Wie ist es depressiv zu sein?
Als ich 23 war, wurde bei mir eine Depression diagnostiziert – eine Erkrankung, mit der ich, wie anschließend in vielen ärztlichen und therapeutischen Gesprächen festgestellt wurde, schon von frühster Kindheit an zu kämpfen hatte. Sie blieb allerdings den Großteil meines bisherigen Lebens unentdeckt. Wieso weiß keiner so genau. Die Ärzte und Therapeuten, denen ich mich im Laufe der Zeit anvertraut habe, sagen jetzt, dass alles offensichtlich war. Mein „depressiver Werdegang“ wird von ihnen als „klassisch“ bezeichnet, wobei man mir nie erklärt hat, was das eigentlich bedeutet. „Man hätte es damals schon sehen sollen“, ist alles, was sie zu mir sagen. Das Ding ist nur, dass man Depressionen eben nicht sieht und dass sie alles andere als offensichtlich sind.
Depressionen gehören laut Internationaler statistischer Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10-GM) zu den affektiven Störungen (F30-F39). Man unterscheidet dabei unter anderem zwischen manischen Episoden (F30.-), der bipolaren affektiven Störung (F31.-), eine vereinzelt auftretenden depressiven Episode (F32.-), der rezidivierenden depressiven Störung (F33.-) sowie anderen affektiven Störungen (F38.-).
Mir wurde die Diagnose F33.2 gestellt: rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome. Die auftretenden depressiven Episoden können in ihrer Stärke schwanken. In welchem Stadium einer Episode man sich befindet, wird in der Diagnostik über die Zahlen hinter dem Punkt angegeben, wobei F33.0 für eine gegenwärtig leichte Episode steht, F33.1 für eine gegenwärtig mittelschwere Episode und F33.4 „remittiert“ bedeutet, was heißt, dass die Grunderkrankung der rezidivierenden depressiven Störung zwar vorliegt, über einen Zeitraum von mehreren Monaten jedoch keine Symptome mehr aufgetreten sind.
Ich weiß nicht wie es sich anfühlt, ohne diese „rezidivierende depressive Störung“ zu leben. Ich weiß nicht ob das, was ich fühle, wenn ich als „symptomfrei“ gelte das ist, was ein gesunder Mensch fühlt. Ich weiß allerdings, dass mein Leben so wie ich es lebe für mich vollkommen normal ist – weil ich es nicht anders kenne.
Die Diagnose war für mich eine Art Befreiung, weil ich endlich schwarz auf weiß hatte, was mit mir nicht stimmt. Sie war aber auch ein Beleg dafür, dass mein Leben nicht „normal“ ist, obwohl ich es bis zum Tag der Diagnose als vollkommen durchschnittlich empfunden habe. Plötzlich wurde mir der Stempel „psychisch krank“ aufgedrückt. Das war ein Schock, für mein Umfeld und für mich selbst.
Niemand ist gerne psychisch krank, denn abgesehen davon, dass man permanent gegen sich selbst kämpft – was für mich bis zu diesem Zeitpunkt vollkommen alltäglich war, denn ich kannte es ja nicht anders – kämpft man auch permanent gegen die Stigmata, die mit einer psychischen Erkrankung einhergehen.
Erst als ich anfing, mich mit dem Krankheitsbild „Depression“ zu beschäftigen, erst als mein Umfeld anfing, mich aufgrund der Diagnose zu hinterfragen, erst als ich spürte, was es bedeutet, in dieser Gesellschaft „psychisch krank“ zu sein, fing ich an, meine Erkrankung zu verteufeln. Obwohl ich endlich wusste was mit mir los war, fühlte ich mich gefangener denn je. Ich weinte, schrie, versuchte die Depression mit allen Mitteln abzuschütteln, empfand sie als abartig und beschämend, obwohl sie bereits 23 Jahre meines Lebens ein Teil von mir war, der eben zu mir gehörte.
Mittlerweile hab ich mich mit all dem wieder arrangiert. Das heißt nicht, dass es gut ist, wie es ist – aber ich bin okay damit. Ich bin okay mit mir. Ich habe aufgehört gegen mich selbst zu kämpfen, um mich stattdessen für die Entstigmatisierung von Depressionen einzusetzen. Denn: Ein normales Leben ist möglich.
„Irgendwann habe ich begriffen, dass die Leere zwischen zwei Momenten meine Geschichte ist.“
„Wenn Menschen sagen dieses ich, das du gerade bist, das seist du nicht du, meinen sie eigentlich, dass du nicht ihren Erwartungen entsprichst.“
„Nur weil ich alles habe, was ich brauche, muss es mir nicht gut gehen.“
„Die Diagnose einer Depression ist bei Kindern und Jugendlichen manchmal schwieriger als im Erwachsenenalter zu stellen, da in dieser Lebensphase alters- und reifungsabhängige Phänomene eine besonders wichtige Rolle spielen. Entwicklungsbedingte Ängste, Sorgen und Verstimmungen können auch vorübergehend bei gesunden Heranwachsenden auftreten.
Dennoch ist es wichtig, depressive Symptome rechtzeitig zu erkennen, diese nicht zu bagatellisieren und fachliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die Abklärung von Suizidalität und die Behandlung von selbstmordgefährdeten Jugendlichen gehören zu den wichtigsten und verantwortungsvollsten Aufgaben des Kinder- und Jugendpsychiaters.
Durch ambulante und stationäre Interventionen lassen sich viele depressive und suizidale Krisen entschärfen und erfolgreich behandeln. Unbehandelte depressive Störungen bedeuten für betroffene Kinder und Jugendliche ein erhebliches Entwicklungsrisiko und können zur Chronifizierung führen.“
Professor Dr. med. Franz Joseph Freisleder
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