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Dorothee Riese für den Literaturpreis Fulda 2024 nominiert

Dorothee Riese mit „Wir sind hier für die Stille“ nominiert für den Literaturpreis Fulda 2024

„Wir sind hier für die Stille“ von Dorothee Riese [ET: 29. Februar] steht als einer von neun Debütromanen auf der Shortlist für den Literaturpreis Fulda 2024. Aus insgesamt 39 Romandebüts, die von 23 deutschsprachigen Verlagen eingereicht wurden, nominierte die unabhängige Jury jetzt die aus ihrer Sicht bemerkenswertesten Erstlingswerke. Die finale Entscheidung, wer den Literaturpreis Fulda 2024 erhalten wird, fällt Ende Januar 2024.

Die Jury für den Literaturpreis Fulda 2024 setzt sich zusammen aus dem Literaturkritiker Christoph Schröder, der Schriftstellerin Zsuzsa Bánk, der Literaturkritikerin Julia Schröder, dem Schriftsteller Christoph Peters und der Autorin Silke Stamm, die 2023 den Literaturpreis Fulda für „Hohe Berge“ erhalten hat. Organisiert wird der Literaturpreis Fulda im Auftrag der Stadt Fulda und in Zusammenarbeit mit dem Kulturamt von Silke Hartmann von der Agentur „Kulturperle – Kommunikation und Kulturmanagement“. Der Preis ist mit 10.000 Euro dotiert. Die weiteren nominierten sind: Jenifer Becker, Florian Dietmaier, Konstantin Ferstl, Julia Jost, Birgit Mattausch, Necati Öziri und Dana Vowinckel.

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„Ist Fremdsein eine unüberwindbare Grenze – auch wenn man den Alltag miteinander teilt? Mit Dorothee Riese betritt eine Autorin die literarische Bühne, der es gelingt, mit den Mitteln der Sprache das, was hinter der Sprache liegt, spürbar zu machen.“


Jenny Erpenbeck

Blick ins Buch
Wir sind hier für die StilleWir sind hier für die Stille

Roman

Über eine außergewöhnliche Jugend am Fuße der Karpaten

Die Geschichte einer Kindheit als soziales Experiment: Anfang der 1990er Jahre wandert die fast sechsjährige Judith mit ihren Eltern von Deutschland nach Rumänien aus. Ihr Ziel ist ein abgelegenes Dorf in Transsilvanien am Rande der Karpaten. Judith soll in einer ursprünglichen, vom Kapitalismus freien Gemeinschaft aufwachsen. Mit wachem Blick erkundet sie den Ort, seine Menschen, Geschichte und Sprache. Bald wird sie zur Wahlenkelin der alten Siebenbürger Sächsin Lizitanti. Und sie lernt Irina kennen, die mit ihrer Ziege im Milchauto mitfährt. Irina ist eine Romni. Judith möchte das auch sein, Irina aber lehnt das kategorisch ab. Bald stellt der Widerspruch zwischen mitgebrachter Utopie und vorgefundener Realität die Familie vor immer größere Probleme.

„Ist Fremdsein eine unüberwindbare Grenze – auch wenn man den Alltag miteinander teilt? Mit Dorothee Riese betritt eine Autorin die literarische Bühne, der es gelingt, mit den Mitteln der Sprache das, was hinter der Sprache liegt, spürbar zu machen.“ Jenny Erpenbeck

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Dorothee Riese

Über Dorothee Riese

Biografie

Dorothee Riese, geboren 1989 bei Göttingen und in Rumänien aufgewachsen, studierte Internationale Literaturen, Slawistik und Kultur und Geschichte Mittel- und Osteuropas in Tübingen, Moskau, Frankfurt (Oder) und im südsibirischen Barnaul. Zum Studium des literarischen Schreibens kam sie nach Leipzig. Sie arbeitete an der Gedenkstätte Buchenwald in Weimar und ist für das Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa tätig. Sie lebt mit ihrer Familie in Leipzig.

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Blick ins Buch
Hohe BergeHohe Berge

Roman

Eine Frau. Fünf Männer. Eisiger Wind in höheren Lagen während einer Skidurchquerung in den Schweizer Alpen. Kunstvoll verdichtet und mit außergewöhnlicher literarischer Kraft erzählt „Hohe Berge“ eine Geschichte vom Miteinander unter herausfordernden Umständen.

Sechs einander fremde Menschen – fünf Männer, eine Frau – brechen zu einer Skidurchquerung im Hochgebirge auf. Eine Woche, in der die Tourteilnehmer aufeinander angewiesen sind und sich zwangsläufig sehr nahekommen. Der Erzählerin wird bewusst, dass sie Angst hat, die Kontrolle abzugeben, und dass die Erwartungen der anderen sie lähmen. Ein Lawinenabgang bringt Bewegung in das fragile Gruppengefüge. Kunstvoll verdichtet und mit außergewöhnlicher literarischer Kraft erzählt Silke Stamm in ihrem Romandebüt eine faszinierende Geschichte vom Miteinander unter herausfordernden Umständen.

„Was hier alles unter dem Schnee verborgen liegt, ist nur zu erahnen. Aber man weiß, es ist viel. Und die Erzählerin durchwandert diese weiß bedeckte Landschaft gleichzeitig so bedächtig und temporeich, dass man kein Tauwetter möchte.“ Isabel Bogdan

Achter Tag

Im hellen Licht des frühen Nachmittags vor einem Gasthof auf der Bank zu sitzen, das Gesicht ins Sonnenlicht zu halten, das von den Schneefeldern ringsum zurückgeworfen wird, die Getränke auf den Tischen leuchten lässt und dem die Männer im weiten U der Holzbänke mit halb geschlossenen Augen ihre Gliedmaßen entgegenstrecken; die Beine ebenfalls weit auseinanderzustellen, damit möglichst viel Licht auf die feuchten Hosenteile fällt, die wärmenden Strahlen auf der Haut zu spüren und in tiefen Schlucken goldgelbes Bier zu trinken, neben Aaron, der nun in die Sonne blinzelt, sein Telefon in die Hand nimmt, darauf herumwischt, eine Nachricht liest, lächelt, sagt, von den Schweden gebe es noch keine Neuigkeiten, das Gerät wieder zur Seite legt und sich an den Gesprächen der vier anderen nur beteiligt, wenn sie etwas von ihm wissen wollen, Namen von Bergen oder Bindungstypen, wozu er kurze Auskünfte erteilt und dann wieder sein Gesicht zur Sonne wendet, während die anderen darüber sprechen, wohin sie jetzt, nach dem Ende der Durchquerung, aufbrechen werden, ob nach Hause oder eben noch woandershin, und Aaron sich nicht dazu äußert, dem jedoch, sollte er etwas sagen, alle zuhören würden.

 

Ihn mit der Frage nach der besten Zugverbindung anzusprechen, woraufhin er sein Mobiltelefon noch einmal in die Hand nimmt, mehrmals auf die glatte Oberfläche tippt, es herüberreicht, eine der Verbindungen empfiehlt und abschließend meint, er nehme denselben Zug; zuzuhören, während sich auch die anderen jetzt wieder an Aaron wenden und ihm Fragen bezüglich seiner nächsten Unternehmungen stellen, die er zuerst mit einem Scherz beantwortet, an den er anfügt, erst einmal freue er sich auf sein Zuhause; die aufsteigenden Perlenschnüre im Bierglas zu betrachten, die sich verkürzen, bis es Zeit ist, aufzustehen und einander gegenseitig zu versichern, vom Ende abgesehen sei die Woche schön gewesen; dann die anderen, die noch in der Sonne sitzen bleiben und weitertrinken wollen und deren Heimwege kürzer sind, der Reihe nach zu umarmen, zuletzt Luke, der ausnahmsweise seine Mütze abgenommen hat, bei der Umarmung ohne das unbeholfene Schulterklopfen der übrigen auskommt und der, da er etwa gleich groß ist, mit seiner Wange an der eigenen zu liegen kommt und sie dort lässt für einen Moment, der schön ist, bis er vorbei ist, Luke sich durch die schweißverklebten Haare strubbelt und es nichts mehr zu sagen gibt.

 

Aaron nicht in den Arm zu nehmen und zu nicken, als er erklärt, er habe noch etwas Zeit, eine Fahrkarte brauche er nicht zu kaufen, er komme nach; also die eigenen Ski aus dem Mikado der an einen Bretterzaun gelehnten Ausrüstungsgegenstände herauszuziehen, den Rucksack zu schultern, sich dabei trotz des Gepäcks gewichtslos zu fühlen, so, als würde etwas fehlen, und zum Bahnhof aufzubrechen, ohne zu wissen, ob das jetzt eine Art von Verabredung ist und wie verbindlich die dann wäre.

 

Zum Schalter und anschließend zum Bahnsteig zu gehen, wo der Zug bereits steht; dort unvermittelt von einer Menschenmenge umschlossen zu sein und sich darauf zu konzentrieren, die geschulterten Ski zwischen sommerlich gekleideten Wartenden hindurchzunavigieren, ohne jemanden anzurempeln; an der Waggontür kurz zu zögern, dann aber doch einzusteigen, weil es merkwürdig aussähe, auf dem Bahnsteig herumzustehen, als wäre es so abgemacht; die Ausrüstung die steilen Stufen hochzutragen, dabei in den Stiefeln zwischen den Zehen noch die Steinchen aus dem Bachbett zu spüren, von vorhin; die Ski zu verstauen, mit Rucksack und Jacke zwei Plätze zu belegen und im dämmrigen Abteil nun wahrzunehmen, wie hell der Tag draußen noch immer leuchtet; sich in die offene Tür zu stellen, Ausschau zu halten und ihn dann zu entdecken, Aaron, der tatsächlich am Zug entlangkommt und offensichtlich ebenfalls Ausschau gehalten hat; zu rufen und dabei im Klang der eigenen Stimme etwas zu hören, das er vielleicht auch hören kann.


Erster Tag

Im Zug an lang gezogenen, glitzernden Seen vorbeizufahren, die zwischen frühlingsgrünen Hügeln liegen, auf denen schon die ersten Bäume rosa Blüten tragen und hinter denen die Berge aufragen, farblos, fast zweidimensional, als wären sie nachträglich ins Bild geklebt; probehalber schon einmal ein Harscheisen auf die neue Bindung zu montieren und sich zu ärgern, als das nicht auf Anhieb klappt.

 

Kaum geschlafen zu haben in der Nacht, weil es im Zug keine Liegewagen gab; sich auf einen Zweiersitz gelegt zu haben, was jedoch nicht möglich war, ohne mit Kopf und Knien gegen Armlehne und Vordersitz zu stoßen; die ganze Zeit über gefroren und nach und nach fast alle Kleidungsstücke, die sich im Rucksack fanden, übereinander angezogen zu haben, schließlich sogar in den Seidenschlafsack gekrochen zu sein, trotz der Befürchtung, ihn dabei zu zerreißen; mit angewinkelten Beinen schlaflos in der dünnen, weißen Hülle gelegen zu haben, dem vom Geratter der Räder unterstrichenen Unbehagen ausgeliefert, mit Material, das noch nicht einmal für eine Zugfahrt ausreicht, für die Tour nicht gut gerüstet zu sein; als der Zug nach Mitternacht fast eine Stunde lang in der Stille einer dunklen, menschenleeren Gegend stehen blieb, Angst bekommen zu haben, den Anschluss zu verpassen und nicht einmal den Startpunkt der Tour rechtzeitig zu erreichen.

 

Frühmorgens dann doch beinahe pünktlich hinter der Grenze angekommen zu sein, und in den wenigen Minuten, die für den Weg die Treppe hinauf, an Stehcafés und Imbissen vorbei und wieder zum anderen Gleis hinunter blieben, die Ski zwar hauptsächlich an Menschen in Jeans oder Geschäftskleidung vorbeigetragen zu haben, sich dabei in Skistiefeln aber schon weniger deplatziert vorgekommen zu sein.

 

Später am Vormittag an einem kleinen Bahnhof auszusteigen, und unter denen, die mit aussteigen, auch aus den Augenwinkeln die anderen Teilnehmer sofort an ihrer Ausrüstung zu erkennen und daran, dass sie sich ebenfalls vorsichtig umsehen.

 

Im gleißenden Sonnenlicht die Augen zusammenzukneifen und auf einen der Männer zuzugehen, während die anderen noch umständlich ihre Ski auf dem Bahnsteig positionieren und sich nur mit Halbblicken streifen; den Mann, der weißliche Spuren von Sonnencreme auf dem Nasenrücken hat und trotz der Wärme eine rote Mütze trägt, auf die Durchquerung anzusprechen, woraufhin er sofort die Hand ausstreckt, sich als Luke vorstellt und anschließend ein paar Worte in Mundart an einen Mann mit schulterlangen, grau melierten Locken richtet, der mit schlenkernden Schritten näher kommt und auch, als er stehen bleibt, nicht aufhört, auf den Ballen zu wippen, dabei nickt und etwas erwidert, was nicht zu verstehen ist, vermutlich seinen Namen; auch die beiden anderen, die nun herantreten und sich vorstellen, Hans-Ruedi und Jean-Pierre, vom Dialekt her gleichfalls Einheimische, mit festem Handschlag zu begrüßen; mit im Kreis zu stehen, sich aber beim ersten Abgleich der vier Männer, welche Touren sie jeweils schon gemacht haben und wie gut sie die Gegend kennen, nicht zu beteiligen; zu beobachten, wie Hans-Ruedi nebenbei in ein großes, gelbes Stofftaschentuch schnäuzt, es danach wieder zusammenfaltet, in der Hosentasche verstaut und dabei konzentriert und keinesfalls betulich wirkt.

 

Zur Bahnhofstoilette zu gehen, in dem kühlen, weiß gekachelten Raum die Trinkflasche aufzufüllen, das kalte Wasser über die Handgelenke laufen zu lassen und direkt aus dem Strahl zu trinken; sich das Gesicht zu benetzen, mit nassen Händen durch die Haare zu fahren und froh zu sein, dass es keinen Spiegel gibt; zurückzugehen auf den Bahnsteig, sich mit in den Schatten zu stellen, Berichte über Gipfel anzuhören, ohne etwas beizutragen, und auch nichts gefragt zu werden.

 

Auf die Ankunft des Bergführers zu warten, von dem die anderen vermuten, dass er aus der Gegenrichtung eintreffen müsste, was dann auch so geschieht; sofort genauer hinzuschauen, als er mit einem weiteren Teilnehmer aus der Unterführung hochkommt, mehrere Stufen auf einmal nimmt, dabei schlaksig wirkt und zugleich durchtrainiert, und, oben angekommen, rasch beginnt, das Mietmaterial aus seiner großen Plastiktasche zu verteilen; ein Lawinenverschüttetensuchgerät von ihm überreicht und dessen Handhabung in knappen Worten erklärt zu bekommen, während er bereits Hüftgurte und Steigeisen an einige der anderen ausgibt und dann, ohne viel mehr als seinen Namen, Aaron, preisgegeben zu haben, losgeht, in den hellen, heißen Tag hinaus.

 

Mit den Ski in der Hand und dem Poltern der Stiefel im Ohr ein Stück auf der asphaltierten Straße zu marschieren, bald jedoch ins Gelände abzuzweigen, wo der Schnee sämtliche Geräusche dämpft; es Aaron, als er seinen Rucksack absetzt, nachzutun, die Ski so auf dem Gepäckstück zu platzieren, dass die Unterseiten nach oben zeigen und trocken bleiben, den Beutel mit den Steigfellen auszupacken und in dem Moment froh zu sein, daran gedacht zu haben, ihn griffbereit ganz oben zu verstauen; die Felle auf die Laufflächen zu kleben, fest anzudrücken, die Ski dann in den Schnee zu legen und in die Bindungen zu steigen; im Geräusch, mit dem sie einrasten, die Entschiedenheit eines Startsignals mitzuhören und sich zu freuen, dass es jetzt losgeht.

 

Die ersten fünfhundert Höhenmeter wie Aaron ohne Pause durchzugehen, während die anderen Teilnehmer, die kürzere Anreisewege hatten und noch in ihren Betten schlafen konnten, ab und zu stehen bleiben, um Fotos zu knipsen oder etwas auszuziehen, und dann wieder aufschließen; im Kopf ihre Namen zu wiederholen, Luke mit der roten Mütze, Jean-Pierre, gebräunt mit Schnauzer, Hans-Ruedi, Fippu, der zusammen mit Aaron ankam und dessen Augenlider gerötet sind, und den eigenen Vordermann, den mit den grau gesträhnten Locken.

 

Während die Sonne weiter steigt, darauf zu achten, dass sich der Abstand von einer Skilänge zum Vordermann nicht vergrößert; ihm die Bitte zuzurufen, seinen Namen noch einmal zu sagen, aber eine andere Antwort von ihm zu erhalten als vorhin Luke, und zwar Thomas.

 

Bei jedem Schritt zu spüren, dass der Körper sich erinnert, was zu tun ist, dass die Knie genau den richtigen Druck erzeugen, damit abwechselnd die Ski gleiten und die Felle greifen; das Gleichmaß der Bewegungsabläufe zu genießen, die Weite der Landschaft, die mächtig und statisch wirkt, jedoch beim Gehen wieder und wieder mit neuen Ausblicken überrascht, und nicht nur Felsen und Wolken viel Raum schenkt, sondern auch den Gedanken; die am Morgen im Zug verfasste Nachricht an die Tochter, Bin bereits bald bei Bergen, im Kopf immer wieder aufzusagen, ohne dies eigentlich zu wollen, und dabei die Alliterationen im Gehrhythmus zu betonen, deren Zauber sie bereits in der ersten Klasse für sich entdeckt und dann mehrere Jahre lang in kleinen Briefchen angewendet hatte, die sie auf den quadratischen Abreißblock in der Besteckschublade schrieb, wo sie zum Teil noch immer liegen; auf den vorhin abgeschickten Text noch keine Antwort bekommen zu haben und auch keine mehr zu erwarten, weil es hier oben vermutlich nirgendwo Empfang gibt.

 

Später, als das Tal enger und der Anstieg steiler wird, hintereinander in einer einzigen Spur zu gehen, ohne dass sich noch jemand unterhält; die Reihe weiterhin nie zu verlassen und deshalb zuletzt direkt hinter Aaron zu gehen, der sich nach einer Biegung umwendet und in die Stille der Berge hinein sagt, Lue, itz gsehsch scho d Hütte, auf die Rückfrage hin nur lacht und entgegnet: Ja, es isch a dir, se z finde; beim Weitergehen minutenlang die Hänge abzusuchen und sich zu freuen, als sie sich dann endlich zeigt, aus grauem Stein an einen der ins Weiße gesprenkelten Felsen geschmiegt; nach einer letzten etwas steileren Passage unmittelbar unterhalb der Hütte, von der Aaron sagt, das sei jetzt die Schlüsselstelle des heutigen Tages, und ins Gelächter aller hinein betont, er meine das durchaus ernst, hier sollte nicht gerade jemand stürzen, da gehe es dann weit hinunter, das Gebäude zu erreichen, vor dem er stehen bleibt, bis zuletzt auch Hans-Ruedi angekommen ist, und Aaron jedem Einzelnen mit Handschlag gratuliert, obwohl es ja kein Gipfel-, sondern nur der Hüttenaufstieg war.

 

Zusammen auf der Terrasse zu sitzen, Aaron und Thomas breitbeinig in Liegestühlen, die im Schnee stehen, der Rest auf einer steinernen, an die Hauswand gemauerten Bank; den beiden zuzuhören, die sich halbe Sätze zuwerfen und über Dinge lachen, die nur für sie eine Bedeutung haben; im Rücken die von der Wand gespeicherte Sonnenwärme zu spüren und die nackten Füße auszustrecken, während die Stiefel und Socken zum Trocknen in der Sonne liegen; Thomas, der von niemandem so genannt wird, ein weiteres Mal anzusprechen, ob er bitte den Namen, den die anderen benutzen, buchstabieren könne, was dann aber Hans-Ruedi übernimmt: Im Berndeutschen werde letztlich jeder anders genannt, als auf der Geburtsurkunde zu lesen sei, in dem Fall also Thömu, so wie aus einem Philipp der Fippu werde; seine etwas gespreizte Aussprache der hochdeutschen Namen wahrzunehmen und auch, dass Thömu seinen Kopf nur leicht dem Gespräch zuneigt, ohne den Blickkontakt lange zu halten, und dann wieder einen Spruch in Richtung Aaron loslässt.

 

Lukes Schritte zu hören, der mit feucht am Kopf klebenden, rötlichen Haaren konzentriert ein volles Tablett durch den weichen Schnee zu jedem Einzelnen hinbalanciert, beim Überreichen der Getränke lächelt und auf den Dank sehr gärn erwidert.

 

Als das Licht diesiger wird und die Kälte sich unter die Jacke zu schieben beginnt, hineinzugehen, zum Matratzenlager im ersten Stock; einen dämmrigen, holzverkleideten Raum zu betreten, der zu beiden Seiten des schmalen Mittelgangs aus doppelstöckigen Lagern besteht; von den unteren Schlafplätzen den an der Außenwand mit dem kleinen Giebelfenster zu wählen, bevor es ein anderer tut, um sich beim Schlafen mit dem Gesicht zur Wand drehen zu können, statt zu einem anderen Körper hin, und auch, um das Fensterchen schnell wieder öffnen zu können, falls es nachts jemand schließen sollte; den Seidenschlafsack auszubreiten, darüber zwei Hüttendecken, die Stirnlampe bereitzulegen, das Zahnputzzeug und das zweite Paar Skiunterwäsche für die Nacht, und während des Sortierens zu bemerken, dass auch Aaron mit seinem Rucksack ins Gruppenzimmer kommt, obwohl Bergführer sich normalerweise Einzelzimmer geben lassen, dass er jedoch einen Platz in der oberen Etage wählt und eher in der Mitte.

 

Da es im Lager nur unter den Decken auszuhalten wäre, hinunter in den beheizten Gastraum zu gehen, nach Spielkarten zu suchen und in einer Truhe zwischen Schachteln und einzelnen Spielfigürchen ein abgegriffenes Jassblatt zu finden: Eicheln, Rosen, Schellen und Schilten, einem Skatblatt ähnlich, nur dass es auch Sechsen gibt; sich an einen der Holztische zu setzen, die Spielkarten auf vier Häufchen zu sortieren und nachzuzählen, ob sie vollständig sind, sie dann wieder zu mischen und zu warten; schon oben im Schlafraum an alle gerichtet gefragt zu haben, wer mitspielen möchte, ohne dass sich jemand festlegen wollte; als Aaron dann der Erste ist, der in die Stube und nach einem kurzen Plausch mit dem Wirt zum Tisch kommt, den Kartenstapel in die Hand zu nehmen und ihn zu fragen: Hast du Lust?

 

Auf seine Gegenfrage nach dem Spiel zu offenbaren, mit Jasskarten eigentlich nur eines zu kennen, den Schieber, bezüglich der Regeln aber nicht ganz sattelfest zu sein; damit es nicht beim Reden bleibt und falls gleich noch die zwei erforderlichen Mitspieler dazustoßen, die Karten schon einmal auszuteilen, im Uhrzeigersinn, was, wie er lächelnd anmerkt, falsch sei; mit den Karten in der Hand ein, zwei Fragen zu den nächsten Etappenzielen zu stellen, auf die er nicht eingeht, dazu werde er nachher für alle etwas sagen; sich, nachdem er ein Bergsportmagazin genommen und aufgeschlagen hat, dem Fenster mit der milchigen Sonne, die den Schneestaub in der Luft zum Leuchten bringt, zuzuwenden, ins helle Licht jenseits des dunklen Rahmens zu blicken, schließlich aufzustehen, in den Hüttenschlappen vorbei am Skischuhraum in den Schnee hinauszutreten, wo ein kalter Wind weht, kälter, als dass es sich dort ohne Jacke lange aushalten ließe; später, als Hans-Ruedi mit am Tisch sitzt, von ihm einige Fragen zu Regeldetails gestellt zu bekommen und sich darüber zu freuen, als Expertin angesehen zu werden; die Fragen so weit wie möglich zu beantworten, Aaron zuzuzwinkern und dabei ebenfalls zu lächeln.

 

Zu viert einen Schieber zu spielen, Jean-Pierre als Partner zugelost zu bekommen, und schon in der ersten Runde gleichzeitig mit dem eigenen Fehler seinen entsetzten Blick auf die falsch ausgespielte Karte zu bemerken, entschuldigend mit den Schultern zu zucken und zu registrieren, dass er zwar versucht, sich mit Kommentaren zurückzuhalten, es ihm aber auch bei der nächsten Karte, die er für falsch hält, nicht gelingt, ein lautes Schnaufen zu unterdrücken.

 

Noch sitzen zu bleiben, nachdem das Spiel verloren ist, Aaron wegen des Getränkenachschubs am Tresen steht und Hans-Ruedi eine topografische Karte auf dem Tisch ausbreitet und sich darin vertieft; von Jean-Pierre dargelegt zu bekommen, momentan habe er viel Zeit, Resturlaub, demnächst dann aber einen neuen Arbeitgeber, der ihn von seiner alten Firma abgeworben habe; zu nicken und zu lächeln, während er ausführt, was er geplant habe, um die freien Wochen, über die er nach dieser Tour noch verfüge, gut zu nutzen, und über Weltgegenden und günstige Reisezeiten referiert, und nach einer Weile, in der Aaron nicht zurückkommt, weil er an einem anderen Tisch angesprochen wurde, mit dem Lächeln und Nicken aufzuhören.

 

Im kühlen Schlafraum alleine zu sein, bis auf Fippu, von dem nur ein paar dunkle Locken und ein Hügel unter der Decke zu sehen sind; die Stirnlampe auf dem Rucksack zu platzieren, sich mit dem Rücken zur Tür in ihrem Strahl auszuziehen und gerade alle Schichten der Oberbekleidung über den Kopf gezogen und nach dem Nacht-Shirt gegriffen zu haben, als die Tür aufgeht und Thömu hereinkommt, kurz stockt und eine halbe Entschuldigung brummt, auf die es nichts zu erwidern gibt; aus den hastigen Geräuschen, die er macht, während er im Schein seiner Leuchte etwas aus dem Rucksack holt und die Lichtkegel sich auf den Wänden überschneiden, Gereiztheit herauszuhören, obwohl er sich zugleich bemüht, leise zu sein wegen Fippu.

 

Sich hinzulegen und zur Wand zu drehen, alle weiteren Geräusche wegzuschieben, auch das aus dem Dunkel gemurmelte Schlaf guet zu ignorieren und unter der Decke weit zurück zu denken, ans Wasserballtraining während des Studiums; damals außerhalb der regulären Öffnungszeiten in einem Hallenbad trainiert zu haben, wo vor und nach dem Training nur ein Duschbereich zugänglich war, der für Männer; es genossen zu haben, mit den Teamkameraden zusammen unter der Dusche zu stehen, ohne dass das eine große Sache gewesen wäre und oft als einzige Frau, obwohl das Reglement beliebig viele Spielerinnen pro Team zugelassen hätte; beim Training zwar genauso gefoult zu haben wie die anderen, selbst allerdings weniger hart angegangen worden zu sein und bei den Punktspielen kürzere Einsatzzeiten gehabt und nur selten Tore erzielt zu haben; damals ein oder zwei Mal in seinem Auto und ohne große Umstände mit dem Trainer geschlafen, das auch genauso gewollt zu haben, und erst danach, obwohl er sogar explizit dargelegt hatte, wie seine Traumfrau aussehen solle, ganz anders, langhaarig, blond und sicher ohne blaue Flecken, trotzdem und für eine ganze Weile in ihn verliebt gewesen zu sein.

Zweiter Tag

Frühmorgens durch das elektronische Krähen eines Hahnes aufzuwachen, das jemandem als Weckton dient; sich sofort aus dem Schlafsack zu schälen und im hinteren Bereich des doppelstöckigen Lagers, wohin kein Lichtkegel der anderen Leuchten zielt, die Schlafsachen aus- und die schon bereitgelegten ersten Schichten anzuziehen; auch den Seidenschlafsack gleich in sein Säckchen zu stopfen, die Lagerdecken vorschriftsgemäß zusammenzufalten, zweimal längs und dann erst zweimal quer, sie ans Fußende zu legen und über sie hinweg zum schmalen Gang zu krabbeln, wo einige der anderen im Stirnlampenschein an ihren Rucksäcken hantieren; sich aufzurichten und ins verhaltene Klirren der Gerätschaften hinein denen, die auf Blickkontakt reagieren, leise, weil im Raum noch eine weitere Gruppe schläft, einen Guten Morgen zu wünschen.

 

Am Frühstückstisch zu sitzen, Schulter an Schulter, manche noch mit der Stirnlampe am Kopf, da es außerhalb des Essraums nirgends Licht gibt; erst einen Tee gegen den pelzigen Nachtgeschmack im Mund zu trinken, dann drei Schalen dünnen Milchkaffee; allerdings nur wenig Essen herunterzubekommen, eine halbe Scheibe Marmeladenbrot in kleinen Bissen, die sich am Gaumen voluminös und zäh anfühlen, und ein Schälchen Cornflakes, während Aaron ein Brot nach dem anderen verspeist, jedoch, wie er erläutert, unterwegs so gut wie nichts zu sich nehmen und auch kaum Proviant in seinem Rucksack herumtragen wird, dafür aber fünfzig Meter Seil.

 

Dem Gepolter anderer Gruppen zuzuhören, von denen manche jetzt erst den Tisch decken, während andere bereits das Geschirr stapeln und zurück zum Tresen bringen; schweigend weiterzukauen, bis Aaron, der gegenübersitzt, jedem Einzelnen einmal ins Gesicht schaut und fragt: So, hesch guet pfuuset? Bisch parat?

 

Schon, als er noch mit Luke spricht, auf seine Frage und auf seinen Blick zu warten, dann mit einem kleinen Lächeln zu nicken, zurückzufragen, ob die Steigfelle gleich auf die Ski gezogen werden sollen oder nicht, und Zersch es Bitzli abefahre als Antwort zu erhalten; Hans-Ruedi fragend anzuschauen, als der von Aaron übersprungen wird, im Flüsterton erläutert zu bekommen, er werde nicht weiter mitkommen, es gehe ihm nicht gut, Kopfweh und Gliederschmerzen, da habe er keine andere Wahl, mit Aaron habe er sich bereits besprochen, von hier aus sei es noch problemlos möglich, umzukehren, an der Aufstiegsspur entlang zurück; zu fragen, wie er sich das denn vorstelle, er werde doch gebraucht, fürs Jassen, worauf er mit einer knappen Drehung seiner Handflächen nach oben reagiert und dann sein gelbes Taschentuch abschließend und effizient verwendet; Hans-Ruedis Abschied aber auch deshalb zu bedauern, weil er der Älteste und Langsamste gewesen ist und es wohl am ehesten er gewesen wäre, auf den man hätte warten müssen.

 

Schnell aufzustehen und die Thermoskanne mit Marschtee zu befüllen, nachdem Aaron angekündigt hat: Auso, ire Viertelstung dusse, bereit zum Abmarsch; anschließend durch den Schnee zum Plumpsklo hinunterzustapfen, im Mondlicht, sodass es ohne Stirnlampe möglich ist; sich beim Häuschen hinter den Wartenden einzureihen und ins Blau der Berge zu blicken, die sich hell und riesig vor dem dunkleren Nachthimmel darbieten, aus dem vereinzelte Sterne leuchten; hinterher auch gleich noch die Zähne zu putzen, den Schaum in den Schnee zu spucken und mit einer halben Tasse Tee den Mund auszuspülen, wieder hineinzugehen, den Rucksack zu holen, Handschuhe und Mütze griffbereit nach oben, den Hüftgurt, an dem die Karabiner klirren, anzuziehen, danach die Skistiefel, alles im Streiflicht der Stirnlampen, und dabei abzuschätzen, wie weit die anderen sind, weil es nicht schön wäre, gleich am ersten Morgen die Letzte zu sein.

 

Hans-Ruedi, der auf der dunklen Terrasse steht, zum Abschied zuzuwinken und sich dann in die blaue Ebene hinein abzustoßen, die noch immer vom Mond beleuchtet wird, aber erst, nachdem Aaron die Suchgeräte kontrolliert und eine Warnung wegen der vereisten Schneedecke ausgesprochen hat; festzustellen, dass die jedoch gar nicht so hart ist und sich schnelle Schwünge in den Hang fräsen lassen, zwei, drei, viele; in die große Stille hinein zu jauchzen und erst in einer kleinen Mulde neben Luke und Thömu stehen zu bleiben, die vorausgefahren sind.

 

Die Atemluft als große Wolke auszustoßen, die im Stirnlampenlicht gelb erstrahlt; zusammenzustehen in einer Welt, die nur aus dem besteht, was nah ist, dem Atmen der anderen, dem Knirschen eines Skistocks im kalten Untergrund, dem blau leuchtenden Schneefeld; zu warten, auf Fippu, der als Letzter abmarschbereit gewesen ist und dann erst unterwegs bemerkt hat, dass seine Steigeisen fehlen, und auf Aaron, der es auf sich genommen hat, die gut einhundert Höhenmeter zurück zur Hütte, die von hier aus schon nicht mehr zu sehen ist, noch einmal schnell hinaufzugehen.

 

Zu warten, bis Aaron, der mit weit ausholenden, schnellen Bögen aus dem Dunkel auftaucht, Fippu seine Steigeisen überreicht hat, ohne viele Worte zu verlieren; anschließend noch ein kurzes Stück Abfahrt vor sich zu haben, auf dem nun Aaron vorausfährt; sofort hinterher zu wollen, aber an Thömus Körperhaltung abzulesen, dass er dasselbe möchte, und sich einzubilden, in dem halben Blick, den er herüberwirft, um die Reihenfolge zu klären, Verwunderung zu erkennen; ihn mit einer Kinnbewegung vorzulassen und Aaron nachzuschauen, der, auch als die Distanz größer wird, noch sehr gut zu sehen ist, weil seine Jacke im Mondlicht leuchtet; zu bedauern, dass der Hang schnell zu flach wird, um noch spritzig zu fahren, in einer Senke stehen zu bleiben, die Ski umzurüsten und, obwohl es noch sehr kalt ist, auch die Außenjacke auszuziehen, damit es beim Gehen nicht zu warm wird.

 

Auf gleichmäßig ansteigenden, nicht allzu steilen Hängen in den Tag hineinzugehen und das erste Zwischenziel bereits mitten am Vormittag zu erreichen, ein Hochplateau, über dem der eigentliche Gipfel liegen muss, den die Wolken aber noch verbergen; eine Vesperpause einzulegen, Znüni näh, wie Thömu sagt, der einen Nussriegel auspackt, ihn auseinanderbricht und Aaron eine Hälfte hinhält; ins morgendliche Sonnenlicht zu blinzeln, die diesige, nur halb durchsichtige Luft zu bestaunen, die von innen her zu leuchten scheint und allem, was zu sehen ist, Felsen, einer Dohle, die nach unten segelt, einen weichen Schimmer verleiht, der die Begrenzungen verschwimmen lässt.

Den Drang, Wasser zu lassen, zu verspüren, ihn aber, solange die Gepflogenheiten der anderen noch unklar sind, zu unterdrücken; erst, nachdem Jean-Pierre sich einige Meter entfernt mit durchgestrecktem, der Gruppe zugewandtem Rücken breitbeinig hingestellt und uriniert hat, ebenfalls aufzustehen und es, da es auf der weiten Gletscherfläche nichts gibt, was als Sichtschutz dienen könnte, ähnlich zu machen, dabei allerdings nicht bloß die Hose, sondern auch den Hüftgurt öffnen zu müssen, beides über den Po zu ziehen und zwischen den Ski hockend ein großes Loch im Weiß zu hinterlassen, aus dem es dampft; hinterher gerade noch Zeit zu haben, sich eine getrocknete Feige in den Mund zu stecken, danach alles sofort wieder im Rucksack zu verstauen, um rechtzeitig abmarschbereit zu sein, und sich gleich hinter Aaron anzuschließen, obwohl Thömu ebenfalls bereitsteht; beim Weitergehen die sperrige Trockenfrucht nicht sofort zu zerkauen, sondern eine ganze Weile im Mund hin- und herzuschieben, bis sie weicher wird und das süße Innere herausquillt.

 

Sich nach einem kurzen Zwischenstopp wieder hinter Thömu einzureihen, der dicht zu Aaron aufschließt und sofort ein Gespräch mit ihm beginnt, das die beiden aufrechterhalten, obwohl der Wind in ihre Sätze bläst; selbst nur Wortfetzen zu verstehen, ohne dem Inhalt folgen zu können.

 

Während des weiteren Aufstiegs darauf zu achten, nicht zu oft nach vorn zu drängen und auch manchmal an dritter oder vierter Position zu gehen, aber immer im Blick zu haben, dass der Abstand zum jeweiligen Vordermann auch in anspruchsvollen Passagen nicht größer als zwei, drei Skilängen wird; und dann, nach einem längeren Aufstieg in steilem Gelände, endlich auf dem ersten Gipfel zu stehen und von Aaron umarmt zu werden, der allen anderen per Handschlag gratuliert.

 

Die Skistiefel für die bevorstehende Abfahrt so eng wie möglich zu schnallen, um dynamisch fahren zu können, ein Kribbeln im Bauch zu spüren, aber, bevor es losgeht, von Aaron noch ein paar Hinweise zu bekommen: Grundsätzlich fahre er voraus, und wenn er anhalte, müssten alle anderen oberhalb von ihm stoppen, nicht wie im Skikurs unterhalb; zu nicken und währenddessen unauffällig zu versuchen, sich so zu positionieren, dass es sich gleich, wenn Aaron losfährt, anbieten wird, ihm als Erste zu folgen; vorher aber noch auf beinahe schulmeisterliche Art von ihm gefragt zu werden, warum es denn wichtig sei, über und nicht unter ihm anzuhalten, und sich zu bemühen, möglichst trocken auf Steilkanten im Gelände zu verweisen, die manchmal schlecht zu erkennen seien.

 

Nachdem Luke noch den Auftrag erhalten hat, den Abschluss zu bilden, endlich loszufahren, ohne sich umzuschauen, direkt nach Aaron; einen Rhythmus zu suchen und zu finden, der den ganzen Körper erfasst und den Schnee aufstäuben lässt, und ihn ohne Unterbrechung durchzuhalten, obwohl die Lungen beinahe explodieren, bis dahin, wo Aaron stehen geblieben ist; am Ende keine Kraft mehr fürs Abbremsen zu haben und in den weichen Schnee zu plumpsen; erst einmal liegen zu bleiben und tief durchzuatmen, bis Aaron sich auf seinen Skistöcken herüberbeugt und nachfragt, dann abzuwinken, den Schnee aus den Haaren zu schütteln und zu lachen.

 

Zu sehen, dass auch Thömu bereits unten steht, dann zu den anderen hochzublicken, zu Fippu, der als Einziger mit einem Snowboard unterwegs ist, sich Zeit lässt und sehr schöne Bögen fährt, zu Luke, der wartet und dann auch noch eine unverspurte, gute Linie findet; Aaron zu beobachten, während er weiterhin denen im Hang zuschaut, bis er sich wieder umwendet, den Kopf leicht neigt und sagt: Jaguet.

 

Auf der langen Abfahrt zu einem tief gelegenen Stausee hinab anfangs noch griffige Hänge zu finden, weiter unten dann mit dem Schnee zu kämpfen, der immer schwerer und sulziger wird und am Ende bei jedem Bogen weit aufspritzt, fast wie Wasser.

 

Während die Sonne bereits hoch am Himmel steht, auf der Staumauer anzuhalten, um eine Rast zu machen; zurückzublicken zu den eigenen unschönen Skispuren in den Hängen links des Sees, die letzten Schwünge Fippus zu beobachten, der auf dem Board besonders große Mühe mit dem nassen Schnee hat; dann Luke zu entdecken, der ja als Letzter fahren sollte, um gegebenenfalls anderen zu helfen, nun aber zu Fuß zum weit abgesunkenen Wasserspiegel des zugefrorenen Sees hinabsteigt und dort offensichtlich seine Ski sucht, die er bei einem Sturz verloren haben muss; sich, weil es nirgends Schatten gibt, auf einen der Poller zu setzen, die im gleißenden Mittagslicht entlang der Staumauer stehen; zu warten, den Blick nach rechts zu wenden, über die lang gezogene Mauerkrone hinweg, wo die Route auf der anderen Seeseite weiterführen muss, ohne dass ihr Verlauf von hier aus erkennbar wäre.

 

Mit mehreren Metern Abstand zu den anderen in der Sonne zu sitzen, da die Poller weit auseinanderstehen; die Thermoskanne und ein Vesperbrot auszupacken, eine Handvoll Schnee im Becher mit Tee zu übergießen, damit das Getränk länger reicht, und zuzusehen, wie die rötliche Flüssigkeit in dem Klumpen nach oben steigt, er seine Kristallstruktur verliert, kleiner wird und sich auflöst, während Luke als roter Farbtupfer in der weißen Fläche am Fuß der Uferböschung weiterhin nach seinen Ski sucht, zunächst einen und nach einer Weile zum Glück auch den anderen findet und sich dann durch den tiefen Sulz hinauf zur Mauerkrone kämpft; zu den Scherzen, die die anderen währenddessen auf seine Kosten in die weite Mittagsstille rufen, nichts beizutragen, im von allen Seiten reflektierten Sonnenlicht zu schwitzen und mit Blick auf den zugefrorenen See gerade so laut vom Schwimmen zu sprechen, dass die Worte bis zu Aaron, der auf dem Nachbarpoller sitzt, hinüberreichen, woraufhin er lacht und Jean-Pierre, der in der Nähe steht und an seiner Bindung herumspielt, ein kurzes, trockenes Räuspern von sich gibt.

 

Anzuschnallen, als Luke mit den Ski oben ankommt und von den anderen mit großem Hallo begrüßt wird, und dann in der Gewissheit, den anstrengenderen Teil der Etappe bereits bewältigt zu haben, auf dem flachen Stück über die Mauerkrone einen Sprint einzulegen, sich jedes Mal kraftvoll abzustoßen und kurz zu gleiten, den Rhythmus der Skatingschritte und den leichten Fahrtwind zu genießen, etwas hinterhergerufen zu bekommen, von Jean-Pierre, der die Verfolgung aufnimmt, sich noch stärker nach vorne abzudrücken und erst auf der anderen Uferseite heftig atmend stehen zu bleiben, im einzigen vorhandenen, schmalen Schatten eines Steinhaufens, den dann auch Jean-Pierre aufsucht.

 

Sich nach den anderen umzuschauen, zu warten und Jean-Pierre, der ein Soso in die Luft sagt und wohl zu jedem Stichwort gerne über sich berichten würde, keins zu geben.

 

Die Flasche in großen Zügen leer zu trinken, ohne noch ans Einteilen zu denken; weiterzugehen, als schließlich alle da sind, taleinwärts am See entlang, was auf der Karte flach und einfach aussah, ein Irrtum, wie sich nun herausstellt, weil das Durchkommen längs der zum See abfallenden Flanke zwischen Felsblöcken und Abrissen mühsam ist, die Route, die Aaron wählt, ständig auf und ab führt und außerdem an manchen Stellen Schnee liegt, in dem man ohne die Ski tief einsinkt, und dann wieder nicht, sie also dauernd an- und abzuschnallen und streckenweise zu tragen; stark zu schwitzen, bald auch großen Durst zu verspüren, vom vielen Öffnen und Schließen der Bindungen Druckstellen an den Handballen zu bekommen, überhaupt keinen Gehrhythmus mehr zu finden und die Ski zwischendurch einfach hinterherzuschleifen, während die anderen gleichfalls ganz ruhig geworden sind, aber ihre Ski weiterhin geordnet tragen; bei jedem neuen Hindernis wütender zu werden, auch auf Aaron, der das Wegstück als viel zu harmlos dargestellt hat, keine Spuren von Müdigkeit zeigt und stoisch vorangeht, bis er sich dann an einer stark abschüssigen Stelle, nachdem er seine eigenen Ski bereitgelegt hat, umdreht, hinkniet, beim Einsteigen in die Bindung hilft, indem er den unteren Ski am Wegrutschen hindert, und dann die Bindung zuzieht, alles in einer flüssigen Bewegung, und erst danach auch seine Ski anschnallt; als er bereits wieder vorausgeht, nun auf einem flacheren Stück, über seine Geste nachzudenken: Hilfe beim Skianschnallen, etwas, was normalerweise Kindern widerfährt, das aber so, wie er es gemacht hat, ohne zu zögern, nahezu ritterlich gewirkt hat, zusammen mit dem Kniefall.

Blick ins Buch
Die Geschichte eines einfachen MannesDie Geschichte eines einfachen Mannes

Roman

„Ein Buch, das das Klischee von der humorlosen deutschen Literatur widerlegt.“ Ijoma Mangold

Unser Erzähler ist vom Glück geküsst. Er, der Junge aus einfachem Hause, spürt, dass das Schicksal Großes mit ihm vorhat. Erst als Helmut Kohl 1998 die Wahl verliert, zeigt seine Zuversicht Risse. Wird nun alles schlechter?
Nach dem Abitur macht er sich voller Euphorie und dennoch maximal besorgt auf die Reise nach ganz oben. Um ein Haar erlebt er mit seiner Band den großen Erfolg, beginnt beinahe eine steile akademische Karriere, fast findet er das Glück in der Liebe und tänzelt dabei ständig am Abgrund. Doch wenn man ihm glauben will – und nichts wünscht er sich mehr –, wird am Ende alles gut für ihn.
Timon Karl Kaleyta erzählt von einem, der auszieht, um die Welt für sich zu gewinnen. Irisierend, funkelnd, schöner als der schöne Schein!

„Ein glänzend geschriebener, ein unterhaltsamer und ein intelligenter deutscher Roman, das hat man nicht alle Tage.“ Denis Scheck

„Pausenlos gelacht und immerzu gelitten - ich kann Timon Karl Kaleyta fühlen.“ Christian Ulmen

Ausgezeichnet mit dem Literaturpreis der Stadt Fulda für das beste Debüt des Jahres  

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