit ihm in die Fahrerkabine des Lasters zwängen. Einer von ihnen kurbelt das Fenster runter und winkt mir zu. Ich winke fröhlich zurück, obwohl ich nicht einmal seinen Namen kenne.

Ich spüre, wie sich jemand neben mich stellt, und als ich mich umdrehe, sehe ich unsere Nachbarin Candi in ihrem Bademantel. Sie trägt immer einen Bademantel, und ich habe mich lange gefragt, was sie den ganzen Tag macht. Aber sie backt einen höllisch guten Zitronenkuchen und hat jede Nacht um Mitternacht lauten Sex mit ihrem Ehemann Rob, also steht sie ganz offensichtlich auf der Gewinnerseite des Lebens.

„Zieht ihr aus?“, fragt sie und blickt hinter mich in die fast leere Wohnung.

„Ich ziehe erst in zwei Wochen aus“, erkläre ich ihr. „West ist gerade ausgezogen.“

Ich spüre, wie sie ihre Aufmerksamkeit von der leeren Wohnung auf mein Gesicht richtet, und als ich sie anlächle, schauen mich ihre blauen Augen besorgt an. „Holy Shit, Anna, ich hatte ja keine Ahnung. Geht’s dir gut?“

„Ja“, sage ich und blicke die Straßen hinunter, wo der Umzugslaster um die Kurve fährt und vollends aus meinem Blickfeld verschwindet.

„Okay“, sagt sie mit skeptischer Stimme. „Da bin ich ja froh.“ Sie legt eine Hand auf meinen Arm. „Aber wenn du reden willst – du weißt ja, wo du mich findest.“

Mit einem Anflug von Freude wird mir klar, dass die Geschichte nicht mehr länger von Bedeutung ist. Ich habe meinen Bachelor gemacht, und vor mir liegt ein Leben voller unbekannter Abenteuer. West hat seinen Doktortitel gemacht und ist auf dem Weg in eine brillante Zukunft in einem beeindruckenden und seriösen Job. Wir haben beide, was wir wollten.

„Nein, nein, alles okay!“, versichere ich ihr. „Ich kenne ihn ja kaum.“

Candi starrt mich an. „Was?“

Ich deute auf die Wohnung hinter mir. „Zweckgemeinschaft. Er war nur irgendein Kerl, den ich geheiratet habe, damit ich hier wohnen konnte. Aber danke dir trotzdem.“

Mit einem letzten Lächeln drücke ich ihre Hand, die auf meinem Arm liegt, drehe mich um und gehe rein.

Ich muss noch ein paar Zombies erledigen.


Kapitel 1

Anna
Drei Jahre später

Wenn man mir auf dem College erzählt hätte, dass meine Haupteinnahmequelle mit fünfundzwanzig meine Arbeit als Nachtkassiererin in dem Supermarkt an der Ecke sein würde, dann … na ja, dann hätte ich es wahrscheinlich geglaubt. Als ich in meinem ersten Jahr am College eine Hundertachtziggradwende gemacht habe, weil ich erkannt habe, dass mein Gehirn mit Naturwissenschaften einfach nichts anfangen kann, und von Medizin zu Kunst gewechselt habe, bin ich realistisch geblieben, wie das Leben einer Künstlerin aussehen könnte. Jeder, der an der UCLA seinen Bachelor in Kunst macht, träumt davon, der nächste große Bühnenbildner, Kostümdesigner oder ein „It-Kid“ der Kunstszene zu werden. Aber diejenigen von uns, die es sich einfach zum Ziel gesetzt haben, die Miete und die Krankenversicherung zahlen zu können, wissen sehr wohl, dass wir tagsüber kellnern und nachts als Hobbymalerin arbeiten werden. Die Tatsache, dass es 0:44 Uhr ist und ich die Kasse bei Pico Pick-It-Up mache, anstatt mich auf irgendeiner schicken Party mit der Elite der kreativen Szene zu unterhalten, sollte also niemanden überraschen. Am wenigsten mich selbst.

Aber da die Arztrechnungen meines Dads langsam immer höher werden, sollten wahrscheinlich auch meine Ziele ambitionierter werden.

Vorsichtig blättere ich die US Weekly durch, die ich mir aus dem Regal geschnappt habe und in der einige lukrative Jobs aufgelistet sind.

Habe ich das Zeug dazu, die nächste große Kunst-Influencerin zu werden, die eines Tages auf der Seite Celebrities – sie sind wie wir! erscheinen wird? Ich bin jung und kann es mir leisten, ein T-Shirt ohne BH zu tragen. Das ist doch schon mal die Hälfte von dem, was man braucht, oder?

Ich kann es mir geradezu bildlich vorstellen:


Instagram-Sensation Anna Green wurde mit einem perfekt zerzausten Dutt außerhalb von Sprouts gesichtet!

TikTok-Star Anna Green und ihr sexy Schauspieler-Freund wurden knutschend vor dem Soho House erwischt!@


Ich frage mich, wie viel ein Influencer heutzutage verdient. Und ob es die Erniedrigung wert ist, vor Picassos Kopf einer lesenden Frau im Norton Simon Museum einen Monolog in einen Selfie-Stick zu sprechen. Oder die Geduld, die ich aufbringen müsste, ein Ringlicht so positioniert zu kriegen, dass ich mir winzige Tiger auf die Augenlider malen kann, und dabei nur vegane Hautpflegeprodukte zu benutzen.

Diese Gedankengänge haben mir eins klargemacht: Ich bin zu faul für ein Influencer-Leben.

Aber das ist in Ordnung. Dadurch, dass ich fünf Nächte hier arbeite, drei Mittagsschichten in Amirs Café übernehme, gelegentlich mit fremden Hunden Gassi gehe und Blut spende, wenn es mal wieder ganz knapp wird, kann ich meine Miete zahlen. Außerdem schaffe ich es, für Dads Krankenversicherung und Medikamente aufzukommen. Und das ist schließlich, was zählt.

Tief einatmen.

Ich blättere die Seite um und lande bei der Rubrik, in der es um die schlimmsten Ex-Partner geht.

„Anna.“

Ich lehne mich über den Verkaufstresen und blicke in beide Richtungen. Mein Boss Ricky steht im Türrahmen seines kleinen, vollgestopften Büros, sein dünnes, blondes Haar fällt ihm über die jungenhaften Augen, und die Fäuste hat er fest in die schmalen Hüften gestemmt. Er trägt ein Naruto-T-Shirt und eine Jogginghose mit dem Logo der letzten Schule, die er besucht hat, die Hamilton Highschool.

„Ja?“

„Kann ich dich einen Moment sprechen?“

„Klar.“ Ich deute mit dem Daumen über die Schulter zum Ladeneingang. „Soll ich kurz zusperren?“

Er schüttelt den Kopf. „Es ist ein Uhr morgens. Zwischen eins und zwei kommt durchschnittlich ein halber Kunde in den Laden.“

„Das stimmt.“ Ich hüpfe von meinem Stuhl und lege das Magazin zurück ins Regal, bevor ich den Gang entlanggehe.

So gut Ricky in Mathe zu sein scheint, er hatte kein Interesse daran, aufs College zu gehen, und hat seine Eltern gebeten, ihm die Verantwortung zu übertragen, ihren Pick-It-Up-Laden in einem Einkaufszentrum zu managen, der eingequetscht zwischen einem Subway und einem Jimmy John’s liegt. Barb und Paul sind zwei meiner Lieblingsmenschen auf der Welt, aber Ricky spricht seit drei Wochen in seiner Strenger-Boss-Stimme mit mir, weil er mich an seinem achtzehnten Geburtstag um ein Date gebeten hat und ich Nein gesagt habe. Echt jetzt.

Ich lehne mich an den Türrahmen und streiche mir die zu langen, kaum noch rosa gefärbten Strähnen aus dem Gesicht. Ich muss unbedingt mal wieder zum Friseur und mir die Haare färben lassen. Aber solche Dinge stehen in letzter Zeit auf meiner Prioritätenliste ziemlich weit unten. „Was ist los?“

Er streckt einen seiner dünnen Bohnenarme aus und versucht, autoritär auszusehen, als er auf den Stuhl gegenüber von sich deutet. Er sieht aus wie einer dieser alten Grundschulstühle mit dem Plastiksitz und dem röhrenartigen Stahlgestell, wobei die nächste Schule über einen knappen Kilometer von hier entfernt liegt. Eines Tages stand er plötzlich in der Gasse, und seitdem befindet er sich in diesem Büro. „Könntest du dich bitte setzen?“

Ich tue wie geheißen, werfe aber einen Blick über die Schulter in den Vorderbereich des Ladens. Auch wenn Ricky mich hierhergerufen hat, ist es immer noch meine Geldkassette in der Kasse. Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, ist jemand, der schnell hier reinspringt und das Geld klaut. Erst letzte Woche wurde der Verizon-Laden drei Türen weiter ausgeraubt. „Bist du sicher, dass wir nicht da draußen reden können? Ich habe kein gutes Gefühl dabei, den Laden unbeaufsichtigt zu lassen.“

„Also, das ist schon irgendwie ironisch.“

Ich drehe mich zu ihm um. Sitzend hat er einen ziemlichen Größenvorteil, was vielleicht beabsichtigt war, wenn ich jetzt so drüber nachdenke. „Wie bitte?“

Er spielt mit einem Kugelschreiber zwischen den Fingern. Seine Nägel sind alle abgekaut, auf dem Rücken seiner rechten Hand ist ein verwaschener blauer Stempel von der Adventure Park Arcade, und er trägt den Absolventenring, den er vor ein paar Wochen bekommen hat. Ricky streckt sich und versucht, größer auszusehen. Er ist nur ein Meter siebzig groß, und manchmal, wenn er wieder besonders herablassend ist, zeichne ich kleine Karikaturen von ihm als Zwerg, wie er in dem breitschultrigen Anzug seines Dads fast untergeht und seine Füße in dessen riesigen Schuhen stecken. „Es ist ironisch, wenn du so tust, als würdest du dir Sorgen machen, dass der Laden ausgeraubt wird.“

„Ironisch?“, frage ich. „Wieso?“

„Ich habe auf dem Überwachungsvideo gesehen, wie du gestern eine Packung Kaugummis genommen hast. Du hast sie nicht bezahlt.“

Ich verziehe das Gesicht und versuche, mich zu erinnern. Es stimmt, ich habe mir tatsächlich ein Päckchen Kaugummis genommen. Ungefähr eine halbe Stunde nachdem meine Acht-Stunden-Schicht begonnen hat. „Woher willst du wissen, dass ich sie nicht bezahlt habe?“

Er deutet auf die Überwachungskamera in der Ecke des Büros – wahrscheinlich, um mich daran zu erinnern, dass hier überall Kameras sind. Aber wenn er weiß, dass ich nicht dafür bezahlt habe …

„Du hast dir acht Stunden lang die Videos der Überwachungskamera angeschaut?“, frage ich.

Ricky rutscht auf dem Stuhl umher, und das Leder quietscht unter ihm, als würde er einen fahren lassen. Er versucht, es noch einmal zu tun, versagt aber. Mit rotem Gesicht erklärt er mir: „Im Schnelldurchlauf.“

Ich weiß, wie alt diese Überwachungskameras sind. Schnelldurchlauf bedeutet da höchstens doppelte Geschwindigkeit. „Du willst mir also erzählen, dass du dir vier Stunden lang Videos von mir bei der Arbeit angeschaut hast?“

Augenblicklich läuft er hochrot an und winkt ab. „Es spielt absolut keine Rolle, wie viel Zeit ich damit verbracht habe, mir diese Videos anzuschauen.“

Ich schlucke meine Erwiderung runter, weil ich weiß, dass sie mich nicht weiterbringen wird: Vier Stunden deiner vergeudeten Zeit scheint mir eine größere Verschwendung von Ressourcen zu sein als ein einziges Päckchen Kaugummis im Wert von zwei Dollar in drei Jahren Arbeitszeit. Genau wie deine Anwesenheit hier in der Nachtschicht mit mir zusammen, wenn wir jede Stunde durchschnittlich 0,5 Kunden haben.

Stattdessen sage ich: „Ich habe es nur vergessen. Ich hatte kein Bargeld bei mir und wollte keine fünf Dollar Gebühren für einen Einkauf mit der Karte unter zehn Dollar zahlen.“

„Du hättest einen Schuldschein in die Kasse legen müssen.“

„Einen Schuldschein? Du meinst … auf Papier?“

Er nickt. „Du hättest Papier von der Kassenrolle nehmen können.“

„Wie hätte Katy das dann verrechnen sollen, wenn sie um sieben kommt?“

„Sie hätte mir sagen können, dass du dir ein Päckchen Kaugummi genommen hast und es später bezahlen wirst.“

„Aber du hast gewusst, dass ich ein Päckchen Kaugummi genommen habe. Du hast dir das ganze Video angeschaut.“

Seine Nasenflügel beben. „Der Punkt ist der, dass wir dir nicht mehr vertrauen können.“

„Ricky, ich werde die Kaugummis jetzt bezahlen. Mein Gott, ich arbeite hier seit drei Jahren, und das ist das erste Mal, dass du ein Problem mit mir hattest.“

Das Gesicht, das er macht, verrät mir, dass ich nicht ganz richtigliege.

Ich lehne mich in meinem kleinen Stuhl zurück. „Oh, ich verstehe. Hier geht’s um das Date.“

Ricky stützt sich auf seine Unterarme und klatscht seine Hände zusammen, wie es sein Dad macht, wenn er im Mentor-Paul-Modus ist. Aber Paul könnte mir einen zweistündigen Vortrag darüber halten, wie man geschäftlich erfolgreich wird, und ich würde an seinen Lippen hängen. Weil er charismatisch und fürsorglich ist und sich seinen Arsch abgearbeitet hat, um eine Ladenkette mit vier Filialen in Los Angeles zu eröffnen. Ricky hat einen Audi zu seinem sechzehnten Geburtstag bekommen, einen Laden zu seinem achtzehnten, und anscheinend verbringt er seine Arbeitszeit damit, Überwachungsvideos von mir anzuschauen – an Tagen, an denen ich einen Rock trage.

Ich glaube ihm also kein Wort, als er sagt: „Es geht hier nicht um das Date.“

„Wirklich?“

„Nein, tut es nicht“, erwidert er nachdrücklich.

„Das ist so bescheuert, Ricky.“

„Ich heiße Derrick.“

„Das ist so bescheuert, Derrick.“

Er wird noch röter. „Ich bin ein Manager, der sich um ein Problem mit einer Angestellten kümmert. Es tut mir leid, Anna, wir müssen dich feuern.“

Meine Ohren klingen. Panik steigt in mir auf. „Du feuerst mich wegen einem Päckchen Kaugummi?“

„Ja.“

„Wissen Barb und Paul davon?“

„Meine Eltern wissen Bescheid, ja.“

Das ist wie ein Schlag in die Magengrube. Barb und Paul wissen, dass Ricky mich wegen eines Päckchens Trident Wassermelone feuert? Und sie sind damit einverstanden?

Autsch.

Ricky beugt sich nach vorne, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. „Anna? Hast du gehört, was ich gesagt habe? Du kannst deine Schlüssel zurückgeben, und ich schicke dir deinen letzten Gehaltsscheck.“

Ich blinzle, um mich wieder ins Hier und Jetzt zurückzuholen, und stehe auf. „Vergiss nicht, die Kosten für die Kaugummis abzuziehen.“

„Das habe ich schon.“

 

In dem Moment, in dem ich auf die Manning Street trete und meinen verbeulten Jetta nicht dort sehe, wo ich ihn normalerweise parke, beginne ich zu realisieren, dass ich mich am Anfang einer Dominokette allerlei schrecklicher Ereignisse befinde. Ich muss daran denken, wie die Straße vor sechs Stunden vorübergehend gesperrt wurde, um eine Unfallstelle aufzuräumen. Ich musste in der Pico Street parken und hatte mir im Geiste eine Notiz gemacht, dass ich entweder auf die Manning Street umparken muss, sobald sie wieder offen ist, oder die Parkscheibe um acht Uhr weiterzustellen … und nichts davon habe ich getan.

Dieses blöde Zwei-Dollar-Kaugummi-Päckchen hat sich gerade in einen Fünfundvierzig-Dollar-Strafzettel verwandelt.

Aber mich erwartet nicht nur der weiße Zettel unter meinem Scheibenwischer, sondern auch noch eine riesige schwarze Beule an der Fahrertür, die anscheinend jemand meinem Auto im Vorbeifahren verpasst hat und danach einfach weitergefahren ist. Die Beule hat den Rahmen verzogen, und als ich jetzt einsteige und die Tür zumachen will, lässt sie sich nicht ganz schließen.

Fuck.

In L. A. regnet es im April nie, aber in der Sekunde, in der ich auf den Freeway fahre, setzt er ein. Dicke, fette Regentropfen fallen in einem reißenden, sintflutartigen Schwall auf meine Windschutzscheibe und verwandeln die Straße in eine rutschige Fahrbahn und meine linke Körperhälfte in ein triefend nasses Etwas. Als ich bei meinem Apartmentkomplex ankomme, steht der Wagen des Freundes meiner Mitbewohnerin auf meinem Platz, und ich kann ihm nicht einmal böse sein, weil sie mich erst in drei Stunden wieder zu Hause erwartet haben. Ich parke hinter ihm, mache den Motor aus und lege meinen Kopf aufs Lenkrad, um ein paar tiefe Atemzüge Luft zu holen.

Eins nach dem anderen, sagt Dads Stimme tief und ruhig in meinem Kopf. Kümmere dich um das Auto, und rede dann morgen mit Vivi, ob sie dir im Café mehr Schichten geben kann.

„Alles wird gut“, sage ich und blicke in den Himmel, wo auf wundersame Weise nichts mehr auf Regen hinweist.

Ich wiederhole die Worte, als ich aus dem Auto steige, starre auf die Tür, die sich nicht schließen lässt, und beuge mich dann ins Innere, um alles Wertvolle herauszuholen. Da bemerke ich, dass die AirPods, die mir Dad zu Weihnachten geschenkt hat und die ich in der Mittelkonsole gelassen habe, bereits geklaut wurden. Genau wie der Zehn-Dollar-Schein für Notfälle, den ich dort immer liegen habe, falls ich mitten in der Nacht noch etwas zu essen kaufen muss.

Warum habe ich das Geld nicht genommen, um für die Kaugummis zu bezahlen, verdammt noch mal?

Nein, die viel wichtigere Frage ist doch, warum Derrick mich verdammt noch mal wegen so was Bedeutungslosem feuert. Das ist so erbärmlich!

Eins nach dem anderen, erinnert mich Dads Stimme in meinem Kopf.

Ich laufe die Stufen zu meiner Wohnung rauf, stecke den Schlüssel ins Schloss und verstehe das „O Scheiße!“ auf der anderen Seite der Tür erst richtig, als ich die Tür aufreiße und meine Mitbewohnerin Lindy und ihren Freund Jack in einer zutiefst kompromittierenden Position auf meiner geliebten Scheidungs-Couch vorfinde. Er ist splitterfasernackt, unglaublich verschwitzt und – o Gott – immer noch hart. Ich drehe mich in der Sekunde auf dem Absatz um, in der ich verarbeite, was ich da sehe. Ihre Hände sind an ihre Knöchel gefesselt, sodass sie nicht einmal schnell verschwinden kann, und er arbeitet panisch daran, sie zu befreien, während mir beide beschämte Entschuldigungen entgegenschreien. Meine eigene Entschuldigung dafür, dass ich zu früh nach Hause gekommen bin, geht in ihrem Chaos unter, und ich drücke meine Stirn gegen die Wand und wünschte, ich könnte mit ihr verschmelzen und den Rest meines Lebens in den Grundmauern des Gebäudes verbringen.

Ich würde so einen guten Geist abgeben.

Beim Klang ihrer Schlafzimmertür, die mit einem lauten Knall geschlossen wird, drehe ich mich um, lehne mich gegen die Wand und versuche zu entscheiden, ob der Grund für das Stechen hinter meinen Augen aufsteigendes hysterisches Schluchzen oder doch eher Lachen ist.

Als ich die Kühlschranktür öffne, sehe ich, dass Bondage-Lindy und Sweaty-Jack die restliche Lamm-Tajine gegessen haben, die ich mir aufheben wollte, bis ich von meiner Schicht im Laden nach Hause komme. Alles, was ich im Kühlschrank finde, sind ein halbes Stück Cheddar-Käse, eine alte Flasche Sahne und ein paar vergammelte Karotten.

In meinem Zimmer lasse ich mich aufs Bett fallen und starre an die Decke. Ich bin sogar zu erschöpft, um noch eine Rache-Karikatur von Ricky zu zeichnen. Die Wände um mich herum sind voll mit meinen Gemälden, fast alle davon riesige Leinwände mit Blumen: die wahren Meisterwerke der Natur. Kein Pinselstrich könnte die Feinheiten der Schatten tief im Innern einer Blumenblüte perfekt wiedergeben, die sanften Farbvariationen der zarten Fasern oder die komplexen Lichtmuster, die einen nackten Stängel emporklettern, aber ich muss es versuchen. Ich kann tatsächlich nicht aufhören, es zu versuchen. Mein neuestes Lieblingswerk habe ich gestern Morgen beendet – eine riesige rote Mohnblume mit einer versteckten Galaxie an Pollen in der tiefschwarzen Mitte. Momentan lehnt das Bild an der Wand und verbirgt teilweise das dahinter – ein eng gebundener Strauß hauchdünner Butterblumen, auf denen schwere Regentropfen liegen.

Leider bezahlen diese Gemälde keine Rechnungen. Ich habe keine Ahnung, was ich jetzt machen soll, aber ich weiß, dass ich mir keinen anderen Job wie den im Pick-It-Up-Laden suchen will. Ich will nicht in einem 7-Eleven oder Starbucks arbeiten. Ich will nicht die überarbeitete Assistentin von jemandem sein – oder eine Influencerin, eine Uber-Fahrerin oder Berufskellnerin.

Ich will malen.

Aber ich ertrinke in fertigen Gemälden und kann keines davon verkaufen. Den Traum, meinen Lebensunterhalt mit meiner Kunst zu bestreiten, kicke ich in einer Dose eine lange Gasse entlang, aber alles, was dabei herauskommt, ist ein entferntes Echo. Nach meinem Collegeabschluss habe ich ein paar Werke verkauft und sogar einen Vertrag bei der Agentin einer lebhaften Kunstausstellung in Venice unterschrieben. Aber ich habe seit achtzehn Monaten kein einziges Gemälde mehr verkauft, und mein Manager hat mich schon fast ein Jahr lang nicht mehr angerufen. Ob ich will oder nicht, ich muss mich morgen in jedem Café oder Supermarkt, den ich finden kann, bewerben.

Auf dem Nachttisch neben mir klingelt mein Handy, und sofort greife ich danach, weil ich hoffe, dass es eine E-Mail von Barb und Paul ist, die sich um 2:14 Uhr für ihren beschissenen Sohn entschuldigen.

Aber es sind nicht Barb und Paul.

Es ist nur eine Rechnung aus dem Krankenhaus für Dads letzte Chemo-Behandlungen.

Ich kralle meine Hände in die Decke und ziehe sie mit mir, als ich mich umdrehe und mein Gesicht im Kissen vergrabe.

„Bad Summer People“ meets „Donnerstagsmordclub“

Blick ins Buch
Very Bad WidowsVery Bad Widows

Roman

Um glückliche Witwen zu werden, schmieden drei Frauen einen genialen Plan ...

Nie hätten Pam und ihre Freundinnen Nancy und Shalisa gedacht, in ihrem Alter noch Dinge zu lernen wie zum Beispiel, wie viel Platz fünfzigtausend Dollar in einer Handtasche einnehmen, wie hoch das übliche Honorar eines Profikillers ist oder auch, welche Umstände gegeben sein müssen, damit man auch ohne Leiche eine Lebensversicherung ausbezahlt kommt.

Doch ihre Ehemänner haben es nicht anders gewollt! Sie verzockten nicht nur die Rentenkasse der seit Jahrzehnten befreundeten Paare, ihr Verhalten den Frauen gegenüber ist höchst uncharmant. Kein Wunder also, dass Pam und ihre Freundinnen, als sie erfahren, dass ihre Männer heimlich hohe Lebensversicherungen abgeschlossen haben, einen genialen neuen Rentenplan schmieden: Mord.

Es beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel, das ebenso witzig wie klug einen großherzigen Blick auf Ehe, Freundschaft und Glück im Alter wirft.

Unterschätze niemals deine Ehefrau!

„Bad Summer People“ meets „Donnerstagsmordclub“

„Welch diebische Freude für den Leser, wenn die Interessen verzweifelter Ehemänner und entschlossener Ehefrauen mit Gangstern aus Mumbai und einem Hunde liebenden Auftragskiller kollidieren. Hincenbergs trifft voll ins Schwarze.“ Publishers Weekly

„Ein messerscharfer, kluger, witziger Roman, der auch überraschend zärtlich ist ... Man muss einfach mit diesen Figuren mitfiebern. Ein Triumph.“ Jennie Godfrey

„›Very Bad Widows‹ ist umwerfend komisch. Aber das ist erst der Anfang: Diese wilde Geschichte steckt voller Überraschungen, verzaubert mit wunderbar lebendigen Figuren und ist von der ersten bis zur letzten Seite ein Kracher.“ Janice Hallett

„Dieses lustige, wendungsreiche Buch über drei Freundinnen, die zum Mord greifen, ließ mich bis spät in der Nacht die Seiten umblättern. Rasiermesserscharf und teuflisch unterhaltsam.“ Sarah Pearse, Autorin von „Das Sanatorium“

„Der perfekte Cocktail aus klugem, warmherzigem und mörderischem Spaß.“ Nina Simon, Autorin vonDer Mutter-Tochter-Mörder-Club“

»Dieser Roman ist die pure Freude. Eine bitterböse, köstlich hinterhältige, unglaublich süchtigmachende Krimikomödie von einer neuen Autorin, die Sie unbedingt lesen sollten! Marissa Stapley, Autorin von „Lucky“

Kapitel 1
Das muss doch nicht sein

Pam leckte sich das Salz ihrer Margarita von den Lippen, sah sich an ihrem Terrassentisch um und überlegte, welcher ihrer Freunde wohl als Erster abtreten würde. Nicht dass sie eine Vorahnung hätte, in dieser Hinsicht war sie einfach etwas morbide. Außerdem war sie bereits auf den Abschlussfeiern der Kinder dieser drei Paare gewesen und hatte mit allen deren Eltern begraben; in dieser Lebensphase war es also nur logisch, dass die eigenen Beerdigungen als Nächstes anstehen würden. Soweit sie das beurteilen konnte, standen die Chancen, ins Gras zu beißen, bei allen acht ungefähr gleich gut. Wenn sie sich allerdings aussuchen könnte, wen es zuerst traf, würde sie sich wohl für Andre entscheiden.

Mit einem gezielten Schlag zerquetschte sie eine Mücke an ihrem Hals. Um die Citronella-Kerzen auf dem Tisch und die am Geländer aufgehängte Lichterkette schwirrten Scharen herum; ihr Summen kämpfte mit den Grillen und Van Morrison darum, die Begleitmusik zum Essen anzuführen. An schwülen Abenden wie diesen hätten Pam und ihre Freundinnen eigentlich in ihrem Salzwasserpool planschen und Cocktails schlürfen sollen, während ihre Männer sich im Whirlpool ein Bier gönnten. Aber dieses Haus hatten sie ja verkaufen müssen.

Pam warf Hank über die restlichen Burger und Maiskolben hinweg einen prüfenden Blick zu. Im Dunkeln wirkte er beinahe wieder attraktiv. Die Tischplatte verbarg seinen Bierbauch, die Schatten seine Hängebacken. Sie suchte in seinen Zügen nach dem Mann, den sie einst geheiratet hatte, aber den gab es schon lange nicht mehr. Manchmal vermisste sie ihn.

„Gibst du uns noch eine Runde, Babe?“

So durfte er sie nicht mehr nennen, weshalb sie ihm einen finsteren Blick zuwarf, der ihm allerdings vollkommen entging. Schweigend stemmte sie sich von dem abgewetzten Polster hoch und holte vier tropfende, kalte Flaschen aus der Kühlbox. Hank nahm sein Bier entgegen, drehte den Verschluss ab und warf ihn in ihre Hortensienbüsche. Als Larry, Andre und Dave es ihm nachmachten, wusste Pam, dass sie diejenige war, die am Morgen diesen Müll wieder einsammeln musste.

Nun wandte sie sich erst mal dem Krug mit den Margaritas zu. Das musste man Hank lassen – er machte die besten Margaritas der Welt. Pam gab Eiswürfel in die Gläser ihrer Freundinnen, leerte den Krug und stieg über ihren schlafenden Hund hinweg. Selbst in der halbdunklen Küche war die feuchte Julihitze noch so stark, dass alles an ihr klebte. Nachdem sie den Kühlschrank geöffnet hatte, genoss sie einen Moment lang die austretende Kälte, bevor sie Shalisas Schokoladenmousse-Käsetorte herausholte und damit wieder nach draußen ging.

„Nance! Nance!“ Larry fiel seiner Frau gerade ungehemmt ins Wort. „Wie hieß der noch gleich …?“

Das tat Larry beständig: Nancy dazu nötigen, dass sie ihr Gehirn nach Details durchforstete, die zu merken er sich selbst nicht die Mühe machte. Als wäre es ihr Lebensinhalt, für ihn das wandelnde Gedächtnis zu spielen. Nancy nannte ihm routiniert den Namen des Highschool-Mathelehrers und wandte sich dann wieder ihrem Gespräch mit Marlene zu. Schweigend verschob Pam einige Sachen auf dem Tisch, um Platz für das Dessert zu schaffen.

Inzwischen deutete Dave mit dem Kopf auf die Gläser, deren Spielkarten- und Würfelaufdruck mit Kondenswasser überzogen war. „Nette Casinogläser, Hank. Hast dich wohl wieder im Merchandising-Lager bedient, was?“

Grinsend schüttelte Hank den Kopf. „Neuer Eigentümer, neues Logo. Die sollten weggeworfen werden, also habe ich sie als Andenken mit nach Hause genommen.“ Mit einem schelmischen Zwinkern fügte er hinzu: „Ich würde doch niemals die Hand beißen, die uns füttert!“

Die vier Freunde stießen mit ihren Bierflaschen an und tranken.

Leicht gereizt runzelte Pam die Stirn. Diese Kerle … Denen war jeder Anlass recht, um anzustoßen – nun also auf das Casino, obwohl zwei von ihnen nicht einmal dort arbeiteten. Was kam als Nächstes? Ein Schlückchen auf Larrys Bank oder Andres Kurierdienst?

Dave wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und richtete seine Aufmerksamkeit dann auf die Torte. „Wow, die sieht aber toll aus, Pammy.“ Im Licht der Kerzen schien sein Lächeln noch mehr zu strahlen, und für einen Moment stockte Pam der Atem. Sie hatte ganz vergessen, wie gut er aussah; diese Lachfältchen um seine Augen. Genau, das war heute anders an ihm. Nicht das feine Grau an seinen Schläfen, das Pam gerade erst aufgefallen war. Nein, er schien heute beinahe glücklich zu sein. Ihr Blick huschte zu Marlene hinüber. Lief bei den beiden etwa wieder etwas? Marlene hatte den Mädels zwar gesagt, dieser Zug sei abgefahren wie bei ihnen allen. Aber vielleicht war sie ja eingeknickt und verschaffte ihrem Mann nun doch wieder ein wenig Spaß. Dave riss sie aus ihren Gedanken, indem er fragte: „Ist das etwa Schokolade?“

Andre antwortete: „Na klar. Die haben wir mitgebracht.“

Typisch Andre, die Lorbeeren für sich einzuheimsen. Pam betonte: „Shalisa hat sie gemacht.“

Sie legte Dave sanft die Hand auf die Schulter, als sie ihm ein Stück anbot. Dass ihr alter Freund zurück war, freute sie, verwirrte sie zugleich aber auch. Wenn es denn wirklich eine solche Veränderung gab. Wieder sah sie zu Marlene hinüber, die gerade kichernd mit Nancy zusammensaß. Vielleicht hatten Dave und sie tatsächlich wieder Sex. Sie würde später bei Marlene nachfragen.

Andre wollte keinen Kuchen und warf Shalisa, als diese ein Stück nahm, über seine Gleitsichtbrille hinweg einen mahnenden Blick zu. „Schatz, das muss doch nicht sein.“

Pam hörte, wie Marlene nach Luft schnappte; sah, wie Nancy betroffen zusammenzuckte. Die drei Freundinnen beobachteten stumm, wie Shalisa den aufsteigenden Ärger unterdrückte. Scheinbar ruhig bedachte sie ihren Mann mit dem Blick, der früher für die Tratschtanten reserviert gewesen war, die sie mit der Frage traktiert hatten, warum sie keine Kinder bekam. Daran erkannte Pam, dass Andre mit diesem Kommentar etwas ausgelöst hatte, das er nun nicht mehr aufhalten konnte, auch wenn ihm das selbst nicht bewusst war. Stumm wickelte sich Shalisa einen ihrer feinen Zöpfe um den Finger. Sie starrte ihren Ehemann unverwandt an, während sie ihr Stück Schokomousse-Käsetorte bis auf den letzten Krümel verputzte.

Pam beobachtete das, und plötzlich glaubte sie, eine Veränderung wahrzunehmen; irgendetwas lag in der Luft. Später räumte sie die Teller zusammen und musterte noch einmal ihren Mann und die Menschen, mit denen sie seit drei Jahrzehnten befreundet waren. Wieder ging ihr die Frage durch den Kopf, wer von ihnen als Erster sterben würde.

Zwei Tage später sollte sie es erfahren.


Kapitel 2
Marlene hatte recht

Es war Hank, der Daves Leiche fand.

Am Montagmorgen stand Pam bei Dutton Realty am Kopierer und verfolgte wie hypnotisiert den schmalen Lichtstreifen, der von links nach rechts wanderte. Sie war gerade bei der zehnten der neunzig Kopien, die ihr Boss brauchte, als ihr Telefon summte.

HANK: Halt Marlene und die Kinder vom Haus fern.

Was hatte Pam denn bitte schön damit zu tun, wo sich Marlene aufhielt? Vermutlich war die sowieso gerade dabei, drüben in der Stone Bridge Road Beläge von Zähnen zu kratzen. Ein prüfender Blick auf den Kopierer bestätigte Pam, dass die Zeit ausreichte, um der Sache auf den Grund zu gehen. Beim fünften Klingeln ging Hank dann endlich dran. „Hey. Warum schreibst du mir irgendwas über Marlenes längst erwachsene Kinder? Dir ist schon klar, dass die alle bereits ausgezogen …“

„Kann jetzt nicht reden. Dave ist tot. Marlene darf auf keinen Fall nach Hause kommen.“

„Unser Dave?“ Pam suchte am Kopierer Halt. „Bist du sicher?“

„Und ob ich mir sicher bin! Fahr zu Marlene. Sag ihr, dass Dave einen Unfall hatte. Ich bin mir aber nicht sicher, ob du ihr schon sagen solltest, dass er tot ist. Entscheide das besser selbst. Aber lass sie auf keinen Fall in die Nähe ihres Hauses.“

Der Lichtstreifen im Kopierer glitt von links nach rechts.

„Was ist passiert?“ Keine Antwort. „Hank! Was ist passiert?“

Hank räusperte sich. „Dave hatte einen Unfall in seiner Garage. Na ja, oder wohl eher in der Einfahrt. Ich muss jetzt Schluss machen, die Polizei ist da. Aber lass Marlene auf keinen Fall nach Hause, Pam!“

„Okay“, gab Pam leise ihre Zustimmung.

Das Licht sprang zurück und begann von vorne.

„Warte mal, Hank!“ Mühsam riss sich Pam vom Anblick des wandernden Lichtstreifens los. „Hank! Was machst du überhaupt bei Dave zu Hause?“

Doch er hatte bereits aufgelegt.


Hanks Anruf hatte Pam so mitgenommen, dass sie ihrem Mann blind versprach, Marlene fernzuhalten, ohne zu bedenken, mit wem sie es dabei zu tun bekommen würde. Nancy, Shalisa und sie trafen sich in Marlenes Zahnarztpraxis, um ihr die Nachricht gemeinsam zu überbringen. Die Worte waren kaum ausgesprochen, als Marlene ihre Tasche holte und sich umgehend auf den Weg machte.

Die Freundinnen fingen sie auf dem Parkplatz vor der Praxis ein und versuchten, sie mit der Aussicht auf Kaffee und Trost in Shalisas Küche in Pams Van zu locken. Doch Marlene schob sich wortlos an ihnen vorbei und entriegelte ihren ramponierten alten Honda. Diese Frau hatte innerhalb von nicht einmal drei Jahren drei Töchter geboren – die jüngste in der eigenen Einfahrt, weil sie nicht ins Krankenhaus fahren wollte, bevor Dave von seinem Angelausflug zurückkam – und die drei Mädchen, ohne mit der Wimper zu zucken, durch die Stürme der Pubertät bis ins Erwachsenenalter begleitet. Dieses Schätzchen ließ sich nicht in eine Ecke stellen – oder an einen Küchentisch setzen –, wenn sein Ehemann gerade tot in der gemeinsamen Einfahrt lag.

Marlene fuhr so heftig zu ihnen herum, dass ihr blonder Pferdeschwanz durch die Luft peitschte. „Ich weiß zu schätzen, was ihr hier versucht, ehrlich. Aber ich will jetzt verdammt noch mal zu meinem Mann, und ihr werdet mich nicht davon abhalten. Verstanden?“

Ja, das hatten sie verstanden. Mit dem Versprechen, sie umgehend nach Hause zu bringen, stieg Marlene in Pams Van ein.

Auf der Fahrt herrschte drückende Stille. Zu ihrer Linken tauchte immer wieder die Bucht mit ihren vielen, sanft schaukelnden Booten auf, während sie an den weitläufigen historischen Villen vorbei landeinwärts fuhren, in Richtung der bescheideneren Viertel ihres Städtchens. Normalerweise konnte sich Pam kaum auf die Straße konzentrieren, wenn sie zu viert im Auto saßen. Aber diesmal wurde keine Chipstüte herumgereicht, niemand redete über eine neu entdeckte Köstlichkeit, die Lieblings-Playlist wurde nicht aufgedreht, bis die Bässe unter dem Hintern vibrierten. Verstohlen spähte Pam zu Marlene hinüber. Die frischgebackene Witwe hatte die Hände im Schoß gefaltet und sah aus dem Beifahrerfenster.

„Ich bin im Arsch“, erklärte Marlene der Scheibe.

Shalisa streckte den Arm nach vorne und tätschelte ihre Schulter. „Nein, bist du nicht. Wir helfen dir da durch.“

„Mein Mann ist tot, und in meinem Kopf kreist nur ein Gedanke: Ohne ihn werde ich das Haus nicht halten können.“ Mit einem Ruck wandte sich Marlene nach vorne. „Vielen Dank, Arschloch Dave.“

Nancy, die ebenfalls hinten saß, kommentierte: „Arschloch Dave? Sie sind alle Arschlöcher, Marlene.“

Reglos starrte Marlene durch die Windschutzscheibe. „Na ja. Aber eure Arschlöcher können wenigstens noch die Hypotheken abzahlen.“ Frustriert stieß sie den Atem aus. „Jawohl, ich bin voll und ganz im Arsch.“

Leicht irritiert runzelte Pam die Stirn. Okay, alles in allem war nicht damit zu rechnen gewesen, dass Marlene dem typischen Bild einer Witwe entsprach. Trotzdem hatte Pam doch mit ein wenig Trauer gerechnet.

Marlene stützte sich auf die Armlehne und wandte sich den Freundinnen zu. „Ich versuche gerade, mich daran zu erinnern, wann ich das letzte Mal mit ihm gesprochen habe. Als er gestern Abend vom Angeln kam, haben wir gemeinsam Jeopardy geguckt, aber ich wüsste nicht, dass wir dabei auch nur ein Wort gewechselt hätten. Nach dem Essen bei euch am Samstag“, sie warf Pam einen kurzen Seitenblick zu, „kam er zu Hause in der Küche plötzlich an, hat mir von hinten die Arme um die Taille geschlungen und wollte meinen Hals küssen. Als wäre alles vollkommen normal. Das habe ich abgewürgt.“

Womit auch die Frage beantwortet war, die Pam noch nicht hatte stellen können. Dave und Marlene schliefen also nicht wieder miteinander. Warum hatte er dann an dem Abend so glücklich gewirkt? Sie tätschelte Marlene tröstend das Knie und bog in ihre Straße ein. Wo sonst ruhige Beschaulichkeit waltete, herrschte nun Hochbetrieb: Zwei Feuerwehrfahrzeuge parkten am Straßenrand, im Schatten der Ahornbäume drängten sich die Gaffer zusammen. Während Pam langsam an den Terrassenhäusern und Bungalows im Ranchstil mit ihren ordentlichen Vorgärten vorbeifuhr, entdeckte sie zwischen den Einsatzfahrzeugen auch Hanks Auto. Marlene schien aus dem Wagen springen zu wollen, sobald er stand, aber Nancy sagte leise zu ihr: „Gewisse Dinge wird man nicht mehr los, wenn man sie einmal gesehen hat, Marlene.“ Ergeben sank Marlene in sich zusammen, ließ den Türgriff los und nickte Pam zu, damit sie vorging und sich einen Eindruck verschaffte.

Noch bevor Pam das Haus erreicht hatte, beendete Hank sein Gespräch mit einem Polizisten und stürmte die Einfahrt hinunter, um sie abzufangen. Seinem Leitspruch „Angriff ist die beste Verteidigung“ folgend, beschleunigte sie ihre Schritte ebenfalls, sodass sie schließlich am Wagen des Leichenbeschauers aufeinandertrafen.

Hank war knallrot im Gesicht, seine Haut glänzte vor Schweiß. Seine Augen waren gerötet. Noch vor fünf Jahren hätte er nun die Arme ausgebreitet und sie an sich gezogen, sodass sie den Kopf an seine Brust hätte legen können wie ein Puzzleteil, das sich mit seinem Gegenstück vereint. Nun aber reckte er anklagend den Zeigefinger. „Was war so schwer zu verstehen an der Anweisung …“

„Wann hast du das letzte Mal versucht, Marlene Anweisungen zu erteilen?“, schnauzte Pam sofort zurück.

Hank verstummte abrupt, blinzelte und gab dann zu: „Dave hat immer gesagt, sie sei schwer zu bändigen.“

„Allerdings.“

Hank packte Pam an den Schultern und drehte sie so, dass sie Richtung Straße schaute. Als sie auf das Haus zugelaufen war, hatte sie bewusst den Blick abgewandt, da ihr noch immer Nancys warnende Worte im Kopf herumgingen. Sie wollte lieber den Dave in Erinnerung behalten, der lächelnd sein Tortenstück von ihr entgegennahm.

„Es ist kein schöner Anblick. Bist du sicher, dass du Details hören möchtest?“

Pam nickte.

„Okay. Dave wurde vom Garagentor zerquetscht.“

„Nein!“ Pam konnte nicht anders; sie riskierte einen kurzen Blick und sah, dass zwischen Garagentor und Boden gut ein halber Meter Platz war. Mehrere Sanitäter in dunkelblauen Uniformen versperrten ihr die Sicht, trotzdem glaubte Pam unter einem schützenden Tuch Daves sandblondes, langsam ergrauendes Haar zu erkennen, das in einer dunklen Lache klebte.

„Das willst du nicht sehen“, versicherte ihr Hank und drückte ihren Arm, damit sie sich wieder ihm zuwandte. „Sie gehen davon aus, dass er das Tor schließen wollte, sich dabei den Kopf gestoßen hat und bewusstlos wurde. Er ist gestürzt, das Tor ist ungebremst auf seinem Schädel gelandet und hat ihn zerquetscht.“

Entsetzt schlug Pam die Hände vor das Gesicht. Sie konnte es nicht fassen.

Jahrelang hatte Marlene Dave damit in den Ohren gelegen, dass sie sich ein automatisches Garagentor anschaffen sollten. Ihr schweres, manuell zu bedienendes Modell war unaufhaltsam wie eine Dampflok, wenn es einmal in Bewegung geriet. Immer wieder hatte Marlene Dave vorgehalten: „Dann wäre es viel leichter, den Müll rauszubringen. Und wir könnten total über die Stränge schlagen und unser Auto in der Garage parken wie normale Menschen. Hast du daran schon mal gedacht, Dave?“ Da Dave aber uneinsichtig blieb, beendete Marlene diesen Vortrag gerne mit den Worten: „Eines Tages wird dieses Garagentor einen von uns umbringen.“

Was nun geschehen war.

Pam musterte ihren Mann. Sie gehörte zu der Sorte Mensch, die sämtliche Details hin und her schob wie Scrabble-Steine, bis sich ein ordentliches Bild ergab. Und hier passten einige Steine noch nicht ganz. „Hast du ihn heute im Casino gesehen?“

„Wie du weißt, arbeiten wir in unterschiedlichen Abteilungen. Wir begegnen uns dort nie.“

„Warum war er an einem Montagmorgen überhaupt zu Hause?“

Hank fuhr sich mit dem Unterarm über die Stirn. „Das weiß ich nun wirklich nicht.“

„Und warum warst du hier?“

Mit einem schweren Seufzer schüttelte Hank den Kopf. „Ich kann das jetzt nicht, Pam. Ich kann einfach nicht.“ Er ließ die Schultern hängen, schob die Hände in die Hosentaschen und ging zu den Polizisten zurück.

„Ich habe dich etwas gefragt, Hank!“ Frustriert riss Pam die Hände hoch und sah ihm hinterher, während er die Einfahrt hinaufging. In diesem Moment gelang es den Polizisten, das Garagentor vollständig zu öffnen. Das Innere von Daves Garage sah noch genauso aus wie bei Pams letztem Besuch – so vollgestopft mit unnötigem Zeug, dass Marlene niemals die Chance gehabt hätte, dort drin ihren Wagen zu parken.

Nach einem letzten Blick auf das Haus kehrte Pam zu ihrem Van zurück, um ihre Freundinnen auf den neuesten Stand zu bringen. Erleichtert ließ sie sich in den Sitz sinken: Zum einen, weil die kühle Luft wohltuend über ihre Haut glitt, zum anderen, weil sie nun Tränenspuren auf Marlenes Wangen entdeckte. Dreißig Jahre Ehe waren nun einmal dreißig Jahre Ehe, außerdem war Dave der Vater ihrer Kinder. Da war ein wenig Trauer ja wohl angebracht.

Marlene putzte sich lautstark die Nase. „Kann ich ihn sehen?“

Pam schob sich über den Sitz und schloss ihre Freundin in die Arme. „Ach, Marlene, ich denke nicht, dass du das willst. Lass uns besser zu Shalisa fahren und überlegen, was jetzt zu tun ist.“

Das Kinn fest auf Marlenes Schulter gedrückt, beobachtete Pam durch die Scheibe, wie die Sanitäter Daves Leichnam auf eine Trage hoben. Auch Nancy und Shalisa quetschten sich nach vorne und versuchten, ihre Freundin zu drücken. Marlene flüsterte dicht an Pams Ohr: „Sag mir, was passiert ist.“

Sie weiterhin fest an sich drückend, erzählte Pam, dass Hank den toten Dave eingeklemmt unter dem Garagentor gefunden habe. Marlene erstarrte, ihr Schluchzen verstummte augenblicklich. Sie löste sich aus Pams Umarmung und richtete sich auf. Mit schmalen Augen fragte sie: „Willst du mich verscheißern?“

Stumm schüttelte Pam den Kopf.

Marlene musterte Pam prüfend. Ihr Blick wanderte zu ihrem Haus hinüber, dann wieder zu Pam. Ein kurzes, raues Lachen löste sich aus ihrer Kehle. Besorgt sahen die Freundinnen sich an, während Marlene die Hände vor das Gesicht schlug. Pam befürchtete einen Moment, sie würde nun unhaltbar anfangen zu weinen, doch als Marlene schließlich die Hände sinken ließ und den Kopf gegen die Lehne drückte, erkannten die Frauen schockiert, dass sie lachte. Lauthals und ungehemmt, als würde sie sich einen Comedyauftritt von Robin Williams ansehen. Da sie nicht wussten, wie sie helfen sollten, wechselten die Freundinnen nur ratlose Blicke und warteten ab, bis sich Marlenes Gelächter auf ein sanftes Kichern reduzierte. Schließlich holte sie einmal tief Luft, tupfte sich die Wangen ab und stellte die Lüftungsschlitze so ein, dass die Klimaanlage ihr direkt ins Gesicht pustete. Dann verstaute sie ihr Taschentuch in ihrem Ausschnitt, schüttelte den Kopf und verkündete: „Gut, fahren wir. Aber vergesst den Kaffee, ich brauche jetzt einen Scotch.“

Zwar war Pam sich nicht sicher, ob sie Marlenes plötzlichen Stimmungsumschwung beruhigend oder besorgniserregend finden sollte, aber sie wollte unbedingt hier weg, also lenkte sie den Van wieder auf die Straße hinaus. Als direkt vor ihnen der Leichenwagen losfuhr, bremste sie peinlich berührt ab. Was für ein mieses Timing! Schnell drückte sie Marlenes Hand.

Wie gebannt starrte Marlene auf den Wagen, der ihren Ehemann endgültig von dem Haus fortbrachte, in dem sie ihre drei Mädchen großgezogen hatten. Von dem Vorgarten, in dem er mit jeder seiner Töchter an deren Hochzeitstag posiert hatte.

Sie hielt sich an Pams Hand fest, als ihr Blick die Einfahrt hinaufwanderte zu dem Garagentor, das den Mann getötet hatte, mit dem sie dreißig Jahre verheiratet gewesen war. „Hoffentlich war sein letzter Gedanke: ›Marlene hatte recht.‹“

High Society-Wirbelwind trifft auf italienischen Hotelbesitzer

Blick ins Buch
Trust Me MoreTrust Me More

Roman

High-Society-Wirbelwind trifft auf italienischen Hotelbesitzer!

Die Italienreise der 23-jährigen New Yorkerin Cleo hat keinen guten Start: Ihr Freund lässt sie sitzen, und am Flughafen vertauscht sie zu allem Überfluss auch noch ihren Koffer. Auf der Suche nach dem Gepäck landet sie auf einer kleinen Ferienanlage im charmanten Bergdörfchen Tursi. Nicht so charmant ist jedoch der junge Besitzer der Anlage: Dante Marinotti, ein arroganter Kerl mit zweifelhaftem Ruf. Cleo zögert trotzdem nicht lange, als Dante ihr einen Job anbietet. Während sie gemeinsam die Ferienanlage renovieren, kommt Cleo Dante näher – bis seine schmerzhafte Vergangenheit ihn einholt …


Band 1: Trust Me More

Band 2: Resist Me Less

Prolog

Dante


Mein altes Leben streifte ich unfreiwillig an einem scheinbar gewöhnlichen Abend in New York ab. Der Sonnenuntergang war ein beeindruckendes Farbenspiel an diesem frühlingshaften Tag. Ein orangefarbenes Glühen am Ende der Second Avenue, die von Wolkenkratzern gesäumt wurde, als wären sie die Säulen, die den Weg in den Himmel wiesen. Ich stand auf dem Gehweg und wartete darauf, dass Mom aus der schwarzen Limousine stieg. Kurzzeitig hatte ich mich in dem Anblick verloren. Das war ein Zeichen dafür, wie chaotisch mein Leben zurzeit war. Normalerweise drifteten meine Gedanken nicht so leicht ab.

„Hast du Troy noch eine Lebensweisheit reingedrückt?“, zog ich Mom voller Zuneigung auf. Sie war unter unseren Freunden dafür bekannt, jedem einen gut gemeinten Ratschlag mit auf den Weg zu geben.

Sie schnalzte mit der Zunge und schlug mir spielerisch auf den Unterarm, bevor sie ihren braunen Mantel zurechtzupfte. Es war noch recht frisch, und keiner von uns wollte sich erkälten.

Besonders nicht, nachdem die letzten zwei Wochen bereits an unseren Nerven gezerrt hatten.

„Ich habe ihm ein anständiges Trinkgeld gegeben. Er hat es gerade auch nicht leicht.“ Sie sprach es nicht aus und machte mir keine Vorwürfe, aber wir wussten beide, dass die Schuld bei mir lag.

Die ganze beschissene Situation war auf meinen Mist gewachsen, und ich konnte nichts anderes tun, als zuzusehen, wie mein Business den Bach runterging. Einzig, weil ich die falsche Frau gedatet hatte.

„Fuck“, entfloh es mir. Mit einer Hand fuhr ich mir durchs Haar, das sich ohnehin jedweder Frisur widersetzte.

„Dante Marinotti, wenn ich noch einmal ein solches Wort aus deinem Mund höre, folgen Konsequenzen!“ Sie sah mich mit ihren großen graublauen Augen an, die sie meinem jüngeren Bruder Isaac vererbt hatte. Drum herum hatten sich kleine Fältchen gebildet, doch der Rest ihres ovalen weißen Gesichts war makellos.

Man sah ihr die fünfundfünfzig Jahre keineswegs an.

Ich hatte sie nie gefragt, aber ich war mir fast sicher, dass sie – so wie Dad – hin und wieder auf Botox zurückgriff. Der gesellschaftliche Druck der High Society machte auch vor meinen Eltern nicht halt. Attraktivität öffnete Türen, wenn Geld nicht ausreichte.

Manchmal kam mir der Gedanke, dass auch das meine Schuld war. Als mich meine Eltern adoptiert hatten, waren sie Arbeitnehmer gewesen, gehörten zum Mittelstand. Durch meine Idee und mein Business, bei dem ich Fitnessgeräte entwickelte und verbesserte, wurden wir direkt in den Kreis der Neureichen katapultiert. Geldsorgen wurden letztlich von Sorgen ums Ansehen ersetzt. Auch wenn sich Mom und Dad charakterlich nicht verändert hatten, für sie waren Isaac und ich immer noch das Wichtigste in ihrem Leben. So wie sie für mich.

Ich würde mein Geschäft jederzeit aufgeben, wenn es etwaige Umstände verlangten. Wie auch immer diese aussehen mochten.

Oder?

Kopfschüttelnd kehrte ich in die Gegenwart zurück und legte einen Arm um Moms zierliche Schultern. Sie war einen Kopf kleiner als ich, was sie mir nie ganz verziehen hatte. Da sie mit ihren ein Meter siebenundsiebzig bereits groß war, hatte sie gehofft, zumindest einen ihrer Söhne überragen zu können.

„Deine Konsequenzen haben mittlerweile an Wirkung verloren, Mom. Ich bin fünfundzwanzig“, erinnerte ich sie lachend.

Gemeinsam setzten wir uns in Bewegung. Das Apartment meiner Eltern befand sich nur fünf Gehminuten von hier. Normalerweise brachte uns Troy, ihr Fahrer, direkt bis vor die überdachte Eingangstür, doch wir hatten den anstrengenden Bürotag mit einem Spaziergang entlang der geschäftigen Second Avenue ausklingen lassen wollen.

„Das bedeutet nicht, dass ich dich nicht zurechtweisen kann. Nicht mal, wenn du so alt bist wie ich jetzt“, erwiderte sie stur über den Verkehrslärm hinweg. Wir lebten schon so lange in Manhattan, dass ich diesen kaum noch wahrnahm. „Wie geht es dir denn, mein Schatz? Es kann nicht einfach sein, Interview für Interview auszuschlagen und die Wahrheit für dich zu behalten.“

Meine Familie unterstützte mich darin, keinen Kommentar abzugeben, auch wenn sie anfangs dagegen argumentiert hatte. Sie wollte nicht, dass ich von allen für den Bösewicht gehalten wurde, den die Presse aus mir machte.

Und Ava.

Allein dadurch, dass sie schwieg. So wie ich. Im Gegensatz zu mir hatte sie aber die Macht, etwas zu ändern. Die Wahrheit zu offenbaren.

„Ich weiß es nicht“, antwortete ich ehrlich und drückte sie enger an mich. Wenn ich auch noch Mom und Dad oder Isaac verlor, würde es mich komplett kaputt machen. „Ich hoffe, das interne Gespräch hat heute geholfen, aber …“

„Es wird immer ein paar geben, die zweifeln“, sprach sie wie so oft meine Gedanken aus, die ich selbst nicht formulieren konnte.

„Jesus, warum ist das alles so eskaliert?“ Das war eine rein rhetorische Frage. Natürlich wussten wir, wie das passiert war.

„Du konntest nicht ahnen, dass Ava so unehrlich ist.“

„So unehrlich, mich zu betrügen, oder so unehrlich, jetzt darüber zu schweigen?“

Es tat weh, dabei zusehen zu müssen, wie mein Geschäft unter dem Druck der Öffentlichkeit litt. Mein Geschäft, das ich mit Schweiß und Blut aus dem Nichts errichtet hatte.

Jetzt übten die Gesellschafter bereits Druck auf mich aus, vorübergehend zurückzutreten. Bisher hatte ich mich ihnen noch widersetzen können, aber wie lange noch?

Ich hatte geglaubt, nach zwei Wochen würde der Terz, so vollkommen haltlos, wie er war, abebben, doch Avas Fans waren entschlossen, meinen Ruf zu ruinieren. In ihrem Namen.

„Alles hat seinen Sinn, mein Schatz. Am Ende des Tunnels gibt es immer einen Ausgang. Vertraue darauf, dass die Wahrheit ans Licht kommt“, beschwichtigte mich Mom.

„Leichter gesagt als getan, wenn unser Leben und unser Ruf auf dem Spiel stehen“, erwiderte ich grantig.

Ich hatte es so satt, zu schweigen. Gleichzeitig würde ich niemals Avas Wahrheit ausplaudern.

„Unser Ruf? Vielleicht. Doch solange wir gesund sind und einander haben, ist unser Leben vollkommen in Ordnung.“

Sie meinte jedes Wort so.

„Okay, okay. Was gibt’s zu essen?“

Sie lachte wegen des abrupten Themenwechsels. Der Eingang mit dem dunkelblauen Baldachin war bereits in Sichtweite, als sich eine Gruppe Mädchen und Jungen im Teenageralter von den Schatten zwischen den geparkten Autos löste. Sie stellte sich uns entgegen. Sofort schrillten meine Alarmglocken. Niemand von ihnen lächelte. Sie empfanden keine Freude. Keinen Spaß.

Nein.

Sie waren eindeutig auf Krawall gebürstet.

Bevor ich reagieren konnte, holten sie Obst, Gemüse und Eier aus ihren Taschen hervor und begannen, uns damit zu bewerfen. Eine überreife Tomate landete auf meiner Wange und platzte.

Ohne mich um den Saft zu kümmern, der unangenehm in meinen Kragen sickerte, packte ich Moms Handgelenk. Hastig zog ich sie hinter mich. Versuchte, sie durch die Gruppe Jugendlicher hindurchzukriegen.

Dann kam der erste Blitz und daraufhin der zweite.

Entweder hatten uns Paparazzi gefunden, oder Avas Fans – denn dass sie für sie Rache übten, war mir durch ihr Gekreische und Gebrüll klar – machten Fotos von uns. Später würden sie diese auf sämtlichen Social-Media-Kanälen verbreiten.

„Lasst uns durch“, rief ich, obwohl sie nicht auf mich hören würden.

„Du Arschloch!“

„Ava hat jemand Besseres als dich verdient!“, brüllte eine andere. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sie ausholte.

Ich hob meinen anderen Arm, um Moms Gesicht zu schützen, doch der Gegenstand schoss darüber hinweg und traf sie direkt an der Schläfe.

Mom schrie auf.

Mein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Noch nie in meinem Leben hatte ich sie einen solchen Laut ausstoßen hören. Als ich sie ansah, konnte ich nur Blut sehen, das in dünnen Rinnsalen von ihrer Braue hinabrann.

„Mom!“, rief ich, bevor ich mich hinabbeugte und sie auf die Arme hob.

Genug ist genug.

Ich rannte los, ohne darauf zu achten, wen ich mit meinen Ellbogen traf. Sollten sie doch der Reihe nach hinfallen! Sie hatten eine Grenze überschritten.

„Mr Marinotti!“, hörte ich den Portier rufen.

Erleichterung durchflutete mich, als er und zwei Securitymitarbeiter mich erreichten und flankierten.

Die Teenager wurden zurückgedrängt, und ich konnte mit Mom auf dem Arm endlich ins rettende Gebäude.

Vorsichtig setzte ich sie im Foyer ab, in dem es immer nach frischen Blumen duftete, und führte sie auf das dunkelgrüne Brokatsofa. Ihre Beine waren so zittrig, dass sie meine Hilfe brauchte, um sich hinzusetzen.

„Lass die Augen geschlossen“, wies ich sie sanft an. Ihre zarten Schultern bebten unter meinem Arm, bevor ich mich vorsichtig löste.

Ich blickte zurück zum Eingang, an dem die Mädchen und Jungen standen und immer noch wüste Beschimpfungen ausstießen. Durch das verdunkelte Glas waren wir jedoch vor ihren Blicken geschützt.

„Kann ich etwas für Sie tun, Mr Marinotti?“ Der Portier, Denton, hatte mich erreicht. Atemlos sah er zwischen Mom und mir hin und her.

„Rufen Sie bitte meinen Vater an. Er soll sofort runterkommen“, befahl ich ihm noch unter Strom stehend, während ich nach etwas suchte, mit dem ich die Blutung stillen konnte. Mein Pullover musste herhalten. Ich zog den ruinierten Mantel und meinen grauen Strickpullover aus und drückte diesen dann zusammengeknüllt auf die Platzwunde. Mit der anderen Hand an Moms Hinterkopf hielt ich sanft dagegen. Nur noch im T-Shirt dastehend, sah ich auf diese starke Frau hinunter, die meinetwegen leiden musste.

Fuck. Fuck. Fuck.

„Es ist nicht so schlimm“, nuschelte Mom an meinem Pulli vorbei. „Das war bloß der Schock. Gerade tut es kaum noch weh.“

„Es muss trotzdem genäht werden. Sobald Dad und Isaac hier sind, fahren wir ins Krankenhaus.“

„Wir können auch Doc anrufen.“ Doktor Bane, oder auch Doc, war ein Freund der Familie und Arzt. Bei kleinen Wehwehchen kam er vorbei und untersuchte uns, ohne dass wir einen ganzen Tag in einer Arztpraxis verschwenden mussten. „Auf keinen Fall. Ich will, dass du von oben bis unten durchgecheckt wirst. Nicht dass du eine Gehirnerschütterung hast oder dergleichen.“

„Dante? Was ist passiert?“ Isaac und Dad kamen aus einem der drei Fahrstühle gestürmt.

Ich trat an dem niedrigen Tisch vor dem Sofa vorbei, um ihnen Platz zu machen.

Während Mom beteuerte, dass es nicht schlimm war, klärte ich die beiden mit wenigen Worten auf. Die Wut in mir ballte sich zu einer undurchdringlichen Masse zusammen, die mir das Atmen erschwerte.

Die Security hatte sich mittlerweile um die Fans gekümmert und den Eingang geräumt. Mein Selbsthass blieb. Ich hatte diese Eskalation zu verantworten. Niemand sonst.

Weil ich nichts sagen konnte. Weil ich mich immer noch an New York klammerte.

Mit plötzlicher Klarheit wusste ich, was zu tun war, weil ich schon länger mit dem Gedanken gespielt hatte. Doch bis hier und heute hatte ich mich nicht dazu überwinden können.

Dad half Mom beim Aufstehen. Zusammen steuerten sie den Fahrstuhl an, um zur Tiefgarage zu gelangen, wo unsere Autos geparkt waren.

„Kommt ihr?“, fragte er über seine Schulter hinweg. Als er meinen Blick auffing, wurde seine Miene weicher. „Es ist nicht deine Schuld, Dante.“

Ich machte ein unbestimmtes Geräusch. „Isaac? Einen Moment noch?“

„Was ist? Bist du auch verletzt?“ Besorgt musterte er mich von oben bis unten. Er hatte das aschblonde Haar von Dad. Wirkte ohnehin wie sein jüngerer Zwilling. Ein halbes Jahr nachdem mich meine Eltern adoptiert hatten, war Isaac geboren worden. Er war ihr Wunder, mit dem sie nie gerechnet hatten. Der unerfüllte Kinderwunsch und der eigentliche Grund, warum ich in New York gelandet war.

„Mir geht es gut“, antwortete ich, mich eilig von diesem Teil meiner Gedanken lösend. Er brachte mich nie an einen guten Ort. „Ich brauche deine Hilfe.“

„Was soll ich tun?“ So war er. Mein jüngerer Bruder, bester Freund und Geschäftspartner. Immer für mich da.

Ich wischte mir über die untere Gesichtshälfte. Fühlte noch Tomatenüberreste und ekelte mich. Vor mir selbst und vor New York.

„Ich werde zurücktreten und die Staaten vorerst verlassen.“

„Was? Das ist viel zu verfrüht! Du denkst nicht klar …“

„Die Entscheidung ist gefallen“, widersprach ich auf eine Art, die sagte, dass es daran nichts zu rütteln gäbe. Ich konnte mich nicht mehr vor dem unabwendbaren Schicksal drücken. „Ich will, dass du dir die Verantwortung mit Rachel und Hilary teilst. Ich werde alles veranlassen.“

„Dante …“ Er schüttelte den Kopf. „Wohin wirst du gehen?“

Ich ließ meinen Blick über den blank polierten Marmorboden nach draußen wandern, wo der Sonnenuntergang längst nicht mehr zu sehen war.

„Nach Italien.“ Zu meinen Wurzeln.



1. Kapitel

Cleo


Ich würde mich nicht an den Temperaturwechsel zwischen Klimaanlage und Außentemperatur gewöhnen. In der einen Sekunde musste ich mich in die cremefarbene Strickjacke graben, in der nächsten schwitzte ich aus sämtlichen Poren.

Feuchtigkeit prickelte unangenehm in meinem Nacken und an meinem Kinn. Hinter einem glückselig lächelnden Pärchen, das im Partnerlook den Flugsteig hinabspazierte, versuchte ich, meine Strickjacke auszuziehen, ohne dabei meinen schwarzen Chanel-Rucksack zu verlieren. Mein Blick blieb an ihre Rücken geheftet, auf dem der zweigeteilte Aufdruck Ti amo stand. Rot auf Pink. Hervorragende Fashion Choice.

Ich stolperte über meine eigenen Füße und verlor den Halt. In meiner Vorstellung sah ich mich schon die Metalltreppe hinunterfallen, doch zu meinem Glück gab es nur eine weitere Stufe, und die konnte ich noch irgendwie überspringen, ohne dass mir die Beine einknickten.

Dennoch war ich froh, als ich in den Shuttlebus steigen konnte, der uns auf die andere Seite des Flughafens von Brindisi bringen würde. Ich konnte sogar einen der wenigen Sitzplätze ergattern. Auch wenn ich diesen einen Moment später räumen musste, weil eine schwangere Frau einstieg.

Freundlich lächelnd, aber mit hundert mehr Schweißperlen zog ich mich in eine Ecke zurück und stopfte die Jacke in meinen überfüllten Rucksack, ehe sich der Bus in Bewegung setzte.

„Jesus“, murmelte ich und stieß ein paar leise Flüche aus.

Ein klein wenig wünschte ich mir doch, mit meinem Freund Oliver gefahren zu sein. Selbst wenn mir während langer Autofahrten schlecht wurde. Dann hätte ich mich immerhin nur krank und nicht allein gefühlt.

Nicht wie jetzt.

Jetzt war mir zwar nicht kotzübel, doch ich fühlte mich verloren und so, als würden mich alle anstarren, weil ich allein von Rom in den Süden Italiens geflogen war.

Nur eine Nacht.

Heute Abend würde sich Oliver bereits mit dem Leihwagen auf den Weg machen und in der Nacht bei mir im Hotel ankommen. Ich hatte das Schlimmste doch bereits überstanden.

Das Schlimmste, echote es in meinem Verstand.

Erst zwei Wochen waren wir zusammen in Italien unterwegs, doch gefühlt hatte ich jedes Abenteuer allein erlebt. Jedes Mal, wenn ich einen Ausflug geplant hatte, kam Oliver kurz vorher mit einer Ausrede daher, warum er sich nicht danach fühlte.

Es ist zu heiß, Babe. Ich bleibe hier am Pool. Geh du nur.

Ich muss gestern was Falsches gegessen haben. Mein Magen macht nicht mit.

Hatten wir das so abgemacht? Ich habe jetzt den letzten Platz für die Bootstour gebucht. Dir wird ja eh schlecht.

Am Ende der zwei Wochen hatte ich ihn nur noch höflichkeitshalber gefragt.

Umso überraschter war ich gewesen, als er bereitwillig zugestimmt hatte, Rom zugunsten Brindisis zu verlassen, um Süditalien zu erkunden. Dabei war er plötzlich so hilfsbereit und zuvorkommend geworden, als hätte er endlich gemerkt, wie er sich mir gegenüber verhalten hatte.

Das hatte mir Hoffnung gemacht.

Unsere Beziehung war … speziell. Anfangs war ich mit ihm zusammengekommen, weil ich ihn heiß gefunden hatte. Recht schnell hatten wir dann jedoch gemerkt, dass wir kaum Gesprächsthemen hatten, die sich überschnitten. Er wurde manchmal ziemlich grob, und ich war kurz davor gewesen, mich von ihm zu trennen, als ich die Reaktion meiner Familie gesehen hatte. Die Art, wie sie bei seinem abgeranzten Anblick die Nase gerümpft hatte.

Ich konnte mich meiner Familie nicht direkt widersetzen, aber ihr auf derartige Weise zu zeigen, wie wenig ich auf ihre Meinung gab? Das hatte ich mir nicht entgehen lassen können.

Und wenn ich ehrlich war, hatte ich all meine vergangenen Beziehungen unter diesem Aspekt ausgewählt. Hauptsache, sie ging meiner Familie gegen den Strich.

Mein Blick glitt zu der Hand, mit der ich mich an der Haltestange festklammerte. Der Bluterguss um mein Handgelenk war noch deutlich sichtbar. Das erste und bisher einzige von Olivers Überbleibseln. Eine Erinnerung an seine kalte Wut. Daran, dass ich es nicht wagen sollte, ihn infrage zu stellen, weil letztlich er die Entscheidungen traf. Ob sie mir gefielen oder nicht.

Mir war klar, dass das Unsinn war. Dass ich gehen sollte. Dass er mich manipulierte und zurechtstutzte, wie er mich haben wollte.

Die Erkenntnis half mir nicht. Sie brachte mich nicht dazu, zu gehen, weil ich dann allein dastand.

Der Bus kam zum Stehen, und nacheinander drängten wir uns in den feuchtwarmen Abend. Der Himmel, ein Mix aus sanftem Blau und Orange, die ineinanderflossen, als hätte jemand zu viel Wasser zu den Farben gemischt. In meinen Ohren dröhnte das laute Motorengeräusch eines abhebenden Fliegers.

Nicht nur ich duckte mich automatisch, was mir mich etwas weniger lächerlich vorkommen ließ.

Zum Glück war der Eingang zur Flughafenhalle nicht weit entfernt. Nacheinander schlüpften wir durch die Automatiktüren in den abgetrennten Bereich. Schon wenige Sekunden später trocknete die auf Hochtouren laufende Klimaanlage die Schweißperlen auf meinem Gesicht. Die Hitze zwischen Rücken und Rucksack verflüchtigte sich ebenso rasch. Meine Situation wirkte mit einem Mal viel weniger schlimm als noch vor fünf Minuten.

Wie enorm die richtige Umgebungstemperatur doch mein Leben beeinflussen konnte.

In New York, meiner Heimat, war ich der Willkür des Wetters kaum jemals so ausgesetzt wie hier. Ich konnte mich mit einem persönlichen Fahrer problemlos zwischen Apartment, College und jeglichem Ziel fortbewegen. Etwas, auf das meine Eltern bestanden und gegen das ich auch nichts einzuwenden hatte. Wenn sie mich schon kontrollieren wollten, konnte ich immerhin einen Vorteil daraus schlagen.

Das bedeutete keineswegs, dass ich den Sommer hasste, den Regen oder den Schnee.

Ich hasste es bloß, zu einem Termin aufzutauchen, wenn ich nass geschwitzt oder vom Regen durchnässt war.

Einen Sommer lang hatte ich auf einer Ranch verbracht, hatte hart gearbeitet und mich in sechs Wochen nicht ein einziges Mal richtig sauber gefühlt, aber es waren die besten sechs Wochen meines Lebens gewesen.

Die High Society von New York war das Leben meiner Eltern, meiner Schwestern und meiner Nonna – meine italienische Großmutter. Ich war bloß das Anhängsel, das mitkommen musste, das aber eigentlich niemand so richtig haben wollte.

Ich war keineswegs zynisch, sondern realistisch. Mittlerweile machte sich niemand mehr Mühe, die wenig vorteilhaften Gedanken über meine Wenigkeit zu verschleiern. Meine Eltern, die das italienische Fast-Food-Imperium führten, erwarteten sogar, dass ich froh war, nach dem College einen Job als Assistentin meiner ältesten Schwester zu bekommen.

Als wäre mein Studium nichts wert. Als würden sie kein Vertrauen in meine Fähigkeiten setzen.

„Urgh“, stieß ich aus, weil ich mich über mich selbst ärgerte. „Bleib positiv, Cleo“, sprach ich mir selbst Mut zu.

Das hier war voraussichtlich für sehr lange Zeit meine einzige Auszeit. Ich hatte sie mir hart erarbeitet. Bezahlt mit meinem eigenen Lohn aus Nebenjobs, von denen meine Familie nichts gewusst hatte. Zwei Monate Italien. Das war mein Traum, weil ich das Land meiner Vorfahren kennenlernen wollte.

Einzig Nonna hatte mich unterstützt, während alle anderen bloß betonten, dass sie mir keinen Cent zukommen lassen würden.

Ich brauchte sie nicht. Zumindest nicht während meines Sommers.

Da es sich bei meinem Flug lediglich um einen Inlandsflug handelte, ging die Passkontrolle recht schnell. Bevor ich meinen Koffer an der Gepäckausgabe abholte, machte ich einen Abstecher in die Waschräume.

Eine zierliche Brünette lächelte mir beim Hinausgehen zu, weil ich ihr die Tür aufgehalten hatte. Ich reagierte einen Moment zu spät, und mein Lächeln traf mein eigenes zerzaustes Spiegelbild.

Charmant.

Ich suchte zunächst eine freie Kabine. An Board hatte ich fast anderthalb Liter Wasser getrunken. Aus Nervosität. Gleichzeitig war ich zu ängstlich gewesen, meinen Gurt zu lösen und auf die enge Kabinentoilette zu gehen. Da ich einen Sitz in der Mitte belegt hatte, hatte ich mich nicht dazu imstande gesehen, meinen Sitznachbarn zu bitten, mich vorbeizulassen. Was, wenn er ein Nickerchen hatte machen wollen? Was, wenn er mich dafür hasste, dass ich ihn gerade aus einer gemütlichen Sitzposition verscheuchte?

Nein, danke.

Der Flug war letztlich nach einer Stunde vorbei gewesen, und ich hatte meine Unterleibsschmerzen fast schon verdrängt.

Nachdem ich meine Hände gewaschen und mir Wasser ins Gesicht gespritzt hatte, vibrierte mein Handy. Ich fischte es aus den Tiefen meines Rucksacks, bevor ich die Jacke wieder reinstopfte.

Summer. Meine beste Freundin.

Ein echtes Lächeln stahl sich dieses Mal auf meine Lippen.

 

Summer: Nach meiner Berechnung müsstest du jetzt gelandet sein. Meld dich, Babe.

 

Ich: Vor 10 min. Hier ist es noch heißer als in Rom. Was habe ich mir nur dabei gedacht?

 

Summer: Du wolltest mehr als nur die Stadt der 7 Hügel sehen. So beeindruckend das Schätzchen auch ist. Ist Oliver schon da?

 

Ich: Stimmt. Hatte ich fast wieder vergessen. Hoffentlich ist das kein Reinfall hier.

 

Ich: Nope. Ich rufe ihn gleich an. Er müsste schon losgefahren sein.

 

Summer: Okey dokey. Meld dich, wenn du im Hotel angekommen bist. Miss ya

 

Ich: Miss ya, too.

 

Mit neuem Elan trug ich Wimperntusche auf, die meine saphirblauen Augen betonte. Ich war stolz darauf, dass ich als einzige von uns Schwestern die Augen von Nonna geerbt hatte. Anschließend kämmte ich mein Haar, das ich normalerweise zu einem voluminösen, langen Bob föhnte. Davon war nach dem Dutt, den ich wegen der Hitze geknotet hatte, nichts mehr übrig. Also wurde es ein kurzer Pferdeschwanz, aus dem sofort ein paar Strähnen entflohen und im Wind der Klimaanlage um meine Ohren tänzelten.

Zum Schluss zupfte ich meinen braun-weiß karierten Minirock zurecht, zu dem ich ein ärmelloses Rüschenshirt trug. Die Goldkette fiel bis auf meinen üppigen Busen hinab und rundete zusammen mit meinen weißen High Heels das Bild ab, das ich abgeben wollte. So wurde es von Oliver und meiner Familie erwartet: makellos.

Ich lud meinen Rucksack auf und stolzierte erhobenen Hauptes aus dem Waschraum. Vielleicht hätte ich noch mein Parfüm auftragen sollen, doch ich wollte nicht zu spät kommen und meinen Koffer am Gepäckband verpassen.

Dieses Mal sollte alles nach Plan laufen.

Oliver sagte immer, dass mir Desaster auf Schritt und Tritt folgten. Früher mit einem Augenzwinkern. Mittlerweile wurde ich das Gefühl nicht los, dass er hauptsächlich genervt von mir war. Nun, ich war von ihm auch genervt. Immerhin waren wir schon zu zweit.

Es hatte sich bereits eine Menschentraube um das Gepäckband gebildet. Selbst wenn die Anzeige obenauf nicht unsere Flugnummer angezeigt hätte, hätte ich meine Mitpassagiere wiedererkannt. Eines meiner Talente war, dass ich mir sehr gut Gesichter merken konnte.

Manchmal brauchte ich ein, zwei Minuten, aber generell fiel mir immer ein, wo ich jemanden zuletzt gesehen hatte.

Ich platzierte mich in zweiter Reihe hinter eine Frau, die vielleicht zehn Zentimeter kleiner war als ich mit meinen ein Meter zweiundsiebzig, sodass ich das laufende Band gut im Blick behalten konnte. Sie unterhielt sich in lebendigem Italienisch mit dem Mann neben sich, der gar nicht in ihre Richtung sah und immer nur nickte oder den Kopf schüttelte. Ich spürte die Müdigkeit, die von ihm in Wellen ausging, als wäre sie meine eigene.

Obwohl der Flug nur eine Stunde gedauert hatte, schlauchte doch der gesamte Prozess von Ankunft über Gepäck- und Passkontrolle, Flug und bis zu dem Moment, da man den Flughafen am Zielort schließlich verlassen konnte.

Endlich wurden die ersten Koffer aufs Band geladen, und selbst wenn meiner noch nicht dabei war, fühlte es sich nicht länger an, als wäre ich in der Zeit stecken geblieben.

„Laggiù!“, rief die Frau vor mir so laut, dass ich zusammenzuckte, und deutete auf einen knallpinken Koffer.

Dort drüben!, hatte sie gesagt. Mit meinem etwas eingerosteten Italienisch war ich in Rom ziemlich gut zurechtgekommen. Ich hatte jedoch gehört, dass im Süden Italiens die Dialekte ausgeprägt waren und ich Schwierigkeiten beim Verständnis bekommen könnte. Darauf würde ich mich einstellen müssen, aber ich war fest entschlossen, mein Bestes zu geben.

Nachdem die beiden vor mir den pinken und den schwarzen Koffer danach vom Band gehoben und davongestürmt waren, stellte ich mich nach vorn.

Nur wenige Sekunden später erblickte ich meinen schwarzen Koffer mit den weißen Griffen und machte mich bereit. Ich hievte ihn mit zitternden Armmuskeln vom Band und stellte ihn mit einem dumpfen Schlag auf dem blank polierten Boden ab. Anschließend steuerte ich zielstrebig den Ausgang an, am Zoll vorbei und in die hell erleuchtete Flughafenhalle.

Obwohl die Decke niedrig war, wirkte der Raum durch die hellen Wände und Böden nicht gedrungen. Die Fensterfront auf der gegenüberliegenden Seite ließ außerdem ausreichend Licht der Straßenlaternen ein. Mittlerweile war die Sonne längst über den Horizont geschritten, und in ihrem Schatten breitete sich ein dunkles Blau aus.

Ich setzte mich auf einen der neongrünen Plastikstühle gegenüber eines Eingangs. Den Koffer stellte ich schräg hinter mir ab, damit er niemandem den Weg versperrte. Als ich mein Handy hervorholte, setzte sich jemand neben mich. Immerhin ließ er einen Sitz zwischen uns frei und platzierte seinen Koffer davor als zusätzliche Abgrenzung. Nur kurz warf ich ihm einen Blick zu. Schokoladenbraunes Haar, Dreitagebart und eine gerade Nase in einem kantigen Gesicht, dazu ein scharf geschnittener Kiefer.

Eilig sah ich wieder auf mein Handy und tippte auf Olivers Namen. Wir hatten heute Morgen noch gemeinsam den Wagen mit meiner Kreditkarte gemietet, nachdem seine abgelehnt worden war. Dabei hatte ich darauf geachtet, dass das Auto eine Freisprechanlage besaß. Ich gehörte nicht zu denen, die es liebten, zu telefonieren, aber ich wollte nicht, dass sich Oliver auf der langen Fahrt allein fühlte.

Während ich dem Freizeichen lauschte, schlug ich die Beine übereinander und wippte mit dem linken Fuß. Piep. Piep. Piep. Dann wurde der Anruf abgebrochen.

Stirnrunzelnd blickte ich auf das Handy. Hatte Oliver vergessen, das Handy mit der Anlage zu verbinden?

Ich malträtierte meine Unterlippe mit den Zähnen, als ich darüber nachdachte, erst ins Hotel zu gehen und ihn dann anzurufen. Was, wenn ich ihn ablenkte und er deshalb einen Unfall baute?

Andererseits machte ich mir jetzt noch mehr Sorgen, weil ich nicht wusste, ob er überhaupt losgefahren war. Wir hatten eigentlich abgemacht, dass er mir schrieb, wenn er sich ins Auto setzte.

Schließlich wählte ich seine Nummer erneut. Dieses Mal nahm er nach dem dritten Freizeichen ab, und ich seufzte erleichtert. Selbst als ich klar und deutlich Stimmengewirr hören konnte, das nicht aus dem Radio stammte.

Er saß nicht im Auto.

Er hatte sich noch nicht auf den Weg gemacht.

„Oliver?“ Ich hasste mich dafür, dass meine Stimme zitterte. Und ich hasste ihn dafür, dass ich bereits wusste, was kommen würde.

Unwillkürlich stand ich auf und begann, vor der Stuhlreihe auf und ab zu laufen. Ich konnte einfach nicht still sitzen, während sich das Grauen in mir festbiss.

„Hey, gut, dass du anrufst, ich wollte mich eh bei dir melden.“ Eine Frau lachte. Eine fremde Frau. Mir wurde schwindelig und heiß und kalt gleichzeitig. Einzig, weil ich mich mit einer Hand an einer Säule abstützen konnte, wurde ich vor einem peinlichen Sturz bewahrt.

Die Reisenden um mich herum wurden zu einem Strudel aus Lichtern und Farben, die sich am Rand meines Sichtfelds bewegten. Wie Zuschauer eines Theaterstücks. Nur dass ich keinen dramatischen Tanz aufführte, sondern eine Komödie, bei der man sich beim Hinsehen fremdschämte.

„Bei mir melden?“, echote ich kraftlos. Erst nach und nach fand ich wieder zu mir. Jeder Schritt in meinem düsteren Verstand kostete mich unbeschreibliche Kraft. Als würde ich an einem Steg in der Dunkelheit entlangbalancieren und müsste gegen Wind und Wetter ankämpfen. „Du bist noch nicht losgefahren, oder?“

Ich hätte ihn rundheraus mit meiner Ahnung konfrontieren können, doch die Beschuldigung würde ihn bloß dazu bringen, aufzulegen. Noch wollte ich ihn nicht gehen lassen.

Er hatte kein leichtes Gespräch verdient, verdammt noch mal!

„Hör zu, es ist kompliziert“, begann er eine seiner üblichen Ausflüchte. „Mir gefällt es hier in Rom einfach zu gut. Es spricht ja nichts dagegen, dass du dich da unten amüsierst und ich weiter in Rom. Wir haben doch beide gemerkt, dass es hier im Urlaub nicht zwischen uns passt.“

Ich liebte ihn nicht. Hatte ihn vermutlich nie geliebt. Trotzdem war ich getroffen.

Warum?

Weil er sich gegen mich als Person entschieden hatte. Ich hatte nicht mal groß was von ihm verlangt. So viel hatte ich für ihn getan. Warum wollte er selbst das nicht von mir? War es so schwer, mir Anstand und Respekt entgegenzubringen? War das der Grund, warum ich beides auch vergeblich bei meiner Familie gesucht hatte, bis ich aufgegeben hatte?

„Ist das dein fucking Ernst?“, schrie ich jäh ins Handy und überraschte mich selbst damit am allermeisten. „Wir haben den Urlaub gemeinsam geplant, du beschissener Bastard! Geht’s noch?“

„Jeez, chill doch mal, Cleo“, entgegnete er vollkommen ungerührt.

Ich warf einen kurzen Blick auf meine Umgebung, in der mich niemand misstrauisch oder verurteilend ansah. Vielleicht war meine Stimme doch nicht so laut gewesen, wie sie mir vorgekommen war.

„Ich soll chillen? Ich bin am anderen Ende von Italien, ohne meine Kreditkarte, ohne das Auto, ohne dich! Hast du sie nicht mehr alle?“ Ich legte eine Hand um meinen Mund und das Handy, um nicht doch vollkommen die Kontrolle zu verlieren und die gesamte Flughafenhalle zusammenzuschreien.

„Cleo“, sagte er mit unterschwelliger Drohung, die mir auch aus der Distanz Bauchschmerzen bescherte. Ich war nicht schwach. Ich konnte mich wehren. Er würde mir nicht wieder wehtun. Das hier war das Ende. „Deine Eltern sind ekelhaft reich. Ruf sie an. Das sollte eine verwöhnte, kleine Bitch wie du doch hinbekommen, oder nicht? Ruf mich nicht mehr an.“

Das Freizeichen verhöhnte mich einen Moment, ehe der Anruf komplett beendet war.

Sprachlos starrte ich auf den Boden und dann aufs Handy, dessen Display schwarz geworden war.

Er hatte mich verlassen. Oliver hatte mich auf diese feige Art und Weise verlassen.

Ich war fassungslos. So sehr, dass erst nach und nach Panik und Angst in mir aufstiegen.

Es war keine bodenlose Lüge. Ich war allein. Ohne Geld und ohne Auto. Meinen Pass hatte ich immerhin und …

Gott! Mein Kopf schmerzte so sehr, dass ich kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Dazu kam das Brummen der Klimaanlage und die Kälte, die meinen Körper überzog. Vielleicht stammte sie auch aus meinem Inneren und ließ sich deshalb nicht durch das Reiben meiner Arme vertreiben.

„Verfluchter Scheißkerl“, brummte ich, bevor ich das Handy in meinen Rucksack steckte und zurück zum Sitz stapfte.

Ein Hotelzimmer war das, was mir noch geblieben war. Und mein Koffer.

Ich umfasste den weißen Griff und stolzierte los, als würde in mir kein Chaos herrschen. Der Flughafen war kein guter Ort, um seine Fassung zu verlieren. Ich brauchte vier Wände für mich und meine beste Freundin an meiner Seite. Letzteres würde nur durch einen Videocall zu erreichen sein, doch das war besser, als sie gar nicht zu haben.

Auch wenn es mir davor graute, sie in das Telefonat mit Oliver einzuweihen.

Er hatte mich verlassen.

Diese Tatsache war so absurd, dass ich Schwierigkeiten hatte, sie komplett zu begreifen. Denn bisher hatte ich immer geglaubt, dass letztlich ich es sein würde, die einen Schlussstrich ziehen würde.

Aber warum eigentlich?

Ich winkte ein Taxi heran und half dem Fahrer dabei, mein Gepäck in den Kofferraum zu hieven. Er sah noch älter aus als mein Dad, und ich wollte nicht daran schuld sein, dass er sich verhob.

Mit einem Lächeln dankten wir uns gegenseitig, und ich setzte mich hinten rein. Auf meinem Handy scrollte ich eilig nach der gespeicherten Adresse vom Hotel, das sich ganz in der Nähe befand. Oliver und ich hatten uns nicht für eine fancy Option entschieden, da wir von Anfang an nur eine Nacht hier hatten bleiben wollen.

So viel dazu.

„Devo andare all’hotel Papola Casale“, teilte ich dem Fahrer mit, ehe ich meine Stirn gegen die warme Scheibe lehnte. Ich muss zum Papola Casale Hotel.

Die vorderen Fenster waren runtergekurbelt, und das Innere des gelben Wagens roch nach Zigarillos und geschmolzenem Plastik, vermischt mit dem typischen Geruch eines Duftbaums. Aus irgendeinem Grund wirkte die Kombination vertraut und beruhigte mich.

„Con piacere!“, flötete der Fahrer und drückte aufs Gas. Gern.

In Rom war das Autofahren und speziell das Taxifahren eine Katastrophe gewesen. Niemand hielt sich an die Verkehrsregeln. Oder war das die einzige Regel, die alle befolgten?

Mein Fahrer besaß zwar einen Bleifuß, doch er hielt immerhin an den Ampeln an und sah sich um, während er das Radio aufdrehte. Ein italienischer Song, den ich in den vergangenen zwei Wochen bereits des Öfteren gehört hatte. Wohl ein Chartstürmer.

Ich blickte in den frühen Abend hinaus. Die Lichter der Laternen, Autos und Betonbauten, die zu einem flackernden Hintergrund verschmolzen. Mein Magen meldete sich ganz leicht, doch ich hoffte, dass die Fahrt endete, bevor ich mich übergeben müsste.

Meine Gedanken waren jedenfalls Ablenkung genug. Ja, ich hätte wahrscheinlich damit rechnen müssen, von Oliver verlassen zu werden. Auch in meinen drei Beziehungen davor war ich sitzen gelassen worden, selbst wenn ich vorher darüber nachgedacht hatte, Schluss zu machen. Letztlich hatte ich nie den Mumm dazu besessen.

Aber ich hatte nicht gedacht, dass Oliver es während meines Urlaubs tun würde. Während wir nur einander hatten, in einem fremden Land, auf einem anderen Kontinent.

Nun, zumindest ich hatte nur ihn gehabt. Er war bereits zur nächsten gewandert, um sich sein Ego streicheln zu lassen.

Ich verachtete ihn dafür.

Dann kam mir wie ein Eimer kaltes Wasser, der über mir ausgeschüttet wurde, der Gedanke, dass er meine Kreditkarte hatte und nicht davor zurückscheuen würde, sie auszureizen. Sofort loggte ich mich mit meinem Handy in das Onlineportal ein, nur um zu sehen, dass Oliver es bereits getan hatte. Das Limit war erreicht.

Ich war blank.

Die Lippen zusammenpressend verbat ich mir, im Taxi in Tränen auszubrechen. Auf gar keinen Fall würde ich so klischeehaft zusammenbrechen.

Schließlich erreichten wir das Hotel, als mir siedend heiß einfiel, dass ich mit meinem letzten Bargeld bezahlen musste. Ich hatte zwar noch ein klein wenig dabei, aber ich hätte die kurze Strecke mit dem Bus fahren sollen.

Zumindest, bis ich wusste, wie mein Plan aussah.

Gerade wenn ich an meine unmittelbare Zukunft dachte, konnte ich nur die verurteilenden Gesichter meiner Schwestern sehen, die die Vorstellungen von Palmen und Meer und Weinbergen ersetzt hatten.

„Ciao“, verabschiedete ich mich von dem Fahrer und stapfte in meinen High Heels und mit meinem Rollkoffer die Rampe zum Hotel hinauf.

Das mehrstöckige schmale Gebäude wirkte überraschend edel mit der gelben Fassade und den dunklen Schlagläden. Die Lobby besaß weiß getünchte Rundbögen und einen beeindruckenden Kristallleuchter direkt vor der Rezeption. Sofagruppen, Tiffanylampen und stuckverzierte Wände mit eingebauten Regalen, auf denen sich Vasen mit Blumen befanden. Ich freute mich, dass ich an diesem scheußlichen Tag doch noch so etwas wie Glück hatte.

Nachdem ich an der Rezeption eingecheckt hatte, suchte ich mein Zimmer im dritten Stock auf. Es war im Gegensatz zur Lobby moderner und schlicht eingerichtet. Das Badezimmer war klein, aber sauber.

Ich hievte meinen Koffer auf die gelbe Sitzbank und zog als Allererstes meine Schuhe aus, um meine armen Füße zu massieren, während ich darum kämpfte, weiter Haltung zu bewahren. Selbst wenn hier niemand mehr meine Tränen sehen konnte, wollte ich nicht loslassen. Ich fürchtete mich zu sehr davor, in ein dunkles Loch zu fallen, aus dem ich allein nicht mehr herauskäme.

Nach kurzer Überlegung rief ich die Rezeption an und bestellte ein Glas Rotwein zusammen mit der Tagesempfehlung. Dafür würde ich sicherlich noch genug in meinem Geldbeutel finden.

Ich zögerte das Gespräch mit Summer hinaus, bis meine Bestellung ankam. Während ich gewartet hatte, war ich die Fotogalerie der letzten zwei Wochen durchgescrollt.

Mir war schleierhaft, wie ich so naiv hatte sein können. Es gab bloß ein einziges Selfie, auf dem ich mit Oliver zu sehen war, und er hatte nicht mal den Anstand besessen, zu lächeln oder in meine Richtung zu schauen. Sonst hatte er nie ein Problem mit Fotos gehabt. Ganz im Gegenteil, auf Instagram war er der Aktivere von uns beiden. Er postete ständig etwas und interagierte mit anderen, die seine Fotos kommentierten.

Apropos … Ich nahm einen kräftigen Schluck Rotwein. Mein Daumen schwebte über seinem Profilbild. Was würde ich finden, wenn ich sein Profil anklickte? Hatte er mich bereits ausradiert? Zum Glück hatten meine Schwestern kein Social Media, sonst hätten sie sich unter Umständen schon bei mir gemeldet, wenn Oliver tatsächlich unsere gemeinsamen Fotos gelöscht hätte.

Ich beschloss, mir das selbst jedenfalls nicht anzutun und stattdessen Summer anzurufen. Da sie gerade in London lebte und arbeitete, war es bei ihr noch eine Stunde früher als bei mir. Sie nahm den Call sofort an, und ihr sorgenvolles Gesicht erschien auf dem Display.

Strohblondes Haar, das sich bei jeder Gelegenheit kräuselte und jedem Haarband widersetzte, kleine meerblaue Augen und ein geschwungener, großer Mund, den sie am liebsten zum Lachen geöffnet hatte. Sie war die wärmste Person, die ich kannte, und hatte mir schon durch mehr Krisen geholfen, als ich zählen konnte.

Auf dem College war sie meine Tutorin gewesen, und wir hatten uns auf Anhieb verstanden. Ihr war es durch ein Stipendium möglich gewesen, an der New York University zu studieren. Auch wenn ich nie schlecht gewesen war, war sie das Genie. Deshalb war es auch keine Überraschung gewesen, als sie gleich mehrere Jobangebote aus dem Ausland erhalten hatte.

Nach reiflicher Überlegung und unzähligen Gesprächen hatte sie sich für eine Stelle am Natural History Museum in London entschieden, wo sie als Kuratorin arbeitete. Seit einem Jahr lebten wir nicht mehr in derselben Stadt, und es war gelinde gesagt ein Schock gewesen. Dazu kam der Zeitunterschied zwischen London und New York.

Bevor Oliver und ich nach Rom geflogen waren, hatten wir einen Abstecher nach London gemacht, um sie zu besuchen. Weil sie aber keinen Urlaub hatte, war unsere gemeinsame Zeit knapp gewesen. Sie hatte mir jedoch versprochen, in den kommenden zwei Monaten irgendwann nach Italien zu kommen, um mich zu sehen.

„Was ist passiert? Du siehst aus, als hätten sich die Jonas Brothers getrennt.“

Ich verdrehte die Augen. „Von uns beiden bist wohl du diejenige, die in einen Hungerstreik treten würde.“

„Möglich. Was ist es dann? Oliver?“

„Oliver“, bestätigte ich mit einem düsteren Unterton und kippte mir auch den restlichen Wein hinter die Binde. Sofort breitete sich wohltuende Wärme in meinem Körper aus. Meine verkrampften Muskeln entspannten sich, weil ich mich nicht länger an eine unsichtbare Reling klammerte. „Er kommt nicht nach Brindisi.“

„Was?“, schrie sie, und ich musste das Handy weiter wegschieben. „Sorry.“

Ich winkte ab, bevor ich mich rücklings aufs Bett fallen ließ, das Handy über mein Gesicht haltend. „Er hat wohl eine neue Bekanntschaft gemacht. Was weiß ich? Jedenfalls bin ich jetzt auf mich allein gestellt.“

„Das tut mir leid, Babe.“ Ich rechnete es ihr hoch an, dass sie nicht sagte, sie hätte mich vor ihm gewarnt.

„Ach, und das Beste habe ich dir noch gar nicht erzählt: Er hat meine Kreditkarte ausgereizt. Ich bin offiziell pleite, wenn ich meine Eltern nicht anpumpen will.“ Ich legte das Handy mit der Kamera auf meine Nase.

„Deine Poren wollte ich gerade nicht sehen, aber ich verstehe deine Verzweiflung. Brauchst du was? Soll ich dir einen Flug buchen?“

Ich hob das Handy wieder an und blickte in Summers schönes Gesicht, auf dem ihre Sommersprossen deutlich hervorstachen. Im Hintergrund sah ich die gelb gestrichene Wand ihres Wohnzimmers und die gemütliche Couch, auf der Oliver und ich übernachtet hatten.

Es war ein seltsames Gefühl, wenn es keine gemeinsame Zukunft mehr gab. Wenn man das letzte Mal mit seinem Partner im Bett gelegen hatte, ohne sich dessen bewusst gewesen zu sein. Und jetzt … jetzt wirkte mein Leben einerseits unvollständig und andererseits voller Möglichkeiten.

„Soll ich denn nach Hause fliegen?“

„Was hast du sonst vor?“ Sie klang nicht verurteilend, als sie das fragte. „Ich meine, ich kann dir auch noch mehr Geld leihen, wenn du bei deinen Hexenschwestern nicht anrufen willst.“

Hexenschwestern. So nannte Summer meine älteren Schwestern Alba und Blanca, nachdem sie mehr als einmal mitbekommen hatte, wie herablassend sie sich mir gegenüber verhielten.

„Das ist lieb, aber … ich weiß auch nicht. Mein Kopf dröhnt. Ich glaube, ich muss erst mal heiß duschen und dann eine Nacht drüber schlafen.“ Ich raffte mich vom Bett auf und steuerte meinen Koffer an, als mir das Adressschild ins Auge fiel. Dunkelbraunes Leder.

Stirnrunzelnd hielt ich inne. War ich jetzt vollkommen abgedreht und konnte mich nicht dran erinnern, dass ich ein blaues, sondern ein braunes Schild angebracht hatte, oder …

„Fuck“, rief ich aus. Ich drehte das Schild um, und es war nicht mein Name, der dort in Druckbuchstaben geschrieben stand. „Fuck, fuck, fuck.“

„Was ist los?“ Alarmiert setzte sich Summer auf.

„Das ist der falsche Koffer. Fuuuuuck.“ Stöhnend sackte ich zu einem Häufchen Elend auf dem Boden zusammen. „Ich bin doch zum Klischee mutiert: inkompetent, naiv und tollpatschig.“

„So schlimm ist es doch sicher nicht …“ Summer war auch schon mal besser darin gewesen, mich aufzumuntern.

Ich zwang mich zu einem zittrigen Lächeln. „Das Urteil steht im besten Fall noch aus.“

Blick ins Buch
Resist Me LessResist Me Less

Roman

Er war ihre erste Liebe, jetzt ist er ihr größter Rivale!

Die 23-jährige Elora arbeitet als Köchin in einer Ferienanlage im italienischen Tursi, als sie zu einem Kochwettbewerb nach Rom eingeladen wird. Bei der im TV übertragenen Show kann sie endlich ihr Können unter Beweis stellen. Doch einer ihrer Konkurrenten ist ausgerechnet ihre Jugendliebe Jack, der sie hintergangen und ihr Herz gebrochen hat. Elora möchte Jack bei den Dreharbeiten aus dem Weg gehen, aber sie wohnen nicht nur im selben Hotel, sondern sollen auch gemeinsam Werbeveranstaltungen besuchen. Schon bald lassen erbitterte Kochduelle und hitzige Wortgefechte die Funken sprühen!


Band 1: Trust Me More

Band 2: Resist Me Less

Prolog

Elora

Meine Zimmertür war verschlossen. Sie hatten mich hier eingesperrt. Sollte ich überrascht sein? Vermutlich nicht. Bis vor wenigen Minuten hatte ich mich noch an die Tatsache geklammert, dass sie meine Eltern waren. Dass sie mich trotz ihrer Fehler liebten.

Diese Illusion lag nun zersplittert und scharfkantig in meiner Gefühlswelt. Ein Sturm kam auf, für den ich keine Zeit hatte.

In den sechzehn Jahren meines Lebens hatte ich gelernt, leise zu sein. Im Hintergrund zu existieren und im besten Fall keinen Mucks zu machen. Gefühle würden mich in Schwierigkeiten bringen. Es war besser, niemanden einzulassen. Und schon gar nicht meine Eltern.

Ironischerweise waren sie das komplette Gegenteil von mir.

Sie waren laut und ausfallend. Sie gestikulierten schnell und ungenau. Ihre Existenz war ein Desaster. Ihr Zorn unmenschlich.

Doch wehe, ich begegnete ihnen auf gleicher Ebene. Wehe, wenn die Drogen durch ihre Adern fluteten und sie zu Dämonen machten, die mich zerfleischen konnten.

Obwohl ich dies wusste, war ich erstaunt von der Niedertracht, die sich an diesem Abend angeschlichen hatte.

Ein bodenloser Abgrund tat sich vor mir auf, während ich die Arme um meine Knie schlang und sanft vor- und zurückschaukelte.

„Stell dich nicht so an, Elora“, lallte Dad aus dem Flur und schlug mit der flachen Hand gegen das Holz der Tür. Mittlerweile konnte ich die Art der Schläge voneinander unterscheiden. „Es ist ja nicht so, als wärst du noch Jungfrau. Er hat gesagt, er braucht nur ein paar Minuten mit dir und wir bekommen die Kohle.“

„Du willst doch auch nicht, dass uns das Wasser abgedreht wird, oder?“, mischte sich Mum mit ihrer kratzigen Hundert-Zigaretten-pro-Tag-Stimme ein. „Tu was für die Familie. Du hast hier lange genug schmarotzt.“

Dass ich arbeitete, seit ich zwölf war, und sie mir sämtliches Gehalt abnahmen, interessierte sie nicht. In ihrer eigenen Welt war ich undankbar und lediglich dafür gut, ihrem Willen zu gehorchen. Ihren Frust auszuhalten. Mich schlagen und peinigen zu lassen, damit sie ihren Schmerz für einige Minuten vergessen konnten.

„Ich hasse euch!“, schrie ich und verteilte Rotz und Spucke über meinen Ärmel. „Ich hasse euch!“

„Halt die Klappe, du kleine Göre. Er wird gleich hier sein.“ Dad schlug noch einmal gegen das Holz, ehe ich sich entfernende Schritte vernahm. Mums klackernde Absätze folgten ihnen in die Küche.

Sie hatten mich verkauft. An ihren Drogendealer.

Mein Verstand scheute vor dieser Wahrheit zurück, aber ich musste sie mir eingestehen. Ich konnte nicht weiter die Augen davor verschließen. Wenn ich blieb, würden sie mich endgültig zerstören.

Wenn ich blieb, würden sie mich töten. Auf die eine oder andere Weise.

Jeder meiner Knochen schmerzte, als ich mich auf dem schmalen Bett abstützte und aufstand. Mir blieb nicht viel Zeit. Es war bereits nach neun. Die vereinbarte Uhrzeit, wie ich herausgefunden hatte.

Schon vor einer Weile hatte ich jedoch damit begonnen, meine wichtigsten Habseligkeiten in einen schwarzen Armeerucksack zu stopfen. Nicht weil ich vorgehabt hatte, vor meinen Eltern zu fliehen, sondern mit ihnen zusammen. Vor den Kredithaien und den anderen Junkies. Vor ihren gefährlichen Freunden, von denen sie sich Geld, Drogen und Alkohol liehen, ohne die Absicht, etwas davon zurückzuzahlen.

Ich hievte den Rucksack im Dämmerlicht meines Zimmers auf die weiche Matratze. Mit fahrigen Fingern ging ich den Inhalt ein letztes Mal durch: Jeans, Tops, Pullis, Unterwäsche und ein Säckchen mit Knöpfen, die ich über die Jahre gefunden hatte. Verschieden groß und bunt. Jeder einzelne erzählte eine Geschichte, und wenn ich sie in den Händen hielt, konnte ich mich in ihre Welten träumen und meine eigene vergessen.

In der Tasche fand sich auch ein Buch über eine junge Frau, die Rache an dem Mörder ihrer Familie üben wollte und sich dann in dessen Sohn verliebte. Ein fantastisches Setting. Ein Happy End. Spannung und Liebe. All das, was mein Leben nicht bot. Es bestand bloß aus Enttäuschung und Frust.

Langsam drehte ich mich in dem kleinen Zimmer um, ehe ich mich innerlich von dem Zuhause der letzten vier Monate verabschiedete. Hier hielt mich nichts mehr.

Eilig schlüpfte ich in die Daunenjacke, und dann band ich mir den blauen Wollschal um, den ich in der U-Bahn gefunden hatte.

Ich spitzte die Ohren. Jemand klopfte heftig an der Haustür. Mein Herz sank. Die Sekunden verstrichen.

Mit den Fingern rutschte ich über das Holz des Fensterrahmens, als ich es nach oben drückte. Splitter gruben sich in meine Haut, aber ich spürte den Schmerz nicht. Nur die Panik, die das Rauschen in meinen Ohren unerträglich laut machte.

Schließlich war das Fenster weit genug geöffnet, damit ich hinausklettern konnte. Ein Haufen Schnee dämpfte mein Aufkommen auf der anderen Seite.

Beim Ausatmen bildeten sich weiße Wölkchen vor meinem Gesicht, so kalt war es.

Ich blieb nicht stehen. Ich drehte mich nicht um. Nein. Das war vorbei. Elora Brooke hatte aufgehört zu existieren. Ich rannte die enge Gasse entlang und hoffte, für immer in der Dunkelheit der Nacht verschwinden zu können.


1. Kapitel

Elora

Ich blinzelte heftig gegen die grelle italienische Sonne. Meine Atmung ging schneller, als es meine Tätigkeit rechtfertigte. Doch es war die Panik, die sich auch sieben Jahre nach meiner Flucht anzuschleichen wusste. Sie kroch immer dann auf mich zu, wenn ich am wenigsten mit ihr rechnete.

Gelächter und Gespräche rissen mich zurück in die Gegenwart. Neue Touristen mussten angekommen sein. Wenn mich nicht alles täuschte, war es die vierte Woche in Folge, die wir ausgebucht waren. Speranza mauserte sich allmählich zum Dauererfolg. Seit der Eröffnung waren bereits acht Monate vergangen, und in keinem Monat waren wir in die roten Zahlen gerutscht.

Dante und Cleo wussten, was sie taten. Außerdem vertrauten sie mir zu hundert Prozent bei dem, was ich machte. Kochen.

Ich durfte alles tun. Musste sie weder um Erlaubnis bitten noch mich auf irgendeine andere Weise rechtfertigen. Mein Budget war unendlich groß, auch wenn ich natürlich darauf achtete. Schließlich wollte ich, dass sich Speranza weiterhin rentierte.

Es war eine Umstellung gewesen. Vorher war ich hauptsächlich in der gehobenen Küche tätig gewesen. Eleganz und Präzision waren dabei genauso wichtig wie der vielfältige und vor allem mehrlagige Geschmack. Das hatte sich nun geändert. Ich orientierte mich zunehmend an der traditionellen Küche und versuchte, die Gäste sowohl zu beeindrucken als auch mit einem einzigen Gang zu sättigen.

Cleo und Dante versicherten mir, dass ich das ganz hervorragend hinbekäme, und ich hatte mich dazu entschlossen, ihnen zu vertrauen.

Irgendwie, irgendwann waren wir zu einem unschlagbaren Team geworden, und ich fühlte mich … sicher. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit fühlte es sich an, als könnte dies ein Zuhause sein.

Ich konnte nicht sagen, ob das die Endstation für mich war. Schließlich war ich erst fast vierundzwanzig und dafür noch ziemlich jung in meiner Karriere. Andererseits hatte ich viel mehr erreicht als andere Köchinnen in meinem Alter, und das verfälschte manchmal mein Bewusstsein für meine eigene Situation. Schließlich hatte ich schon in zwei verschiedenen Küchen mit jeweils einem Michelin-Stern gearbeitet, und das konnten nicht alle von sich behaupten. Das waren Jahre, in denen ich am meisten gelernt hatte.

Seufzend werkelte ich weiter an den Artischocken, die heute geliefert worden waren. Da sie nicht lange haltbar waren, wollte ich sie schnell verarbeiten und in meine eigene Ölrezeptur einlegen. Frisch schmeckten sie zwar auch wunderbar, aber eingelegt und mit einer delikaten Tomaten-Muschel-Soße serviert, waren sie unwiderstehlich.

Die grünen Blätter zu entfernen, um an das köstliche Herzstück zu kommen, glich einer Sisyphusarbeit, doch es lohnte sich. Selbst als ich lautlos fluchte, weil ich die faserigen, zarten Fäden, das sogenannte Heu, entfernen musste, dachte ich an das Ergebnis. Der Choke war ungenießbar, und es gab keinen anderen Weg daran vorbei, als mich meinem Schicksal zu ergeben und den Löffel als Waffe zu schwingen, bis keine Fäden mehr übrig waren.

Ich spürte, wie sich ein Lächeln auf meine Lippen stahl, weil es mich glücklich machte, über den extraordinären Geschmack nachzudenken.

Aber nicht nur das bereitete mir hier auf Speranza Freude. Die Gäste waren größtenteils zuvorkommend und offen. Sie erzählten so viele spannende Geschichten, und wenn sie zudem meine Kochkünste lobten, konnte ich mit leichtem Herzen einschlafen. Dazu kamen meine fünf treuen Begleiter: die getigerte Katzenmama Lune und ihre vier Jungen, die mittlerweile ganz schön groß geworden waren. Ich hatte sie Uno, Due, Tre und Quattro getauft. Zum Unmut von Dante, der die Namen richtig öde fand. Trotzdem überließ er mir die Entscheidung.

Ich hatte Lune und die Kätzchen zum Tierarzt gebracht, sie impfen, sterilisieren, kastrieren und am Ende noch chippen lassen, damit sie uns nicht verloren gingen. So wie ich Teil von Speranza war, so gehörten auch sie dazu. Selbst Dante erhob nie einen Einwand dagegen, schließlich hielt er sich immer noch eine Kuh, Ziegen, ein Schwein, Hühner und einen Hahn.

„Alexa, Lautstärke auf sechzig Prozent“, sagte ich, bevor ich lauthals mit Eros Ramazotti mitsang und alles um mich herum vergaß.

Es war egal, ob dies Glück war oder nicht. Für mich war es die bisher beste Zeit meines Lebens.

 

„Es gibt nichts Schöneres als diesen Whirlpool“, sagte Cleo und stöhnte ausgiebig, während sie sich bis zum Hals ins blubbernde Wasser sinken ließ.

„Wirklich? Nichts Schöneres?“, fragte Dante mit hochgezogenen Brauen. Er legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich.

Ich saß ihnen gegenüber. Isaac, Dantes Bruder, reichte uns meine vorbereiteten Raspberry-Gin-Cocktails. Das optimale Getränk, um den Feierabend zu genießen. Heute war wirklich alles perfekt gewesen.

Bis auf meine kurzzeitige Schockstarre in der Küche, aber darüber konnte ich hinwegsehen.

„Danke.“ Er beugte sich herab und platzierte einen Kuss auf meinen Lippen, während ich das Glas festzuhalten versuchte. In meinem Bauch kribbelte es.

„Nichts zu danken“, sagte er leise und verheißungsvoll.

Ich spürte, wie Hitze in meine Wangen stieg, weil meine Gedanken sofort zu der bevorstehenden Nacht wanderten. Zum Glück waren Dante und Cleo zu beschäftigt miteinander, um meine Verlegenheit zu bemerken. Oder meine Vorfreude.

Isaac bot mir das, was ich brauchte. Keine Bindung. Keine Erwartungen. Wir fühlten uns zueinander hingezogen, und wann immer Isaac aus New York nach Speranza kam, frischten wir unsere Erinnerungen vom Körper des anderen auf. Kein schlechter Deal.

Ehrlich gesagt, sprang dabei mehr für mich raus als für ihn. Schließlich musste er zwölf Stunden zu mir reisen.

Ich sah ihn lächelnd an, als er neben mir ins Wasser glitt.

Jedes Mal war ich beeindruckt davon, wie gut er aussah. Als würde ich es ständig vergessen.

Sein aschblondes Haar, seine graublauen Augen und die geschwungenen Lippen, die mich in andere Sphären zu bringen vermochten. Am meisten liebte ich seine Größe und seine breiten Schultern. Wenn er mich in den Armen hielt, konnte ich die Welt um mich herum komplett ausblenden. Dann existierten nur noch wir beide. So wie ich es am liebsten hatte.

„Das schmeckt hervorragend, Elora“, sagte Dante und stieß mit seinem Glas gegen meines. Die Eiswürfel klirrten in der hellroten Flüssigkeit gegeneinander.

Der Whirlpool befand sich in dem privaten Hof der Anlage und war nicht für Gäste einsehbar. In meinem Rücken breiteten sich die Weinplantage und dahinter das Dorf Tursi aus. Da Cleo den Anblick am allermeisten von uns liebte, saß ich meistens davon abgewandt. Das störte mich nicht, da ich mir das Panorama oft genug anschauen konnte.

„Find ich auch“, stimmte ihm Cleo zu. Das Wasser schwappte umher, als Isaac sein Glas wegstellte. Wie immer hatte er den Inhalt innerhalb weniger Sekunden inhaliert. „Hey!“

„Sorry, das liegt an meiner Größe.“ Er grinste schelmisch. Mein Herz flatterte. Wenn er nicht heiß war, dann war er süß.

„Ich übergebe mich gleich“, beschwerte sich Dante und machte ein würgendes Geräusch.

„Du bist bloß eifersüchtig.“

Cleo fuhr mit einer Hand über Dantes gebräunten Brustkorb, sah dabei aber Isaac an. Ohne zu blinzeln, erwiderte sie: „Glaub mir, er ist mehr als groß genug.“

„Jetzt kotz ich gleich“, sagte Isaac. Unter Wasser aber legte er einen Arm um meine Taille und zog mich näher zu sich heran.

„Ich glaube auch nicht, dass ich weiter Teil dieses Gesprächs sein will“, murmelte Dante mit leicht geröteten Wangen. Das erkannte ich bloß wegen des Lichts der Laterne, die über uns an der Natursteinwand hing. Abgesehen davon wurde es zunehmend dunkler und ein wenig kühler.

Es war erst Ende April, und auch wenn tagsüber schon hohe Temperaturen herrschten, kam abends oftmals noch ein frischer Wind auf, der für die hohen Lagen hier üblich war.

„Ah, wie sollen es Dante und ich nur ohne euch zwei aushalten?“, sinnierte Cleo und klang überhaupt nicht so, als würde ihr das etwas ausmachen.

„Also ich verstehe schon, dass ihr Isaac nicht vermissen werdet, aber mich?“, zog ich ihn auf, während ich unter Wasser eine Hand bis zu seinem Knie und dann wieder bis zu seiner weiten Schwimmhose gleiten ließ.

„Nicht nett“, grummelte er an meinem Ohr. „Das werde ich mir für gleich merken.“

Meine Atmung beschleunigte sich, und dieses Mal hatte es absolut nichts mit einer herannahenden Panikattacke zu tun.

„Stimmt. Deine Küche wird uns fehlen. Aber …“ Cleo lächelte warm. „Du wirst gut Werbung für uns machen. Die Show wird in den sozialen Medien schon richtig gehypt. Obwohl nicht mal alle Kandidaten bekannt sind. Und natürlich wirst du gewinnen.“

„Mach ihr keinen Druck, Babe. Sie wird zumindest ins Finale kommen!“

„Hast du kein Vertrauen in sie?“, beschwerte sich Cleo bei ihrem Freund.

„Hey, hey, ich werde einfach mein Bestes geben“, mischte ich mich ein, bevor ich noch Grund für eine Krise war. Nicht, dass sich die beiden jemals länger stritten. Das hielten sie nicht aus.

„Was anderes erwarten wir gar nicht von dir.“ Isaac küsste meine Schläfe. „Und zumindest eine Woche kann ich dich anfeuern. Dann muss ich zurück nach New York. Das Geschäft ruft. Nachdem mein Bruder all die Verantwortung auf mich abgewälzt hat.“

„Komm, Cleo, mein kleiner Bruder muss offensichtlich noch ein wenig in sich gehen, um zu erkennen, wem Respekt gebührt.“ Dante erhob sich schmunzelnd und brachte das Wasser wieder in Bewegung.

Cleo folgte ihm aus dem Whirlpool. „Da wären wir wieder bei der Größe“, zwitscherte sie vergnügt. „Bis morgen!“

Isaac machte ein würgendes Geräusch.

„Gute Nacht“, wünschte ich ihnen und nippte an meinem Cocktail.

„Sind sie weg?“, brummte Isaac.

Ich blickte über meine Schulter, konnte in den Schatten aber nur noch den menschenleeren Hof mit den Weinreben erkennen, die sich um das Spalier rankten.

„Ja“, bestätigte ich. Im nächsten Moment zog mich Isaac auf seinen Schoß und verschloss meinen Mund mit seinem. Nur gerade so ließ ich das Glas nicht ins Wasser fallen.

„Hm, du schmeckst nach Himbeeren“, wisperte er und neckte mich dann mit der Zunge, die er über meinen Mundwinkel gleiten ließ. Ich senkte die Lider und öffnete meinen Mund, weil ich mehr von diesem euphorischen Gefühl wollte. Diese Hitze, die meine Vergangenheit zumindest kurzzeitig verdrängte.

Ich legte eine Hand in seinen Nacken und stellte, ohne hinzuschauen, das Glas auf die Ablage irgendwo rechts neben mir.

„O Wunder, du schmeckst auch nach Beeren“, sagte ich, ehe er mich zum Stöhnen brachte. Er löste mit einer Hand die Bänder meines Bikinioberteils, sodass es sich in die Blubberblasen verabschiedete und ich obenrum entblößt auf ihm saß. Mit den Händen berührte er meine Brüste und strich dann hauchzart über meine Knospen, die sich bereits aufgerichtet hatten.

Instinktiv veränderte ich meine Stellung, sodass ich nunmehr rittlings auf ihm saß und seine Erektion an meiner heißen Mitte spüren konnte.

„Ich krieg nicht genug von dir“, raunte er. Als er mir in die Unterlippe biss, verlor ich fast den Verstand.

„Du bist fast das Beste an Speranza“, erwiderte ich.

„Nur fast, hm? Da muss ich wohl noch ein bisschen Überzeugungsarbeit leisten.“

Durch die Hose umfasste ich mit einer Hand seine Erektion und blickte ihm fest in die Augen. Sein Mund war leicht geöffnet. Er regte sich nicht.

„Ich bin schwer zu überzeugen“, sagte ich leise.

„Hm, wie sieht es jetzt aus?“ Er rieb einen Finger über meine empfindlichste Stelle. Die Hitze raste durch meinen Körper, und kurz danach vergaß ich, worüber wir überhaupt gesprochen hatten.

 

Weil draußen kein Kondom griffbereit gewesen war, hatten wir uns gegenseitig lediglich mit unseren Händen in den Wahnsinn getrieben. Nicht, dass es weniger gut gewesen wäre, doch eine fade Note blieb zurück. Als wäre ich nicht ganz … zufriedengestellt. Doch schon ab morgen wären wir zusammen für eine Woche in Rom. Eine Woche, in der wir jeden Tag Sex haben konnten, wenn ich wollte. Und er natürlich auch. Und danach müsste ich für mich allein sein. Das Kochduell, zu dem ich eingeladen worden war, würde sich über einen ganzen Monat erstrecken. Mehr Zeit als genug, um neue Bekanntschaften zu schließen.

Das Kamerateam und einer der Regisseure waren erst vor zehn Tagen abgereist, nachdem sie auf der Ferienanlage ein paar Aufnahmen mit mir gemacht hatten. Ich hatte sie herumgeführt und lediglich meinen Job in der Küche gemacht, wobei sie mich gefilmt hatten. Danach hatte ich noch ein schmalziges Interview über meinen Werdegang abgegeben, bei dem ich natürlich nichts über meine Vergangenheit in England erzählt hatte.

Am Ende des dreitätigen Drehs war ich froh gewesen, als sie wieder nach Rom geflogen waren. Speranza war mein Zufluchtsort, und sie hatten ihn gestört. Auch wenn ich mich freiwillig morgen in die Höhle des Löwen begab, war es doch was anderes. Ich könnte immer nach Speranza flüchten, ohne dass einer von ihnen sich hier aufhielt. Das reichte schon aus, um mich zu beruhigen.

Ich saß an meinem Kosmetiktisch und kämmte durch mein feuchtes kastanienbraunes Haar, während ich es föhnte, damit es mir voluminös auf die Schultern fiel. Dabei musste ich besonders auf meinen Pony achtgeben, der ungestylt furchtbar aussah. Wenn ich nicht mindestens diesen Aufwand betrieb, würden sich meine Locken verselbstständigen und wenig glamourös um meinen Kopf tanzen. Nicht, dass Glamour mein Ding gewesen wäre, aber in dem Jahr, in dem ich England verlassen hatte, hatte ich mich auch von meinen Locken verabschiedet.

Dazu kam, dass ich gemerkt hatte, wie viel einfacher es war, sich geschminkt und gestylt durch die Gesellschaft zu bewegen. Anfangs hatte ich gedacht, ich würde damit zu sehr auffallen, aber das Gegenteil war der Fall. Wenn man sich so kleidete wie alle anderen, wurde man viel weniger wahrgenommen. Die Massen verschluckten mich, und das war mir absolut willkommen.

Ich tat alles, um nicht von meinen Eltern gefunden zu werden. Hatte sogar meinen Nachnamen geändert – zu Moore – und war seit meiner … anderen Flucht nicht mehr nach England zurückgekehrt. Ich wusste nicht, was mit meinen Eltern geschehen war. Ob sie bereits an einer Überdosis oder im Zuge eines schlecht gelaufenen Deals gestorben waren, aber ich wollte kein Risiko eingehen. Selbst wenn sie nicht mal die finanziellen Möglichkeiten oder den IQ hätten, nach mir zu suchen.

Das Kochduell war einerseits leichtsinnig, weil mein Gesicht vermutlich überall im Internet zu sehen sein würde, andererseits hatten meine Eltern solche Formate nie interessiert. Während ich jede Kochsendung aufgesaugt hatte, die ich finden konnte, hatten sie im Rausch auf dem Boden gelegen.

„Es wird schon alles gut werden“, sagte ich meinem Spiegelbild und machte ein zuversichtliches Gesicht. Es konnte nicht schaden, positive Energie auszusenden. Vielleicht kam sie zurück.

Ich legte mich zu Miss Pummel, meinem Schweinchenstofftier, ins Bett und schaltete das Licht aus. Doch weil ich selten sofort einschlafen konnte, scrollte ich noch eine Weile durch Social Media.

Wider Willen landete ich auf dem Profil meiner Erznemesis: Jack Park.

Wahrscheinlich hatte mich mein Tagalbtraum daran erinnert, dass in meiner Vergangenheit noch mehr im Argen lag. Der Grund meiner zweiten und damit meiner endgültigen Flucht aus England: Jack. Meine erste große Liebe. Der Kerl, der mir das Herz in Stücke gerissen hatte.

Sein letztes Foto zeigte ihn herausgeputzt in einem Smoking und mit einem Glas Champagner auf irgendeiner Gala in Verona. Es störte mich, dass er auch in Italien war. Wurde es nicht langsam Zeit, dass er sich um das Familienimperium Park Diner kümmerte? Schließlich hatten seine Eltern alles getan, damit ich keine Ablenkung für ihn darstellte.

Eigentlich hatte ich auf den Pfeil zurück klicken wollen, doch mein Daumen rutschte ab und landete auf seinem Profilbild. Dadurch ploppte seine aktuelle Story auf, und ich wusste, dass ich einen großen Fehler begangen hatte. Hektisch schaltete ich das Display aus.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Was, wenn er sah, dass ich ihn gestalkt hatte? O Gott! Ich strampelte aufgeregt und gleichzeitig auch frustriert wegen meines eigenen Verhaltens mit den Beinen unter der leichten Decke. Wieso kam ich noch immer nicht von ihm los?

Ich schüttelte den Kopf. Er hatte fast zweihunderttausend Follower. Wahrscheinlich checkte er nicht mal, wer seine Storys anschaute, weil es so viele waren. Ich glaubte auch nicht, dass mein Name ganz oben in der Liste auftauchte. Das wäre wirklich schlechtes Karma.

Nachdem ich die Argumente noch ein paarmal lautlos wiederholt hatte, wurde ich ruhiger. Ich stellte mir den Wecker für den nächsten Morgen und zog mir die Decke bis zum Kinn.

Es würde schon alles irgendwie funktionieren. Oder zumindest so weitergehen wie bisher. Das war ausreichend.

Schnelle Autos, traumhafte Reisen und höherschlagende Herzen

Blick ins Buch
Cross the Line – Auf der Rennstrecke kämpft er um den Sieg, im Leben um ihr HerzCross the Line – Auf der Rennstrecke kämpft er um den Sieg, im Leben um ihr Herz

Roman

Platz 1 für die Liebe

Devs Karriere als Formel-1-Fahrer steht auf dem Spiel. Nach einem Skandal ist sein Image ruiniert, und nur eine kann es retten: Willow. Doch sie ist die Schwester seines besten Freundes, und seit er sie geküsst hat, denkt er ständig an sie. Als Dev Willow bittet, seine Social Media-Managerin zu werden, kann sie nur zusagen, sucht sie doch ihren Traumjob im Sportmarketing. Dafür muss sie aber die Gefühle für ihn ignorieren. Willow und Dev wollen professionell sein, ungeachtet der glühenden Chemie zwischen ihnen. Doch in der rasanten Welt der Formel 1 muss man manchmal Grenzen überschreiten ...

Prolog

Dev

Oktober – Austin, Texas

Ich hab’s vermasselt. Oje, und wie ich es vermasselt habe.

Mein Renningenieur ertönt in meinem Ohr und stellt mir Fragen wie „Was ist passiert?“ und „Alles okay?“ und – am wichtigsten: „Wie groß ist der Schaden am Wagen?“. Ich muss ihm antworten, muss ihm und dem Team versichern, dass ich bei Bewusstsein bin, nachdem ich über den Schotter geschlittert bin und mit fast hundertsechzig Stundenkilometern eine Absperrung gerammt habe.

Für den Moment müssen sie sich auf die Computerbildschirme an der Boxenmauer verlassen, die meinen Pulsschlag anzeigen, denn ich kann keine Worte formen, um es ihnen mitzuteilen. Nicht weil körperlich irgendetwas mit mir nicht stimmt. Mein Gehirn ist einfach … nicht präsent. Es nimmt sich einen Tag frei. Ist gerade beim Lunch. Und das liegt nicht am Unfall.

„Dev?“, durchbricht Brannys Stimme, die selbst über den Funk ernsthaft besorgt klingt, den Nebel. „Kannst du mich hören? Bist du okay? Ich wiederhole: Bist du okay?“

„Mir geht’s gut“, presse ich hervor, wobei ich noch immer das Lenkrad umklammere. Wahrscheinlich sind meine Fingerknöchel unter den Handschuhen weiß. „Aber der Wagen ist hinüber. Tut mir leid, Leute. Das geht auf meine Kappe.“

Wie jeder gute Ingenieur wird er wissen wollen, wo das Problem lag, aber ihm ist klar, dass es besser ist, mich nicht über den Boxenfunk zu fragen, wo es alle Welt hören kann. Die Unterhaltung muss bis zum Debriefing warten, bei dem ich von unserem Geschäftsführer, unserem Teamchef und meinem leitenden Mechaniker einen Einlauf bekommen werde. Den habe ich auch verdient, denn es war tatsächlich meine Schuld.

Es lag nicht am Wagen, am Belag der Rennstrecke, an einem anderen Fahrer oder an den Wetterverhältnissen. Nein, ich habe hinter dem Steuer eine Todsünde begangen.

Ich war abgelenkt.

Es hätte nicht passieren dürfen. Das ist in all meinen Jahren als Rennfahrer bisher nicht einmal vorgekommen, und ganz bestimmt nicht in meinen letzten fünf Jahren als Formel-1-Fahrer. Noch nie bin ich mit den Gedanken derart abgeschweift, dass der hintere Teil des Wagens unkontrolliert ausgeschert ist. Ich hatte kaum Zeit, zu reagieren, ehe ich mit voller Wucht gegen die Absperrung geprallt bin.

„Stell den Motor ab und komm zurück in die Box“, weist mich Branny an.

Bevor ich noch mehr Fehler mache, gehorche ich. Schon jetzt kann ich mir vorstellen, was die TV-Kommentatoren über die möglichen Gründe meines Unfalls zu sagen haben. Ich kann sie förmlich hören: Es ist zwar wahnsinnig enttäuschend, aber das Wichtigste ist, dass es ihm gut geht.

Doch es geht mir nicht gut. Davon bin ich weit entfernt. Ich habe es gehörig vermasselt – und damit meine ich nicht den Unfall.

Selbst während ich aus dem geschrotteten Wagen klettere und mich von dem millionenschweren Schaden entferne, kann ich nicht aufhören, daran zu denken. Wenn ich ehrlich zu mir bin, kommen die Dinge vielleicht nie wieder in Ordnung.

Denn ich habe gestern Abend Willow Williams geküsst. Ich bin ein toter Mann.


Kapitel 1

Willow

Sieben Monate später, Mai – New York City

Fast hätte ich meine Wohnung in Brand gesetzt. Schon wieder.

Macarons zu machen, sollte nicht derart schwer sein. Sie sind klein und niedlich, und laut Rezept werden ausgesprochen simple Zutaten benötigt – lediglich Eiweiß, Mandelmehl und Zucker. Also warum, oh warum, kann ich nicht mal ein Blech zubereiten, ohne die Sache vollkommen in den Sand zu setzen?

„O nein, o Shit“, murmele ich, während ich nach dem Ofenhandschuh auf der Arbeitsplatte greife und das mittlerweile qualmende Gebäck heraushole. Laut Timer sollten die Macarons erst in fünf Minuten fertig sein, dennoch sind sie jetzt schon fast vollkommen verkohlt. Entweder war im Rezept die falsche Temperatur angegeben, oder mein Ofen stammt geradewegs aus der Hölle. Ich tippe auf Letzteres.

Ich will unbedingt die berühmten klassischen Macarons aus Stella Margaux’ Bakery nachbacken, da die einzige Filiale in New York City schon seit einem Monat wegen Renovierungsarbeiten geschlossen hat und ich ohne das Gebäck nicht leben kann. Die Nachricht über die Schließung hat ausgereicht, um mich erwägen zu lassen, zurück an die Westküste zu ziehen, wo es praktisch an jeder Ecke ein Stella’s gibt. Aber wenn ich in den nächsten zwei Monaten keinen Job finde, bleibt mir vielleicht ohnehin nichts anderes übrig, als nach San Diego zurückzukehren und wieder bei meiner Familie zu wohnen.

Ich kam vor vier Jahren nach New York, um ans College zu gehen, eigentlich mit dem Vorhaben, vielleicht für den Rest meines Lebens hierzubleiben. Das Studium haben mir meine wundervollen Eltern unter der Bedingung finanziert, dass ich nach dem Abschluss mein eigenes Geld verdiene. Sie hätten zwar in Wahrheit kein Problem damit, mich auch weiterhin zu unterstützen, und könnten es sich auch leisten, aber mir geht es ums Prinzip. Ich habe ein Versprechen gegeben und vor, es zu halten, nur habe ich nicht damit gerechnet, dass es so schwer sein würde.

Am College riss ich mir den Allerwertesten auf, studierte als Hauptfächer Kommunikationswesen und Sportmarketing, als Nebenfach Englisch und machte jedes Semester ein neues Praktikum. Bei all der Erfahrung, dachte ich, würde es ein Leichtes sein, einen Vollzeitjob in der Marketingabteilung eines professionellen Sportvereins zu finden – mein absoluter Traumjob. Doch nach Dutzenden Bewerbungen, auf die ich keine Antwort erhielt, nach Vorstellungsgesprächen, die mich nie in die zweite Runde brachten, und niemals enden wollenden „Wir melden uns“-Lügen bin ich immer noch arbeitslos. Es wäre weitaus schlimmer, wenn ich bereits vor Jahren meinen Uniabschluss gemacht hätte und nicht erst letzte Woche, aber ich bewerbe mich schon seit Monaten auf Stellen, in der Hoffnung, längst Arbeit zu haben, wenn mir mein Diplom überreicht wird.

Ha. Der Schuss ging nach hinten los, denn nun stehe ich ohne Job, mit einer dahinschwindenden Summe auf meinem Bankkonto und einer zweistündigen Fahrt bis zur nächsten Stella-Margaux-Filiale da. Ich führe also nicht das Leben, das ich mir erträumt hatte. Aber wenigstens habe ich bisher nicht aufgegeben.

„Was verbrennt denn hier?“, fragt Chantal, die im Türrahmen steht und angesichts des Gestanks das Gesicht verzieht.

Seufzend setze ich mich in Bewegung, um das Fenster zu öffnen, wobei ich meiner Mitbewohnerin über die Schulter einen Blick zuwerfe. „Meine Hoffnungen und Träume.“

„Hab ich mir schon gedacht. Riecht fürchterlich.“

Das kann ich nicht bestreiten.

„Ist schon der vierte Versuch, den ich heute in den Sand setze“, beklage ich mich, während ich zu ihr schlurfe. Da ich Trost brauche, lege ich meine Schläfe an ihren Oberarm – nicht an ihre Schulter, da ich nur eins zweiundfünfzig bin und sie ein ein Meter fünfundachtzig großer Engel ist. „Die erste Ladung war nicht süß genug. Die zweite war so platt wie Crêpes. Die dritte war nicht gar, und diese hier …“

„Steht in Flammen.“

„Ist angebrannt“, korrigiere ich, löse mich von ihr und bedenke sie mit einem warnenden Blick. Allerdings kann ich ihr nicht allzu böse sein, denn kurzzeitig brannten sie tatsächlich. „Ich bekomme es einfach nicht hin, aber weiß nicht, was ich falsch mache.“

„Gönn dir eine Pause“, befiehlt Chantal. Ihr Tonfall ist entschieden, doch es schwingt auch Fürsorge darin mit. „Du kannst es morgen noch mal probieren.“

Natürlich hat sie recht, also werde ich mich zusammenreißen, mich aufraffen und einen neuen Versuch wagen, genau wie ich es immer tue. Doch ihr ist klar, dass mein Frust nicht nur etwas mit den Macarons zu tun hat. Sie weiß, wie sehr ich mir ein perfektes Leben wünsche und wie schwer es mir zusetzt, dass ich Schwierigkeiten habe, dieses Ziel zu erreichen. Da sie schon seit unserem Freshman-Jahr am College meine Mitbewohnerin ist, hat sie viele Höhen und Tiefen miterlebt und weiß alles über meine Hoffnungen und Träume. Ich kann von Glück reden, dass sie ihr Traumjob als Finanzanalystin – das muss man sich mal vorstellen – in New York hält, denn ich weiß nicht, was ich ohne sie tun würde.

„Ich bestell uns was zu essen, damit niemand dieses Katastrophengebiet betreten muss“, verkündet sie nun und zieht ihr Telefon aus der hinteren Tasche ihrer Jeansshorts, die ihre langen dunkelbraunen Beine zur Schau stellt. „Und jetzt guck endlich mal auf dein Handy, okay? Es vibriert ununterbrochen in deinem Zimmer und treibt mich in den Wahnsinn.“

Ich schenke ihr ein verlegenes Lächeln. „Sorry. Ich wollte mich nicht ablenken lassen, deshalb hab ich es nicht mit in die Küche genommen.“

Verschmitzt zieht sie eine Augenbraue hoch. „Du meinst, du wolltest nicht riskieren, es noch mal in die Teigmischung fallen zu lassen.“

Mein Gesicht brennt angesichts der Erinnerung an den erwähnten Backversuch. „Das ist nur einmal passiert!“

Sie wirft sich ihre Braids über die Schulter, während sie aus der Küche schlendert, wobei die kleinen Perlen an den Haarspitzen klickend aneinanderstoßen. Letzte Woche habe ich ihr dabei geholfen, sie auszuwählen; das Gold und das kräftige Azurblau passen perfekt zum wärmer werdenden Wetter und sind außerdem ihre letzte Chance, ein paar auffälligere Töne zu tragen, bevor sie ihren neuen Job antritt und sich eine „professionell“ wirkende Frisur zulegen muss. Es wäre toll, wenn die Welt endlich damit aufhören könnte, uns Schwarzen Frauen zu erzählen, was in Bezug auf unser Haar angemessen ist, aber dieser Tag ist noch nicht gekommen.

Seufzend löse ich meine Schürze und hänge sie an den Haken neben dem Fenster. Die pastellrosa Baumwolle flattert in der warmen Brise und verspottet mich und mein Versagen. Ich würdige die verkohlten Macarons keines weiteren Blickes, als ich die Küche verlasse und durch den schmalen Flur zu meinem Zimmer tapse.

Als ich an Grace’ offener Tür vorbeikomme, höre ich Gesprächsfetzen ihres Telefonats. Das gelegentliche Ächzen und die (sehr wenigen) Worte auf Kantonesisch, die ich dank dem, was sie mir über die Jahre beigebracht hat, verstehe, verraten mir, dass sie mit ihrer Mutter spricht. Wahrscheinlich versichert sie ihr, dass sie morgen nicht ihren Flug nach Hongkong verpassen wird, so wie es ihr bereits zweimal passiert ist.

Sie winkt mir mit den Fingern zu, als ich vorbeigehe, und ich schenke ihr einen Luftkuss, ehe ich in mein Zimmer nebenan husche. Die Sonne scheint durch meine Gardinen herein und wirft Schatten auf meinen Schreibtisch. Darauf liegt mein Handy eingekeilt zwischen ein paar Hautpflegeprodukten und einem Becher voller Glitzergelstifte. Das Display ist dunkel, aber als ich es hochhebe, sehe ich eine Reihe von Nachrichten und verpassten Anrufen, alle von meinem Bruder.

Die meisten Leute würden davon ausgehen, dass es irgendeinen Notfall gibt, aber für Oakley ist das nicht ungewöhnlich. Wenn er mich – oder irgendeine andere Person – beim ersten Versuch nicht erreicht, ruft er so lange an und schickt Nachrichten, bis ich drangehe. Diese Art von Aufdringlichkeit ist bei ihm Standard.

Ich mache mir gar nicht erst die Mühe, eine der zwanzig Nachrichten zu lesen. Wahrscheinlich handelt es sich ohnehin nur um Emojis und die wiederholte Aufforderung: Geh ran!!!! Stattdessen tippe ich seinen Namen an, halte mir das Telefon ans Ohr und lasse mich auf meine zerknitterte Bettdecke fallen, wobei ich durch das Fenster zu dem Backsteingebäude auf der anderen Straßenseite schaue.

„Das hat aber lange gedauert“, murrt Oakley, als er drangeht.

„Ich war beschäftigt“, sage ich ausweichend. Wenn ich ihm mein Backdesaster gestehe, wird er mich ewig damit aufziehen. „Was gibt’s?“

„Willst du nach Monaco?“

Noch etwas, das typisch für meinen Bruder ist – er redet nicht um den heißen Brei herum.

Obwohl ich daran gewöhnt bin, bringt mich die Frage aus dem Konzept. „Monaco?“, wiederhole ich. „Das Land?“

„Ja, Willow, das Land“, antwortet er ironisch. „Sei nicht so schwer von Begriff.“

Ich verdrehe die Augen und zeige ihm innerlich den Mittelfinger. „Gott, ich hab ja nur nachgefragt.“

„Also?“ Ich kann mir ausmalen, wie er dabei ungeduldig mit der Hand eine kreisende Bewegung in der Luft vollführt. „Hast du Interesse oder nicht?“

„Ich meine, ja“, erwidere ich, obwohl ich dem Angebot nicht ganz traue. „Wer hätte das nicht? Aber warum fragst du überhaupt?“

„Weil ich nächste Woche hinfliege und dachte, dass du mich vielleicht begleiten willst. Außerdem ist es ein Rennwochenende und …“

Ich unterbreche ihn mit einem Schnauben. „Ich hätte wissen müssen, dass es um Motorsport geht.“

Als Teenager drehte sich das ganze Leben meines Bruders um Kartsport, was zu einer erfolgreichen, aber kurzen Karriere in der Formel 3 führte. Am Ende gab er das Fahren auf, um ein „normales“ Leben zu führen und ans College zu gehen. Ich persönlich hätte mir die Chance, professionelle Sportlerin zu werden, niemals entgehen lassen, aber das ist der Unterschied zwischen Oakley und mir – er hatte Optionen im Leben. Ich nicht.

„Und“, fährt Oakley fort, „meine Firma organisiert ein riesiges Event. Da dachte ich mir, du willst dich vielleicht ein bisschen mit den Fahrern unterhalten und dir dann das Rennen vom Fahrerlager aus ansehen. Dank SecDark hab ich Tickets.“

Unter „normal“ verstand Oakley, am College Cybersecurity zu studieren. Während des Herbstsemesters seines Senior-Jahres wurde er von einem der führenden Unternehmen der Branche, SecDark Solutions, rekrutiert und arbeitet seitdem dort. Das Unternehmen läuft so gut, dass es seit Kurzem auch diverse Sportmannschaften und Athleten sponsert, darunter ein Formel-1-Team, was auch die Party und die Fahrerlagerpässe erklärt. Wäre ich nicht so stolz auf meinen Bruder, weil er sich in einem aufsteigenden Unternehmen derart hochgearbeitet hat, wäre ich höllisch neidisch. Doch da sein Erfolg auch mir Vorteile verschafft, kann ich mich nicht darüber beschweren, dass er besser ist als ich.

„Ich weiß, dass du Probleme hast, einen Job zu finden“, sagt er, ehe ich weitere Fragen zu dem Event stellen kann, „aber es könnte eine gute Gelegenheit für dich sein, ein paar Kontakte zu knüpfen. Du hast deinen Sportmarketing-Traum doch noch nicht aufgegeben, oder?“

Ich drehe mich auf die Seite und ziehe meine Knie an die Brust. Oakleys Behutsamkeit beschämt mich mehr, als wenn er sich darüber lustig machen würde, dass ich immer noch arbeitslos bin.

Eine Karriere in der Sportbranche war schon immer mein Traum. Als Kind mochte ich Baseball und Basketball, liebte es, mit Oakley und unserem Vater zu Spielen zu gehen, liebte die elektrisierende Energie der Menge, die für ihre Mannschaft jubelte. Ich war von der Sekunde an begeistert, in der mein Dad mich an die Hand nahm und zum ersten Mal in ein Stadion führte. Danach gab es kein Zurück mehr. Ich wollte wie die Leute auf dem Spielfeld sein, wollte zu den Bases rennen und Halbfeldwürfe versenken. Ich wollte, dass die Menschen auf den Tribünen meinen Namen sangen, wollte, dass er durch das Stadion schallte und in den Herzen der Fans pochte.

Leider hielt mich mein Körper davon ab, diesen Traum Realität werden zu lassen. Obwohl es Jahre und unzählige Arztuntersuchungen dauerte, um die Diagnose Hypermobilität zu erhalten, wusste ich schon früh, dass ich anders war als die meisten Kinder. Meine Baseball-Karriere endete, nachdem ich mir bei meinem ersten Training die Schulter auskugelte, und Basketball stand sowieso vollkommen außer Frage, da meine schwachen Kniegelenke den Sprints und Stoppbewegungen nicht standhielten. Sportlerin zu werden, war für mich einfach keine Option.

Nachdem ich also jahrelang zugesehen und gelernt hatte, kam ich zu dem Schluss, dass Sportmarketing das Beste für mich wäre. Auf diese Weise könnte ich immer noch in die Welt eintauchen, die mir Freude bereitete, und diese Freude auch mit anderen teilen. Zumindest wenn ich einen Job finden würde.

„Nein, ich habe nicht aufgegeben“, antworte ich seufzend. „Ich warte noch auf Rückmeldung von ein paar Firmen.“

„Dann kannst du in der Zwischenzeit mit nach Monaco kommen“, drängt er weiter. „Wie gesagt, das Event ist perfekt für Networking. Oder meinetwegen kannst du es auch einfach als Urlaub auf meine Kosten betrachten. Eine Kombination aus Abschluss- und verfrühtem Geburtstagsgeschenk.“

„Alles in einem?“, frage ich gedehnt. „Wow, du bist zu gütig.“

„Okay, um ehrlich zu sein, biete ich es dir an, weil Mom mich beschwatzt hat.“

„Also sollte ich eigentlich ihr danken statt dir?“

„Auslegungssache“, erwidert er geringschätzig. Dann macht er weiter mit seinen Überredungsversuchen. „Denk doch mal darüber nach, welche Leute du da kennenlernen wirst. Weißt du, wie viele Fahrer mit ihren Teams auf der Party sein werden? Wenn du bis zum Ende des Abends kein Jobangebot hast, mache ich einen Kopfsprung von den Klippen ins Meer.“

Ich kichere. „Das tust du auch, wenn ich ein Jobangebot bekomme.“ Wir beide haben das Adrenalin-Junkie-Gen geerbt, doch ich bin so schlau, diese Veranlagung nicht auszuleben.

„Wahrscheinlich“, stimmt er mir zu. „Aber mal im Ernst, Wills. Es ist eine tolle Chance. Und du musst keinen Finger krumm machen. Ich regele alles.“

Ich drehe mich auf den Rücken und studiere die Zimmerdecke, wobei ich den Saum meines Sommerkleides zwischen zwei Fingern zwirbele. „Du versprichst mir, dass es sich lohnt?“, hake ich nach, obwohl längst Aufregung in meiner Brust flattert. „Ich will nicht zu lange weg sein und ein mögliches Vorstellungsgespräch verpassen.“

„Ich verspreche es. Du kannst am Mittwoch kommen und am Montagmorgen wieder zurückfliegen.“

Langsam stoße ich die Luft aus und denke darüber nach. Er hat recht – es könnte eine ausgezeichnete Gelegenheit sein, Kontakte zu knüpfen. Und wer würde nicht gern ein paar Tage an einem der coolsten Orte der Welt verbringen? Wie käme ich dazu, eine kostenlose Reise abzulehnen?

„Okay, na schön“, platze ich heraus, ehe ich es mir anders überlegen kann. „Ich komme mit nach Monaco.“


Kapitel 2

Dev

Monaco

Ich bin mir ziemlich sicher, dass alle auf der Party denken, ich hätte eine Geschlechtskrankheit.

Um das klarzustellen: Die habe ich nicht, und ich habe auch noch nie eine gehabt, ungeachtet meiner Ausschweifungen, über die die Presse so gern berichtet. Das Gerücht habe ich meiner Social-Media-Managerin – mittlerweile Ex-Social-Media-Managerin – zu verdanken, die ihren Job gekündigt hat, indem sie der Welt auf all meinen Online-Plattformen verkündete, dass ich das neue Gesicht des Schnelltest-Kits für Geschlechtskrankheiten der Marke IYK Quick Results sei. Dazu schrieb sie in meinem Namen, dass ich ohne den Test niemals so schnell herausgefunden hätte, dass ich Chlamydien habe, dass sich aber niemand Sorgen machen müsse, da ich nun in Behandlung sei, auch wenn ich leider eine Variante erwischt hätte, die resistent gegen Antibiotika ist. Manche Menschen hätten nun mal einfach Pech.

Die Posts haben der Firma geholfen, aber was mich betrifft … Ich hatte seit sechs Wochen keinen Sex mehr, und die meisten hier anwesenden Frauen schauen mich nicht mal an. Es ist ein gottverdammtes Desaster.

Ich weiß, dass ich sie wegen Rufmord verklagen könnte, aber der Schaden lässt sich ohnehin nicht rückgängig machen, und ich habe kein Interesse daran, Jani aus Rache zu verletzen. Nach vorn zu blicken, scheint mir momentan das Beste zu sein. Und wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, könnte es durchaus sein, dass ich ihre Aktion verdient hatte, nach allem, was sie durchmachen musste, während sie für mich arbeitete. Ich war nicht der einfachste Kunde, aber wer zur Hölle will schon, dass die ganze Welt jedes Detail seines Lebens mitansieht? Dennoch bestand Jani jeden Tag aufs Neue darauf, bis ich schließlich ausgetickt bin. Leider brachte dies im Gegenzug sie zum Austicken. Nun ist mein Ruf ruiniert, mein Team zeigt mir die kalte Schulter, und es wird gemunkelt, dass meine Sponsoren der Ansicht sind, ich sei nicht mehr die richtige Person, um sie zu repräsentieren. Aber ich darf sie – und das Geld – nicht verlieren, denn sonst verliere ich meinen Job bei Argonaut Racing.

„Gott, nun guck doch nicht so. Du vergraulst ja alle Frauen.“ Mark nippt neben mir unschuldig an seinem Champagner.

Sein Smoking passt ihm kaum noch, obwohl ich versucht habe, ihn zu überreden, sich einen neuen zu kaufen. Die Nähte seines Jacketts spannen an den Schultern, und die Knöpfe dehnen sich über seinen Brustmuskeln. Sie könnten jeden Moment abspringen und Menschen innerhalb der Gefahrenzone erblinden lassen. Man erkennt auf den ersten Blick, dass der Typ in der Fitnessbranche arbeitet, und er genießt es eindeutig, seinen Körper zur Schau zu stellen. Wäre er nicht mein Perfomance Coach und bester Freund seit dem Kindergarten, würde ich ihn für einen Arsch halten.

„Wie gucke ich denn?“, frage ich herausfordernd und hebe mein eigenes Champagnerglas, um es in einem Zug zu leeren. Ich wische mir mit dem Handrücken über den Mund, ehe ich fortfahre. „So als ob meine Karriere auf dem Spiel steht und mich niemand flachlegen will?“ Denn danach fühlt es sich an.

Ich habe zu hart dafür gearbeitet, an den Punkt zu gelangen, an dem ich mich aktuell befinde, und ich will die Formel 1 nicht verlassen, ehe ich selbst dazu bereit bin. Ist Argonaut Racing der beste Rennstall? Wohl kaum. Aber wenn ich es aus dem Mittelfeld hinausschaffen und Teil eines der besten Teams werden will, bleibt mir für den Moment nichts anderes übrig.

Jeder Fahrer wünscht sich, eine Weltmeisterschaft zu gewinnen, und meine Chance, dies jemals zu erreichen, hängt von der Leistung ab, die ich jetzt erbringe. Ich war schon in jungen Jahren im Jugendförderprogramm von Argonaut, und da ich noch nie für einen anderen Rennstall gefahren bin, bin ich ihnen weitgehend treu; doch ich kann nicht für immer bei ihnen bleiben, wenn ich jemals gewinnen will. Und ja, es ist optimistisch, an einen Titel zu denken, obwohl ich noch kein einziges Formel-1-Rennen gewonnen habe, aber ich bin nun mal ein Dummkopf mit großen Träumen.

Das Problem ist, dass diese Träume scheinbar mit jedem Tag mehr außer Reichweite rücken. Wenn nicht gerade die NASA beginnt, die Boliden für Argonaut zu entwerfen, werde ich niemals einen Titel holen – und ganz gewiss nicht, solange Zaid Yousef und Axel Bergmüller weiter um den Sieg kämpfen, ganz egal, welchen Wagen ich fahre. Ehrlich gesagt wäre ich bei meinem aktuellen Team sogar schon froh darüber, Dritter oder Vierter zu werden, aber das ist vermutlich ebenso wahrscheinlich, wie dass morgen die Sonne explodiert.

Für den Moment ist meine Priorität, in der Formel 1 zu bleiben, bis ich beweisen kann, dass ich in die oberen, oberen Ränge dieses Elitesports gehöre. Ich muss nur Ruhe bewahren und so gute Leistungen erbringen, dass die Bosse der besten Rennställe auf mich aufmerksam werden. Zaid sollte innerhalb der nächsten zwei Jahre seine Karriere beenden, also muss sich Mascort Gedanken um einen Ersatz machen. Oder vielleicht entscheiden auch Specter Energy, dass sie einen zweiten Fahrer brauchen, der Axel unterstützt, und wenn dem so ist, will ich ihr Mann sein. Das wird mir zwar nicht den Titel einbringen, hinter dem ich her bin, aber ich werde meinem Ziel einen Schritt näher kommen.

Nichts von alledem wird jedoch geschehen, wenn ich meine Sponsoren verliere und Argonaut meinen Vertrag verkürzt – was ich Janis Abschiedsgeschenk zu verdanken hätte. Mein Team mag sich vielleicht nicht hauptsächlich auf das Geld verlassen, das ich einbringe, aber niemand will einen Fahrer, der nicht mehr als Talent mitbringt. Das ist zwar eindeutig scheiße, aber so funktioniert unsere kleine Welt nun mal.

Nach dieser Saison stehe ich noch ein weiteres Jahr unter Vertrag, und wenn ich ihre Erwartungen nicht erfülle – oder sogar übertreffe … Verdammt, wenn ich zu lange darüber nachdenke, verkrieche ich mich vielleicht noch im nächstbesten Loch und komme nie wieder heraus.

„Du wirst schon wieder flachgelegt werden, Dev, das verspreche ich dir“, versichert mir Mark. „Aber nur, wenn du endlich aufhörst rumzuheulen.“

Mir entgeht nicht, dass er den ersten Teil meiner Aussage unkommentiert lässt. Ich bin nicht der Einzige, der sich Sorgen um meine Zukunft in der Formel 1 macht.

„Ich heule nicht rum“, murmele ich. Doch er hat natürlich recht. Ich heule sehr wohl rum. Eigentlich bin ich – und war schon immer – der Typ mit dem Dauerlächeln, nicht der Mürrische. Es sieht mir nicht ähnlich. „Ich bin einfach gestresst, okay? Es ist ein wichtiger Abend.“

Oder besser gesagt eine wichtige Woche. Heute Abend muss ich unter Beweis stellen, dass ich eine Bereicherung für die Welt der Autorennen darstelle, kein Risiko. Morgen muss ich den ganzen Tag für die Presse grinsen und so tun, als würde ich meinen Teamkollegen nicht hassen. Dann muss ich beim Freitagstraining eine gute Zeit machen, am Samstag besser als P 10 abschließen – sonst hole ich auf einer Strecke wie in Monaco, auf der es fast unmöglich ist, zu überholen, auf keinen Fall Punkte – und so fahren, als würde mein Leben davon abhängen.

Und das tut es in gewisser Weise auch.

„Du wirst die Sache schon durchstehen.“ Mark klingt zwar überzeugt, doch ich weiß, dass auch er seine Zweifel hat. „Und wenn du mir nicht glaubst“, er deutet mit dem Kopf zum anderen Ende des Raumes, „frag Oakley. Du weißt ja, dass er immer Klartext spricht.“

Ich folge Marks Blick und entdecke unseren Freund am Eingang des Ballsaals, wo er Hände schüttelt und auf Schultern klopft.

Dem Himmel sei Dank. Es kommt mir vor, als hätte ich Jahre darauf gewartet, dass dieser Spinner endlich auftaucht, um mich davor zu bewahren, mich auf diesem steifen Sponsoren-Event zu Tode zu langweilen.

Oakley kenne ich bereits mein ganzes Leben. Unsere Familien waren schon Nachbarn, bevor ich auf die Welt kam, und wir beide haben früher zusammen Kartsport betrieben. Wir sind die Gründungsmitglieder des Awkward White Dads Club, denn seine Mutter ist Schwarz, meine ist Inderin, und unsere Weißen Väter haben sich deshalb so gut verstanden, weil ihre Söhne aufgrund ihrer Hautfarbe nie richtig in die Welt des Motorsports passten. Außerdem sind unsere Väter die unbeholfensten Menschen der Welt. Beide sind Nerds, aber wenn man bedenkt, welchen Job Oakley mittlerweile ausübt, rangiert er selbst ziemlich weit oben auf der Nerd-Skala.

Ich muss also nicht erwähnen, dass wir schon seit Ewigkeiten befreundet sind. Und das alles habe ich letztes Jahr beinahe von jetzt auf gleich zunichtegemacht, indem ich seine Schwester geküsst habe.

Eilig verdränge ich die Erinnerung aus meinem Kopf, damit sie sich nicht erneut dort einnisten und Wurzeln schlagen kann. Ich weiß, dass ich ihr nicht wieder nachhängen darf – denn das habe ich bereits getan und teuer dafür bezahlt. Auf keinen Fall will ich zulassen, dass meine Freundschaft mit Oakley darunter leidet; es war ein einmaliger Fehler, der sich niemals wiederholen darf. Mittlerweile bin ich schlauer.

Ehe ich mich in Oakleys Richtung in Bewegung setzen kann, stellt sich mir mein Agent in den Weg. Grandios.

Mark, dieser Idiot, schafft es, an dem finster dreinblickenden Mann vorbeizutreten, grinst mich schadenfroh an und hebt in einer ironischen Geste sein leeres Champagnerglas. „Bis später, Kumpel“, ruft er mir zu, bevor er davonschlendert.

Ein paar Schritte hinter meinem Agenten steht ein genervter Chava, die Hände an beiden Seiten zu einer „Ich hab’s versucht“-Geste erhoben. Gewiss hat mein Assistent sein Bestes gegeben, aber Howard Featherstone ist nicht aufzuhalten, wenn seine Mission darin besteht, mir das Leben zur Hölle zu machen.

„Howard!“, rufe ich, wobei ich mein Markenzeichen-Lächeln aufsetze und Begeisterung vortäusche. Ich wusste, dass er heute Abend kommen würde, hatte allerdings gehofft, dass ich ihn noch ein wenig länger meiden könnte. „Wie geht’s dir, verdammt?“

„Mir ging es schon besser, Dev“, erwidert er tonlos und mustert mich aus seinen kalten grauen Augen. „Aber ich glaube, das weißt du.“

Am liebsten würde ich mir die Finger in die Ohren stecken, um ihn zu ärgern, aber ich muss mir in Erinnerung rufen, dass ich ein fünfundzwanzigjähriger Mann bin – die angemessene Reaktion in meinem Alter wäre, ihm zu sagen, dass er zur Hölle fahren soll.

Zum Glück habe ich genügend Übung im Umgang mit der Presse, dass ich in der Öffentlichkeit von beiden Möglichkeiten absehe, mich stattdessen um eine verständnisvolle Miene bemühe und ernst nicke.

„Verständlich“, sage ich. „Die letzte Zeit war hart.“

Er beäugt mich misstrauisch, wahrscheinlich, weil er merkt, dass ich ihm etwas vorspiele. Doch er wird es mir nicht vorhalten, denn das könnte uns vom Thema abbringen. „In der Tat. Und es wird höchste Zeit, die Sache wieder geradezubiegen. Damit hätten wir längst beginnen können, wenn du meine Anrufe nicht ignoriert hättest.“

Ich lache und fahre mir in einer gespielt verlegenen Geste durch das Haar, obwohl ich nicht widerstehen kann, meinen Mittelfinger ein wenig zu heben, als ich die Hand wieder an meine Seite fallen lasse. Ich wollte nicht mit ihm reden, weil ich wusste, was er sagen würde. Du musst die Sache geradebiegen, Dev. Engagier jemanden, der dein Image wiederherstellt. Beauftrage ein ganzes PR-Team. Lass dich von ihnen in einen Roboter verwandeln. Lass dir von ihnen das Leben aussaugen.

„Tut mir leid“, erwidere ich unaufrichtig. „Die letzten Wochen waren verrückt, weißt du? Hey, warst du eigentlich beim Rennen in Aserbaidschan? Da hab ich es doch tatsächlich bis Q3 geschafft …“

„Spar dir das.“

Angesichts seines barschen Tonfalls zucke ich ein wenig zusammen. Wow, ich stecke echt in Schwierigkeiten.

„Niemand ist gerade zufrieden mit dir“, fährt Howard fort. „Weder dein Team noch deine Sponsoren. Ich ganz bestimmt auch nicht. Und alle anderen lachen über dich.“

„Ich meine, ich bin es gewohnt, dass die Leute über mich lachen.“ Ich zucke mit den Schultern. „Ich bin eben ein witziger Kerl.“

Offenbar ist dies nicht der richtige Zeitpunkt für Scherze, denn ehe ich es mich versehe, ist er mir so nahe, dass sich unsere Nasen fast berühren und ich nur noch seine Altersflecken und seine pulsierende Ader auf der Stirn sehe.

„Wenn du so weitermachst, bist du geliefert“, warnt er. „Selbst bei der NASCAR wird dich niemand wollen.“

Wut steigt angesichts dieser Beleidigung in mir auf, und erst recht widerstrebt mir, wie nahe er mir ist. „Ich würde dir raten, einen Schritt zurückzutreten, Howard“, murmele ich. „Du kannst hier keine Szene machen.“ Und ich habe wirklich keine Lust, mich mit einem sechzigjährigen Mann zu prügeln, der glaubt, seine größer werdende Glatze kaschieren zu können, indem er sein Haar darüber kämmt.

Als würde ihm mit einem Mal wieder einfallen, wo er ist, blinzelt Howard seine Wut weg und macht taumelnd einen Schritt nach hinten, ehe er sich schnaubend das Jackett seines Smokings glatt streicht. Dann schaut er sich prüfend um, ob sein Ausbruch Aufmerksamkeit erregt hat, doch wie es scheint, ist Chava der Einzige, der uns mit gequälter Miene beobachtet.

„Du musst es endlich in deinen Kopf bekommen“, sagt er, nachdem er sich gesammelt hat, und achtet darauf, mit leiser Stimme zu sprechen. „Deine Karriere steht auf dem Spiel, und ich kann sie nicht retten, wenn du es mich nicht versuchen lässt.“

Ich stoße die Luft aus. An seiner logischen Schlussfolgerung – die er mir schon viele Male präsentiert hat – bin ich nicht interessiert. „Pass auf, wenn Axel sich davon erholen kann, dabei gefilmt worden zu sein, wie er mehrmals das N-Wort brüllt, während er zu einem Song mitrappt, sollte meine erfundene Geschlechtskrankheit kein Problem darstellen.“

Howard schüttelt den Kopf, als könne er nicht glauben, wie dumm ich bin. „Du solltest besser wissen als jeder andere, dass die Leute Rassismus schneller verzeihen als einen Sexskandal.“

Ich klappe meinen Mund zu, denn sosehr es mir auch widerstrebt, es zuzugeben, hat er recht. So funktioniert die Welt, in der wir leben, nun mal leider.

Er nutzt mein Schweigen aus, indem er meine Schulter drückt und meinen Blick festhält. „Lass mich die Sache regeln, Dev.“

Das Schlimmste ist, zu wissen, dass er das tatsächlich kann. Er kann Leute engagieren, die alles unter den Teppich kehren und mich wie den absoluten Vorzeigesportler im Fahrerlager darstellen. Es wäre so einfach.

Aber das habe ich schon mal getan – ich habe anderen die Kontrolle über mein Image gegeben und zugelassen, dass die Welt glaubt, ich hätte das Wesen eines Pappkartons. Ich durfte über nichts reden, was auch nur annähernd etwas mit Politik zu tun hatte oder „kontrovers“ war; selbst wenn es ein Problem gab, das ich ansprechen wollte, weil ich oder Leute, die mir wichtig waren, darunter litten. Meine Meinungen und ehrlichen Gedanken durfte ich nicht teilen. Ich musste der Posterboy sein, mit dem sich alle identifizieren konnten. Und das habe ich gehasst. Mitgespielt habe ich trotzdem, weil alle behaupteten, es sei das Beste für mich.

Ist klar.

Jani sollte der Kompromiss sein. Statt eines ganzen Teams wurde sie eingestellt, um sich um meine gesponserten Social-Media-Posts und alles, was mit Argonaut zu tun hatte, zu kümmern. Die Facetten meiner Persönlichkeit sollten nur oberflächlich dargestellt werden, um die Fans bei Laune zu halten. Aber sie ging einen Schritt zu weit, indem sie versuchte, sich in mein Privatleben einzumischen und es im Internet zu posten. Und nachdem sie mich einmal zu oft dazu gedrängt hatte, etwas Persönliches über mich zu teilen, hatte ich genug.

Deshalb bin ich nicht daran interessiert, mein Image Menschen zu überlassen, denen ich nicht einmal annähernd vertraue.

„Ich kann es selbst wieder geradebiegen“, erkläre ich, obwohl meine Stimme fremd klingt. „Gib mir einfach Zeit.“

„Dir bleibt aber nicht viel Zeit, ehe die Leute dich aufgeben.“ Er atmet durch und strafft die Schultern. „Ich hole mir ein Glas Champagner. Wenn ich zurückkomme, drehen wir eine Runde zusammen und rufen allen in Erinnerung, warum es so toll ist, dich im Fahrerlager und auf Werbeplakaten zu haben. Verstanden?“

„Yes, Sir.“ Ich kann mich gerade noch davon abhalten, zu salutieren.

Als würde er es spüren, funkelt mich Howard an und marschiert dann davon.

Ich bleibe zurück und begegne Chavas Blick.

„Nun …“ Mein Assistent schnaubt, als er sich mir nähert. Seine Haut hat fast den gleichen hellbraunen Ton wie meine, dennoch ist die Röte zu sehen, die an seinem Hals heraufgekrochen ist. Er hasst Howard ebenso sehr wie ich. „Was für ein Schlamassel.“

„Was du nicht sagst“, murre ich und wünsche mir, ich hätte einen ganzen Eimer Champagner, den ich herunterstürzen könnte. „Ich muss es wieder in Ordnung bringen.“

„Hast du eine Idee, wie? Abgesehen davon, ein PR-Team zu engagieren?“

Ich schüttele den Kopf. „Noch nicht.“ Ich stoße die Luft aus und lege meinen Ellbogen auf seiner Schulter ab, denn mit einem Mal bin ich erschöpft. „Ich habe momentan zu viele Probleme, die ich lösen muss.“

„Unter anderem, dass alle hier anwesenden Frauen dich anschauen, als wärst du ansteckend“, erwidert Chava trocken, als drei Damen in teuren Kleidern vorbeikommen und mir misstrauische Seitenblicke zuwerfen, während sie einen großen Bogen um uns machen. „Und mich auch, weil ich mit dir zusammen hier bin. Verdammt, Dev.“

„Es ist nicht meine Schuld“, ächze ich und lege meinen Kopf in den Nacken. „Aber ich brauche Sex. Wenigstens dieses Problem muss ich heute Abend lösen.“

Die Chancen, hier eine Frau zu finden, die nicht glaubt, ich hätte eine Geschlechtskrankheit, und die bereit ist, mit mir nach Hause zu gehen, sind gering, aber ich muss es wenigstens versuchen. Es müsste mir nur eine Frau lange genug zuhören, damit ich ihr alles erklären kann. Ich muss es abtun und darüber lachen, denn es ist schließlich tatsächlich ein Witz. Ein äußerst grausamer Witz.

Es sollte einfach sein. Beim Rennen muss ich mir jeden Tag komplexere Strategien ausdenken. Das hier ist nichts dagegen.

Ich straffe die Schultern, gebe Chava mein Champagnerglas und streiche mir die Haare aus der Stirn. Ich bin ein gut aussehender Typ und noch dazu verdammt charmant, also sollte es ein Leichtes werden. In den letzten sechs Wochen habe ich mich einfach nur nicht ausreichend angestrengt. Jetzt werde ich mir das holen, was ich will.

Doch meine Pläne sind mit einem Mal vergessen, als Willow Williams den Saal betritt.

Der New Adult-Erfolg im neuen Look

Blick ins Buch
Paper Princess Paper Princess Paper Princess

Die Versuchung

Sie sind reich, sie sind mächtig und verdammt heiß! Kannst Du ihnen widerstehen?
Ellas Leben war bisher alles andere als leicht, und als ihre Mutter stirbt, muss sie sich auch noch ganz alleine durchschlagen. Bis ein Fremder auftaucht und behauptet, ihr Vormund zu sein: der Milliardär Callum Royal.

Aus ihrem ärmlichen Leben kommt Ella in eine Welt voller Luxus. Doch bald merkt sie, dass mit dieser Familie etwas nicht stimmt. Callums fünf Söhne verheimlichen etwas und behandeln Ella wie einen Eindringling. Und ausgerechnet der attraktivste von allen, Reed Royal, ist besonders gemein zu ihr.

Trotzdem fühlt sie sich zu ihm hingezogen, denn es knistert gewaltig zwischen ihnen. Und Ella ist klar: Wenn sie ihre Zeit bei den Royals überleben will, muss sie ihre eigenen Regeln aufstellen …

„Leidenschaftlich, sexy und voller Gefühl.“ ―Buch Versum

1. Kapitel


„Ella, der Direktor möchte dich in seinem Büro sprechen“, verkündet Miss Weir mir, noch ehe ich das Klassenzimmer betreten habe. Aber der Matheunterricht beginnt doch gleich!
Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr. „Ich bin heute gar nicht zu spät!“
Es ist eine Minute vor neun, und meine Uhr geht auf die Sekunde genau. Wahrscheinlich ist sie das Kostbarste, was ich besitze. Meine Mom hat gesagt, dass mein Dad sie mir sozusagen vererbt hat. Eine Armbanduhr, ein bisschen Sperma. Mehr gab es da nicht zu holen.
„Darum geht’s nicht. Nicht dieses Mal.“ Sie sieht mich ungewöhnlich liebevoll an, und auf einmal wird mir ganz schlecht vor Sorge. Eigentlich ist Miss Weir eine richtig harte Nuss, und genau das schätze ich an ihr. Sie will einfach nur Mathematik unterrichten und nicht irgendwelchen Mist über Nächstenliebe oder so. Wenn die mich so mitleidig ansieht, muss das, was mich beim Direktor erwartet, richtig, richtig übel sein.
„Na schön.“ Als hätte ich irgendeine Wahl! Ich nicke und mache mich auf den Weg.
„Ich schicke dir die Hausaufgaben zu!“, ruft sie mir nach. Anscheinend denkt sie, dass ich nicht zum Unterricht zurückkomme. Aber eigentlich kann der Besuch beim Direx auch nicht schlimmer werden als das, was ich schon hinter mir habe.
Ehe ich mich für die elfte Klasse an der George-Washington-Highschool eingeschrieben habe, habe ich bereits alles verloren, was mir wichtig war. Selbst wenn Mr Thompson herausgefunden hat, dass ich theoretisch gar nicht im Einzugsgebiet der Highschool lebe, kann ich immer noch flunkern, um Zeit zu schinden. Und falls ich dann die Schule wechseln muss – so what? Ist doch halb so wild.
„Na, wie geht’s, wie steht’s, Darlene?“
Die grauhaarige Schulsekretärin sieht kaum von ihrem People-Magazin auf. „Setz dich doch, Ella. Mr Thompson ist gleich bei dir.“
Jepp, Darlene und ich duzen uns. Ich bin erst einen Monat an der G.-W.-High und habe schon viel zu viel Zeit hier im Direktorat verplempert, weil ich immer wieder zu spät gekommen bin. Aber so was kann passieren, wenn man jede Nacht bis drei Uhr morgens ackern muss.
Ich verrenke mir den Hals, um durch die offenen Vorhänge in Mr Thompsons Büro zu linsen. Irgendwer sitzt auf dem Besucherstuhl, aber ich kann nur einen ausgeprägten Kiefer und dunkelbraunes Haar erkennen. Das exakte Gegenteil von mir. Ich bin so blond und blauäugig, wie man nur sein kann. Das habe ich, laut meiner Mom, meinem Dad zu verdanken, dem großzügigen Samenspender.
Thompsons Gast erinnert mich an die Businessleute von außerhalb, die meiner Mom eine Menge Kohle dafür gezahlt haben, einen Abend lang so zu tun, als wäre sie ihre Freundin. Manche Kerle stehen darauf tatsächlich mehr als auf richtigen Sex. Das weiß ich natürlich alles nur von meiner Mom. So weit ist es mit mir zum Glück noch nicht gekommen, und ich hoffe auch, dass mir das erspart bleibt. Deswegen brauche ich dringend meinen Highschool-Abschluss. Dann kann ich aufs College, meinen Abschluss machen und hinterher ein … stinknormales Leben führen.
Andere Kids träumen davon, eine Weltreise zu machen, einen schnellen Flitzer zu kaufen oder ein großes Haus zu haben. Und ich? Ich hätte gern eine eigene Wohnung. Einen Kühlschrank voller Essen, einen geregelten, gut bezahlten Job – am liebsten einen, der in etwa so spannend wie die Buchhaltung eines Bleistiftproduzenten ist.
Die zwei Männer reden und reden. Eine Viertelstunde ist bereits verstrichen, und sie kommen immer noch nicht zum Punkt.
„Hey, Darlene? Ich verpasse gerade meinen Matheunterricht. Ist es okay, wenn ich später noch mal wiederkomme, wenn Mr Thompson Zeit für mich hat?“
Ich versuche, das so nett wie möglich zu sagen. Aber wenn man jahrelang keine echten Erwachsenen um sich hatte – meine etwas flatterhafte, wundervolle Mom kann man nicht richtig mitzählen –, dann ist es wirklich schwer, Erwachsenen gegenüber die nötige Unterwürfigkeit rüberzubringen. Die erwarten sie nämlich von jemandem, der noch nicht mal Alkohol trinken darf. Streng genommen.
„Nein, Ella, Mr Thompson kommt gleich.“
Tatsächlich öffnet sich in diesem Moment die Tür, und der Direktor stolziert heraus. Mr Thompson ist vielleicht einen Meter fünfzig groß und sieht aus, als hätte er gerade erst seinen Highschool-Abschluss gemacht. Irgendwie schafft er es dennoch, ein gewisses Verantwortungsbewusstsein auszustrahlen.
Er winkt mich zu sich. „Miss Harper, kommen Sie doch rein.“
Aber Don Juan sitzt noch in seinem Zimmer!
„Sie haben doch schon Besuch.“ Mann, die Sache sieht ziemlich verdächtig aus, und mein Bauchgefühl sagt mir, dass ich mich schleunigst verkrümeln sollte! Aber wenn ich jetzt abhaue, riskiere ich, dass der Plan scheitert, den ich die letzten Monate über so sorgfältig ausgetüftelt habe.
Thompson dreht sich um und sieht zu Don Juan, der sich gerade erhebt und mir mit seiner riesigen Pranke zuwinkt.
„Sicher, wegen ihm bist du ja auch hier!“
Widerwillig schlüpfe ich an Mr Thompson vorbei und bleibe kurz hinter der Tür stehen. Der Direx zieht die Vorhänge zu und schließt die Tür. Jetzt bin ich wirklich nervös!
„Setzen Sie sich, Miss Harper.“
Pah, das könnte ihnen so passen! Ich verschränke die Arme und bleibe stehen.
Mr Thompson lässt sich seufzend auf einen Stuhl sinken. Er weiß, wann es keinen Sinn hat, mit mir zu diskutieren. Paradoxerweise macht mich das noch unruhiger, weil ich befürchte, dass er mich erst mal schonen will. Vielleicht, weil mir noch Schlimmeres bevorsteht.
Er greift nach einem Blatt Papier auf seinem Schreibtisch. „Ella Harper, das ist Callum Royal.“ Er macht eine bedeutungsvolle Kunstpause.
Unterdessen starrt Royal mich an, als hätte er noch nie zuvor ein Mädchen gesehen. Mir fällt auf, dass durch meine verschränkten Arme meine Brüste zusammengedrückt werden. Schnell lasse ich die Arme wieder sinken, sodass sie unbeholfen an mir herabbaumeln.
„Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr Royal.“ Es ist bestimmt jedem hier im Raum klar, dass ich das ganz und gar nicht so meine. Der Klang meiner Stimme reißt ihn glücklicherweise aus seiner Hypnose. Er macht einen riesigen Schritt nach vorn, und ehe ich’s mich versehe, hat er meine Hand schon zwischen seine Pranken genommen.
„Gütiger Himmel. Du siehst aus wie er.“ Er flüstert so leise, dass nur ich ihn hören kann. Dann schüttelt er meine Hand, als fiele ihm plötzlich wieder ein, wo er ist. „Bitte, nenn mich doch Callum.“
Irgendwie klingt seine Stimme komisch. So als hätte er Mühe, auch nur einen geraden Satz rauszukriegen. Ich ziehe meine Hand weg, was gar nicht so einfach ist, weil der Kerl mich einfach nicht loslassen will. Erst als Mr Thompson sich laut räuspert, gibt er mich frei.
„Was soll das hier werden?“, frage ich. Mein Ton ist ein bisschen patzig, aber das scheint hier niemanden zu kümmern.
Mr Thompson fährt sich nervös mit der Hand durchs Haar.
„Ich weiß nicht, wie ich es am besten sagen soll, also rede ich nicht lang um den heißen Brei herum: Mr Royal hat mir gesagt, dass Ihre Eltern beide von uns gegangen sind und er jetzt Ihr Vormund ist.“
Kurz schwanke ich. Nur eine Millisekunde, ehe der Schock sich in Empörung verwandelt.
„Bullshit!“ Das Schimpfwort ist raus, ehe ich mich selbst bremsen kann. „Meine Mutter hat mich doch zum Unterricht angemeldet! Ihre Unterschrift steht auf den Anmeldeformularen.“
Mein Herz rast wie ein Presslufthammer, weil ich die Unterschrift selbst gefälscht habe. Anders ging’s leider nicht, wenn ich die Kontrolle über mein Leben behalten wollte – eigentlich bin ich ja sowieso schon die Erwachsene in der Familie gewesen, seit ich fünfzehn war.
Man muss Mr Thompson zugutehalten, dass er mir die Fälschung nicht vorwirft. „Die Dokumente besagen, dass Mr Royal Ihr rechtmäßiger Vormund ist.“
„Ach ja? Na, er lügt aber. Ich habe diesen Typen noch nie gesehen, und wenn Sie mich jetzt mit ihm mitgehen lassen, stehen bestimmt die Cops demnächst hier auf der Matte. Weil ein Mädchen der G.-W.-High miesen Menschenhändlern zum Opfer gefallen ist.“
„Du hast recht, wir kennen uns noch nicht“, wirft Royal ein. „Das ändert aber nicht das Geringste an der Tatsache.“
„Lassen Sie mal sehen.“ Ich springe zu Mr Thompsons Schreibtisch und reiße ihm die Dokumente aus der Hand. Eilig überfliege ich sie, ohne wirklich etwas aufzunehmen. Ein paar Worte wie Vormund oder verschieden und Erbe springen mir ins Auge, aber das ist mir völlig schnuppe. Mr Royal ist ein Fremder. Basta.
„Wenn Ihre Mutter mal hier vorbeischauen würde, könnten wir vielleicht alles in Ruhe klären“, schlägt Mr Thompson beschwichtigend vor.
„Ja, Ella. Wenn du deine Mutter nächstes Mal mitbringst, dann ziehe ich meinen Anspruch natürlich zurück.“
Auch wenn Royal sich bemüht, sanft wie ein Lämmchen zu klingen, ist seine Stimme doch hart wie Stahl. Er weiß Bescheid.
Ich wende mich wieder an den Direx, weil ich mit ihm leichteres Spiel habe.
„Diesen Wisch hier hätte sogar ich im Computerraum fälschen können. Würde nicht mal Photoshop dafür brauchen.“ Ich knalle den Papierstapel vor ihm auf den Tisch. Offenbar beginnt er ein wenig zu zweifeln, und das sollte ich ausnutzen. „Ich muss zurück zum Unterricht. Das Halbjahr hat doch gerade erst begonnen, und ich will nichts verpassen.“
Er leckt sich unentschlossen die Lippen, und ich starre so überzeugend wie möglich auf ihn hinunter. Ich habe keinen Dad. Und ich habe ganz bestimmt keinen Vormund. Wenn dem so wäre – wo war er dann mein Leben lang? Wieso ist er uns nicht zu Hilfe gekommen, als meine Mutter versucht hat, irgendwie genug für uns beide zu verdienen, mit dem Krebs gekämpft und im Hospizbett bitterlich geweint hat, weil sie mich nicht allein zurücklassen wollte? Wo, bitte schön, war er da?!
Thompson seufzt. „Na schön, Ella. Dann geh zurück zum Unterricht. Mr Royal und ich haben sowieso noch einiges zu besprechen.“
„Diese Dokumente hier sind echt“, schaltet sich Royal wieder ein. „Mr Thompson, Sie kennen mich und meine Familie. Ich wäre hier doch nicht aufgetaucht, wenn es nicht wahr wäre! Wieso sollte ich das tun?“
„Es gibt eine Menge Perverslinge auf dieser Welt“, zische ich giftig. „Und die lassen sich auch irgendwelche Märchen einfallen, um an ihr Ziel zu kommen.“
„So, Ella, das reicht jetzt.“ Mr Thompson klingt langsam etwas ungeduldig. „Mr Royal, diese Nachricht kommt für jeden von uns überraschend. Sobald wir Ellas Mutter kontaktiert haben, klärt sich bestimmt alles.“
Royal passt die Verzögerung überhaupt nicht in den Kram. Er wiederholt seine abgedroschenen Argumente und betont noch mal, wie furchtbar wichtig er ist und dass ein Royal niemals lügen würde. Ich erwarte schon fast, dass er uns gleich mit George Washington und der alten Geschichte vom Kirschbaum kommt. Als die zwei die Diskussion fortsetzen, schlüpfe ich aus dem Zimmer.
„Bin noch schnell auf der Toilette, Darlene!“, schwindle ich. „Danach gehe ich gleich wieder in den Unterricht.“
„Lass dir Zeit“, meint Darlene leichthin. „Ich gebe deiner Lehrerin Bescheid.“
Aber ich gehe nicht auf die Toilette. Und ich gehe auch nicht zurück in den Unterricht. Stattdessen flitze ich zur Bushaltestelle und fahre mit der Linie G bis zur Endstation. Von dort aus brauche ich zu Fuß noch mal eine halbe Stunde bis zu meiner Wohnung, die ich für lumpige fünfhundert Dollar im Monat gemietet habe. Es gibt ein Schlafzimmer, ein schmuddeliges Bad und eine Wohnküche, die nach Schimmel riecht. Aber die Bude ist relativ günstig, und die Vermieterin akzeptiert Bargeld und hat auch keine Hintergrundrecherchen angestellt, ehe sie mir die Wohnung vermietet hat.
Ich habe keine Ahnung, wer dieser Callum Royal sein soll, aber sein Erscheinen in Kirkwood ist überflüssig wie ein Pickel. Diese Dokumente waren nicht gefälscht. Sie waren echt. Aber ich werde mein Leben auf keinen Fall in die Hände eines Fremden legen, der einfach so aus dem Nichts auftaucht.
Mein Leben gehört mir. Ich lebe, wie ich will, und habe die Kontrolle darüber.
Ich kippe meine Schulbücher aus dem Rucksack und fülle ihn mit Kleidung, Kosmetikartikeln und meinen letzten Ersparnissen: tausend Dollar. Mist. Ich muss dringend an Kohle kommen, um aus der Stadt verschwinden zu können. Ich bin so was von pleite. Es hat mich ja schon zwei Tausender gekostet, um hierherzuziehen – die Bustickets, die erste und zweite Monatsmiete und die Kaution haben einiges an Geld gefressen. Es ist verdammt ärgerlich, dass ich eine Miete quasi umsonst bezahlt habe, aber ich muss nun mal dringend weg. Hier kann ich nicht bleiben.
Wieder haue ich ab. Wie gut ich das kenne. Meine Mom und ich waren auch ständig auf der Flucht. Vor ihren Liebhabern, ihren perversen Chefs, dem Sozialamt, vor der Armut. Erst im Hospiz sind wir eine längere Zeit am Stück geblieben, und das nur, weil sie im Sterben lag. Manchmal habe ich das Gefühl, dass das Universum mich dazu verdammt hat, unglücklich zu sein.
Ich sitze auf der Bettkante und versuche, vor Frust, Zorn und, okay, ich gebe es zu: Angst, nicht laut loszuheulen. Ich gönne mir fünf Minuten Selbstmitleid, dann greife ich zum Telefon. Scheiß aufs Universum.
„Hey, George. Ich habe über dein Angebot nachgedacht, im Daddy G’s zu arbeiten. Ich würd’s gern annehmen.“
Ich habe eine Weile im Miss Candy’s gearbeitet, einer Table-Dance-Bar, in der ich an der Stange getanzt und mich bis auf meinen G-String und Nippel-Pasties ausgezogen habe. Man verdient nicht übel, aber auch nicht richtig viel. George hat die letzten Wochen über auf mich eingeredet, um mich davon zu überzeugen, im Daddy G’s, einem richtigen Striplokal, aufzutreten. Ich habe mich nie darauf eingelassen, weil ich keine Notwendigkeit dafür gesehen habe. Jetzt schon.
Glücklicherweise habe ich den tollen Körper meiner Mutter geerbt. Lange Beine. Wespentaille. Mein Busen ist nicht riesig, aber George sagt immer, dass ihm meine spitzen kleinen Brüste gefallen, weil sie so jugendlich wirken. Tja, von wegen wirken. Aber auf meinem Ausweis steht nun mal, dass ich vierunddreißig bin und nicht Ella, sondern Margaret Harper heiße. So wie meine tote Mutter. Ganz schön gruselig, wenn man genauer drüber nachdenkt.
Mit siebzehn hat man nicht die größte Auswahl an Teilzeitjobs, von denen man noch dazu die Miete bezahlen kann. Schon gar nicht im legalen Bereich. Man kann Drogen verticken. Anschaffen gehen. Strippen. Ich habe mich für Letzteres entschieden.
„Ey, Mädchen, das sind ja super Neuigkeiten!“, johlt George. „Heute Abend ist eine richtig große Show, und du könntest die dritte Tänzerin sein. Du kannst eine katholische Schulmädchen-Uniform anziehen, darauf fahren die Kerle total ab.“
„Wie viel gibt es?“
„Wovon?“
„Kohle, George. Wie viel Kohle.“
„Fünfhundert plus Trinkgeld. Wenn du noch ein paar private Lapdances machst, kriegst du dafür jeweils hundert.“
Shit. Ich könnte in nur einer Nacht richtig Asche machen. Ich schiebe all meine Angst und mein Unbehagen beiseite. Nein, jetzt ist nicht der richtige Moment für moralische Bedenken.
„Mache ich. Buch so viele Auftritte wie möglich für mich.“




2. Kapitel


Das Daddy G’s ist ein richtiges Drecksloch, aber es ist immer noch um einiges netter als viele andere Clubs hier in der Stadt. Auch wenn das irgendwie so klingt wie: Hier, nimm dir doch ein Stück von diesem vergammelten Hühnchen! Es ist nicht ganz so grün und schimmelig wie der Rest! Na ja. Geld ist Geld.
Ich hatte noch den ganzen Tag an Callum Royals Auftritt in der Schule zu knabbern. Wenn ich einen Laptop inklusive Internetzugang hätte, hätte ich ihn längst gegoogelt. Leider ist mein alter Computer kaputt, und ich habe nicht genug Geld für einen Ersatz. Ich wollte mich dafür auch nicht in die Bibliothek setzen. Klingt vielleicht bescheuert, aber irgendwie hatte ich Angst, Royal auf der Straße in die Arme zu laufen.
Wer ist er nur? Und wieso hält er sich für meinen Vormund? Mom hat ihn mir gegenüber nicht ein einziges Mal erwähnt. Einen Moment lang habe ich mich tatsächlich gefragt, ob er mein Vater sein könnte. Aber in den Unterlagen stand, dass der ebenfalls tot ist. Und solange meine Mom mich in dieser Hinsicht nicht angelogen hat, hieß er auch nicht Callum, sondern Steve.
Steve. Irgendwie kam mir das immer vor wie ein Fantasiename:
Erzähl mir von meinem Daddy, Mom!
Ähm, dein Daddy, ähm … hieß Steve!
Aber ich will auch nicht davon ausgehen, dass meine Mom mich angelogen hat. Wir waren schließlich immer ehrlich zueinander.
Ich verdränge den Gedanken an Callum Royal, so gut ich kann, weil ich das bei meinem ersten Auftritt im Daddy G’s wirklich nicht gebrauchen kann. Hier sitzen auch so schon genug Säcke mittleren Alters herum.
Der Club ist wirklich gesteckt voll. Scheinbar ist die Katholische-Schulmädchen-Nacht hier eine richtig große Nummer. Alle Tische und Sitznischen im Hauptsaal sind besetzt, aber die VIP-Lounge im ersten Stock ist noch vollkommen verlassen. Eigentlich ist das nicht weiter überraschend. In Kirkwood, diesem kleinen Tennessee-Kaff vor Knoxville, gibt es nun mal nicht viele VIPs. Es ist eine Arbeiterstadt, und die Einwohner gehören eher der Unterschicht an. Wenn du mehr als vierzigtausend Dollar im Jahr verdienst, dann giltst du schon als gemachter Mann. Genau deswegen wohne ich hier. Die Miete ist niedrig, und die staatliche Schule ist auch ganz okay.
Die Umkleide liegt im hinteren Teil des Clubs, und als ich sie betrete, herrscht schon großer Trubel. Halb nackte Frauen sehen mich an, ein paar nicken mir zu, ein paar lächeln, ehe sie sich wieder aufs Schminken oder ihre Strapse konzentrieren.
Eine kommt auf mich zu.
„Cinderella?“, fragt sie.
Ich nicke. Diesen Shownamen habe ich im Miss Candy’s benutzt, weil er mir damals passend erschien.
„Ich bin Rose. George hat mich gebeten, dich heute Abend einzuarbeiten.“
In jedem Club gibt es eine Mutterhenne – eine ältere Frau, der klar ist, dass sie den Kampf gegen Zeit und Schwerkraft verloren hat, und die sich auf andere Weise nützlich macht. Im Miss Candy’s war das Tina, eine alternde Blondine, die mich vom ersten Moment an unter ihre Fittiche genommen hat. Hier ist es die alternde rothaarige Rose, die diesen Part übernimmt und mich jetzt zu der Kleiderstange mit den Kostümen führt.
Als ich nach der Schulmädchenuniform greifen will, winkt sie ab. „Die ist für später. Nimm mal das hier.“
Ehe ich’s mich versehe, hat sie mich auch schon in ein schwarzes Lack-Korsett und ein schwarzes Spitzenhöschen gesteckt.
„Darin soll ich tanzen?“ Das Korsett ist so fest geschnürt, dass ich kaum atmen kann. Und wie soll ich das selbst aufbekommen?
„Mach dir nicht zu viele Gedanken“, rät sie mir. „Wackel einfach mit deinem Hintern und rutsch an Mr VIPs Stange auf und ab, und alles ist bestens.“
Ich sehe sie verblüfft an. „Ich dachte, ich gehe jetzt raus auf die Bühne.“
„Oh, hat George es dir nicht gesagt? Du bist für einen Private-Dance in der VIP-Lounge gebucht.“
Was? Das ist doch mein erster Abend hier! Im Miss Candy’s hat man immer erst ein paarmal auf der Bühne getanzt, ehe man privat gebucht werden konnte.
„Scheint ein Stammkunde aus deinem ehemaligen Club zu sein“, vermutet Rose, die bemerkt hat, wie verwirrt ich bin. „Richie Rich ist hier hereinstolziert, als gehörte ihm der Club! Er hat George fünf Hunderter in die Hand gedrückt und ihm gesagt, dass er dich rüberschicken soll.“ Sie zwinkert mir zu. „Wenn du es geschickt anstellst, kannst du bestimmt noch ein paar Scheinchen mehr rausschlagen.“
Und weg ist sie, springt zu einer anderen Tänzerin, während ich vollkommen bedröppelt dastehe und mich frage, ob das alles ein riesiger Fehler war.
Ich tue gern so, als wäre ich eine richtig toughe Nuss, und bis zu einem gewissen Punkt stimmt das ja auch. Ich bin arm und hungrig. Ich wurde von einer Stripperin großgezogen. Ich weiß, wie man jemandem eine verpasst, wenn es nötig ist. Aber ich bin trotzdem erst siebzehn! Manchmal kommt es mir so vor, als wäre ich ein bisschen zu jung für das Leben, das ich führe. Dann sehe ich mich um und denke: Ich gehöre hier nicht her.
Dennoch bin ich hier. Ich bin hier, ich bin ziemlich im Arsch, und wenn ich das normale Leben führen will, nach dem ich mich so sehr sehne, dann muss ich jetzt raus und auf Mr VIPs Stange auf- und abrutschen, wie Rose es so nett formuliert hat.
Im Flur kommt mir George entgegen. Er ist ein stämmiger Typ mit Vollbart und warmen Augen. „Hat Rose dir von dem Kunden erzählt? Er wartet schon auf dich.“
Ich nicke und versuche, den Kloß in meinem Hals runterzuschlucken. „Ich muss doch nichts Besonderes machen, oder? Nur einen ganz gewöhnlichen Lapdance.“
Er gluckst. „Mach, was immer du willst, aber wenn der Kerl dich anfasst, dann wird ihn unser guter alter Bruno windelweich schlagen.“
Ich bin sehr erleichtert, dass die Regel des Nicht-Anfassens auch hier gilt. Für schleimige Typen zu tanzen, ist sehr viel angenehmer, wenn klar ist, dass sie dich nicht antatschen dürfen.
„Das wird schon, Mädchen.“ Er tätschelt meinen Arm. „Und falls er dich fragen sollte, dann bist du vierundzwanzig, okay? Hier arbeitet niemand über dreißig.“
Und unter zwanzig?, hätte ich ihn fast gefragt. Aber ich presse die Lippen zusammen. Eigentlich muss ihm klar sein, dass ich in Bezug auf mein Alter mächtig geschummelt habe. Das macht hier garantiert jede Zweite. Und es kann ja sein, dass mein Leben bis jetzt hart war, aber ich sehe nun mal niemals aus wie vierunddreißig. Mit ein bisschen Make-up gehe ich vielleicht als einundzwanzig durch – gerade so.
George verschwindet in der Umkleide, und ich hole noch mal tief Luft, ehe ich den Flur hinuntergehe.
Im Hauptsaal empfängt mich schon die sexy Musik mit dem stampfenden Bass. Die Tänzerin auf der Bühne hat gerade ihre Bluse aufgeknöpft, und als die Kerle ihren durchsichtigen BH sehen, drehen sie völlig durch. Dollarscheine regnen auf die Bühne hinab, und genau darauf konzentriere ich mich jetzt. Auf das Geld. Scheiß auf den Rest.
Trotzdem macht mich der Gedanke daran, die G.-W.-High und all die Lehrer, denen ihr Job wirklich am Herzen zu liegen scheint, zu verlassen, richtig fertig. Aber ich werde schon eine andere Schule in einer anderen Stadt finden. Eine Stadt, in der Callum Royal mich nicht …
Ich bleibe abrupt stehen und wirble herum.
Zu spät. Callum kommt bereits quer durch die VIP-Lounge auf mich zu und packt mich mit festem Griff am Oberarm.
„Ella“, sagt er leise.
„Lassen Sie mich los!“ Ich versuche, so gleichgültig wie möglich zu klingen, zittere aber heftig, als ich versuche, ihn abzuschütteln.
Er lässt mich nicht los, bis eine andere Gestalt in schwarzem Anzug und mit breiten Schultern aus dem Schatten hervortritt. „Hier wird niemand angefasst“, sagt der Security-Mann streng.
Royal lässt meinen Arm los, als bestünde er aus glühender Lava. Er sieht Bruno finster an und wendet sich dann wieder an mich, wobei er versucht, nicht in meinen Ausschnitt zu gucken. „Wir sollten uns mal unterhalten.“ Sein Whiskeyatem wirft mich fast um.
„Ich habe Ihnen nichts zu sagen“, erwidere ich kühl. „Ich kenne Sie gar nicht.“
„Ich bin immerhin dein Vormund!“
„Nein. Sie sind einfach irgendein Fremder, der mich davon abhält, meinen Job zu machen.“ Jetzt klinge ich wunderbar herablassend.
Er öffnet kurz den Mund und schließt ihn dann wieder. „Okay. Dann ab an die Arbeit.“
Was?!
Er lässt sich auf die Couch plumpsen und lehnt sich zurück.
„Dann biete mir mal was für mein Geld.“
Mein Herz rast. Auf keinen Fall! Ich werde für diesen Mann nicht tanzen.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie mein neuer Chef die Lounge betritt und mich erwartungsvoll ansieht.
Ich versuche, so selbstbewusst wie möglich auf Royal zuzuschlendern.
„Schön. Ganz wie Sie wollen!“
Kurz spüre ich einen dicken Kloß im Hals, aber hier wird nicht geheult. Das habe ich zum letzten Mal am Sterbebett meiner Mutter getan, und ich habe nicht vor, es jetzt zu wiederholen.
Callum Royal sieht mich seltsam gequält an, als meine Hüften im Takt der Musik zu kreisen beginnen, fast wie von allein. Ich habe schon immer gern getanzt. Als ich noch jünger war, hat meine Mom ihre letzten Ersparnisse zusammengekratzt, um Ballett- und Jazzunterricht für mich zu finanzieren, drei Jahre lang. Als das Geld alle war, hat sie mich selbst unterrichtet. Sie hat sich Videos angesehen oder heimlich Tanzkurse im Sportverein besucht, ehe sie sie rausgeworfen haben, um dann zu Hause ihr Wissen an mich weiterzugeben.
Ich bin ziemlich gut darin, aber ganz sicher nicht so naiv zu denken, dass ich eine große Tanzkarriere hinlegen werde. Ich strebe eher was Vernünftiges an, Jura oder Wirtschaft oder so. Irgendwas, womit sich ordentlich Geld verdienen lässt. Das mit dem Tanzen ist reine Träumerei.
Ich tanze immer weiter und höre plötzlich, wie Royal aufstöhnt. Allerdings nicht so, wie die anderen Männer es tun. Sondern traurig.
„Er würde sich gerade im Grabe umdrehen“, meint er mit rauer Stimme.
Ich ignoriere ihn. Tue so, als wäre er nicht da.
„Das ist nicht richtig“, sagt er gepresst.
Ich werfe mein Haar zurück und will mich gerade daranmachen, mein Korsett aufzuschnüren, weil ich spüre, wie Bruno mich beobachtet. Für einen zehnminütigen Tanz gibt es hundert Kröten, und zwei habe ich schon herumbekommen, ohne mich auszuziehen. Noch acht Minuten. Das kriege ich hin.
Royal allerdings nicht. Er packt mich am Arm und ruft: „Nein! Steve hätte das nicht gewollt!“
Ich habe nicht mal Zeit zu verstehen, was er da gesagt hat, weil er mich da schon über seine Schulter geworfen hat, als wäre ich eine Spielzeugpuppe.
„Aus dem Weg!“, ruft er, als Bruno auf ihn zukommt. „Dieses Mädchen hier ist gerade mal siebzehn! Sie ist minderjährig, und ich bin ihr Vormund. Glauben Sie mir, wenn Sie noch einen Schritt näher kommen, hetze ich jeden Cop in Kirkwood auf Sie. Und die sorgen dafür, dass Sie und all die anderen Perversen hier im Kittchen landen, weil Sie Minderjährige strippen lassen.“
Bruno mag zwar so aussehen, aber er ist nicht bescheuert. Tatsächlich macht er Callum Royal Platz.
Ich bin da weniger kooperativ. Stattdessen prügle ich auf Royals Rücken ein und zerre an seinem teuren Designeranzug. „Lassen Sie mich runter!“, brülle ich.
Macht er aber nicht. Niemand hält ihn auf, als er auf den Ausgang zustürmt. Die Männer im Publikum sind viel zu beschäftigt damit, die Tänzerin anzugaffen und zu johlen. Ich sehe, wie George zu Bruno tritt und der ihm wütend etwas erklärt, aber dann sind sie auch schon weg, und ich spüre die kühle Abendluft. Obwohl wir draußen sind, denkt Callum Royal nicht daran, mich abzusetzen. Er rennt über den Parkplatz, dessen Teeroberfläche rissig ist. Ich sehe seine schicken Schuhe im Licht der Laterne glänzen, dann höre ich das Klirren eines Schlüsselbundes und ein lautes Piepen. Und schon befinde ich mich auf einem lederbezogenen Autositz, während eine Tür mit einem lauten Rumms zugeworfen wird. Der Motor wird gestartet.
O mein Gott. Dieser Typ entführt mich!

Für alle Fans von Carina Schnell und Sarah J. Maas

Blick ins Buch
Crimson Sky – Der SchattenprinzCrimson Sky – Der Schattenprinz

Roman

Eine Seelenjägerin. Ein Prinz des Totenreichs. Und ein altes Geheimnis, das zwischen ihnen steht.

*** Mit limitiertem Farbschnitt in der 1. Auflage! ***

Keon hat Remy das Herz gebrochen. Und ausgerechnet jetzt befiehlt der König, dass sie sich mit ihm verloben soll. Remy bleibt nichts anderes übrig, als dem Befehl Folge zu leisten. Sie versucht, sich auf das Bändigen ihrer neuen Kräfte als Mitglied der Wilden Jagd zu konzentrieren, denn die Anderswelt schwebt in großer Gefahr. Doch es fällt ihr schwer, dem Prinzen des Totenreichs zu widerstehen, der jeden Tag um sie kämpft. Unter keinen Umständen darf er von dem Geheimnis erfahren, das Remy hütet. Denn dann würde er sie für immer hassen … 

Band 1: Crimson Sky − Die Seelenjägerin
Band 2: Crimson Sky − Der Schattenprinz

Kapitel 1

„Entschuldigung?“ Ich hatte mich verhört, ganz sicher. König Reval von den Schwarzen Inseln, seines Zeichens Herrscher über das Totenreich und im Übrigen mein zukünftiger Schwiegerpapa, hatte gerade nicht gesagt, was er gesagt hatte.

Oder hatte er es doch?

König Reval wiederholte sich nur ungern, denn seine Miene wurde noch finsterer. Er starrte von dem Podest, auf dem die beiden juwelengeschmückten Throne des Herrscherpaars standen, auf mich herunter, als wollte er mich wie eine Fliege zerquetschen. „Die Beischlaf-Zeremonie findet um Mitternacht statt.“

„Die …“ Ich konnte das unsägliche Wort nicht mal aussprechen. Ja, ich wusste, dass sich die Anderswelt der Sidhé, die ich seit Kurzem mein Zuhause nannte, zeitlich im finsteren Mittelalter einpendelte. Ich wusch mich mit eiskaltem Wasser im Wald. Ich frühstückte schleimigen Haferbrei. Und von dem Donnerbalken, den man hier als Toilette benutzte, wollte ich gar nicht erst anfangen. Aber was zu weit ging, ging zu weit.

Ich drehte den Kopf, um meinen zukünftigen Ehemann anzusehen. Keon von den Schwarzen Inseln, Kronprinz des Totenreichs, Anführer der Wilden Jagd, gefürchteter Gegner, gnadenloser Kämpfer … und in diesem Moment schwer damit beschäftigt, die Spitzen seiner Stiefel zu betrachten.

Kann mich mal jemand kneifen?

„Weitere Details besprechen wir, wenn die Hochzeit näher rückt.“

Damit schien das Thema für den König beendet. „Keon, möchtest du deine Verlobte ein wenig herumführen? Du könntest ihr das Schloss oder die Gärten zeigen.“

Ich hob die Hand, als säße ich im Unterricht.

König und Königin wechselten einen Blick. Jedes Mal, wenn ich Königin Ylara traf, tat sie mir leid. Die schweigsame blonde Frau wirkte immer traurig. Und obwohl sie keinerlei Interesse an mir zeigte, war ich neugierig, woher diese getrübte Stimmung kam.

Der König gab mir mit der Hand zu verstehen, dass ich sprechen sollte. Dann strich er sich ungeduldig über den langen, schwarzen Bart.

„Das sind mir eindeutig zu wenig Informationen.“ Ich rang mir ein Lächeln ab, aber es fiel mir schwer, ruhig zu bleiben. Das konnten sie doch nicht ernst meinen. Und überhaupt, was stellten sie sich vor? Dass wir unter den Augen des gesamten Hofstaats übereinander herfielen und sie applaudierten, wenn wir zum Höhepunkt kamen?

Hilfe. Schon der Gedanke daran war mehr als grenzwertig, um es mal ganz harmlos auszudrücken.

Der König sandte mir einen wütenden Blick zu. Richtig, ich hatte vergessen, eine höfliche Anrede anzuhängen. Aber das konnte ich mir einfach nicht merken.

„Eure Majestät“, fügte ich hastig hinzu.

Er seufzte, und plötzlich wusste ich, von wem Keon die Gabe geerbt hatte, seinem Gegenüber bodenlose Enttäuschung zu suggerieren.

Zugegeben, ich konnte den König verstehen. Ich war nicht die Wunschkandidatin für seinen Sohn. Eigentlich hatte Keon die liebreizende Monya heiraten sollen. Doch dann hatte sich ihr Onkel, König Kymrin von Sommerland, plötzlich dagegen entschieden und stattdessen mich erwählt.

Glücklich war damit niemand. Monya wollte Keon unbedingt heiraten. Auch ich hätte vor ein paar Wochen noch vor lauter Vorfreude heiße Wangen bekommen. Doch seit ich herausgefunden hatte, dass Keon wusste, dass die beiden Könige eine Verlobung zwischen ihm und Monya vereinbart hatten, war ich sauer auf ihn.

Ich hatte mich in ihn verliebt, mit Haut und Haaren, mit allem, was ich zu geben hatte. Das zwischen uns war roh und wild und echt gewesen. Das hatte ich mir zumindest eingebildet.

Stattdessen hatte er da schon die ganze Zeit gewusst, was die beiden Könige verabredet hatten. Und anstatt mir die Wahrheit zu sagen, hatte er immer mehr Zeit mit mir verbracht. Ich wurde immer noch rot, wenn ich daran dachte, was wir getan hatten. Ich erinnerte mich an das Stöhnen, die Hitze, dieses unbändige Verlangen zwischen uns. Dort, wo einst das Feuer gelodert hatte, war nun nichts mehr als Eis. Und ausgerechnet jetzt sollte ich Keon heiraten. Schlimmer konnte es zwischen uns nicht stehen, doch das schien allen egal zu sein.

„Ich möchte damit vorschlagen, dass dir dein baldiger Ehemann dein zukünftiges Heim zeigt.“ Revals Eckzähne, die deutlich kürzer waren als Keons, blitzten zwischen seinen Lippen hervor. Keine Ahnung, warum der König das Wort „zukünftig“ so sehr betonte. Ob er mir klarmachen wollte, dass ich zurzeit nur ein Gast war?

Egal, denn das hatte ich nicht gemeint mit meiner Frage. Was interessierte mich ein Rundgang? Ich wollte wissen, ob ich vor dem gesamten Hofstaat mit Keon schlafen musste, damit die Hochzeit anerkannt wurde.

Dieses Mal dachte ich an seine geliebte höfliche Anrede. Ich räusperte mich, denn meine Frage war mir ziemlich unangenehm. „Eure Majestät, ich würde gern mehr über die … ähm …“ Ich konnte es immer noch nicht aussprechen. „… mehr über besagte Zeremonie erfahren. Ich bin übrigens keine Jungfrau mehr“, warf ich noch hinterher, was es vermutlich nicht besser machte. Ich hatte in der Schule zwar nicht oft aufgepasst, aber ich wusste noch aus dem Geschichtsunterricht, dass wohl früher von Frauen erwartet wurde, jungfräulich in die Ehe zu gehen. Nun, damit konnte ich nicht mehr dienen.

„Die Beischlaf-Zeremonie“, wiederholte König Reval das unsägliche Wort.

Ich nickte mit einem einbetonierten Lächeln. Viel lieber hätte ich die Hände vors Gesicht geschlagen und wäre im nächsten Loch im Boden versunken. Ich war nicht prüde, aber alles, was dieses Wort suggerierte, gefiel mir nicht.

Der König machte es wie die meisten guten Ehemänner. Stellten die Kinder peinliche Fragen, überließ man die Beantwortung der Ehefrau. „Meine Liebe, möchtest du das übernehmen?“

Er tarnte es wie eine Frage, doch es war ein Befehl. Wäre ich seine Angetraute gewesen, ich hätte ihm was gehustet. Doch Königin Ylara neigte schicksalsergeben das Haupt, bevor sie sich an mich wandte.

„Niemand erwartet, dass du eine Jungfrau bist, Remy. Diese zutiefst menschlichen Traditionen lehnen wir ab.“ Sie musterte mich, und fast so etwas wie ein Lächeln huschte über ihre Züge. „Ich weiß nicht, wie viel dir mein Sohn schon über unsere Hohen Feiertage erzählt hat. Aber einmal pro Jahr feiern wir die Fruchtbarkeit der Erde, ihre reichen Gaben, die sie uns schenkt, das Wunder des Lebens. Beltane ist eine Nacht voller Sinnlichkeit, Zügellosigkeit und Lust. Junge Männer und Frauen dürfen daran teilnehmen, sobald sie in unserem Reich als erwachsen gelten. Hier sind den Spielarten der körperlichen Liebe keine Grenzen gesetzt, solange es einvernehmliche Spiele sind.“

Ich spürte, wie Hitze in meinen Wangen aufflammte, und fragte mich unwillkürlich, wie oft Keon schon daran teilgenommen hatte. Und mit wem.

Ich sah zurück in das Gesicht der Königin, das zum ersten Mal nicht resigniert und teilnahmslos wirkte. Ob vor ihrem inneren Auge Erinnerungen lebendig wurden, während sie sprach? Mit wem hatte sie diese magische Nacht verbracht, bevor sie Königin wurde? Ich wusste bereits, dass gerade an den Königshöfen Ehen häufig arrangiert wurden. Ob sie den düsteren Reval sonst erwählt hätte?

„Die Beischlaf-Zeremonie ist eine jahrhundertealte Tradition in unserem Reich. Wir zelebrieren damit die Liebe zwischen einem jungen Paar.“

„Bei einer arrangierten Ehe von Liebe zu sprechen, finde ich ziemlich vermessen“, rutschte es mir heraus.

Die dünnen Augenbrauen der Königin wanderten nach oben. König Reval wollte schon den Mund aufmachen, doch seine Ehefrau war schneller. „Findest du meinen Sohn abstoßend?“

„Nein, aber …“

„Ihr habt gewiss beieinandergelegen.“

Ich war verwirrt. „Beieinander?“

„Miteinander geschlafen“, erklang Keons tonlose Stimme neben mir. „Nicht, dass es dich etwas angeht, Mutter, aber nein, das haben wir nicht.“

Himmel und … Ich war bereit zu sterben. Wer bitte besprach so etwas mit seinen Eltern? Ich warf Keon einen kurzen Blick zu. Zum Glück schien er sich genauso unbehaglich zu fühlen wie ich.

„Aber ihr habt andere Dinge getan?“, beharrte die Königin.

Konnte sie bitte damit aufhören? Schon wieder dachte ich an das, was zwischen Keon und mir passiert war. So etwas besprach man definitiv nicht mit seinen Eltern. Dass sie für mich Fremde waren, machte es nicht besser.

Trotzdem nickte ich.

„Dann sehe ich nicht, was dieser Zeremonie im Weg stehen könnte.“ Die Königin lächelte zuckersüß und sehr zufrieden. „Ihr findet euch ansprechend, ihr seid bereits vertraut miteinander. Ihr werdet das Publikum gar nicht wahrnehmen.“

Publikum? Das Wort hallte in mir nach. Das konnten sie unmöglich ernst meinen.

„Hinzu kommt, und das ist ebenfalls eine Tradition unseres Reiches, dass wir die Hochzeit in deine fruchtbaren Tage legen. Dein Verlangen wird größer sein und …“

Halt.

Stopp.

An diesem Punkt war ich offiziell raus. Nicht nur, dass wir Publikum haben würden, sie würden meine Hochzeit in jene Tage legen, in denen ich rollig wie eine Katze war? Und alle würden es wissen? Niemals!

Ich würde genau morgen um eine Audienz bei König Kymrin von Sommerland bitten und ihn auf Knien anflehen, dass er mich aus seinem Plan entließ. Monya war ganz wild darauf, Keons Frau zu werden. Sie war mit diesen seltsamen Traditionen aufgewachsen, hatte vermutlich bereits anderen Hochzeiten beigewohnt und fand es deshalb nicht so abgrundtief peinlich und absolut unvorstellbar wie ich.

„Tut mir leid, ich …“ Ich brach abrupt ab. „Nein.“ Ich lachte heiser auf. „Nein, eigentlich tut es mir gar nicht leid. Nur so viel sei gesagt.“ Ich sah erst Keon und dann seine Eltern an. „Das alles wird niemals passieren. Ich werde mit König Kymrin sprechen. Monya ist ganz verrückt nach Keon, und sie ist mit den Traditionen des Landes vertraut. Soll sie sich wie eine paarungsbereite Trophäe begaffen und besteigen lassen.“ Mit diesen Worten drehte ich mich um und marschierte durch den düsteren Thronsaal Richtung Ausgang.

Wäre die Situation nicht so unangenehm, hätte ich mir Zeit genommen, den hohen Raum ausgiebig zu betrachten. Eigentlich gefielen mir das dunkle Holz, die ovalen Schilde an den Wänden und die matt glänzende Bronze der riesigen Kerzenständer. Alles wirkte wie das Innere jener mittelalterlichen Burgen, die ich aus Filmen kannte. Der Kamin war groß genug, dass man einen Ochsen darin braten konnte. Das Feuer prasselte gemütlich, und trotz der Kälte, die der Januar mit sich brachte, wirkte alles anheimelnd. Die Wandteppiche erzählten von Schlachten, von Siegen und Niederlagen. Den Waffen sah man an, dass sie so manche Auseinandersetzung überstanden hatten. Und die grünen Ranken, die sich zwischen den Fugen der schweren Steinplatten an den Wänden emporschlängelten, ließen den Raum fast wie einen lebendigen Organismus wirken. Es war ein Respekt einflößender Ort, der von Blut und Tod erzählte und dennoch so viel Leben in sich barg.

Wie auf einen geheimen Befehl lösten sich plötzlich zwei der Wachen rechts und links von der Wand. Sie stellten sich mir in den Weg und kreuzten ihre langen Speere, um mich aufzuhalten.

Ich lachte. „Jungs, ernsthaft?“ Ich war eine Jägerin. Das Kämpfen lag mir buchstäblich im Blut.

Die beiden Wachen warfen sich unsichere Blicke zu.

„Lasst sie gehen“, dröhnte König Revals Stimme durch den hohen Raum.

Den Wachen war ihre Erleichterung ins Gesicht geschrieben, als sie zur Seite wichen. Ich salutierte sarkastisch und hielt meinen Blick fest auf das große Tor gerichtet, das mich in die Freiheit führte.

Im Burghof wartete meine Füchsin Hazel auf mich, mit der ich über den Himmel jagen und Burg Raunacht weit hinter mir lassen würde.

Kaum hatte ich den Thronsaal verlassen, bog ich nach links ab, um einen schmalen Korridor zu nehmen, der zu einem der Türme führte, in denen sich eine Treppe dem Innern eines Schneckenhauses gleich nach unten wand. Im Burghof würde ich mir nur noch schnell meine Waffen wiedergeben lassen und dann wortwörtlich einen Abflug machen. Obwohl ich keine Angst hatte, war ich nervös. Innerlich zählte ich die Schritte mit.

Nicht mehr lange und du hast es geschafft.

Geh einfach weiter.

Du schnappst dir deine Füchsin und dann …

„Remy …“

Ich hatte gerade den Turm betreten, um die eine Etage nach unten zu laufen, da erklang eine dunkle Stimme hinter mir.

Ich drehte mich weder um, noch dachte ich daran, stehen zu bleiben.

Im nächsten Moment hatte er mich auf der Treppe überholt und bremste mich mit seinem Körper aus. Er stand eine Stufe unter mir, trotzdem war er noch ein gutes Stückchen größer als ich. Ich war mittlerweile gut genug trainiert, um nicht mehr blindlings in diese Wand aus Muskeln zu rennen, dennoch bremste ich scharf ab.

„Und auch mit dir will ich nicht reden, Keon.“ Ich sah ihm nicht ins Gesicht, blickte über seine linke Schulter und schob das Kinn vor.

„Was hatten wir zum Thema Loyalität vereinbart?“

Ich schnaubte. „Ja, du bist mein Anführer. Aber bald wirst du mein Ehemann sein, und dann kannst du dich mal so was von darauf einstellen, dass …“

„Ich dachte, du willst mich nicht mehr heiraten.“

Ich klappte den Mund zu, öffnete ihn erneut, hatte keine Ahnung, was ich antworten sollte, und schloss ihn wieder.

Ich spürte Keons Blick auf mir, seine Nähe, die Art, wie mein Körper auf ihn reagierte. Wir standen immer noch so nah voreinander. Ich könnte meine Hand auf seine Brust legen und ihm meinen Mund zum Kuss entgegenrecken. Und er würde mich küssen. Er würde seine großen Hände an meinen Hintern legen und mich an sich ziehen. Gerade zart, gerade bestimmt genug, um mich aufseufzen zu lassen. Ich erinnerte mich an die Worte, die er mir zugeflüstert hatte, als ich gerade mal einen Tag in der Anderswelt verbracht hatte: Ich bin das größte Raubtier in diesem Wald.

Nein. Schluss damit. Hormone, zurück in die Reihe.

Es kostete mich Mühe, die Worte zu formulieren. „Geh mir aus dem Weg.“

Er rührte sich nicht.

„Mach den Weg frei, Keon.“ Ich wollte ruhig klingen, aber ich hörte mich an, als wäre ich auf der Flucht. Und genau das war ich auch. Vor ihm, vor diesen irrationalen Gefühlen für ihn, vor diesem dummen Verlangen, ihm alles zu verzeihen. Wieso hatte er immer noch so eine Wirkung auf mich?

Ich sah hoch in diese schwarzen Abgründe, die seine Augen waren. Der Schmerz darin überschwemmte mich wie eine Woge. Aber ich wollte ihm nicht verzeihen. Ich konnte es nicht.

Ohne wegzusehen, hob ich die Hand und drückte mit dem Zeigefinger gegen seine Brust.

Er wich zurück.

Ich hörte nicht auf, bis er seitlich von mir stand und die Treppe freigab.

Ich atmete auf, und gleichzeitig hasste ich mich dafür. Es war erniedrigend und beschämend, dass Tränen in meinen Augen brannten, als ich den Fuß der Treppe erreichte. Wieso zerriss es mich so? Wieso konnte ich ihn nicht einfach aus meinem Kopf radieren? Es war erbärmlich, denn ich lauschte, ob ich das Geräusch schwerer Stiefel hörte. Aber er folgte mir nicht.

Unten im Hof konnte ich nicht widerstehen. Der Turm hatte Fenster. Hoch und schmal, aber breit genug für eine Person.

Ich sah nach oben. Und da war er. Die Beine locker überkreuzt, lehnte er mit der Schulter in einem der Rahmen.

Er war mir einen Schritt voraus. Er wusste, welche Wirkung er immer noch auf mich hatte. Und als sich unsere Blicke trafen, lächelte er zum Beweis.

Mistkerl.


Kapitel 2

Ich flog einen kleinen Umweg. Eigentlich hätte ich von Burg Raunacht aus nach Westen fliegen können, um die Grenze des Totenreichs und die Silbernen Wälder zu überwinden und direkt auf die Mag Mor, die große Ebene, zu fliegen, um den Palast auf der Glasinsel zu erreichen.

Ich beugte mich nahe zum linken Ohr meiner Füchsin. „Fliegen wir ein wenig tiefer. Mal sehen, ob wir jemanden entdecken.“

Hazel gehorchte sofort. Schon kam eine der Schwarzen Inseln in Sicht. Die Heimat der Wilden Jagd. Hier lebten die stärksten Kämpfer des Totenreichs. Woche für Woche führte sie ihre Jagd nach Seelen auf die Erde. Woche für Woche sorgten sie dafür, dass Cromm Cruach, der schlafende Totengott, besänftigt wurde und nie wieder erwachte. Die Frauen und Männer waren mein Zuhause geworden, auch wenn ich nach meiner Verwandlung ein wenig Zeit gebraucht hatte, um damit klarzukommen. Und dann hatte sich mein Leben erneut um hundertachtzig Grad gedreht.

Wir überflogen die sich ordentlich in einer Reihe gegenüberstehenden kleinen Hütten. Es war Mittag. Die Tagschicht war auf der Jagd, während die Nachtschicht ihren verdienten Schlaf nachholte. Zwischen den Hütten entdeckte ich nur ein paar Nachtmahre, die für Ordnung sorgten. Ich hob grüßend die Hand, und sie winkten zurück.

Ich war etwas deprimiert, dass ich keinen von meinen Leuten entdeckt hatte, aber die Zeit war auch einfach ungünstig.

„Zurück zur Glasinsel, Mausi.“ Das war seit Kurzem mein Spitzname für Hazel. Ich benutzte ihn nur, wenn wir unter uns waren. Es war sozusagen ein Privatname, und irgendwie war ich kindisch stolz darauf. Sie schien ihn zu mögen, denn wie jedes Mal schnaubte sie. Hazel drehte ab, und wir flogen nach Westen.

Eigentlich hätte ich es vorher wissen müssen. Unsere Flugroute führte uns genau an der Stelle entlang, an der ich nach meiner vermeintlichen Flucht in die Silbernen Wälder gestrandet war. Sie waren das Wirkungsgebiet der Druiden. Auf der Lichtung entdeckte ich den Steinkreis und erinnerte mich an den Moment, in dem ich zum ersten Mal meine Kräfte gespürt hatte. Im nächsten Augenblick tauchte ein blonder Schopf aus dem Eingang des angrenzenden Tempels auf.

„Warte.“

Hazel konnte in der Luft stehen wie ein Kolibri. Eine Superkraft, die mich immer noch beeindruckte.

Ich reckte den Hals. Das ist doch nicht etwa? Habe ich so viel Glück?

Ich konnte nicht widerstehen.

„Sagen wir kurz Hallo“, raunte ich Hazel zu. In einer eleganten Schleife ließ sie sich nach unten sinken. Bei den ersten Malen war mir noch der Magen wild umhergehüpft, und ich hatte mich gefühlt wie ein Kind, das zum ersten Mal auf einer Schaukel saß. Doch mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt.

Hazel landete mitten im Steinkreis. Und da war er.

„Jonus!“ Ich winkte ihm zu.

Er kontrollierte gerade irgendwelche Kräuter, die am Eingang des Tempels zum Trocknen aufgehängt worden waren. Jetzt schwang er herum. Sein Lächeln erhellte sein ganzes Gesicht. „Remy, was für eine schöne Überraschung!“ Obwohl er ein großer schlanker Mann war, besaß er einen eleganten Gang, der ihn kein bisschen linkisch wirken ließ. Wie immer trug er das helle Gewand des Obersten Druiden und seinen bronzenen Gürtel um die Hüften. Sein langes, blondes Haar fiel ihm offen über die Schultern.

Ich sprang von Hazels Rücken und lief auf ihn zu. Wie immer, wenn ich ihn in der traditionellen Kleidung sah, war ich beeindruckt. Er galt als der mächtigste Druide von Sommerland. Ich fand die Bezeichnung irreführend, denn eigentlich bezog sie sich auf das gesamte Reich, denn in der Anwn gab es keine Druiden.

Wir waren nur noch wenige Schrittlängen voneinander entfernt, da jagte ein rot-brauner Fellball an mir vorbei. Meine Füchsin war zurück auf ihre normale Größe geschrumpft. Jonus und Hazel hatten sich in meiner Zeit am Hof von Sommerland besser kennengelernt. Sie war oft dabei, wenn er mich unterrichtete. Ganz offensichtlich war sie ihm ein klein wenig verfallen, genau wie ich. Und vermutlich auch jede andere Frau, die den Obersten Druiden von Sommerland jemals kennengelernt hatte.

Jonus lachte laut, als Hazel sich mit einem Satz in seine Arme katapultierte. „Mein hübsches Mädchen.“

Eine überraschte Sekunde lang glaubte ich, dass er mit mir sprach. Stattdessen drückte er Hazel an sich und strich ihr über die spitzen Ohren. Sie hechelte und jaulte vor Begeisterung.

„Was für eine Freude“, sagte ich, als ich ihm endlich gegenüberstand. Mit dem Kinn deutete ich auf meine Füchsin, die sich gar nicht mehr einkriegte. „Man könnte meinen, ihr hättet euch wochenlang nicht gesehen.“

„Also einen Arm hätte ich noch frei.“ Jonus hielt Hazel in seiner Rechten, und den linken Arm streckte er mir entgegen.

Ich war etwas verunsichert. Eigentlich umarmten wir uns nicht. Ich hatte ihn als einen hilfsbereiten Gelehrten kennengelernt und später als meinen Lehrer. Außerdem war ich einfach nicht der überschwängliche Typ. Ich wollte ihn jedoch nicht beleidigen und außerdem, warum nicht? Wir kannten uns gut genug für eine Umarmung, und sie war mir auch nicht unangenehm. Jonus war ein gutaussehender, beeindruckend gebildeter Mann, der mir bisher mit nichts als Freundlichkeit und Respekt begegnet war.

Ich war überrascht, als ich sehnige Muskelstränge unter dem dünnen Stoff seines Gewandes ertastete. Er wirkte schlank, aber wenn er selbst am Rücken so durchtrainiert war, hatte ich ihn wohl die ganze Zeit unterschätzt.

Wir lösten uns voneinander, und Jonus ließ Hazel runter. Sie schnüffelte in die Luft und richtete ihre Schnauze wie von einem Peilsender gelotst in Richtung des Tempels.

„Schau mal im Innern nach, Hazel“, sagte Jonus. „Wir haben heute Morgen frischen Honig geholt.“

Hazel war verrückt nach Süßem. Zum Glück verstand mein Reittier jedes Wort.

Dennoch hatte ich Bedenken. „Sie wird wahllos alle Schalen ausschlecken. Das ist dir aber schon klar, oder?“

„Es befinden sich noch zwei Novizen im Tempel. Sie werden Hazel weiterhelfen.“ Er lächelte mich schief an. „Aber sag, wie war das Treffen mit deiner Schwiegerfamilie?“ Jonus hatte diese unbekümmerte Art, den Finger in die Wunde zu legen, die mich immer wieder kalt erwischte. Er hatte wohl meinen Gesichtsausdruck bemerkt, denn er lachte leise. „Ich verstehe. So schlimm also.“

„Ich will nicht darüber reden.“ Ich bohrte eine Spitze meines Stiefels in die dünne Schneedecke auf dem Gras.

„Was kann ich dann für dich tun?“ Wie immer war Jonus darauf bedacht, für alles eine Lösung zu finden. Bei unserem ersten Treffen hatte er mir eine Salbe gegen meine Verletzungen und einen Tee gegeben, der mich ruhiger schlafen ließ. Und auch jetzt schien er nur daran interessiert, zu helfen. Er war wirklich der geborene Druide.

„Ich brauche nichts, vielen Dank.“ Etwas unschlüssig sah ich von meinen Stiefelspitzen wieder hinauf in sein Gesicht. „Ich habe dich gesehen und dachte, es wäre schön, kurz Hallo zu sagen. Im Palast ist es manchmal einsam.“ Ich zuckte die Schultern. „Du hast die Silbernen Wälder, den Heiligen Nemeton.“ Ich deutete auf den Tempel hinter seinem Rücken. „Du hast eine Aufgabe, einen Platz in dieser Welt. Auch ich hatte gedacht, ich hätte ihn bei der Wilden Jagd gefunden, aber jetzt ist plötzlich wieder alles anders. Und manchmal fühle ich mich freischwebend und …“ Ich zögerte. „… auch ein wenig einsam.“ Jonus wollte etwas erwidern, doch ich sprach hastig weiter. „Ich weiß, ich trainiere jetzt alle zwei Tage wieder mit der Wilden Jagd. Ich soll wieder mit ihnen reiten. Und ich bin dankbar, dass König Reval sich dahingehend für mich eingesetzt hat. Das hätte er nicht tun müssen. Eigentlich wollte ich dankbar sein und ihn …“ Wieder brach ich ab. „Aber heute haben wir über die Hochzeit gesprochen, und es kamen Details ans Licht, die …“ Ich plapperte, und ganz gewiss wollte ich nicht mit Jonus über das Thema „Beischlaf-Zeremonie“ reden. Ich seufzte. „Ich habe mich einfach gefreut, dich zu sehen, und dachte, wir unterhalten uns ein paar Minuten, bevor ich wieder in meine großen, leeren Räume zurückkehre und über den Sinn meines Daseins nachdenke.“

Erneut öffnete Jonus den Mund, um etwas zu erwidern. Wieder kam er nicht dazu, zu sprechen. Zwei Novizen, gut erkennbar an ihren dunkelgrünen Gewändern, waren im Eingang des Tempels erschienen. Hazel drängte sich zwischen sie. Jonus drehte sich zu ihnen um, als habe er ihre Anwesenheit gespürt.

Die zwei Novizen, ein Junge und ein Mädchen, vermutlich beide um die vierzehn Jahre alt, deuteten eine Verbeugung an. „Oberster Druide“, sagte das Mädchen leise. „Eure Anwesenheit im Tempel wird benötigt.“

Ich wusste, dass die Druiden auch Medizin herstellten. Vielleicht hatten die beiden ein Problem mit irgendwelchen Pflanzen. Da wollte ich Jonus lieber nicht aufhalten.

Er drehte sich zu mir, da rief ich bereits nach Hazel. „Du musst nicht gehen.“

Ich lächelte ihn an. „Du bist beschäftigt, das hätte ich wissen müssen. Ich wollte dich nicht stören.“ Ich streichelte Hazel kurz über den Kopf. „Wir machen einen Abflug, und wir beide …“ Ich deutete zwischen ihm und mir hin und her. „… sehen uns zur nächsten Lehrstunde.“

Hinter uns räusperten sich die Novizen.

Jonus zog vielsagend die Brauen hoch. „Das ist vermutlich die beste Idee. Aber schön, dass wir uns gesehen haben.“

Ich hob kurz die Hand zum Gruß, als ich mich umdrehte, während Hazel bereits wieder größer wurde. Einen Moment später schwang ich mich auf ihren Rücken.

Ich konnte nicht verhindern, dass mich ein Gefühl von Enttäuschung durchflutete. Zwar hatte ich nicht genau gewusst, was ich hier wollte, aber allein die Gegenwart des Druiden beruhigte mich. Nach diesem aufwühlenden Treffen auf Burg Raunacht und meinem kurzen Zusammentreffen mit Keon hätte ich das gut gebrauchen können.

Ich war noch ein gutes Stück von dem Palast auf der Glasinsel entfernt, da hörte ich schon die Fanfaren. Alarmiert streckte ich den Rücken durch, denn das bedeutete nie etwas Gutes. Ich kniff die Augen ein wenig zusammen, um sie vor dem Wind zu schützen und besser sehen zu können. Intuitiv rechnete ich mit einem weiteren Überfall der Clann. Jener Wesen, zu denen eine Seele wurde, wenn der Körper nicht bemerkte, dass er gestorben war. Die Clann waren furchterregende Monster, und für die meisten Sidhé endete eine Begegnung tödlich. Für Menschen selbst stellten sie keine direkte Gefahr dar, aber auf der Erde konnten sie Chaos stiften und Umweltkatastrophen auslösen.

Ich lehnte mich einmal gefährlich nach rechts und links, doch ich erkannte keine Schneise der Verwüstung, so wie die Clann sie nach ihrem letzten Überfall auf den Palast hinterlassen hatten.

Bis heute war nicht geklärt, wer diese gefährlichen Wesen in die Anderswelt gelassen hatte. Normalerweise hatten sie keine Möglichkeit, die Tore zu überwinden, die beide Welten verbanden, da diese auf der Erde hoch oben in der Luft lagen. Wie erwartet hatte dieser Überfall für Zwietracht zwischen den beiden Königreichen gesorgt. Ich war nach wie vor der Meinung, dass dies die heimliche Absicht gewesen war. Viele Sommerländer vermuteten, dass es nur darum gegangen war, möglichst viele ihrer Leute zu töten. Doch ich glaubte daran, dass die Absichten viel raffinierter waren. Die Reiche versuchten, sich einander anzunähern. Jetzt sollte es sogar eine Hochzeit geben. Die erste überhaupt, mit mir als einer Adligen aus Sommerland und Keon als Kronprinz des Totenreichs. Aber nach diesem Zwischenfall, der Dutzende Tote gefordert hatte, stand der wacklige Frieden auf noch dünneren Beinen als zuvor.

Schon wieder schallten die Fanfaren laut in den Himmel.

„Schnell, Hazel“, rief ich. „Wir müssen nachsehen, was dort los ist.“

Ich konnte keine Bedrohung ausmachen. Was war passiert? Ich näherte mich dem Palast, der auf einem riesigen Felsen, durchsichtig wie Bergkristall, aus dem großen See aufragte. Das ganze Gemäuer war aus einem Stück erbaut. Druiden mit der seltenen Gabe der Windsinger, so wie ich sie besaß, hatten den Palast aus dem Stein geformt. Auch dadurch war er uneinnehmbarer als jede Festung.

In schmalen Booten entdeckte ich auffallend viele Personen in beigefarbenen und dunkelgrünen Gewändern. Sie kennzeichneten die Druiden-Gesellen und die Novizen.

Ich runzelte die Stirn. Was ging hier vor? Waren die Fanfaren ein Hinweis auf ein Treffen der Druiden? Ich kam nicht mehr mit, und neugierig beugte ich mich vor, als Hazel bereits tiefer flog.

Im Burghof rannten die Wachen durcheinander. Aus der Luft wirken sie wie aufgeschreckte Ameisen. Ein paar von ihnen sahen wohl unseren Schatten, denn sie richteten ihre Bögen in die Luft, ließen sie aber schnell wieder sinken, als sie uns erkannten.

Hazel landete weich im Innenhof. Ich sprang von ihrem Rücken und hielt eine Wache an. „Was ist passiert? Droht eine Gefahr?“

Ich war viel zu sehr Jägerin, um nicht sofort darüber nachzudenken, wie ich diese Burg verteidigen konnte.

„Ich bin nicht befugt, darüber zu sprechen.“ Die Wache hastete mit gesenktem Kopf davon.

Ein ungutes Gefühl machte sich in meinem Bauch breit. Wären es die Clann, hätte ich schon jetzt die Schreie der Sterbenden Sidhé gehört. Doch trotz der Unruhe auf dem Innenhof war es ohne die Fanfaren geradezu gespenstisch still.

Hazel blieb an meiner Seite, als wir durch die große Doppelflügeltür in das Innere des Palastes gingen. Ich wollte zu den privaten Räumen der Königsfamilie, denn hier würde ich gewiss jemanden antreffen, der mir mehr erzählte.

Es waren Elvys Räume, aus denen ich lautes Weinen hörte. Sofort krampfte sich mein Herz vor Mitgefühl zusammen. Elvy war hier am Königshof zu meiner Freundin geworden. Wir waren ungefähr im selben Alter und hatten uns sofort gut verstanden. Außerdem war sie die Verlobte von Kronprinz Tylenn, dem älteren Bruder von Jonus. Irgendwann würde Elvy an dessen Seite über Sommerland herrschen. Und ich war mir sicher, sie würde eine wunderbare Königin sein.

Ihre Tür war nur angelehnt, trotzdem klopfte ich und schob sie vorsichtig auf. Elvy lag auf dem Bett, ihr hüftlanges, weißblondes Haar um sie ausgebreitet. Ihre Adoptivschwester Monya war bei ihr und tröstete sie.

„Was ist geschehen?“, fragte ich und bemühte mich trotz meiner Sorge um einen leisen Tonfall. Da Elvy mich nicht wahrzunehmen schien, richtete ich meine Aufmerksamkeit auf Monya. Wie immer, wenn sie mich sah, verdunkelte sich ihre Miene.

„Was kümmert es …“

Elvy drückte sich von der Matratze hoch und drehte sich zu mir um. Nicht mal Tränen konnten ihr wunderschönes Gesicht entstellen.

„Remy!“ Die Art, wie sie erstickt meinen Namen hervorstieß, ließ mein Herz verkrampfen.

Ich eilte zu ihrem Bett und ließ mich an ihrer freien Seite nieder. Sehr zu Monyas Missfallen schlang sie ihre Arme um mich.

„Was ist denn los?“ Ich streichelte beruhigend ihren Rücken. „Sag es mir. So schlimm wird es nicht sein.“

Elvy wich in dem Moment zurück, als der laute Klang der Fanfaren durch den Stein zu dringen schien. Ihre Augen waren rot geädert und riesengroß. Ihre Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern. „Der Kronprinz liegt im Sterben.“

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Crimson Sky – Die SeelenjägerinCrimson Sky – Die Seelenjägerin
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Roman

Der Wilden Jagd gehört der Nachthimmel

Triathletin Remy droht an ihrem abrupten Karriereende zu zerbrechen. Als sie in der Halloweennacht von zwei Reitern der Wilden Jagd in die Anderswelt entführt wird, ändert sich aber plötzlich alles. Sie soll Teil der Wilden Jagd werden und muss sich in einer gefährlichen Prüfung beweisen. Ihre Aufgabe: zu Ungeheuern gewordene menschliche Seelen auf der Erde jagen. Dabei lernt sie den attraktiven Kronprinzen Keon kennen. Remy ist die Einzige, die sich traut, ihm zu widersprechen. Dabei riskiert sie allerdings nicht nur ihren Kopf, sondern auch ihr Herz ...

Eine spicy Enemies to Lovers-Geschichte zwischen unserer Welt und der geheimnisvollen Welt der Fae von Bestseller-Autorin Kira Licht! Für alle Fans von Sarah J. Maas und Carina Schnell.

Band 1: Crimson Sky − Die Seelenjägerin
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Die wichtigsten Fragen rund um Bücher mit Farbschnitt

Was ist ein Farbschnitt?

Ein Farbschnitt bezeichnet die farblich gestalteten Kanten der Buchseiten. Dies kann einfarbig oder mit Mustern und Verzierungen gestaltet sein, auf einer Seite oder umlaufend.

Wie wird ein Farbschnitt hergestellt?

Der Farbschnitt wird in der Regel durch eine digitale Druck- oder Spritztechnik auf die Seitenkanten aufgebracht, oft bevor das Buch gebunden wird.

Sind Bücher mit Farbschnitt teurer?

Nein, bei Piper und everlove ist die Ausstattung mit Farbschnitt in der Regel auf die erste Auflage eines Buches begrenzt und kostet genauso viel wie die „reguläre“ Ausgabe.

Sind alle Bücher mit Farbschnitt limitiert?

Nicht alle, aber viele Bücher mit Farbschnitt werden in limitierten Auflagen produziert, was sie zu Sammlerstücken macht.

Warum gibt es die Bücher mit Farbschnitt nur in der ersten Auflage?

Das Einfärben der Buchschnitte ist ein zusätzlicher Produktionsschritt und nur ab einer gewissen Menge möglich. Auch sind die Ressourcen oder die Zeit für die Produktion einer speziellen Ausgabe begrenzt. Der Farbschnitt ist daher oft nur für die erste Auflage machbar.

Wenn ich das Buch im Piper-Webshop bestelle, erhalte ich dann auf jeden Fall die Sonderausgabe mit Farbschnitt?

Bei Bestellungen vor dem Erscheinungstermin erhältst du in der Regel die exklusive Sonderausgabe mit Farbschnitt. Sollte es in seltenen Fällen vorkommen, dass diese Ausgabe noch angezeigt wird, aber bereits vergriffen ist, bitten wir um euer Verständnis. Wir bemühen uns stets, solche Situationen zu vermeiden und euch den bestmöglichen Service zu bieten.

Wie pflege ich Bücher mit Farbschnitt richtig?

Bewahre  die Bücher an einem trockenen, kühlen Ort auf und vermeide direkte Sonneneinstrahlung, um die Farben vor dem Ausbleichen zu schützen. Benutze Buchstützen, um Verformungen zu vermeiden. Damit du besonders lange Freude an den Buchschnitten hast, wasche deine Hände, bevor du das Buch berührst, um Öle und Schmutz zu entfernen. Diese können die Farben und das Papier beschädigen. Am besten das Buch vorsichtig an den Rändern anfassen und vermeide es, die farbigen Kanten direkt zu berühren.

Wo kann ich Bücher mit Farbschnitt kaufen?

Die Bücher gibt es in gut sortierten Buchhandlungen, bei Online-Buchhändlern oder direkt beim Verlag. Achte auf spezielle Editionen und limitierte Auflagen.

Sind Bücher mit Farbschnitt wertvoll?

In der Regel behalten Bücher mit Farbschnitt ihren Wert oder gewinnen sogar an Wert, besonders wenn sie gut gepflegt werden und limitiert sind.

Kann ich Farbschnitte selbst gestalten?

Es ist möglich, erfordert aber Fachwissen und spezielle Materialien. Gemeinsam mit unseren Buchhandels-Partnern bieten wir immer wieder Events an, bei denen unsere Bücher unter fachlicher Anleitung individuell gestaltet werden können. Abonniere am besten unseren Romance-Newsletter, um über anstehende Events informiert zu werden.

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Kommentare

1. Kill Switch mit Farbschnitt
Anja am 12.04.2025

Liebes Piper-Team
Ich habe alle Bücher der Devil‘s Night Reihe und liebe sie ❤️
Leider habe ich Kill Switch nicht mit Farbschnitt und das macht mich wirklich traurig. Diese Reihe hat mich nach Jahren wieder zum Lesen gebracht und daher hätte ich so gerne alle mit Farbschnitt, damit es ein einheitliches Bild ist und ich mich immer wieder daran erfreuen kann.
Ich suche überall, aber selbst gebraucht finde ich es nicht mehr.
Könnt ihr mir helfen? Gibt es bei euch die Möglichkeit noch eins mit Farbschnitt zu kaufen? Ich würde mich sooooo sehr freuen!
Liebe Grüße
Anja

2. Antwort an Anja
Piper Verlag am 24.04.2025

Leider haben auch wir keine Exemplare mehr von 'Kill Switch' mit Farbschnitt und können hier leider nicht weiterhelfen. Wir hoffen, dass Du doch noch irgendwo fündig wirst.
Herzliche Grüße, Dein Piper-Team

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