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Coronavirus Bücher


Corona: Daten, Fakten, Hintergründe

Die wichtigsten Antworten zur globalen Pandemie. Unsere Autoren beschäftigen sich mit den unterschiedlichen Aspekten von Sars-CoV-2 und beantworten die wichtigsten Fragen zu Gesundheit, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik in Zeiten von Corona.

„Ein Jahr ist es her, dass SARS-CoV-2 von jetzt auf gleich in unser Leben trat und es nachhaltig veränderte. Manch Blick zurück auf ein Silvester mit knallenden Korken, freudiger Erwartung und all den guten Wünschen wurde bald zum ungläubigen Staunen, wie man nur so unbeschwert hatte sein können. Heute, viele Monate später, sind wir um einige Erfahrungen reicher. Nie zuvor haben die Menschen so viel über eine Pandemie erfahren und sich mit einem Virus derart intensiv und breit auseinandergesetzt. Kein Thema hat 2020 die Medien und die öffentliche Debatte stärker bestimmt.

Die Coronapandemie ist eine weltweite Herausforderung, das haben alle hautnah zu spüren bekommen. Eine Aufgabe, die wir nur gemeinsam bewältigen können. Die Globalisierung wirkt da wie ein Brandbeschleuniger und hat gezeigt, dass wir auf eine solche Situation schlecht vorbereitet sind, und das nicht nur aus medizinischer Sicht, sondern ebenfalls aus sozioökonomischer, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und humanitärer Perspektive.

Auch durch die Mobilität der Menschen und ihre weltweiten Verbindungen konnte sich das Virus beinahe ungebremst auf den verschiedenen Kontinenten in großer Geschwindigkeit ausbreiten, wodurch die Abhängigkeit der einzelnen Volkswirtschaften vom Weltmarkt radikal offengelegt wurde. Und die reflexartige Reaktion der Staaten, sich erst einmal selbst zu helfen, die Landesgrenzen zu schließen, Schutzausrüstung zu horten und nationale Strategien zum Pandemiemanagement zu entwickeln, war zu kurz gegriffen, denn auch die Bekämpfung des Virus ist eine globale Aufgabe.“ Hendrik Streeck

Was das Coronavirus im Körper anrichten kann

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Dass der Kaffee nicht mehr schmeckt, ist mein kleinstes ProblemDass der Kaffee nicht mehr schmeckt, ist mein kleinstes Problem

Leben mit Long Covid

Die Sexologin und erfolgreiche Autorin Ann-Marlene Henning erkrankt im November 2021 an Covid-19. Ein paar Tage nach den ersten Symptomen verschlechtert sich ihr Zustand so, dass sie ins Krankenhaus kommt. Auf der Intensivstation verschlimmert sich ihre Situation schnell, sie bekommt schwerste Atemnot und muss ins künstliche Koma versetzt und beatmet werden.

Schließlich entwickelt sie während des Komas auch noch eine Sepsis und kommt nur ganz knapp mit dem Leben davon. Von der schweren Erkrankung und dem, was sie im Krankenhaus erlebt hat, aber auch ihrem Kampf zurück ins Leben berichtet sie in diesem Buch. Ann-Marlene Henning erzählt nicht nur ihre persönliche Geschichte, sondern erläutert auch medizinische Hintergründe . Während der schweren Zeit im Krankenhaus und auch beim Erzählen hilft ihr ihre direkte Art und ihr Humor – so entsteht ein ehrliches, berührendes und erkenntnisreiches Buch über die neue Volkskrankheit.

Corona – haben oder nicht haben, das ist hier die Frage

5. – 12. November 2021

„Frau Henning, da sind Sie ja wieder, wir nehmen Ihnen gleich den Tubus raus.“ Die weibliche Stimme drang ruhig und fest zu mir durch. Mein erster Gedanke: Ach, das war es gewesen – ein Koma! Die Einsicht war erleichternd. Hinter mir lagen, wie ich gleich erfahren würde, zwölf Tage im Koma, mit den schlimmsten Albträumen meines Lebens, wie in einer Endlosschleife, und von denen ich gedacht hatte, sie seien echtes Leben. Das störende Gefühl im Hals, das in fast allen Träumen eine Rolle gespielt hatte, war der Tubus gewesen.

Nun würden sie gleich mit dem Entfernen des Tubus loslegen. Ich bin eine nervöse Patientin, wie mir immer wieder gesagt worden war. Ich stelle mir das Heftigste vor und reagiere auf die kleinste Körperempfindung höchst aufmerksam. Eine „Entfernung“ würde eher nicht zum Angenehmen gehören und konnte auch schiefgehen. Bevor ich aber einen weiteren Gedanken fassen konnte, ging es schon los. Ich hätte eh keine Kraft gehabt, mich zu wehren. Mein Trost: Dieses blöde Ding in meinem Hals würde endlich entfernt werden.

„Husten Sie, Frau Henning, toll machen Sie das. Husten Sie noch mal!“ Die Ärztin schien über mein Mitwirken höchst begeistert. Dann war überall Schleim im Mund, sodass ich nicht atmen konnte.

Eine zweite Ärztin meinte: „Ich helfe Ihnen kurz, Frau Henning …“ Sie steckte irgendetwas Langes in meinen Mund und meinen Hals und bewegte es hin und her wie ein Staubsauger. Das war es, ich war befreit. Mein Hals fühlte sich aber noch rau an, sie sagten, das sei normal und würde bald verschwunden sein.

Drei Personen standen um mich herum, wie ich jetzt sah. Da war noch ein Arzt.

Heiser fragte ich: „Ich war im Koma?“ Sie nickten alle drei, und ich begann vor Erleichterung zu weinen. „Sie haben mir wohl damit mein Leben gerettet.“

Der Arzt meinte, das sei tatsächlich der Fall.

„Sie grinsen alle so“, sagte ich.

„Ja, wenn jemand wieder aus dem Koma zurückkommt, ist es immer ein besonderes Gefühl. Ein sehr gutes“, antwortete der Arzt.

„Danke!“ Ich weinte noch immer, auch weil die Albträume eben nur Träume gewesen waren und nicht die Hölle auf Erden – oder nach dem Tod. Zwischendurch hatte ich das vermutet, während ich „schlief“ …


Irgendetwas stimmt nicht

Es war Anfang November 2021, als ich von einem Dreh für einen Privatsender zum Thema sexuelle Erwachsenenbildung gegen siebzehn Uhr nach Hause in meine Praxis-Wohnung im fünften Stock kam. Ich fühlte mich „anders“ als sonst. Irgendetwas ging in meinem Körper vor, weshalb ich mich gleich nach dem Abendessen ins Bett legte; ohnehin war es eine wilde Woche gewesen. Ich war wieder mal von Dänemark zum Arbeiten nach Hamburg gekommen. In Haderslev, gut fünfzig Kilometer von Flensburg entfernt, hatten mein Lebensgefährte Louis und ich zusammen ein Haus gekauft und renoviert, seit genau zehn Monaten hatte ich also zwei Wohnsitze, Louis war komplett nach Dänemark gezogen. Ich rief ihn an, spürte aber nach wenigen Minuten schon, dass ich nicht lange telefonieren konnte, ich sagte ihm, ich müsste jetzt schlafen. Kurz schoss es mir durch den Kopf, ob ich mich vielleicht mit Corona infiziert haben könnte. Ich spürte ein Kratzen im Hals.

Schnell schlief ich ein, und am nächsten Morgen war mir sofort klar, dass ich die Fortsetzung des Drehs würde absagen müssen: Mein Hals tat spürbar weh, und ich fühlte mich merkwürdig schlaff im ganzen Körper. Als ich die Produzentin anrief, wusste ich, dass es nicht leicht werden würde. Die Produzentin informierte alle Beteiligten, die mit mir zu tun gehabt hatten, das waren an die fünfzehn Personen, die jeden Morgen vor den Dreharbeiten getestet worden waren, so wie ich auch. Wir mussten nun alle einen offiziellen PCR-Test absolvieren.

Wirklich überzeugt, dass ich mir COVID-19 eingefangen hatte, war ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Dann klingelte es auch schon an meiner Praxistür, und ein Arzt im weißen Schutzanzug kam herein. Er führte den PCR-Test durch, dann ließ er mich allein zurück. Dieser Style, von Kopf bis Fuß „schutzgekleidet“, würde eine Woche später für längere Zeit in meinen Alltag einziehen. Der Arzt in meiner Praxis hatte wie ein Polarforscher ausgesehen, aber vielleicht war ich zu dem Zeitpunkt schon im Fieberwahn?

Meine Praxis, in der ich auch wohne, wenn ich in Deutschland arbeite, liegt in Hamburg, im schönen Eppendorf, umgeben von Parks und Wasser. Ich fühle mich dort, gerade als Dänin, sehr wohl. In meiner ganzen Kindheit war ich innerhalb einer Viertelstunde am Wasser oder unter Bäumen.

Die Praxis eröffnete ich 2006, bis heute arbeite ich dort als Paar- und Sexualtherapeutin. Als Sexologin[i] hatte ich eine eigene Fernsehsendung: Make Love – Liebe machen kann man lernen. Ich schreibe Bücher, gebe Fortbildungen, halte Vorträge und entwickelte zwei Spiele über Liebe und Sexualität. Mittlerweile betreibe ich auch zwei Podcasts: „Beziehungsweise“ und „Ach, komm! – Der Sexpodcast“. Die Arbeit in meiner Praxis bleibt jedoch die Grundlage für mein Tun als Sexologin. Ich führe dort psychotherapeutische Gespräche und liebe den direkten Kontakt zu Menschen. Dadurch treffe ich aber auch in kürzester Zeit auf viele Personen, und ebendies sollte mir jetzt zum Verhängnis werden.

Ich lag krank auf dem Sofa in der Praxis-Wohnung.

Am nächsten Tag, einem Sonntag, hatte ich noch keine Antwort vom Polarforscher-Test, sondern nur meine gefühlte Gewissheit, eine Infektion zu haben. Als ich wieder Louis anrief, sagte ich: „Wenn es Corona ist, hoffe ich auf einen milden Verlauf. Mir geht es nicht gut, aber es ist erträglich. Ich muss nur viel schlafen und mich gut auskurieren.“

Der Arzt, der die Filmproduktion versicherungsbedingt betreute, sorgte dafür, dass mir einiges aus der Apotheke gebracht wurde: ein Thermometer, ein Nasenspray, Cortison und ein Sauerstoffsättigungsmessgerät – alles nur „für den Fall der Fälle“, dann wäre schon alles Nötige da. Das hatte mich beruhigt, ich dachte aber nicht, dass ich es brauchen würde. Die Sachen wurden mir auf die Matte vor der Praxis gelegt, ich sah den Menschen, der es brachte, nicht. Ein böses Omen.

Mehrfach loggte ich mich in die offizielle Corona-Test-Website ein und suchte nach meiner Testnummer. Sie war noch immer nicht aufgeführt. Ich konnte aber erkennen, wie viel Prozent der Getesteten positiv waren: Es waren viele, und die Zahl wuchs!

Inzwischen waren drei Tage vergangen, und meine Situation hatte sich nicht verschlimmert. Ich war okay, wenn auch angeschlagen. Dann klingelte am Nachmittag das Telefon.

„Sind Sie Frau Henning? Ich rufe Sie an, weil Ihr Test positiv war …“ Es war das Labor.

„Das hat aber gedauert“, lautete meine Antwort.

Der Labormitarbeiter erklärte, dass sie schnell gewesen seien, sie hätten den Test gerade erst am Morgen erhalten. Der Arzt, der mich getestet hatte, hatte offenbar das Wochenende abwarten wollen.

Das positive Ergebnis war emotional ein unangenehmes Ereignis, aber ich glaubte nach wie vor an einen milden Verlauf.

Besonders viel Wissen hatte ich über die neuartige Krankheit nicht. Dass Gefäße und Lunge, bei meiner Virusvariante Delta, beteiligt sind, klar, aber dass häufig auch das Gehirn angegriffen wird, fand ich erst später heraus.

Mittlerweile war zu dem Halskratzen eine unangenehme Übelkeit hinzugekommen. Ich musste mich nicht übergeben, aber Schlaf und Erholung waren kaum möglich. Da lag ich also: mit Übelkeit, Halskratzen und COVID-19-positiv. Es war schon Dienstag. Der Tag begann und endete wie die anderen. Ich sagte Louis am Telefon: „Mir geht es schlecht, aber es wird bald vorbei sein.“ Was ich nicht wusste: Die Delta-Infektion hatte ihre pulmonale Phase noch nicht erreicht … die Lungenphase.

Täglich maß ich meine Temperatur, sie war normal oder leicht erhöht. Meine Sauerstoffsättigung lag meist um die 99 Prozent, ich konnte gut und entspannt atmen. Das war beruhigend. Ich habe aber kaum noch gegessen und fühlte mich immer erschöpfter.

Mittlerweile hatte ich meinen Hausarzt angerufen, der auch Internist ist. Er legte mir eine Thromboseprophylaxe nahe und telefonierte mit meiner Apotheke. Eine Freundin deponierte mir die Spritzen vor der Tür. Meine erste Reaktion war eine wohl ganz normale: Nein, ich spritze mich nicht selber! Am Abend jagte ich mir aber, zu meiner großen Verwunderung, die erste – zugegeben ausgesprochen dünne – Kanüle ins Bauchfett, so wie es Diabetiker mit Insulin machen. Meine Angst, eine Thrombose zu bekommen, war größer als jede andere Alternative. Das Ganze konnte allerdings auch als Vorgeschmack dienen auf das, was noch kommen sollte.

Am Mittwochmorgen ging es mir merklich schlechter, ich war ziemlich ermattet, und als mir meine Mutter am Telefon sagte, ich solle gegen die Übelkeit Haferschleim kochen, war meine Antwort ernüchternd: „Ich kann nicht.“ Sie wollte mich überzeugen, ich blieb bei meiner Aussage, wurde fast wütend, weil das Gespräch so anstrengend war: „Hörst du, was ich sage, ich kann nicht.“ Warum nicht? Es war ein merkwürdiges Gefühl. Ich war zu schwach und unkonzentriert für den kurzen Weg in die Küche, und ich begann mich zu fragen, ob diese Infektion einen anderen Verlauf als erhofft nehmen würde.

Der Mittwoch verging, ich aß nichts, da war kein Hunger, sondern nur Übelkeit. Meine Sauerstoffsättigung pendelte zwischen 92 und 94 Prozent. Das beunruhigte mich, aber das Atmen ging noch gut.

Als ich am Donnerstagmorgen aufwachte, spürte ich sofort, dass etwas anders war. Es war, als würde auf meinem Brustkorb etwas Schweres lasten. Ich nahm das Sauerstoffmessgerät und klemmte das kleine Ding um einen Finger. Es piepte: nur noch 88 Prozent Sauerstoff. Zu Louis, den ich anrief, sagte ich: „Ich traue mich nicht mehr, hier allein zu liegen, ich brauche ärztliche Hilfe.“ Nach unserem Gespräch wählte ich die 112.


Ab ins Krankenhaus – ein wortwörtlich intensives Erlebnis

12. – 25. November 2021

Als der Krankenwagen am 12. November zwanzig Minuten später eintraf, musste ich liegend gefahren werden, denn sobald ich auch nur kurz versuchte, mich aufzusetzen, bekam ich Luftnot. Man brachte mich in ein Klinikum im benachbarten Stadtteil.

Nun lag ich abwartend in der Notaufnahme des Krankenhauses. Ein junger Pfleger kam herein, von Kopf bis Fuß in Schutzkleidung und mit Maske. Ich sah nur Augen. Er stellte sich kurz vor und entnahm mir eine Blutprobe. Besser gesagt: Er wollte mir eine entnehmen. Er tat sein Bestes, aber es wollte nicht klappen. Wahrscheinlich lag das Problem darin, dass ich in den letzten Tagen sehr wenig getrunken hatte. Während der Versuche, eine zusammenarbeitswillige Ader zu finden, stieß ich immer wieder ein verkniffenes „Autsch“ aus. Eine kurze Pause trat ein, als eine Ärztin vorbeischaute und mich fragte, wie es mir ginge.

„Nicht besonders“, sagte ich. „Ich kann nur schwer atmen.“

„Sind Sie geimpft?“, wollte sie wissen.

Ihre Antwort, als ich verneinte: „Selber schuld, Sie hätten sich ja impfen lassen können.“

Ja, da war was dran. Sie schien aber kein Interesse daran zu haben, herauszufinden, ob ich gute Gründe für meine Entscheidung gehabt hatte. Ich hatte. Und zwar gesundheitliche Gründe, denn ich hatte Aneurysmen im Gehirn gehabt, dabei geht es um eine Gefäßwandschwäche, und ich war deshalb noch sehr verunsichert bezüglich der Impfung.

Die deutlich unfreundliche Person machte sich einige Notizen und verschwand wieder. Daraufhin ging die Pikserei von vorne los, bis der Pfleger aufgab, er fand keine tauglichen Adern.

„Dann müssen sie das eben auf der Station machen“, sagte er erschöpft.

Ich hätte gern vor Erleichterung tief durchgeatmet, wenn es denn gegangen wäre.

Bald darauf wurde ich von einem Mann mit einem riesigen dunklen Bart abgeholt. Der junge Pfleger und der hünenhafte Neuzugang manövrierten das sperrige Bett aus dem kleinen Zimmer, dann übernahm der Bärtige. Er rollte mich durch das halbe Haus, rein und raus aus Fahrstühlen, ohne ein einziges Wort, obwohl ich die ganze Zeit versuchte, in Kontakt mit ihm zu treten. Irgendwann las ich auf einer Tür „Intensivstation“ – meine Endstation. Nahezu buchstäblich. Fast wäre ich dort nicht herausgekommen, jedenfalls nicht lebend.

Mein Zimmer hatte einen Ausblick durch mehrere Fenster und sollte für den nächsten Monat mein Zuhause sein, um für weitere elf Tage auf die Normalstation verlegt zu werden. Diesen Zeitraum kann ich im Nachhinein nennen, aber als ich da frisch lag, dachte ich keinesfalls, dass es so lange dauern würde.

Wie es mir ging? Im Liegen konnte ich ganz gut atmen, und auf der Station fühlte ich mich um einiges sicherer als zu Hause. Vor allem aber hatte ich in jedem Nasenloch einen Schlauch, der mich mit angereichertem Sauerstoff versorgte. Ich war sicher, mit der richtigen Hilfe würde es mir bald gut gehen. Ich hatte Vertrauen in Krankenhäuser, und auf der Intensivstation konnte es nur besser werden. Keinen Moment hatte ich mich gefragt, warum ich nicht auf einer Normalstation lag. In Zeiten der Pandemie schien es mir nicht ungewöhnlich zu sein.


Stechen mit Ultraschall

Auf der Station sollten, wie man mir erklärte, als Erstes Zugänge gelegt werden, danach wäre auch die Blutentnahme ein Leichtes. Ich nickte, kannte ich das doch alles von früheren Klinikaufenthalten. Es gab vor Jahren eine Notentfernung meiner Mandeln, kurz danach eine Kiefer- und sogar eine Gehirnoperation.

Die Ärztin und die Krankenschwester holten erst einmal alles, was sie brauchten, dann sagten sie, sie würden jetzt mit dem Legen der Kanülen beginnen. Da keine halbe Stunde vorher an mir herumgestochen worden war, wagte ich noch zaghaft einzuwenden, um das Unvermeidliche zu vermeiden: „Es ging unten in der Aufnahme gar nicht … gibt es keine andere Möglichkeit?“

„Es wird schon gehen“, meinte die Ärztin freundlich. „Wir machen es sonst mit dem Ultraschallgerät.“

O ja, dachte ich. Das hörte sich weniger brutal an. Tatsächlich wurde, nach einigen erfolglosen Stechversuchen, das Ultraschallgerät geholt, mit dem die Ärztin den Eintritt der Nadel in meinen Arm und in den Hals wunderbar verfolgen konnte. So war die Prozedur kurz und fast schmerzlos. Währenddessen klingelte nonstop das Mobiltelefon im Kittel der Ärztin, sie trug es offenbar bei sich, unter ihrer Schutzhülle. Sie witzelte darüber, ließ sich aber nicht in ihrer Konzentration stören. Für mich war das Klingeln irritierend, ich war definitiv davon gestört. In Angstsituationen muss ich mich immer konzentrieren, um so gut wie möglich durch die Angst zu kommen. Kennen Sie das?

Wie die Welt sich vorbereiten kann

Blick ins Buch
Wie wir die nächste Pandemie verhindernWie wir die nächste Pandemie verhindern

Wie die Welt sich vorbereiten kann

Die COVID-19-Pandemie ist noch nicht überstanden. Doch während Regierungen auf der ganzen Welt noch versuchen, sie unter Kontrolle zu bringen, wird bereits diskutiert, wie es weitergehen kann und was als nächstes passieren sollte. Wie können wir verhindern, dass eine weitere Pandemie Millionen von Menschen tötet und der Weltwirtschaft verheerende Schäden zufügt? Können wir das überhaupt schaffen?

Bill Gates glaubt, dass das möglich ist, und er legt in seinem zuversichtlichen Buch klar und überzeugend dar, was die Welt von der COVID-19-Pandemie lernen sollte. Er erklärt die Wissenschaft hinter der Pandemiebekämpfung und liefert Vorschläge, was wir alle tun können, um solch eine weitere Katastrophe zu verhindern. Angesichts des weltweiten Erfolgs von „Wie wir die Klimakatastrophe verhindern“ (das auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste stand) wird Gates mehr denn je für seinen Beitrag zur Lösung der größten Herausforderungen der Welt respektiert.

Einführung

Als ich 2020 an einem Freitagabend Mitte Februar beim Dinner saß, wurde mir klar, dass sich COVID-19 zu einer globalen Katastrophe auswachsen würde.

Seit einigen Wochen war ich mit Experten[1] der Bill & Melinda Gates Foundation im Gespräch über eine neue ansteckende Atemwegserkrankung, die zuerst in China aufgetaucht war, sich inzwischen aber auch anderswo ausbreitete. Wir haben das Glück, ein Team von hervorragenden Fachleuten mit jahrzehntelanger Erfahrung in der Erkennung, Behandlung und vorbeugenden Bekämpfung von Infektionskrankheiten zu haben, und dieses Team hat die Ausbreitung von COVID-19 genau beobachtet. Das Virus war schnell auch in Afrika aufgetaucht, und aufgrund der ersten Lagebeurteilung der Stiftung und entsprechender Anfragen von afrikanischen Regierungen hatten wir Mittel bereitgestellt, um zu helfen, die weitere Ausbreitung des Virus zu bekämpfen, und um die Länder darin zu unterstützen, vorbereitet zu sein, falls die Seuche um sich greifen sollte. Wir hofften zwar, das Virus werde sich nicht über die ganze Welt ausbreiten, doch wir mussten mit dem Schlimmsten rechnen, solange wir es nicht besser wussten.

Zu diesem Zeitpunkt gab es noch Gründe für die Hoffnung, dass die Ausbreitung des Virus eingedämmt werden konnte und es keine Pandemie entfesseln würde. Die chinesische Regierung hatte beispiellose Sicherheitsvorkehrungen getroffen, um die Millionenstadt Wuhan abzuriegeln – die Stadt, in der das Virus erstmals aufgetaucht war. Schulen und öffentliche Plätze wurden geschlossen, und die Bürger erhielten Ausgangskarten, mit denen sie jeden zweiten Tag für jeweils eine halbe Stunde aus dem Haus gehen durften.[i] Die Ausbreitung des Virus war noch so begrenzt, dass die meisten Länder die Menschen ohne Einschränkungen reisen ließen. Ich war noch Anfang Februar nach Südafrika geflogen, um an einem Prominenten-Tennismatch für wohltätige Zwecke teilzunehmen.

Als ich nach meiner Rückkehr aus Südafrika wieder in der Gates Foundation war, wollte ich mich in einem ausführlichen Gespräch über COVID-19 informieren lassen. Ich hatte eine zentrale Frage, an die ich ständig denken musste und über die ich mich gründlich informieren wollte: Konnte COVID-19 eingedämmt werden, oder würde sich die Seuche über die ganze Welt ausbreiten?

Ich griff zu einer bevorzugten Taktik, die ich seit Jahren immer wieder einsetze: das Arbeitsdinner. Eine Agenda ist dafür nicht nötig; man lädt einfach ein paar kluge Menschen ein, vielleicht ein Dutzend oder so, versorgt sie mit Essen und Getränken, stellt ein paar Fragen in den Raum und hört zu, wenn sie anfangen, laut darüber nachzudenken. Ein paar der besten Gespräche meines Arbeitslebens habe ich mit einer Gabel in der Hand und einer Serviette auf dem Schoß erlebt.

Ein paar Tage nach meiner Rückkehr aus Südafrika fragte ich also per E-Mail an, ob es am nächsten Freitag passen würde: „Wir könnten versuchen, uns mit den Leuten, deren Arbeit etwas mit dem Coronavirus zu tun hat, zum Dinner zu treffen, um uns auszutauschen.“ Trotz ihrer vollen Terminkalender waren fast alle so nett, zuzusagen, und so kamen an jenem Freitagabend ein Dutzend Experten von der Gates Foundation und anderen Organisationen zum Dinner in meinem Büro etwas außerhalb von Seattle zusammen. Bei Rippchen und verschiedenen Salaten wandten wir uns der Schlüsselfrage zu: Würde COVID-19 sich zu einer Pandemie ausweiten?

Wie ich an diesem Abend erfuhr, ließen die Zahlen nichts Gutes für die Menschheit erwarten. Vor allem, weil COVID-19 durch die Luft übertragen wird – wodurch es ansteckender ist als ein Virus, das durch Körperkontakt übertragen wird wie HIV oder Ebola –, bestand kaum Hoffnung, die Ausbreitung des Virus auf einige wenige Länder beschränken zu können. Innerhalb weniger Monate würden sich viele Millionen Menschen in aller Welt mit der Krankheit infizieren, und Millionen würden daran sterben.

Ich war fassungslos, dass die meisten Regierungen angesichts dieser drohenden Katastrophe nicht stärker beunruhigt waren, und fragte in die Runde: „Warum handeln die Regierungen nicht entschiedener?“

Ein Wissenschaftler im Team, der südafrikanische Forscher Keith Klugman, der von der Emory University zu unserer Stiftung gekommen war, sagte nur: „Eigentlich müssten sie das.“

Ansteckende Krankheiten – sowohl solche, die sich zu Pandemien ausweiten können, als auch solche, bei denen das nicht der Fall ist – sind für mich eine Art Obsession. Im Gegensatz zu den Themen meiner vorigen Bücher, Software und Klimawandel, sind tödliche Infektionskrankheiten im Allgemeinen nichts, worüber die Menschen nachdenken wollen. (COVID-19 ist die Ausnahme, die diese Regel bestätigt.) Ich musste lernen, auf Partys meine Begeisterung für Gespräche über AIDS-Therapien und Malaria-Impfstoffe zu zügeln.

Meine Leidenschaft für dieses Thema nahm vor 25 Jahren ihren Anfang, und zwar im Januar 1997, als Melinda und ich in der New York Times einen Artikel von Nicholas Kristof lasen. Nick berichtete darin, dass jedes Jahr 3,1 Millionen Menschen an Durchfall (Diarrhö) sterben, fast alle von ihnen Kinder.[ii] Wir waren schockiert – drei Millionen Kinder pro Jahr. Wie konnten so viele Kinder an etwas sterben, das, soweit wir wussten, kaum mehr als eine unbequeme Lästigkeit ist?

Aus dem Artikel erfuhren wir, dass die einfache, lebensrettende Medizin gegen Durchfall – eine preisgünstige Flüssigkeit, welche die verlorenen Nährstoffe ersetzt – für viele Millionen Kinder unerreichbar ist. Dies schien uns ein Problem zu sein, das zu lösen wir helfen konnten, und so begannen wir, Hilfsgelder bereitzustellen, um das Mittel in größeren Mengen zu verbreiten und die Entwicklung eines Impfstoffs zu fördern, der Durchfallerkrankungen von vornherein verhindern kann.[2]

Ich wollte mehr wissen. Ich nahm zu Bill Foege Kontakt auf, einem der Epidemiologen, dem wir die Ausrottung der Pocken zu verdanken haben, und ehemaligem Chef der Centers for Disease Control and Prevention (CDC, US-Behörde für Seuchenschutz und -prävention). Bill gab mir einen Stapel von 81 Lehrbüchern und Fachartikeln über Pocken, Malaria und öffentliche Gesundheit in armen Ländern; ich las alles, so schnell ich konnte, und bat ihn um mehr. Eines der Bücher, die mich am stärksten beeindruckten, trug den profanen Titel World Development Report 1993: Investing in Health, Volume 1 („Weltentwicklungsbericht 1993: Investieren in Gesundheit, Band 1“).[iv] Meine Obsession für Infektionskrankheiten – und vor allem Infektionskrankheiten in Ländern mit niedrigen oder mittleren Einkommen – hatte begonnen.

Wenn man beginnt, sich über Infektionskrankheiten zu informieren, kommt man schnell auf das Thema Ausbrüche, Epidemien und Pandemien. Die Definitionen für diese Begriffe sind weniger genau, als Sie vielleicht denken. Als Faustregel kann man sagen, dass ein Ausbruch vorliegt, wenn eine Krankheit in einem lokalen Gebiet ausbricht, eine Epidemie, wenn sich ein Ausbruch innerhalb eines Landes oder einer Region weiter ausbreitet, und eine Pandemie, wenn eine Epidemie weltweit auftritt und mehr als einen Kontinent betrifft. Und es gibt Krankheiten, die nicht kommen und gehen, sondern ständig in einer bestimmten Region anzutreffen sind – sie sind als endemische Krankheiten bekannt. So ist zum Beispiel Malaria in vielen äquatornahen Regionen endemisch. Falls COVID-19 nie ganz verschwinden sollte, wird es über kurz oder lang als endemische Krankheit klassifiziert werden.

Es ist nichts Ungewöhnliches, wenn ein neuer Krankheitserreger entdeckt wird. Laut Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) haben Wissenschaftler in den vergangenen fünfzig Jahren über 1500 davon identifiziert, von denen die meisten zunächst bei Tieren auftraten und dann auf Menschen übergriffen (Zoonose).

Einige davon haben kaum Schaden verursacht; andere, etwa HIV, sind zu Katastrophen geworden. Durch HIV/AIDS sind über 36 Millionen Menschen ums Leben gekommen; heute leben über 37 Millionen Menschen mit HIV. Im Jahr 2020 kamen 1,5 Millionen neue Fälle hinzu; allerdings sinkt die Zahl neuer Fälle von Jahr zu Jahr, da Infizierte, die in geeigneter Weise mit einem antiviralen Medikament (Virostatikum) behandelt werden, die Krankheit nicht weitergeben.[v] Und mit Ausnahme der Pocken – der einzigen Krankheit des Menschen, die jemals vollständig ausgerottet wurde – sind die alten Infektionskrankheiten nach wie vor unter uns. Selbst die Pest, welche die meisten von uns mit dem Mittelalter assoziieren, kommt immer noch vor; 2017 zum Beispiel brach sie in Madagaskar aus, infizierte über 2400 Menschen und forderte über 200 Todesopfer.[vi] Bei der WHO gehen jedes Jahr Berichte über mindestens vierzig Cholera-Ausbrüche ein. Zwischen 1976 und 2018 kam es zu 24 lokalisierten Ausbrüchen und einer Epidemie von Ebola. Wenn man die kleineren davon mitzählt, treten jedes Jahr vermutlich über 200 Ausbrüche von Infektionskrankheiten auf.

AIDS und andere „stille Epidemien“, wie sie genannt werden – Tuberkulose, Malaria und andere – sowie Durchfallerkrankungen und Müttersterblichkeit stehen im Mittelpunkt der weltweiten Arbeit der Gates Foundation zur Verbesserung der öffentlichen Gesundheit. Im Jahr 2000 forderten diese Krankheiten insgesamt über 15 Millionen Todesopfer, viele von ihnen Kinder, und dennoch wurde erschreckend wenig Geld für ihre Bekämpfung ausgegeben.[viii] Melinda und ich erkannten dies als den Bereich, in dem unsere Ressourcen und unser Wissen darüber, wie man Teams aufbaut, um neue Innovationen zu schaffen, die größte Wirkung erzielen können.

Dies ist das Thema eines weitverbreiteten Missverständnisses über die Arbeit unserer Stiftung zur Förderung der öffentlichen Gesundheit: Sie konzentriert sich keineswegs darauf, Menschen in reichen Ländern vor Krankheiten zu schützen, sondern hat vielmehr das Ziel, die Lücke in der medizinischen Versorgung zwischen Hoch- und Niedriglohnländern zu verkleinern. Zwar haben wir im Zuge dieser Arbeit eine Menge über Krankheiten gelernt, die auch reichen Ländern zusetzen können, und ein Teil der von uns bereitgestellten Mittel wird zur Bekämpfung dieser Krankheiten beitragen, aber sie stehen nicht im Zentrum unserer Fördertätigkeit. Die Privatwirtschaft, die Regierungen reicher Länder und andere Philanthropen stellen umfangreiche Ressourcen für solche Initiativen zur Verfügung.

Pandemien betreffen natürlich alle Länder, und ich habe viel über dieses Thema nachgedacht, seit ich begann, mich mit ansteckenden Krankheiten zu beschäftigen. Viren, die die Atemwege angreifen, sogenannte „respiratorische Viren“ oder „Atemwegsviren“ – darunter auch die Influenza-Familie (Grippeerreger) und die Coronavirus-Familie – sind besonders gefährlich, weil sie sich so schnell ausbreiten können.

Und die Wahrscheinlichkeit, dass eine Pandemie ausbrechen wird, steigt ständig. Das liegt unter anderem daran, dass der Mensch infolge des Wachstums der Städte immer weiter in natürliche Lebensräume eindringt, immer häufiger mit Tieren interagiert und dadurch mehr Gelegenheiten für Krankheitserreger entstehen, vom Tier auf den Menschen überzuspringen. Ein anderer Grund ist, dass der internationale Reiseverkehr rapide zunimmt (zumindest bis COVID-19 dessen Wachstum verlangsamte): Im Jahr 2019, also vor COVID-19, gab es 1,4 Milliarden internationale Ankünfte pro Jahr – 1950 waren es nur 25 Millionen.[x] Die Tatsache, dass es seit einem Jahrhundert keine katastrophale Pandemie mehr gegeben hat – die letzte war die Grippe von 1918, die ungefähr fünfzig Millionen Menschen das Leben kostete –, ist zum großen Teil reinem Glück geschuldet.

Im Jahr 2019 war die Möglichkeit einer Grippepandemie relativ gut bekannt; viele Menschen hatten von der Grippe von 1918 zumindest schon einmal gehört, und vielleicht konnten sie sich auch noch an die Schweinegrippe-Pandemie von 2009 bis 2010 erinnern. Als ich mir all dieses Wissen aneignete, in den frühen 2000er-Jahren, wurde über Coronaviren – die eine der drei Virusarten sind, welche die meisten einfachen Erkältungen verursachen – nicht annähernd so oft gesprochen wie über Grippe.

Je mehr ich erfuhr, desto klarer wurde mir, wie schlecht die Welt auf eine schwere Epidemie durch Atemwegsviren vorbereitet war. Ich las einen Bericht über die Reaktion der WHO auf die Schweinegrippe-Pandemie von 2009, der mit einer geradezu prophetischen Warnung endete: „Die Welt ist schlecht vorbereitet, um auf eine schwere Influenza-Epidemie oder eine andere, ähnlich globale, anhaltende und bedrohliche Notlage der öffentlichen Gesundheit wirkungsvoll reagieren zu können.“ Der Bericht enthielt einen Plan, der Schritt für Schritt aufzeigte, welche Maßnahmen getroffen werden sollten, damit ein Gemeinwesen vorbereitet ist. Nur wenige dieser Schritte wurden tatsächlich umgesetzt.

Im darauffolgenden Jahr begann mein Freund Nathan Myhrvold mir von seinen Forschungen zu den größten Bedrohungen für die Menschheit zu erzählen. Auch wenn eine menschengemachte Biowaffe – eine im Labor erzeugte Krankheit – seine größte Sorge war, standen in der freien Natur vorkommende Viren doch ebenfalls ziemlich weit oben auf seiner Liste.

Ich kenne Nathan seit Jahrzehnten. Er hat Microsofts richtungweisende Forschungsabteilung aufgebaut und ist ein Universalgelehrter, der über Kochen (!), Dinosaurier, Astrophysik und diverse andere Themen geforscht hat. Er neigt nicht dazu, Risiken zu übertreiben. Nachdem er mir erklärt hatte, dass Regierungen in aller Welt praktisch nichts taten, um sich auf Pandemien jedweder Art – seien sie natürlichen Ursprungs oder menschengemacht – vorzubereiten, unterhielten wir uns darüber, wie sich das ändern ließe.[3]


[1] Anmerkung des Übersetzers: Um den Lesefluss nicht zu stören, wird in diesem Buch der Einfachheit halber bei der Bezeichnung von Personen oder Personengruppen in den meisten Fällen nur die männliche oder weibliche Form verwendet. Selbstverständlich ist dabei stets die jeweils andere Form gleichrangig miteinbezogen.

[2] In Kapitel 3 werde ich berichten, was daraus geworden ist.

[3] Schließlich verfasste Nathan


[i] Hien Lau et al., „The Positive Impact of Lockdown in Wuhan on Containing the COVID-19 Outbreak in China“, in: Journal of Travel Medicine 27, Nr. 3, April 2020.

[ii] Nicholas D. Kristof, „For Third World, Water Is Still a Deadly Drink“, in: The New York Times, 9. Januar 1997.

[iii] Aus der New York Times. © 1997 The New York Times Company. Alle Rechte vorbehalten. Abgedruckt mit Genehmigung.

[iv] World Bank, World Development Report 1993, elibrary.worldbank.org.

[v] World Health Organization (WHO), »Number of New HIV[vi] WHO[vii] Institute for Health Metrics and Evaluation an der University of Washington, Global Burden of Disease Study 2019.

[viii] Institute of Health Metrics, Global Burden of Disease[ix] Foto: Eye Ubiquitous/Universal Images Group via Getty Images.

[x] Our World in Data, „Tourism“, www.ourworldindata.org.

Blick ins Buch
Hotspot Hotspot

Leben mit dem neuen Coronavirus

Eine globale Herausforderung

Der erste große Ausbruch von COVID-19 in Deutschland bot eine unglaubliche Chance. Denn was in Heinsberg passierte, würde bald überall passieren. Für Hendrik Streeck stand deshalb fest, dass man nicht tatenlos zuschauen konnte, wie sich das Infektionsgeschehen entwickelte. Vielmehr stellte er sich die Frage: Was können wir dazu beitragen, das Virus zu bekämpfen, seine Ausbreitung einzudämmen? Antworten darauf fand er bei seiner Studie in Gangelt im Kreis Heinsberg, denn dort gab es zu dieser Zeit eine solche Dichte an Infizierten wie nirgendwo sonst in Deutschland, und da das öffentliche Leben dort weitestgehend zum Erliegen gekommen war, ließ sich das Infektionsgeschehen gut nachvollziehen. Dadurch bot sich die einmalige Gelegenheit, kurz- und langfristig Wissen auf vielen Ebenen zu generieren, um damit das neuartige Virus und das Pandemiegeschehen besser einschätzen zu können: Wie breitete sich das Virus aus, welches Ausmaß hatte das Infektionsgeschehen überhaupt? Wie verhielt es sich mit der Immunität? Und was machte dieses Virus mit dem Menschen, was waren die Symptome, und wie reagierte das Immunsystem?
„Hotspot“ bietet einen spannenden Einblick in die aktuelle Forschung und liefert zugleich neueste Erkenntnisse zu Sars-CoV-2 und dem Pandemiegeschehen.

Kapitel 1

Ein neues Virus

21. Januar 2020, am Nachmittag. Ich eilte den Venusberg hinunter, um den Zug nach Brüssel noch zu bekommen. Gerade einmal ein paar Monate war es her, dass ich meine neue Stelle am Institut für Virologie an der Medizinischen Fakultät der Universität Bonn angetreten hatte, und seitdem war ich vollauf damit beschäftigt, mich in dem neuen Job einzurichten. Vor allem mit den engen Mitarbeitern, der großen Gruppe an Diagnostikern, den vielen medizinisch-technischen Assistenten und Wissenschaftlern führte ich Kennenlerngespräche und verschaffte mir Einblicke in die Forschungsarbeiten und die Klinik.

Anfang Januar, ich war erst drei Monate zuvor von Essen nach Bonn umgezogen, erreichte uns die Nachricht aus Wuhan von Infektionen mit einem neuartigen Coronavirus. 44 Fälle einer schweren Pneumonie waren am 31. Dezember 2019 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gemeldet worden, von denen die meisten stationär behandelt werden mussten. Sie alle hatten gemeinsam, dass sie auf einem sogenannten Wet Market, einem Nassmarkt, in der chinesischen Stadt Wuhan gewesen waren. Der Huanan-Großhandelsmarkt für Fische und Meeresfrüchte ist berüchtigt dafür, dass hier nicht nur Meerestiere, sondern auch Säugetiere, Vögel, Reptilien, Amphibien und Insekten verkauft werden, die meisten von ihnen lebend, oder sie werden auf dem Markt direkt geschlachtet. Daher der Name Nassmarkt. Ich selbst habe ihn einmal gesehen, als wir im Rahmen eines Forschungsaustauschs die Kollegen der Universität von Wuhan und vom virologischen Institut besuchten. Das war 2015, aber ich kann mich noch gut daran erinnern, dass mich der Markt zugleich faszinierte wie befremdete. Auch mit dem Essen in Wuhan konnte ich mich wie viele der deutschen Kollegen nie so richtig anfreunden.

Dass es in China, wo die Menschen in engem Kontakt mit Tieren leben und Wildtiere als Delikatesse gelten, zu einer Zoonose, also einem Virusübertritt vom Tier auf den Menschen gekommen war, überraschte mich wenig. Ein solcher Nassmarkt war ein ideales Milieu für eine derartige Ausbreitung. Verursacht vielleicht durch einen Bauern, der Schuppentiere hielt oder in freier Wildbahn fing und von ihnen mehrfach angeschnäuzt worden war. Die vom Aussterben bedrohten Schuppentiere gelten in China nicht nur als Leckerbissen, sondern finden auch in der traditionellen chinesischen Medizin Verwendung. Vor allem die Schuppen sollen potente Mittel gegen Hautprobleme und Lähmungen sein. Die Schuppentiere tragen wie viele andere Tiere Coronaviren in sich. Häufig werden sie gar nicht krank davon; in seltenen Fällen aber kann solch ein Virus von einem Tier auf den Menschen übergehen.

Es ist schwer, im Nachhinein festzustellen, wann und wo der Übertritt stattgefunden haben könnte und von welchem Tier das Virus überhaupt kam, aber die genetischen Sequenzen liefern einige Hinweise. Zwar ist es nicht bewiesen, aber man geht davon aus, dass das Virus von einer Fledermaus wahrscheinlich irgendwann einmal auf ein Schuppentier übergegangen ist und von dort auf den Menschen. Das würde in einem Apokalypsefilm dann so aussehen, dass sich in der Nacht eine Fledermaus auf ein Schuppentier stürzt und es beißt. Dabei tritt das Virus über. Das Schuppentier erkrankt, wird vom Jäger eingefangen und niest dem Jäger ins Gesicht. Der Jäger geht mit dem Schuppentier auf den Markt, will es verkaufen, ist aber bereits erkrankt. Lauthals versucht er, das Tier an den Mann zu bringen, und verteilt dabei die Viren über den Markt.

 

Am 7. Januar 2020 meldete die chinesische Gesundheitsbehörde, dass es sich um ein neues Coronavirus handele, novel Coronavirus 2019 (nCoV-2019), wie es zunächst hieß. Bereits am 10. Januar wurde die Sequenz des neuen Coronavirus veröffentlicht, die eine Ähnlichkeit zu SARS-Viren aufwies und auf deren Basis viele Labore nun an Nachweistests arbeiteten. Am Vortag waren erste Einzelfälle aus den Nachbarländern Thailand, Japan und Südkorea gemeldet worden. Das ließ den Gedanken an eine Pandemie zu, aber das Virus war weit weg. Zudem gab es bislang noch unter 100 Fälle, und man versuchte in Asien mit Hochdruck, jeden Infizierten zu erkennen und zu isolieren, um eine Pandemie zu verhindern. Eine lokale Eindämmung schien möglich.

Am Vormittag des 21. Januar hatten wir noch ein Diagnostikmeeting im Institut abgehalten, um neben den anderen diagnostischen Aufgaben auch zu besprechen, ob es sinnvoll wäre, den Test auf das neuartige Coronavirus im Institut zu etablieren. Die Grundlage für die Testentwicklung war die Genomsequenz, die in China veröffentlicht worden war. Zudem hatte mein Vorgänger am Institut, Christian Drosten, bereits einen Test an der Berliner Universitätsklinik Charité entwickelt, der leicht adaptierbar war. Wir diskutierten, ob es sinnvoll wäre, ihn bei uns einzuführen. Aufgrund des Mangels an Personal und der großen Arbeitsbelastung der Mitarbeiter entschieden wir uns vorerst dagegen. Wir wollten abwarten.

Am Abend dieses 21. Januar saß ich in Brüssel mit amerikanischen Bekannten zusammen, als plötzlich die Meldung kam: In den USA war ein Mann positiv auf den neuen Erreger getestet worden. Der erste Fall außerhalb Asiens! Mit einem Mal war das neue Virus bedenklich nahe gerückt. Wir mussten uns vorbereiten. Wir brauchten den Test. Ich rief meine Stellvertreterin an, um mit ihr die neue Situation zu besprechen. Wir diskutierten, wie lange wir brauchen würden, um den Test zu etablieren. Es war Dienstag, und wir wollten ihn bereits Ende der Woche einsatzfähig haben. Meine Sorge bestand darin, dass es schon erste Fälle in Deutschland gab, die wir übersehen hatten.

Die Verbindungen zwischen China und vielen Städten in Nordrhein-Westfalen waren rege. Auch ich hielt noch Kontakt zu meinen Kollegen in Wuhan. Die Bilder von dort, die in den folgenden Tagen in den sozialen Medien auftauchten, waren erschreckend – Szenen, die das chinesische Staatsfernsehen nicht zeigte. Menschen, die reihenweise umzukippen schienen, eine Frau, die eine Fledermaus aß, ein Mann, der lebende Mäusebabys verspeiste. Dann geheime Aufnahmen. „Mein Gott, so viele Tote“, kommentierte einer den Anblick eines Leichenwagens vor dem Krankenhaus. Doch viele der Bilder waren falsch. Die Menschen, die umkippten, starben nicht an dem neuen Virus; es waren zum Teil alte Aufnahmen und der Grund zum Beispiel ein Herzinfarkt. Die Frau, die die Fledermaus aß, tat dies auf den Philippinen für eine Reisesendung. Aber wer wusste schon, was stimmte oder nicht. Hier begann bereits eine Infodemie, die sich durch die gesamte Coronakrise ziehen sollte.

Am nächsten Morgen fuhr ich mit dem ICE zurück nach Bonn.

Webasto – Der erste Fall in Deutschland

Das Virus hatte die Grenzen Chinas verlassen, und dass es nun auch zu uns kommen würde, stand außer Frage. Es begann ein Warten, in welchem deutschen Labor der erste Fall auftauchen würde. Wir tauschten uns aus. Der Test war gut etabliert. Er zeigte verlässlich unsere Positivkontrolle an und war verlässlich negativ. Da lag aber meine Sorge. Ich befürchtete, dass der Test zwar funktionierte, aber nicht das Virus detektierte. Bisher hatte nämlich noch niemand in Deutschland eine Probe des Virus und damit die Möglichkeit, das Virus selbst nachzuweisen. Die Positivkontrolle war bis dahin nur ein künstlich erzeugter Strang Ribonukleinsäure, abgekürzt RNA. Aus dem Labor, kein Virus. Der Gedanke, das Virus könnte sich ohne unsere Kenntnis ausbreiten, sorgte bei mir für Anspannung.

Wir hatten im Labor viel Erfahrung mit Coronaviren, nicht nur mit SARS, sondern auch mit fünf weiteren, die den Menschen krank machen können. Darüber hinaus gibt es unzählig viele Coronaviren im Tierreich. Man nennt sie Coronaviren, da sie in ihrem Aussehen unter dem Elektronenmikroskop der Sonnenkorona ähneln. Das Bild entsteht durch die Spikes – den auf der Oberfläche der Viren sitzenden stachelartigen Proteinen, die für den Eintritt in die Wirtszelle zuständig sind. Bekannt wurden Coronaviren der Allgemeinheit mit dem SARS-Virus. Im Jahr 2002 ging es vermutlich von Schleichkatzen auf den Menschen über und breitete sich weltweit aus. Auch damals war es ein bis dahin unbekanntes Coronavirus; es gab rund 8400 Infizierte und 800 Todesopfer. Das Besondere an SARS ist, dass es tief in der Lunge repliziert und dadurch eine schwere atypische Lungenentzündung verursacht. Durch diese Lage in der Lunge ist es sehr viel gefährlicher als das neue SARS-CoV-2-Virus, aber da es nicht im gleichen Maß im Rachen aktiv ist, überträgt es sich schlechter. Den Ausbruch damals hatten die chinesischen Behörden versucht zu verheimlichen. Umso skeptischer wurden die derzeitigen Berichte aus China betrachtet. Es schien aber, als wollte man nun alles richtigmachen.

Später folgte ein weiteres Coronavirus: das Middle East Respiratory Syndrome Related Virus, MERS, das von Kamelen auf den Menschen übergegangen war. In mehreren Ländern kam es in verschiedenen Wellen zu Ausbrüchen, wobei die größten in Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und der Republik Korea zu verzeichnen waren. Das Virus scheint aber zum Glück nicht ohne Weiteres von Person zu Person übertragen zu werden, es sei denn, es besteht ein enger Kontakt. Aber es ist tödlich, rund 35 Prozent der Infizierten versterben.

Während SARS seit dem Ausbruch 2002 nicht mehr aufgetreten ist, kommt MERS immer mal wieder sporadisch vor, sodass verstärkt nach einem Impfstoff gegen MERS geforscht wird. Aber auch an einem universellen Coronavirus-Impfstoff wurde schon vor SARS-CoV-2 geforscht. Denn nicht nur MERS und SARS plagen die Menschen, sondern eine ganze Reihe an Viren, die schon vor Jahrzehnten, ja Jahrtausenden auf den Menschen übergegriffen haben. Diese Coronaviren sind bei uns heimisch oder endemisch. Das letzte von ihnen ist vor rund 130 Jahren auf den Menschen übergegangen, die anderen vor mehreren Tausend Jahren. 1891 löste das Coronavirus OC43 vermutlich die Russische Grippe aus, eine weltweite Pandemie, bei der geschätzt eine Million vor allem ältere Menschen verstarben. Das OC43-Virus war von der Kuh auf den Menschen übergegangen; dem kam man auf die Spur, weil plötzlich viele Kühe gleichzeitig krank wurden. Heute ist auch dieses Virus bei uns heimisch geworden. Über OC43 hinaus kennen wir weitere drei dieser endemischen Coronaviren, die Namen wie HKU1, NL63 und 229E tragen. Sie alle sind für 10 bis 30 Prozent der grippalen Infekte verantwortlich, die uns in jeder Herbst-/Wintersaison heimsuchen.

Nun war also ein neues Coronavirus auf den Menschen übergegangen. Nannte man es Ende Januar 2020 noch novel Coronavirus 2019, so legte das Expertengremium ICTV (International Committee on Taxonomy of Viruses) später die Bezeichnung SARS-CoV-2 fest. Grund war die enge Verwandtschaft zum schon bekannten SARS-CoV, mit dem es eine genetische Ähnlichkeit von rund 80 Prozent aufweist. Im Februar führte die WHO dann für die Erkrankung an SARS-CoV-2 die Bezeichnung COVID-19 ein: Coronavirus Infectious Disease 2019.

SARS-CoV-2 war auch für uns als Wissenschaftler noch schwer einzuschätzen. Aus China kamen Bilder Schwerstkranker auf Intensivstationen, Wuhan wurde unter Quarantäne gestellt. Je mehr dieser Bilder und Meldungen von schweren Verläufen die Menschen erreichten, umso größer wurde die allgemeine Unsicherheit. Vor allem die Frage nach der Gefährlichkeit des neuen Erregers machte Angst. SARS war tödlich, und es bestand die Sorge, dass sich SARS-CoV-2 ähnlich verhalten würde.

 

Nur Tage später hatten wir dann tatsächlich den ersten Fall in Deutschland: Ein 33-jähriger Beschäftigter des bei München angesiedelten Automobilzulieferers Webasto war mit dem neuen Coronavirus infiziert, wie man am 27. Januar bekannt gab. Er hatte keine starken Symptome, eher eine milde Erkältung. Man wurde auf ihn aufmerksam, da die chinesischen Behörden mitteilten, dass eine Infizierte Webasto besucht hatte. Eine chinesische Mitarbeiterin, die sich vermutlich bei ihren Eltern in Wuhan angesteckt hatte, war vom 20. bis 22. Januar in Deutschland gewesen und hatte in der Stockdorfer Webasto-Zentrale an einigen Workshops und Meetings teilgenommen und das Virus dort weitergegeben – so erste Erklärungsversuche über den Infektionsweg. Angeblich hatte sie keine Symptome, doch das stellte sich im Nachgang als falsch heraus. Die meisten Kontaktpersonen bei Webasto waren lange Zeit gemeinsam mit ihr in einem Raum gewesen und hatten über Stunden zusammengesessen. Wie überraschend ein Übertragungsweg sein kann, zeigte die Geschichte von einem Salzstreuer, die bald die Runde machte. In der Kantine hatten wohl zwei der später Infizierten Rücken an Rücken gesessen: Der eine fragte den anderen nach dem Salzstreuer, und auf diese Weise kamen sie in engen Kontakt. Diese kurze Begegnung hatte für die Virusweitergabe ausgereicht.

Unser Institut wurde von verschiedenen Seiten um eine Einschätzung der Situation gebeten und gefragt, ob wir bereit seien, Tests durchzuführen. Wir testeten mit dem für das neue Coronavirus angepassten PCR-Test (Polymerase Chain Reaction). PCR-Tests werden vielseitig in der Diagnostik von viralen Erregern eingesetzt, aber auch, um den Verlauf einer viralen Erkrankung zu dokumentieren. Sie sind sehr sensitiv, erkennen also bereits eine sehr geringe Viruslast. Der Test arbeitet mit dem genetischen Material des Virus, der Desoxyribonukleinsäure (DNA) oder im Falle von SARS-CoV-2 der Ribonukleinsäure (RNA). Aus dem extrahierten genetischen Material wird ein Abschnitt vermehrt und detektiert, was über Signalsonden geschieht. Man extrahiert also aus dem Rachenabstrich eines potenziell Infizierten die gesamte RNA. Aus diesem Material werden dann einzelne virusspezifische Genabschnitte amplifiziert, das heißt vermehrt. Das geschieht mithilfe eines Enzyms der Taq-Polymerase. Aus einem werden zwei, aus zwei vier, aus vier acht, aus acht sechzehn und so weiter. Dieser Prozess läuft unter einer bestimmten Temperatur ab; bei manchen Temperaturen arbeitet das Enzym, bei anderen hört es auf. Schließlich fährt man die Temperatur hoch, wodurch der Prozess gestoppt wird. Die Abschnitte fallen auseinander und man hat ein neues Substrat. Mit den nunmehr zwei Abschnitten startet man den Prozess neu und erhält vier und so weiter. Auf diese Weise können viele gleiche Genabschnitte produziert werden. Bei jedem Durchlauf spricht man von einem Zyklus. Es handelt sich also um ein Verfahren, bei dem man Zyklen anfahren lässt und wieder stoppt, erneut anfahren lässt und erneut stoppt.

In der Regel lässt man 40 bis 45 Zyklen durchlaufen, wodurch RNA-Ketten vom gleichen Abschnitt entstehen – daher der Name Polymerase-Ketten-Reaktion für dieses Laborverfahren. Wann das Signal positiv wird, liest man am CT-Wert ab (Cycle Threshold), dem Zykluswert. Ein niedriger CT-Wert bedeutet, dass bereits mehr Virus im Ausgangsmaterial vorhanden war als bei einem hohen und der Wert daher früher positiv wird. Sind 40 bis 45 Zyklen ohne Nachweis durchgelaufen, ist es unwahrscheinlich, dass das genetische Material des Virus in der Probe enthalten ist. Es kann immer mal zu Verschleppungen kommen; das heißt, dass Material von der einen Probe aus Versehen in Kleinstmengen in der anderen landet. Da aber das genetische Material in großen Mengen vermehrt wird, reicht so wenig Material aus, um das Testergebnis zu verfälschen. Daher wird in den meisten Laboren eine Infektion durch einen weiteren Test, bei dem man einen anderen Genabschnitt des Virus nachweist, noch einmal bestätigt.

Wir hatten den Test im Labor etabliert, und er funktionierte – mit dem artifiziellen RNA-Strang, der uns als Positivkontrolle diente. Ob er tatsächlich den Nachweis einer Infektion beim Menschen lieferte, konnten wir bisher nicht mit Sicherheit sagen, denn dafür brauchten wir einen positiven Fall. Und den hatten wir bislang nicht. Dabei tauchten erstaunlich viele Patienten mit Bezug zur Region Wuhan bei uns auf, wie zum Beispiel ein Mann aus einem 100 Kilometer von dort entfernten Ort, der schwere und eigentlich typische Symptome aufwies. Auch sein Sohn hatte Symptome, und wir waren überzeugt davon, dass es sich um SARS-CoV-2 handelte. Doch selbst er war nicht infiziert. Wir testeten viel – entgegen der allgemeinen Vorgaben, nur gezielte Tests durchzuführen –, immer mit negativem Ergebnis, und uns beschlich ein erster Zweifel an der Aussagekraft des Tests oder ob er bei uns im Labor tatsächlich funktionierte.

 

Auf gleich zwei Infizierte stieß Anfang Februar eine Kollegin von der Uniklinik in Frankfurt beim Testen der Menschen, die bei der Rückholaktion der Bundesregierung von Deutschen aus Wuhan ins Land kamen. Wir kannten uns aus unserer gemeinsamen Zeit in Essen, waren befreundet und weiterhin in engem Kontakt. Eigentlich sollten die Rückkehrer gar nicht durchgetestet werden. Sie tat es trotzdem. Beide Infizierte hatten keine erkennbaren Symptome, da war es schon erstaunlich, sie herauszufischen. Ich fragte meine Kollegin, ob ich eine Probe des Amplifikats zum Testen bekommen könnte, um zu sehen, ob unser Test funktionierte. Ein paar Tage später kam das Paket bei uns an, und wir konnten zeigen, dass auch wir das neue Coronavirus nachzuweisen vermochten. Damit waren alle bisherigen Getesteten auch wirklich negativ, es gab also nach wie vor keinen SARS-CoV-2-Fall in unserer Klinik. Und das, obwohl einige Patienten starke Krankheitssymptome gezeigt hatten. Umso mehr überraschten die milden Symptome bei den Patienten in München und Frankfurt.

In den nächsten Tagen vermuteten wir hinter jedem Patienten auch mit milder grippaler Symptomatik, der zu uns in die Klinik kam, eine COVID-19-Erkrankung. Alle waren in der ständigen Erwartung, auf Infizierte zu stoßen. Auch unter den Webasto-Mitarbeitern und ihren Angehörigen stieg die Zahl an Infizierten weiter (schlussendlich waren es 15 Personen).

Aus Sorge vor Ansteckung diskutierten wir intern mit den Hygienikern und dem Vorstand ein Karneval-Verbot für unsere Mitarbeiter. Vor allem aus der Hygieneabteilung kamen Bedenken. Und tatsächlich muss man im Nachhinein feststellen, dass der Karneval die perfekte Umgebung für eine Verbreitung gewesen wäre und es nur dem frühen Zeitpunkt im gesamten Infektionsgeschehen zu verdanken war, dass flächendeckende Neuinfektionen ausblieben. Das Rheinland hatte Glück gehabt. Wir hatten Glück gehabt. Nach damaligem Wissensstand schien ein Verbot nicht angemessen, und es wurde daher nur zur Vorsicht gemahnt.

Schon jetzt, Ende Januar, fanden erste Treffen im Gesundheitsamt in Bonn statt, um über das neue Coronavirus zu informieren und Teststrategien abzusprechen. Wir bereiteten uns auf mögliche Szenarien vor – aber alles in noch recht sorgloser Atmosphäre. Anfragen zu Röteln, HIV oder anderen Erkrankungen, die uns für gewöhnlich täglich erreichten, gingen jedoch in den Wochen danach merklich zurück, und das Thema Corona wurde immer bestimmender.

Am Universitätsklinikum war auf Initiative der Notaufnahme eine Taskforce entstanden. Es ging darum, den Ernstfall durchzusprechen. Was würde es bedeuten, wenn viele Infizierte auf einmal bei uns einträfen? Wie hoch waren unsere Kapazitäten? Wie konnten wir isolieren? Welche Stationen konnten wir im Notfall umfunktionieren? Wie sollten wir mit schweren Fällen verfahren? Die Verlegung in ein Krankenhaus mit einer Intensivstation, die auch mit Erregern der Klasse 3 umgehen konnte, wurde diskutiert.

Mikroorganismen werden nach ihrer Gefährlichkeit in unterschiedliche Schutzstufen eingeteilt. Bei der Risikogruppe 1 handelt es sich um Erreger, bei denen es unwahrscheinlich ist, dass sie den Menschen krank machen. Zum Beispiel Milchsäurebakterien, die auf der Haut vorkommen. Bei der Risikogruppe 2 handelt es sich um Erreger, die eine Krankheit beim Menschen hervorrufen können, bei denen aber eine Verbreitung in der Bevölkerung unwahrscheinlich und eine Vorbeugung oder Behandlung möglich ist. Hierzu zählen zum Beispiel die Herpesviren, aber auch das Hepatitis A-Virus. Zur Risikogruppe 3 zählen Erreger, die eine schwere Krankheit beim Menschen hervorrufen können und bei denen die ernste Gefahr einer Verbreitung in der Bevölkerung besteht. Normalerweise ist eine wirksame Vorbeugung oder Behandlung möglich. Hierzu zählen nicht nur das SARS-CoV-2-Virus, sondern auch HIV und Hepatitis C. Zur höchsten Sicherheitsstufe 4, zu der auch das Ebolavirus gerechnet wird, gehören Erreger, die eine schwere Krankheit beim Menschen hervorrufen, bei denen die Gefahr einer Verbreitung in der Bevölkerung groß ist und für die es keine wirksame Vorbeugung oder Behandlung gibt.

Unser Wissen über SARS-CoV-2 basierte immer noch auf den Daten und Bildern aus Wuhan. Die Vorstellung war, dass es vornehmlich zu schweren Krankheitsverläufen kommen würde – die milden Verläufe bei den Rückkehrern und den Webasto-Infizierten erstaunten uns eher. COVID-19 wurde allgemein wahrgenommen als schwere Lungenentzündung.

Auch aus Norditalien kamen in den nächsten Wochen Bilder und Nachrichten von Schwerkranken und überfüllten Krankenhäusern und wirkten wie eine Bestätigung. Intensivmediziner aus Bergamo berichteten plastisch von heftigen Erkrankungen und sterbenden Menschen auf ihren Stationen. Die Situation sah dramatisch aus und blieb auch auf uns nicht ohne Wirkung. In Deutschland wuchs die Sorge, Krisensitzungen und Interviewanfragen nahmen zu, die öffentliche Wahrnehmung der Situation veränderte sich.

Viele Fragen und kaum Antworten

Wie kann man theoretisch etwas einschätzen, das man praktisch nicht kennt? Die Zeit raste; in einer Woche passierte so viel wie sonst in Monaten nicht. Gesundheitsämter, Bürger, Presse, Politiker wollten alle eine Expertise, Fragen kamen von allen Seiten. Fragen nach Masken, Fragen nach Desinfektionsmitteln, Fragen nach Übertragung draußen und drinnen. „Habe ich Corona?“, „Mein Nachbar ist Chinese. Ist das gefährlich?“, „Kann ich mich an Paketen aus China anstecken?“, „Kann ich noch chinesisch essen gehen?“ Und viele Fragen rund um das Virus, deren Beantwortung schwer war, da wir noch immer kaum etwas über SARS-CoV-2 wussten. Man fragte, ob es stimme, dass Knoblauch oder Sesamöl vor einer Coronainfektion schützten und ob die Pharmaindustrie (oder Bill Gates) das Virus im Labor gezüchtet bzw. finanziert und patentiert habe.

Es war ein Gefühl des Wartens und Vorbereitens auf den Ernstfall wie vor einem Feuerwehreinsatz. Er würde kommen, man wusste nur nicht, wann, wie und wo. Denkbar war ein einzelner Fall, aber auch gleich ein ganzer Ausbruch. Bei einem positiven SARS-Befund sollte eine E-Mail-Kaskade an den breiten Verteiler der Taskforce losgehen, damit alle schnell alarmiert waren.

Teststrategien wurden erörtert. Das Robert Koch-Institut (RKI) formulierte Richtlinien, wer getestet werden sollte: bei Krankheitsanzeichen und Bezug zu einem Infektionsland. Doch damals musste man schon aus der Provinz Hubei kommen, deren Hauptstadt Wuhan ist, und Symptome haben, um getestet zu werden. Ein Vorgehen, das mit heute nicht mehr zu vergleichen ist. Daran gemessen waren unsere Testkapazitäten sehr gut, aber die Nachfrage stieg, und wenn wir Leute, die von irgendwoher zurückkehrten, testen würden, blieben wir unter Umständen auf den Kosten sitzen. Und es kamen immer mehr Menschen zu uns und wollten sich testen lassen, weil sie überzeugt waren, infiziert zu sein. Viele waren bereit, den Test selbst zu bezahlen. Ende Januar hatten wir immerhin bereits etwa 100 Tests durchgeführt, die meisten davon bei Selbstzahlern.

Im Institut und am Klinikum tauchten praktische Fragen auf, da wir die internationale Nachfrage nach den gleichen Erzeugnissen spürten: Was war mit Desinfektionsmitteln – könnten wir sie notfalls selbst produzieren? War ein Desinfektionsmittel nicht nur wirksam gegen das Virus, sondern auch verträglich für die Haut? Wie sahen die Mundschutz-Ressourcen für die Klinikmitarbeiter aus? Welche Mundschutze brauchten wir eigentlich für welche Mitarbeiter? FFP3-Masken, FFP2-Masken, OP-Masken?

Im normalen Krankenhausalltag kommen FFP2- und FFP3-Masken dort zum Einsatz, wo eine Aerolisierung stattfindet, also die Verteilung von Virusmaterial durch kleinste Luftpartikel. Das kann beispielsweise bei einer Intubation zum Problem werden, wenn eine Röhre direkt in die Atemwege des Patienten eingeführt wird, oder auch beim Weglasern von Warzen. Dabei können sich Aerosole mit lebendem Virus in der Luft verteilen, sich im Rachenbereich des Personals ablagern und eine Infektion auslösen. Auch im Labor, wo mit Erregern gearbeitet wird, tragen die Mitarbeiter eine FFP2- oder FFP3-Maske zum Selbstschutz. Bei uns im Stufe-3-Labor (es gibt 4 Sicherheitsstufen, wobei die 4. die höchste ist) tragen wir sogar externe Respiratoren, die gefilterte Frischluft unter den Helm pusten. Bei den FFP2- und FFP3-Masken handelt es sich um partikelfiltrierende Schutzvorrichtungen, die sich in Dicke und Durchlässigkeit und damit auch statischer Ladung voneinander unterscheiden – darin, wie viele Schadstoffe und Viren sie abhalten. Beide Ausführungen gibt es mit und ohne Filter, wobei ein Filter den Vorteil hat, dass es keinen CO2-Rückstau unter der Maske gibt und das Atmen somit weniger beeinträchtigt wird.

FFP2- und FFP3-Masken waren schon Mitte Februar schwer zu bekommen, denn die Produktion ging in großen Mengen nach China. Vor allem aber wurde die Sicherstellung von ausreichend OP-Masken zum Problem. Diese Masken dienen dazu, den Patienten bei einer Operation zu schützen, denn sie verhindern, dass der Behandelnde beim Sprechen versehentlich bakterienhaltige Tröpfchen (und wir haben viele Bakterien im Mund) in die Wunde lässt und sich dort eine Infektion bildet. OP-Masken waren im Klinikalltag äußerst wichtig, schließlich wurden sie bei jeder Operation gebraucht – doch gerade diese Masken wurden in den kleineren Krankenhäusern schon zur Mangelware. So standen wir vor dem Problem, dass vielleicht nicht nur Corona, sondern auch der Mangel an Masken zur Gefahr für die Gesundheit würden, wenn nämlich eine OP nicht mehr durchgeführt werden könnte.

Aber auch die Utensilien für die PCR-Tests waren knapp. Welche Swabs waren die besten, und waren diese auch in großen Mengen verfügbar? Swabs sind gebrauchsfertige Abstrichtupfer zur Probenentnahme im Rachenbereich mit den dazugehörigen Transportröhrchen. Am liebsten waren uns sogenannte flocked swabs – kleine Bürstchen, die Zellen und Bestandteile aus dem Rachen gut aufnehmen. Wattestäbchen waren auch geeignet, aber besser noch waren Stäbchen mit Bürstchen, um brauchbares Material aus dem Rachen zu kratzen. Auch auf die Materialien für die PCR-Tests würde bald ein Run einsetzen – das war schon jetzt absehbar. Es ging um Enzyme und ganze Testkits, die wir in großen Mengen vorhalten mussten. Selbst bei Plastikmaterialien sollte es eng werden. Pipettenspitzen, Kartuschen, Platten, Kappen und und und. Weltweit stieg die Nachfrage. Plötzlich wurden chaotrope Salze, die für die Herstellung der Kits verwendet wurden, knapp. Wen hatten diese Salze vor der Pandemie interessiert?

Wie weit und wie schnell konnten wir unsere Kapazitäten hochskalieren? Waren wir in der Lage, 2000, 3000 Tests in der Woche oder besser am Tag zu machen? Und immer wieder die Frage: Wer sollte abgestrichen werden, wer sollte selbst zahlen? Zwar wuchs weltweit die Anzahl der Regionen mit Clusterausbrüchen, jedoch kam das RKI nur langsam mit der Ausweisung von Risikogebieten nach. Die Gesundheitsämter richteten Hotlines ein. Es war wie die angespannte Ruhe vor einem Sturm, der vorerst ausblieb. Auch in Baden-Württemberg wurden nun erste vereinzelte Coronainfektionen bestätigt. Die Einschläge kamen näher.

Gangelt – Das erste große Ausbruchsgeschehen in Deutschland

26. Februar. Ein Mann aus dem Kreis Heinsberg, knapp 120 Kilometer von Bonn entfernt, war tags zuvor positiv auf SARS-CoV-2 getestet worden und wenig später auch seine Frau. Beiden ging es schlecht, sie hatten schwere Symptome. So wie wir es von den Berichten aus Bergamo kannten. Sie wurden bald auf die Intensivstation des Uniklinikums Düsseldorf verlegt, denn diese war auf komplizierte und gefährliche Infektionserreger ausgelegt. Das Paar hatte am 15. Februar an einer Kappensitzung im Ortsteil Langbroich der Gemeinde Gangelt teilgenommen und sich wohl dort infiziert, wie man vermutete. Es bestand die Sorge, dass sich viele auf der Feier angesteckt haben könnten. Womöglich war der gesamte Landkreis betroffen. Sollte es das erste Superspreadingevent in Deutschland sein? Zumindest war es das erste große Ausbruchsgeschehen in Deutschland und der erste Fall in Nordrhein-Westfalen, direkt vor unserer Haustür.

Im Kreis Heinsberg selbst lief die Nachverfolgung der Kontaktpersonen des infizierten Ehepaars sofort an, und alle Teilnehmer der Kappensitzung wurden aufgerufen, sich zu melden und sich mit den Angehörigen ihres Haushalts in eine 14-tägige Quarantäne zu begeben. Aber es wurde wenig getestet, nur die direkten Kontaktpersonen. Am Abend des 27. Februar war die Anzahl der bestätigten COVID-19-Fälle auf 20 hochgegangen, bereits 37 waren es dann nur einen Tag später. Vornehmlich in Gangelt und der direkten Umgebung. Und die Zahlen sollten schnell noch stärker ansteigen, auch wenn nur ein Bruchteil aller Infektionen erfasst wurde, wie sich später herausstellte.

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Ein deutscher Lockdown

Erwachen

Am Rosenmontag des Jahres 2020, es ist der 24. Februar, bittet Jens Spahns Staatssekretär Thomas Steffen um einen eiligen Termin im Bundesinnenministerium. Steffen ist Jurist, im Gesundheitsressort arbeitet er weniger als ein Jahr. Ein Experte für Märkte und Währungen war er lange im Finanzministerium und davor in einer Behörde für Finanzaufsicht. Das Thema Gesundheit ist neu für ihn. Aber Jens Spahn kennt ihn aus gemeinsamen Zeiten im Finanzministerium, er vertraut ihm. So holte er Steffen nach, als er Gesundheitsminister im vierten Kabinett Merkel wurde.

Am Nachmittag lässt sich Steffen die wenigen Kilometer von der Berliner Friedrichstraße zum Innenministerium hinüberfahren. Heiko Rottmann-Großner begleitet ihn, Leiter der Unterabteilung 61: „Gesundheitssicherheit“.

Drei Staatssekretäre von Minister Horst Seehofer warten bereits auf die beiden, dazu weitere Beamte. Kaffee und Wasser stehen auf dem Tisch, als um 17 Uhr die Besprechung im Raum 6.470 beginnt. Spannung liegt in der Luft, eine gewisse Nervosität.

Über das Wochenende waren beunruhigende Nachrichten eingegangen. Dieses neue Virus, das man „Corona-“ oder „Wuhan-Grippevirus“ nennt, breitet sich immer weiter aus. Aus China kommend hat es Europa weitflächig befallen; von Europa aus gelangte es auch an die Ostküste der USA. Betroffen ist vor allem der Norden Italiens, die Lombardei und Venetien: Offenbar konnte sich das Virus dort über Wochen unbemerkt verbreiten. Jetzt sind bereits 130 Infizierte und zwei Todesfälle bestätigt, die Zahlen steigen und steigen. In der Lagunenstadt Venedig wurde der traditionelle Karneval abgebrochen. Während der Mailänder Fashion Week musste Giorgio Armani seine Kollektion ohne Publikum präsentieren, so etwas gab es noch nie. In der Bundesregierung kursiert ein Bericht der deutschen Botschaft in Rom: In manchen Stadtteilen Mailands komme es bereits zu „Hamsterkäufen“, immer mehr Menschen mit Mundschutzmasken seien zu sehen. „Vereinzelt liegen die Nerven so blank, dass es zu fremdenfeindlichen Übergriffen gegenüber Chinesen kommt“, heißt es in der Depesche.

Die österreichischen Bundesbahnen haben den Zugverkehr nach Italien eingestellt. Der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte hat die Abriegelung von elf Städten mit insgesamt 53 000 Einwohnern angekündigt. Notfalls werde er die Armee einsetzen, erklärt Conte.

Droht dies nun auch in Deutschland?

Staatssekretär Steffen wirkt angespannt. Er glaube nicht, dass sich Corona noch eindämmen lasse, bekennt er. Auch die Wissenschaftler des Robert Koch-Instituts seien der Überzeugung, dass die Stufe 1 jetzt an ihr Ende komme. „Stufe 1“ bedeutet Eindämmung, die Eingrenzung des Virus: jeden einzelnen Infizierten zu finden, zu identifizieren und gegebenenfalls zu isolieren, dazu alle Kontaktpersonen. Damit für alle anderen das Leben so weitergehen kann wie bisher.

Doch jetzt, erklärt Steffen, gehe es in die nächste Phase, die Mitigation, Schadenminderung. Als die Beamten aus dem Innenministerium wissen wollen, was „Mitigation“ genau bedeute, übernimmt Rottmann-Großner. Man müsse die Vorkehrungen dafür treffen, dass es zu Ausgangssperren von unbestimmter Dauer komme. Man müsse auch, wie es später in einem Vermerk über das Gespräch heißen wird, „die Wirtschaft lahmlegen sowie die Bevölkerung auffordern, sich Lebensmittelvorräte und Arzneimittelvorräte anzulegen“. „Lockdown“ wird so etwas bald genannt werden, aber an diesem Rosenmontag wird noch ein anderes Wort verwendet: Es lautet „Abschaltung“.

Mitigation bedeutet Kapitulation. Es ist das Eingeständnis, dass selbst im 21. Jahrhundert nur noch „nicht pharmazeutische Interventionen“ helfen. Radikale Maßnahmen also, die man schon vor Hunderten von Jahren gegen Seuchen wie die Pest ergriffen hatte. Sich zurückziehen, Tür zu, Kontakt vermeiden, Abstand halten. Oder wie es der Virologe Alexander Kekulé später sagen wird: „Wir haben es vergeigt, jetzt müssen wir es halt ausbaden.“

Es wird still in Raum 6.470.

Dann ergreifen Hans-Georg Engelke und Markus Kerber aus dem Innenministerium das Wort. Engelke ist der sogenannte „Sicherheitsstaatssekretär“, der Hesse war einmal Staatsanwalt, leitete dann die Abteilung Terrorismusbekämpfung im Bundesamt für Verfassungsschutz. Kerber kommt aus Baden-Württemberg und ist ein politischer Kopf, ein Ziehsohn Wolfgang Schäubles. Der machte ihn während seiner Zeit als Innenminister zum Leiter der Grundsatzabteilung, Kerber organisierte die ersten Deutschen Islamkonferenzen. Später war der Ökonom Hauptgeschäftsführer beim Bundesverband der Deutschen Industrie. Bis Seehofer ihn 2018 überraschend ins Amt holte.

Kerber und Engelke blicken unterschiedlich auf die Welt. Aber nicht auf diese Lage hier. Mitigation – dies werde für die Bevölkerung völlig überraschend kommen. Die sei auf so etwas nicht vorbereitet. Mitigation könne „polizeiliche Lagen“ auslösen. Zumindest im Innenministerium weiß jeder, wofür diese beiden Wörter stehen. Im schlimmsten Fall für: Chaos. Mögliche Szenarien machen die Runde. Könnte es zum Sturm auf Tankstellen und Supermärkte kommen?

Die Vertreter des Innenministeriums fordern eine rasche Entscheidung. Ein Krisenstab soll einberufen werden, besetzt aus Vertretern des Innen- und des Gesundheitsministeriums. So sieht es eine detaillierte sogenannte „Hausanordnung“ mit Stand Juni 2018 vor. Das Papier „zur Bewältigung einer großflächigen und national bedeutsamen biologischen Gefahren- und Schadenslage“ beschreibt zwei unterschiedliche Szenarien: Bioterrorismus – also einen Anschlag mit Biowaffen – oder eine Pandemie. Auf den ersten Blick scheinen dies zwei völlig unterschiedliche Ereignisse. Aber wie reagiert werden muss, ist in vielen Bereichen gleich: Vor allem das Gesundheitssystem muss in höchste Alarmbereitschaft versetzt werden. In den Registraturen der Abteilungen für Öffentliche Sicherheit sowie für Krisenmanagement und Bevölkerungsschutz, kurz KM, liegen Dutzende Ordner, Pläne für den Pandemiefall. Viele von ihnen sind als Verschlusssachen eingestuft. Niemand hat daran geglaubt, dass sie einmal in Kraft gesetzt werden müssten. Und niemand erwartet an diesem Tag, dass nun, wo der Ernstfall tatsächlich eintritt, einige der dort vorgesehenen Regelungen sehr schnell ignoriert werden.

Ein Krisenstab also. Seine Einberufung wäre das endgültige Eingeständnis, dass man es mit einer wirklich ernsthaften Lage zu tun hat. Selbst im Sommer der Geflüchteten 2015 verzichtete die Bundesregierung auf dieses Instrument, die Krise sollte keinesfalls als Krise wahrgenommen werden. Jetzt wäre mit seiner Einberufung das Ende aller Beschwichtigungen verbunden, den Beschwichtigungen, dass dieses Virus im Grunde doch nicht gefährlicher sei als eine Grippe. Und dass die von Gesundheitsminister Jens Spahn ausgegebene Devise der „wachsamen Gelassenheit“ nicht ausreicht. Ganz und gar nicht ausreicht.

Steffen und Rottmann-Großner, so empfinden es die Vertreter des Innenministeriums, reagieren zunächst ausweichend. Dabei ist ihre Prognose völlig zutreffend.

Bereits einen Tag später wird bei einem jungen Mann aus Baden-Württemberg das Virus diagnostiziert, er war aus Mailand gekommen. Und im Hermann-Josef-Krankenhaus im nordrhein-westfälischen Erkelenz ist ein Mann aus dem Landkreis Heinsberg mit Symptomen einer schweren Lungenentzündung eingeliefert worden. Er ist Immobilienmakler, seine Frau arbeitet in einem Kindergarten. Beide haben an einer örtlichen Karnevalssitzung in Gangelt teilgenommen, inmitten Hunderter anderer Feiernder tanzte der Mann im Männerballett. Vorher war das Paar in Holland, der Mann auch noch zu einer medizinischen Behandlung in der Kölner Uniklinik. Ein Bekannter der beiden, ein Soldat, war mit seiner Familie tagelang in Europas größtem Spaßbad „Tropical Island“ nahe Berlin. Es sind Hunderte, womöglich Tausende Kontakte. Das sperrige Wort „Infektionsketten“, es wird auf bedrohliche Art begreifbar.

Am Aschermittwoch, es ist der 26. Februar, tagt der Krisenstab zum ersten Mal. Deutschland ist jetzt offiziell im Krisenmodus.

So endet die Hoffnung, dass dieses Land glimpflich davonkommen könnte, verschont bliebe von diesem kaum erforschten bedrohlichen Virus. Mit dem Rosenmontag des Jahres 2020 beginnt eine Zeit, die eine so gar nicht zum Pathos neigende Kanzlerin die größte „Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg“ nennen wird. Und in der in Berlin und in den Landeshauptstädten bislang Undenkbares nicht nur gedacht, sondern auch getan wird.

Tag für Tag, Bereich für Bereich wird das Land nach diesem 24. Februar heruntergefahren. Der pandemische Ausnahmezustand trifft jeden. Wie nie zuvor, seit in Deutschland das Grundgesetz gilt, werden Freiheitsrechte eingeschränkt. Zeitweilig wird das Demonstrationsrecht so stark beschnitten, dass nicht einmal mehr zwei Personen mit sicherem Abstand zueinander ein Plakat in die Höhe halten dürfen. Gebetet wird zu Hause, warmes Essen gibt es in Restaurants nur noch außer Haus. Schulen und Kindergärten werden geschlossen, Kinos und Theater und Clubs. Flugzeuge bleiben am Boden, ein bislang nicht gekannter Einbruch der Wirtschaftsleistung beginnt. Es ist, als bremste jemand in voller Fahrt ein Auto ab. „Dieses Land blutet aus hundert Wunden“, wird diesen Zustand später ein Spitzenbeamter aus dem Wirtschaftsministerium beschreiben.

Bald werden Kinder ihre Eltern noch nicht einmal mehr dann besuchen dürfen, wenn diese im Sterben liegen. Diese Krise wird manche Familien zusammenschweißen und andere trennen. Sie wird zur De-facto-Schließung von Grenzen führen, Existenzen bedrohen, gar vernichten; andere werden aus ihr Profit schlagen.

Bald werden Demonstranten auf Straßen und Plätzen stehen, „Coronaleugner“ wird man sie nennen, denn unter ihnen sind viele, die die Gefahr des Virus abstreiten. Selbst dann noch, als im späten Herbst alle zweieinhalb Minuten ein Mensch in Deutschland an der Krankheit stirbt, die man „COVID-19“ nennt.

Diejenigen, die jetzt buchstäblich über das Schicksal eines Landes zu entscheiden haben, über Leben und Tod, wird es an die Grenzen von Physis und Psyche führen. Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer hat nächtelang „schwere Träume“. Ihr niedersächsischer Kollege Stephan Weil sagt: „Ich habe noch nie in meinem Leben Verantwortung so körperlich gespürt.“

Manche Spitzenpolitiker müssen – wie so viele andere auch – um das Leben ihrer Nächsten fürchten. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier etwa: Nachdem er ihr 2010 eine Niere gespendet hat, lebt seine Ehefrau Elke Büdenbender mit einem reduzierten Immunsystem. Sie gehört damit zu einer Risikogruppe. Er muss am Anfang üben, Menschen nicht mehr automatisch die Hand zu geben oder Vertraute zu umarmen.

Stephan Weil wiederum hört jeden Tag, wie lebensgefährlich dieses Virus sein kann. Der Bruder seiner Sprecherin, ein eigentlich topfitter Sportler, kämpft nach der Rückkehr aus dem österreichischen Skiort Ischgl mit dem Virus. Es geht ihm zwischenzeitlich sehr schlecht.

In der Staatskanzlei in Mecklenburg-Vorpommern hat Ministerpräsidentin Manuela Schwesig bereits vor Monaten ein „Knuddelverbot“ erlassen. Abstand halten und häufiges Händewaschen sind für die an Brustkrebs erkrankte SPD-Politikerin und ihre Mitarbeiter unbedingte Pflicht. In Schwerin, so könnte man sagen, gilt Sozialdistanz schon länger als neues Normal.

Und da ist Innenminister Horst Seehofer, der 2002 monatelang unter einer viralen Entzündung des Herzmuskels litt und immer „furchtbare Angst vor den Ultraschallbildern“ hatte, wie er einmal dem Spiegel anvertraute. Oft wiederholt er diese Sätze: „Der gesunde Mensch hat viele Wünsche. Der Kranke hat nur einen.“ Auch aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen mit einem Virus, diesem Ausgeliefertsein, wird Seehofer eine harte Linie vertreten und radikale Entscheidungen einfordern: „Ein bisschen weiße Salbe, Trösten und Zuversicht helfen nicht.“

Andere in Berlin und zumindest einigen Landeshauptstädten lässt diese größte denkbare Krise allerdings auch auf den Aufstieg zum Krisenmanager vom Schlage eines Helmut Schmidt hoffen, auf eine steile politische Karriere, vielleicht gar auf eine Kanzlerkandidatur. Die Entscheidung für den Krisenstab ist gerade erst getroffen, da schreiben die ersten Spindoktoren schon E-Mails und SMS an ihre Minister: Nicht vergessen, Krisen sind immer auch eine Stunde der Exekutive!

Wenn Politiker und ihre Spitzenbeamten jetzt neben ständigen Krisensitzungen und einer endlosen Flut von Telefon- und Videokonferenzen noch Zeit zum Joggen finden, hören sie dabei den Podcast eines bis dahin nur der Fachöffentlichkeit bekannten Virologen namens Christian Drosten. Als junger Arzt im Hamburger Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin hatte Drosten im März 2003 mit seinem Kollegen Stephan Günther ein bis dahin unbekanntes Virus aus der Gruppe der Coronaviren identifiziert, Ursache für eine sich rasch ausbreitende Atemwegserkrankung mit erschreckend hohen Todeszahlen, einer Letalitätsrate von knapp 10 Prozent: das SARS-Virus, heute SARS-CoV-1 genannt. Das von ihnen entwickelte Testverfahren trug maßgeblich dazu bei, die Ausbreitung des Virus zu stoppen.

Für „beispielhafte innovative Leistungen bei der Bekämpfung bisher unbekannter Krankheitserreger“ hatte die damalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt den beiden Virologen am 19. Dezember 2005 das Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Schon damals war Drosten eine Art Medienstar, wenn auch nur kurz: „Herr Drosten kann heute keine Interviews mehr geben“, fertigte damals der Direktor des Bernhard-Nocht-Instituts die wartenden Journalisten ab, „er muss SARS bekämpfen.“

Für Professor Dr. Christian Drosten, den Mann, der aus hygienischen Gründen das Bier am liebsten nur aus der Flasche trinkt, begann im März 2003 ein steiler wissenschaftlicher Aufstieg, um Coronaviren kreisend, der im Januar 2020 mit der raschen Entwicklung eines Verfahrens zur SARS-CoV-2-Diagnostik in seinem Labor der Berliner Charité seinen vorläufigen Höhepunkt erreichen würde. Nur wenige in der Welt wissen so viel über Coronaviren wie er und sein Team. Auch dafür wird er erneut ausgezeichnet, diesmal mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. Ein Foto zeigt ihn im Schloss Bellevue. Er trägt Maske.

Wie kaum ein anderer wird Christian Drosten in diesem Frühjahr Gesicht und Stimme dieser Pandemie werden, Gitarre spielender „Star-Virologe“ und „Corona-Zar“ für die einen; Vertreter einer vermeintlichen „Virologen-Diktatur“ für die anderen. Auf Anti-Corona-Demonstrationen wird sein Porträt in gestreifter Gefängniskleidung in die Höhe gehalten werden, darauf nur ein Wort: „schuldig“.

„Aber der Drosten sagt“ – diese vier Wörter werden in den kommenden Monaten in vielen entscheidenden Diskussionen eine besondere Rolle spielen. Und vor allem Christian Drosten eine politische Verantwortung aufbürden, die er als Wissenschaftler gar nicht tragen kann. Und nicht tragen darf.

 

Am 30. Dezember 2019 checkt die New Yorker Epidemiologin Marjorie Pollack nach dem Abendessen ihre E-Mails, sie macht Dienst für ProMED. Über diese Internetplattform der Internationalen Gesellschaft für Infektionskrankheiten tauschen Wissenschaftler, Ärzte und Interessierte weltweit Informationen und Anfragen über Infektionskrankheiten bei Mensch, Tier und Pflanze aus; seit 25 Jahren funktioniert das Netzwerk wie ein informelles globales Frühwarnsystem. Die ersten Meldungen über den Ausbruch der SARS-Pandemie in China 2003 kamen über ProMED; schon damals war von „Lungenentzündungen“ die Rede, von geschlossenen Krankenhäusern – und von Toten.

Jetzt liest Pollack von Tweets und Einträgen in den chinesischen Kurznachrichtendiensten, Meldungen aus dem Süden Chinas über gehäuft auftretende „atypische Lungenentzündungen“; über „Cluster“, die mit einem Meeresfrüchtemarkt in der Millionenstadt Wuhan in Verbindung stünden, auf dem auch Wildtiere verkauft würden. All das scheint ihr wie ein Déjà-vu. Als ob sich die Ereignisse von 2003 wiederholten. Um 23:59 Uhr Ortszeit drückt sie auf „Send“: „RFI“ steht in der Überschrift unter der ProMED-Archivnummer 20191230.6864153, „Request For Information“. Eine Bitte um weitere Informationen über die Lage in Wuhan. Am frühen Morgen des 31. Dezember ist die ProMED-Mitteilung in Deutschland zu lesen. Auch dpa verbreitet an diesem letzten Tag des Jahres eine knappe Meldung, die aber kaum Beachtung findet. Es gebe da eine „mysteriöse Lungenkrankheit“ in China. Staatliche Stellen hätten dementiert, dass es sich um einen neuen Ausbruch des gefürchteten SARS-Virus von 2003 handle.

So spricht man an diesem Silvestertag 2019 auch im Berliner Robert Koch-Institut (RKI) über die Gerüchte aus China. Für die Wissenschaftler des RKI ist es Routine und Pflicht, solche Meldungen zu prüfen. Die frühe Erkennung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten gehört zu den Kernaufgaben des traditionsreichen Instituts, das bis heute seinen Hauptsitz im Gebäude des ehemaligen „Königlich Preußischen Instituts für Infektionskrankheiten“ am Nordufer 20 im Berliner Wedding hat. Samt Mausoleum für Robert Koch, den weltberühmten Mikrobiologen und Entdecker des Tuberkuloseerregers, seine Asche wird in kupferner Urne hinter einer weißen Marmorplatte aufbewahrt. Tradition verbindet sich hier mit Moderne: Im RKI ist eines der nur vier deutschen Hochsicherheitslabors der Stufe 4 untergebracht; hier wird an hochvirulenten Krankheitserregern wie Ebola- oder Lassaviren geforscht. Merkel selbst hatte das Labor mit autonomer Strom-, Wasser- und Luftversorgung 2015 eingeweiht. Und in all die freundlichen Worte über das „Fort Knox des RKI“ gepackt, was Kanzlerin und Regierung von den Wissenschaftlern erwarten: „Aber wenn etwas vorfällt, dann will man schnell und unverzüglich absolut präzise Antworten haben.“

So ist es: Die Obere Bundesbehörde hat den gesetzlichen Auftrag, wissenschaftliche Erkenntnisse zu erarbeiten, die als Basis für politische Entscheidungen dienen.

Schnell. Unverzüglich. Absolut präzise Antworten. Das RKI ist so etwas wie ein pandemisches Frühwarnsystem der Politik.

An diesem 31. Dezember 2019 aber bleibt die Lage unklar; nur Gerüchte schwirren; auch aus Genf kommen keine Informationen, dem Hauptquartier der Weltgesundheitsorganisation WHO. Im RKI geht man auseinander, es ist Silvester.

Was sie nicht wissen, ist, dass man in China schon viel mehr weiß: Einen Tag zuvor, am 30. Dezember gegen 16 Uhr nachmittags, erhält Dr. Ai Fen, Mutter von zwei Kindern und seit neun Jahren leitende Ärztin der Notaufnahme im Zentralkrankenhaus von Wuhan, die Untersuchungsergebnisse eines Patienten, der mit Symptomen einer Lungenentzündung eingeliefert worden war. Tief beunruhigt liest sie den Befund: „SARS-Coronavirus. Die Übertragung findet hauptsächlich über Tröpfcheninfektion statt.“ „Mir brach der kalte Schweiß aus, es war sehr beängstigend“, erinnerte sie sich später in einem viel zitierten Interview. Ai Fen – und nicht die chinesische Staats- und Parteiführung – würde entscheidend dazu beitragen, dass die Wahrheit über eine beginnende Pandemie öffentlich wird.

Schon am 22. Dezember hatte einer ihrer Kollegen bei einem wenige Tage zuvor eingelieferten und schwer kranken Patienten das Coronavirus vermutet; der Mann hatte auf dem Huanan-Meeresfrüchtemarkt in Wuhan gearbeitet. Am 27. Dezember ein weiterer Patient, seine Lungen in einem „furchtbaren Zustand“, so Ai Fen. Am 30. Dezember dann der Befund: „SARS-Coronavirus“. Die Ärztin informiert die Abteilungsleitung, noch am Nachmittag schickt sie Kolleginnen und Kollegen über den populären Messengerdienst WeChat ein Foto des Befundes. Um das Wort „SARS-Coronavirus“ hat sie mit rotem Stift einen Kreis gezogen. Auch der im gleichen Krankenhaus arbeitende junge Augenarzt Li Wenliang erhält die Nachricht und leitet sie an Kollegen weiter; die wiederum verbreiten sie ihrerseits. Es ist eine medizinische Vorsichtsmaßnahme.

Wenn Krankheiten um die Welt reisen

Das Jahrhundert der PandemienDas Jahrhundert der Pandemien

Eine Geschichte der Ansteckung von der Spanischen Grippe bis Covid-19

Eine lehrreiche Medizingeschichte über ein Jahrhundert voller Krankheiten und wissenschaftlichen Fortschritts  
Medizinhistoriker und Journalist Dr. Mark Honigsbaum blickt auf 100 Jahre Pandemiegeschichte zurück und präsentiert dabei medizinische Höchstleistungen    

„Wer sich nicht an seiner Vergangenheit erinnert, ist verurteilt, sie zu wiederholen.“ Dieser Satz des spanischen Philosophen George Santayana muss heute fast ironisch wirken: Medizinhistoriker Mark Honigsbaum blickt in seinem Sachbuch „Das Jahrhundert der Pandemien“ auf die Epidemien der vergangenen 100 Jahre zurück. Er beschreibt die Ausbrüche der Spanischen Grippe, der sogenannten Papageienkrankheit, der Legionärskrankheit, und  verfolgt die Entwicklung von AIDS in Amerika und Afrika, von Ebola und Zika. Mit Covid-19 reicht seine Schilderung bis ins Heute hinein.   

Dabei fördert er immer wieder interessante wie tragische Parallelen zwischen Vergangenheit und Gegenwart zutage. Zu jeder Zeit lassen sich nämlich engagierte Forscher finden, die bei ihrer Bekämpfung einer Seuche durch frustrierende bürokratische Verwaltungsapparate und andere Hindernisse ausgebremst werden.   

„Honigsbaum ist nicht bloß ein gründliches Werk jüngerer Medizingeschichte gelungen, sondern auch ein Page-Turner.“ NZZ 

Wie in einem spannenden Roman beschreibt Mark Honigsbaum in „Das Jahrhundert der Pandemien“ die immer wiederkehrende Suche nach neuen Krankheitserregern. Die Beteiligten bringen sich dabei sogar selbst in Gefahr, um das Leben Millionen anderer Menschen zu retten – manchmal mit fatalen Folgen.   

Ausbruch, Verbreitung und Bekämpfung – die Lehren eines Jahrhunderts voller Epidemien in einem Buch vereint  

„Mark Honigsbaum hat ein faszinierendes Buch über ein gerne beiseitegeschobenes Thema geschrieben: Wenn uns die vergangenen 100 Jahre – und nicht nur sie – etwas gelehrt haben, dann, dass neue Krankheiten und Virenstämme uns unweigerlich heimsuchen werden, egal wie hoch entwickelt die Wissenschaft wird.“ ― Deutschlandfunk „Auslese“   

Prolog
Haie und andere Prädatoren

In den gemäßigten Gewässern des Nordatlantiks greifen Haie Badende niemals an. Und ein Hai kann das Bein eines Schwimmers auch nicht mit einem einzigen Biss abtrennen. So dachten die meisten Haiexperten im glühend heißen Sommer des Jahres 1916, als die Bewohner von New York und Philadelphia an die Strände im Norden von New Jersey strömten, um dort vor der drückenden Hitze im Inland Abkühlung zu finden. Im selben Sommer hatte an der Ostküste eine Polio-Epidemie gewütet, und das hatte zu Warnhinweisen geführt, es bestehe das Risiko, sich in öffentlichen Schwimmbädern mit „Kinderlähmung“ zu infizieren. Die Küste von Jersey galt jedoch als prädatorenfreie Zone.
„Das Risiko, von einem Hai angegriffen zu werden“, erklärte Frederic Lucas, Direktor des American Museum of Natural History, im Juli 1916, „ist ungleich geringer, als vom Blitz getroffen zu werden … die Gefahr eines Haiangriffs an unseren Küsten liegt praktisch bei null.“ Als Beweis verwies Lucas auf die Belohnung von 500 Dollar, die der Millionär und Bankier Hermann Oelrichs „für einen authentischen Fall“ ausgesetzt hatte, „dass ein Mensch in gemäßigten Gewässern [in den Vereinigten Staaten nördlich von Cape Hatteras, North Carolina] von einem Hai attackiert wird“ – eine Summe, die niemals eingefordert worden war, seit Oelrichs dieses Angebot 1891 in der New York Sun gemacht hatte.
Aber Oelrichs und Lucas irrten sich, und das galt auch für Henry Fowler und Henry Skinner, zwei Kuratoren der Academy of Natural Sciences in Philadelphia, die 1916 kategorisch festgestellt hatten, dass einem Hai die Kraft fehle, einem Menschen ein Bein abzubeißen. Das war die bekannte Faktenlage – bis zur ersten Ausnahme am Abend des 1. Juli 1916. Damals entschloss sich Charles Epting Vansant, ein reicher junger Börsenmakler, der mit Frau und Familie in New Jersey Urlaub machte, vor dem Abendessen in der Nähe seines Hotels in Beach Haven noch mal kurz ins Wasser zu gehen. Vansant oder „Van“, wie er von seinen Freunden genannt wurde, hatte 1914 an der University of Pennsylvania seinen Abschluss gemacht; er war ein Nachkomme einer der ältesten Familien des Landes – niederländische Einwanderer, die sich 1647 in der Neuen Welt niedergelassen hatten – und berühmt für seine Sportlichkeit. Wenn er irgendwelche Sorgen gehabt haben sollte, sich an diesem Abend in die kühlen Wasser des Atlantiks zu wagen, so wurden sie vom vertrauten Anblick des Rettungsschwimmers Alexander Ott, Mitglied des amerikanischen olympischen Schwimmteams, und eines freundlichen Chesapeake Bay Retriever vertrieben, der auf ihn zurannte, als er in die Brandung eintauchte. Nach Art junger edwardianischer Männer jener Tage schwamm Vansant aus dem mit Leinen abgetrennten Bereich direkt aufs offene Meer hinaus, bevor er sich umdrehte, um Wasser zu treten und den Hund zu sich zu rufen. Inzwischen waren sein Vater, Dr. Vansant, und seine Schwester Louise an den Strand gekommen und bewunderten vom Rettungsschwimmerhäuschen aus seine gute Form. Zu ihrer großen Belustigung weigerte sich der Hund, ins Wasser zu gehen. Wenige Augenblicke später wurde der Grund dafür klar – im Wasser tauchte eine schwarze Flosse auf, die sich von Osten her auf Vansant zubewegte. Verzweifelt winkte der Vater seinem Sohn zu, zurück an Land zu schwimmen, doch Vansant erkannte die Gefahr zu spät, und als er sich noch rund 50 Meter vom Strand entfernt befand, spürte er einen plötzlichen heftigen Ruck und einen schrecklichen Schmerz. Als sich das Wasser um ihn rot verfärbte, griff Vansant nach unten und stellte fest, dass sein linkes Bein nicht mehr da war, glatt am Oberschenkelknochen durchtrennt.
Inzwischen war ihm Ott zu Hilfe geeilt und zog ihn durch das Wasser in die Sicherheit des Engleside Hotels, wo sein Vater verzweifelt versuchte, die Blutung zu stillen. Aber es war zwecklos – die Wunde blutete zu stark –, und zum Entsetzen seines Vaters und seiner jungen Frau starb Vansant an Ort und Stelle, das erste bekannte Opfer eines Haiangriffs im Nordatlantik. Von diesem Moment an würde keiner von beiden jemals wieder auf den Atlantik am Strand von New Jersey blicken können, ohne sich das mörderische Gebiss vorzustellen, das unter der Oberfläche lauerte.
Sie waren nicht allein. Innerhalb von zwei Wochen wurden vier weitere Schwimmer an der Küste von New Jersey angegriffen und drei getötet, was eine geradezu hysterische Furcht vor „menschenfressenden“ Haien auslöste, die bis heute anhält. Dabei spielt es kaum eine Rolle, dass Sichtungen von Weißen Haien und anderen großen Haiarten im Nordatlantik selten und Angriffe auf Schwimmer noch seltener sind. Strandbesucher wissen inzwischen, dass sie sich beim Schwimmen besser nicht zu weit von der Küste entfernen, und sollten sie die Risiken unterschätzen oder die Gefahr mit einem Achselzucken abtun, so gibt es stets eine Wiederholung von Der weiße Hai oder eine Folge von Shark Week auf Discovery Channel, um ihnen den Kopf zurechtzurücken. Daher fürchten sich viele Kinder und auch zahlreiche Erwachsene davor, in der Brandung zu spielen, und selbst diejenigen, die sich hinter die Brecher wagen, wissen, dass es ratsam ist, die Wasseroberfläche immer wieder nach einer verräterischen Rückenflosse abzusuchen.


Auf den ersten Blick scheinen die Haiangriffe in New Jersey wenig mit der Ebola-Epidemie in Westafrika 2014 oder der Zika-Epidemie zu tun zu haben, die im Folgejahr in Brasilien ausbrach. Doch das ist ein Irrtum, denn genauso, wie sich die meisten Biologen keinen Haiangriff in den kalten Gewässern des Nordatlantiks vorstellen konnten, konnten sich die meisten Experten für Infektionskrankheiten im Sommer 2014 nicht vorstellen, dass Ebola, ein Virus, dessen Vorkommen sich zuvor auf abgelegene Waldregionen in Zentralafrika beschränkt hatte, eine Epidemie in einer Großstadt in Sierra Leone oder Liberia auslösen könnte, noch viel weniger jenseits des Atlantiks, in Europa oder den Vereinigten Staaten. Aber genau das geschah, als das Ebolavirus kurz vor Januar 2014 aus einem unbekannten Tierreservoir auftauchte, im Dorf Méliandou im Südosten von Guinea einen zweijährigen Jungen infizierte und von dort auf dem Landweg nach Conakry, Freetown und Monrovia und weiter auf dem Luftweg nach Brüssel, London, Madrid, New York und Dallas gelangte.
Und etwas sehr Ähnliches geschah 1997, als ein bislang obskurer Stamm aviärer Influenzaviren namens H5N1, der zuvor in Entenvögeln und anderem wilden Wassergeflügel zirkuliert hatte, plötzlich begann, große Mengen an Geflügel in Hongkong zu töten, und eine weltweite Panik vor der Vogelgrippe auslöste. Auf die Furcht vor der Vogelgrippe folgte 2003 die Panik vor dem Schweren Akuten Respiratorischen Syndrom (SARS), auf das 2009 wiederum die Schweinegrippe folgte – ein Ausbruch, der in Mexiko begann und Angst vor einer weltweiten Influenza-Pandemie auslöste, die die Lagerbestände antiviraler Arzneimittel schrumpfen ließ und zur Produktion von Impfstoffen im Wert von vielen Milliarden Dollar führte.
Die Schweinegrippe entwickelte sich nicht zu einem „Menschenfresser“ – die Pandemie tötete weltweit weniger Menschen, als gewöhnliche Influenzastämme in den Vereinigten Staaten und Großbritannien in den meisten Jahren an Opfern fordern –, im Frühjahr 2009 wusste das aber noch niemand. Während sich Infektionsfachleute auf das Wiederauftauchen der Vogelgrippe in Südostasien konzentrierten, hatte tatsächlich niemand mit dem Auftauchen eines neuartigen Schweinegrippevirus in Mexiko gerechnet, geschweige denn eines Virus mit einem ähnlichen genetischen Profil wie dem des Erregers der sogenannten Spanischen Grippe von 1918 – einer Pandemie, die Schätzungen zufolge mindestens 50 Millionen Menschen weltweit tötete und zu einem Symbol für ein virales Armageddon geworden ist.


Im 19. Jahrhundert gingen medizinische Experten davon aus, ein besseres Verständnis der sozialen und umweltspezifischen Bedingungen, die zu Infektionen führten, würde sie in die Lage versetzen, Epidemien vorherzusagen und „die Panik zu bannen“, wie es der viktorianische Epidemiologe und Sanitärexperte William Farr 1847 ausdrückte. Als Fortschritte in der Bakteriologie jedoch zur Entwicklung von Impfstoffen (Vakzinen) gegen Typhus, Cholera und Pest führten und die Furcht vor den großen epidemischen Seuchen der Vergangenheit allmählich nachließ, gerieten andere Erkrankungen ins Blickfeld, und neue Ängste entwickelten sich. Ein gutes Beispiel ist die Poliomyelitis, kurz Polio genannt. In dem Monat, bevor die Haiangriffe auf Badende an den Stränden von New Jersey begannen, war in der Nähe des Hafengebiets in South Brooklyn eine Polio-Epidemie ausgebrochen. Mitarbeiter der New Yorker Gesundheitsbehörde beschuldigten sofort italienische Immigranten, die kürzlich aus Neapel eingewandert waren und in einem Bezirk namens „Pigtown“ in höchst beengten, unhygienischen Mietskasernen lebten, für den Ausbruch verantwortlich zu sein. Als sich die Poliofälle häuften und die Zeitungen sich mit herzzerreißenden Berichten über gelähmte oder verstorbene Kinder füllten, führte diese öffentliche Aufmerksamkeit zu einer wahren Hysterie und der Flucht wohlhabender Einwohner aus der Stadt (viele New Yorker machten sich an die Küste von New Jersey auf). Innerhalb von Wochen hatte die Panik auch die Nachbarstaaten an der Ostküste ergriffen, was zu Quarantänemaßnahmen, Reiseverboten und Zwangseinweisungen in Krankenhäuser führte. Diese hysterischen Reaktionen spiegelten zum Teil die damals vorherrschende medizinische Überzeugung wider, dass es sich bei Polio um eine Atemwegserkrankung handele, die durch Husten und Niesen sowie Fliegen weiterverbreitet werde, die sich inmitten von Abfall vermehrten.
In seiner Geschichte der Poliomyelitis beschreibt der Epidemiologe John R. Paul die Epidemie von 1916 als „den Höhepunkt bei den Versuchen zur Durchsetzung von Isolations- und Quarantänemaßnahmen“. Als die Epidemie mit den sinkenden Temperaturen im Dezember 1916 allmählich abklang, zählte man in 26 Bundesstaaten insgesamt 27 000 Fälle und 6000 Tote, was die Epidemie zum größten Polio-Ausbruch der damaligen Zeit machte. Allein in New York wurden 8900 Fälle und 2400 Tote registriert; die Mortalitätsrate betrug also rund eins von vier Kindern.
Die Größenordnung des Ausbruchs ließ Kinderlähmung als ein spezielles amerikanisches Problem erscheinen. Was die meisten Amerikaner aber nicht wussten, war, dass Schweden fünf Jahre zuvor einen ähnlich verheerenden Ausbruch erlebt hatte. Während dieses Ausbruchs hatten schwedische Wissenschaftler wiederholt Polioviren aus dem Dünndarm der Opfer isoliert – ein wichtiger Schritt zur Erklärung der wahren Ursachen der Entstehung (Ätiologie) und Krankheitsverläufe (Pathologie) der Krankheit. Den Schweden gelang es überdies, das Virus in Tieraffen zu kultivieren, die den Absonderungen von asymptomatischen menschlichen Trägern des Virus ausgesetzt worden waren. Das nährte den Verdacht, das Virus könne die Zeit zwischen den einzelnen Ausbrüchen in „gesunden Überträgern“ überdauern. Diese Erkenntnisse wurden jedoch von führenden Polio-Experten ignoriert. Deshalb sollte es bis 1938 dauern, bis Forscher der Yale University die schwedischen Studien aufgriffen und bestätigten, dass asymptomatische Überträger häufig Polioviren mit dem Stuhl ausschieden und die Viren bis zu zehn Wochen in unbehandelten Abwässern überleben konnten.
Wie wir heute wissen, bestand in der Ära vor Entwicklung eines Poliovakzins die größte Hoffnung, Lähmungserscheinungen zu vermeiden, darin, bereits in früher Kindheit eine immunisierende Infektion durchzumachen, denn dann ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass Polio schwere Komplikationen hervorruft. So gesehen war Dreck ein Freund der Mütter, und man konnte es als rationale Strategie ansehen, Babys mit poliokontaminiertem Wasser und Lebensmitteln in Kontakt zu bringen. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert waren die meisten Kinder aus Nachbarschaften, in denen arme Einwanderer lebten, auf genau diese Weise immun gegen den Erreger geworden. Das höchste Risiko, die paralytische Form der Erkrankung zu entwickeln, trugen die Kinder aus gepflegten Mittelklassewohngegenden – Menschen wie Franklin Delano Roosevelt, der künftige 32. Präsident der Vereinigten Staaten, der dem Polio-Erreger in seinen Teenagerjahren entkam, nur um sich 1921 als 39-Jähriger bei einem Urlaub auf Campobello Island, New Brunswick, mit dem Virus zu infizieren.


In diesem Buch geht es darum, wie wachsendes Wissen über Viren und andere Krankheitserreger (Pathogene) medizinische Forscher blind für diese ökologischen und immunologischen Erkenntnisse sowie für die Epidemie, die direkt um die Ecke lauert, machen kann. Seit der deutsche Bakteriologe Robert Koch und sein französischer Kollege Louis Pasteur in den 1880er-Jahren die „Keimtheorie“ von Krankheiten aus der Taufe gehoben hatten, indem sie zeigten, dass Tuberkulose eine bakterielle Infektion war, und Impfstoffe gegen Anthrax (Milzbrand), Cholera und Tollwut entwickelten, haben Wissenschaftler – und die Beamten des öffentlichen Gesundheitswesens, deren Arbeit auf den Methoden der Forscher fußten – davon geträumt, alle pathogenen Mikroorganismen zu besiegen. Aber während die medizinische Mikrobiologie und damit verknüpfte Gebiete, wie Epidemiologie, Parasitologie, Zoologie und in letzter Zeit auch Molekularbiologie, neue Möglichkeiten schufen, die Übertragung und Ausbreitung neuartiger Pathogene zu verstehen und sie für Kliniker sichtbar zu machen, stellten sich diese wissenschaftlichen Erkenntnisse und Methoden allzu oft als nicht ausreichend heraus. Das liegt nicht einfach nur daran, dass Mikroorganismen ständig mutieren und sich weiterentwickeln, was unsere Fähigkeit überfordert, mit ihrer sich pausenlos wandelnden Genetik und ihren Übertragungsmustern Schritt zu halten, wie manchmal argumentiert wird. Tatsächlich liegt es auch daran, dass Medizinforscher dazu neigen, Gefangene bestimmter Paradigmen und Theorien zu Krankheitsursachen zu werden, was sie blind für die Gefahren bekannter und unbekannter Pathogene macht.
Nehmen wir zum Beispiel Influenza, das Thema des ersten Kapitels. Als in der Endphase des Ersten Weltkriegs, im Sommer 1918, die Spanische Grippe ausbrach, nahmen die meisten Ärzte an, sie werde sich ähnlich wie vorangegangene Grippe-Epidemien verhalten, und taten sie als lediglich lästig ab. Nur wenige glaubten, der Erreger könne eine tödliche Bedrohung für junge Erwachsene darstellen, noch viel weniger für Soldaten auf dem Marsch zu den alliierten Linien in Nordfrankreich. Schließlich hatte niemand Geringerer als Kochs Schützling Richard Pfeiffer die Ärzteschaft darüber informiert, dass Influenza von einem winzigen, gramnegativen Bakterium übertragen werde und es nur eine Frage der Zeit sei, bis in deutschen Labormethoden ausgebildete Bakteriologen einen Impfstoff gegen den Influenza-Bazillus liefern würden, genauso wie es ihn schon gegen Cholera, Diphtherie und Typhus gab. Aber Pfeiffer und all diejenigen, die auf seine experimentellen Methoden vertrauten, irrten sich: Der Erreger der Influenza ist kein Bakterium, sondern ein Virus, zu klein, um durch die Linse eines normalen Lichtmikroskops gesehen zu werden. Überdies passierte das Virus problemlos die Porzellanfilter, die damals verwendet wurden, um Bakterien zu isolieren, wie man sie häufig im Nasen- und Rachenraum von Grippekranken fand. Auch wenn einige britische und amerikanische Forscher bereits früh den Verdacht hegten, der Influenza-Erreger könne ein „Filterpassierer“ sein, sollte es viele Jahre dauern, bis Pfeiffers Fehleinschätzung korrigiert und die virale Ätiologie des Influenza-Erregers deutlich wurde. In der Zwischenzeit wurde viel Forschungszeit verschwendet, und Millionen junger Menschen starben.
Es wäre jedoch ein Irrtum zu glauben, dass es ausreicht, die Identität eines Erregers und die Ätiologie einer Krankheit zu kennen, um eine Epidemie unter Kontrolle zu bringen, denn auch wenn die Präsenz eines Infektionserregers eine notwendige Bedingung für Krankheit ist, ist sie selten hinreichend. Mikroorganismen interagieren auf verschiedene Weise mit unserem Immunsystem, und ein Erreger, der bei einer Person zu einer Erkrankung führt, lässt eine andere vielleicht unbeeinflusst oder löst nur leichte Symptome aus. Tatsächlich können viele bakterielle und virale Infektionen jahrzehntelang in Zellen und Geweben „schlafen“, bevor sie durch äußere Ereignisse oder Prozesse (re-)aktiviert werden, ob durch eine Koinfektion mit anderen Mikroorganismen, durch einen plötzlichen systemischen Schock aufgrund eines äußeren Stressors oder durch ein Nachlassen der Immunabwehr im höheren Alter. Noch wichtiger ist aber: Indem wir uns auf spezifische mikrobielle Prädatoren konzentrieren, riskieren wir, das größere Ganze aus dem Blick zu verlieren. Beispielsweise gehört das Ebolavirus vielleicht zu den tödlichsten Erregern, die uns bekannt sind, doch nur wenn tropische Regenwälder abgeholzt und die Fledermäuse, die vermutlich das Reservoir des Virus zwischen den Epidemien bilden, aus ihren Unterschlüpfen vertrieben werden oder wenn Jäger Schimpansen töten und zerlegen, um sie als „Bushmeat“ (Fleisch von Wildtieren) zu verkaufen, kommt es dazu, dass Ebola auf Menschen überspringt und sich verbreitet. Und nur wenn die via Blut übertragene Krankheit durch schlechte Krankenhaushygiene weiteren Schub erhält, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie sich weiter ausbreitet und schließlich auch urbane Regionen erreicht. Unter solchen Umständen lohnt es, sich an das zu erinnern, was George Bernard Shaw 1906 in Des Doktors Dilemma ausdrückte: „Es war auch klar, dass die charakteristische Mikrobe einer Krankheit ebenso gut ein Symptom wie eine Ursache sein kann.“ Wenn man Shaws Axiom aktualisiert, könnte man in der Tat sagen, dass Infektionskrankheiten fast immer breiter gefächerte umweltbedingte und soziale Ursachen haben. Solange wir die ökologischen, immunologischen und verhaltensbiologischen Faktoren, die das Auftauchen und die Verbreitung neuartiger Pathogene beeinflussen, nicht mitberücksichtigen, wird unser Wissen um solche Erreger und ihre Verbindungen zu Krankheiten zwangsläufig bruchstückhaft und unvollständig bleiben.
Um fair zu sein, hat es immer medizinische Forscher gegeben, die bereit waren, einen nuancierteren Blick auf unsere komplexen Wechselbeziehungen mit Mikroorganismen zu werfen. Beispielsweise wetterte René Dubos, Forscher am Rockefeller Institute, auf dem Höhepunkt der Antibiotikarevolution 1959 heftig gegen kurzsichtige technische Lösungen medizinischer Probleme. Zu einer Zeit, als die meisten seiner Kollegen die Überwindung von Infektionskrankheiten für selbstverständlich hielten und glaubten, die Ausrottung der häufigen bakteriellen Infektionsursachen stehe kurz bevor, warnte Dubos, der 1939 das erste kommerzielle Antibiotikum isoliert hatte und wusste, wovon er sprach, vor der allgemeinen medizinischen Hybris. Er verglich die Menschheit mit dem „Zauberlehrling“ und mahnte, die medizinische Wissenschaft habe „potenziell zerstörerische Kräfte“ in Gang gesetzt, die eines Tages den Traum von einem medizinischen Utopia zunichtemachen könnten. „Der moderne Mensch glaubt, dass er sich zum fast völligen Herrscher der Naturkräfte aufgeschwungen habe, die seine Evolution in der Vergangenheit geformt haben, und dass er nun sein eigenes biologisches und kulturelles Schicksal kontrollieren könne“, schrieb Dubos. „Aber das könnte sich als Illusion erweisen. Wie alle anderen Lebewesen ist er Teil eines ungeheuer komplexen ökologischen Systems und durch unzählige Verbindungen mit all seinen Komponenten verknüpft.“ Ein vollständiges Freisein von Krankheiten, so Dubos, sei eine „Fata Morgana“, und die Natur werde „zu einem unvorhersehbaren Zeitpunkt und in unvorhersehbarer Weise zurückschlagen“.
Aber obwohl Dubos’ Schriften in den 1960er-Jahren in der amerikanischen Öffentlichkeit ungeheuer populär waren, wurden seine Warnungen vor einem kommenden Krankheits-Armageddon von seinen wissenschaftlichen Kollegen weitgehend ignoriert. Daher war die medizinische Welt auch völlig überrascht, als die Centers for Disease Control and Prevention (CDC, eine Behörde des US-Gesundheitsministeriums, die sich auf Infektionskrankheiten konzentriert) kurz nach Dubos’ Tod 1982 das Akronym AIDS für eine ungewöhnliche Autoimmunkrankheit prägten, die plötzlich in der Homosexuellengemeinschaft in Los Angeles aufgetaucht war und sich nun auf andere Teile der Bevölkerung auszubreiten begann. Aber die CDC hätten eigentlich nicht überrascht sein sollen, denn etwas ganz Ähnliches war erst acht Jahre zuvor geschehen: Damals hatte der Ausbruch einer untypischen Lungenentzündung (Pneumonie) bei einer Gruppe von Kriegsveteranen, die an einem Treffen der American Legion in einem Luxushotel in Philadelphia teilgenommen hatten, eine allgemeine öffentliche Hysterie ausgelöst. Epidemiologen bemühten sich verzweifelt, den „Philly Killer“ zu identifizieren. Zunächst verblüffte der Ausbruch die Infektionsdetektive der CDC, und erst einem Mikrobiologen gelang es, den Erreger, Legionella pneumophila, zu identifizieren, ein winziges Bakterium, das in wässriger Umgebung gedeiht, so auch in den Kühltürmen einer Klimaanlage des Hotels. In diesem Jahr (1976) kam es nicht nur zu einer Panik aufgrund der Legionärskrankheit, sondern auch wegen des plötzlichen Auftretens eines neuen Schweinegrippestamms auf einer Basis der US-Armee in New Jersey – ein Ereignis, auf das die CDC und die Mitarbeiter der Gesundheitsbehörden gleichermaßen unvorbereitet waren und das schließlich zu der unnötigen Impfung von Millionen Amerikanern führen sollte. Und etwas ganz Ähnliches wiederholte sich 2003, als ein älterer chinesischer Professor für Nephrologie im Metropole Hotel in Hongkong eincheckte und damit für grenzüberschreitende Ausbrüche einer schweren Atemwegserkrankung sorgte, die anfangs dem Vogelgrippevirus H5N1 zugeschrieben wurde, doch, wie wir inzwischen wissen, von einem neuartigen, SARS-ähnlichen Coronavirus ausgelöst wurde. In diesem Fall wurde eine Pandemie durch raffinierte mikrobiologische Detektivarbeit und eine beispielhafte Kooperation zwischen Netzwerken von Wissenschaftlern verhütet, die ihre Informationen miteinander teilten, aber es war eine knappe Sache, und seitdem gab es noch mehrere weitere unerwartete – und anfangs fehldiagnostizierte – kritische Infektionsereignisse.
In diesem Buch geht es um diese Ereignisse und Prozesse und um die Gründe, warum sie uns immer wieder überraschen, obwohl wir uns doch nach Kräften bemühen, sie vorherzusagen und vorbereitet zu sein. Einige dieser Geschichten, wie die Panik im Rahmen der Ebola-Epidemie 2016–18 oder die AIDS-Hysterie in den 1980er-Jahren, werden den Lesern bekannt sein; andere, wie der Ausbruch einer Pneumonie-Seuche im mexikanischen Viertel von Los Angeles 1924 oder die große Psittakose-Panik, die ein paar Monate nach dem Wall-Street-Crash von 1929 über die Vereinigten Staaten fegte, wohl weniger. Aber ob vertraut oder nicht – all diese Epidemien zeigen, wie rasch das anerkannte medizinische Wissen durch das Auftauchen neuer Pathogene auf den Kopf gestellt werden kann und wie ungewöhnlich erfolgreich solche Epidemien beim Verbreiten von Panik, Hysterie und Furcht sind, solange es keine Laborergebnisse, effektiven Impfstoffe und wirksamen Arzneimittel gibt.
Statt die Panik zu bändigen, können besseres medizinisches Wissen und eine bessere Überwachung von Infektionskrankheiten aber auch neue Ängste schüren und Menschen übersensibel auf epidemische Gefahren reagieren lassen, deren sie sich zuvor gar nicht bewusst waren. Genauso, wie Rettungsschwimmer das Meer nach bedrohlichen Rückenflossen absuchen, um Badende warnen zu können, durchsucht die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nämlich routinemäßig das Internet nach Berichten über ungewöhnliche Ausbrüche und testet Mikroorganismen auf Mutationen, die das Auftauchen des nächsten Pandemievirus signalisieren könnten. Bis zu einem gewissen Grad ist diese Hypervigilanz sinnvoll, aber der Preis, den wir zahlen, ist ein Zustand ständiger latenter Angst vor dem nächsten „Big One“, der nächsten großen Pandemie. Die Frage ist nicht, ob es zur Apokalypse kommt, hören wir immer wieder, sondern wann. In dieser fiebrigen Atmosphäre ist es nicht überraschend, dass sich Experten für öffentliche Gesundheit manchmal irren und den Panikknopf drücken, wenn tatsächlich gar kein Anlass zur Panik besteht. Oder sie verstehen die Bedrohung, wie im Fall der westafrikanischen Ebola-Epidemie, völlig falsch.
Um es deutlich zu sagen: Die Medien sind Teil dieser Prozesse – schließlich verkauft sich nichts so gut wie Furcht –, aber auch wenn Nachrichtenkanäle, die 24 Stunden lang sieben Tage die Woche senden, und die sozialen Medien dazu beitragen, Panik, Hysterie und die Stigmatisierung zu schüren, die mit dem Ausbruch von Infektionskrankheiten einhergehen, sind Journalisten und Blogger meistenteils lediglich Boten. Ich argumentiere, dass die medizinische Wissenschaft – und insbesondere die Epidemiologie –, die uns auf neue Infektionsquellen aufmerksam macht und bestimmte Verhaltensweisen als „riskant“ bezeichnet, letztendlich auch die Quelle dieser irrationalen und oft schädlichen Urteile ist. Niemand bestreitet, dass ein besseres epidemiologisches Verständnis für die Ursachen von Infektionskrankheiten zu großen Fortschritten geführt hat, was das Vorbereitetsein auf Epidemien angeht, oder dass sich unsere Gesundheit und unser Wohlergehen dank technischer Fortschritte in der Medizin immens verbessert haben; dennoch sollten wir nicht vergessen, dass aus diesem Wissen ständig neue Sorgen und Ängste erwachsen.
Jede in diesem Buch diskutierte Epidemie illustriert einen anderen Aspekt dieses Prozesses und zeigt, wie der Ausbruch jedes Mal das Vertrauen in das vorherrschende medizinische und wissenschaftliche Paradigma untergrub, was die Gefahr von blindem Vertrauen in bestimmte Technologien auf Kosten eines umfassenderen ökologischen Verständnisses für die Ursachen von Krankheiten unterstreicht. Dabei stütze ich mich auf soziologische und philosophische Einsichten in die Struktur naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und argumentiere, dass sich das, was vor dem Auftauchen (Emergenz) der neuartigen Infektion „bekannt“ war – dass Kühltürme und Klimaanlagen kein Risiko für Hotelgäste und Krankenhauspatienten darstellen, dass Ebola nicht in Westafrika zirkuliert und keine Großstadt erreichen kann, dass Zika eine relativ harmlose, von Stechmücken übertragene Krankheit ist –, als falsch herausstellte, und ich erkläre, wie all diese Epidemien in der Rückschau eine intensive Gewissenserforschung über „bekannte Bekannte“ und „unbekannte Unbekannte“ auslösten und was Wissenschaftler und Gesundheitsexperten tun sollten, um solche erkenntnistheoretisch blinden Flecken in Zukunft zu vermeiden.
Die in diesem Buch diskutierten Epidemien unterstreichen überdies die Schlüsselrolle, die umweltbedingte, soziale und kulturelle Faktoren dabei spielen, die Prävalenz- und Emergenzmuster einer Infektion zu verändern. Eingedenk von Dubos’ Erkenntnissen über die Ökologie von Pathogenen argumentiere ich, dass sich die Emergenz von Krankheiten in den meisten Fällen auf Störungen des ökologischen Gleichgewichts oder Veränderungen der Umwelt zurückführen lässt, in der der Erreger gewöhnlich heimisch ist. Das gilt besonders für Viren tierischen Ursprungs oder zoonotische Viren (die von Tier zu Mensch und umgekehrt übertragen werden können) wie das Ebolavirus, aber auch für kommensale (schmarotzende, aber nicht schädigende) Bakterien wie Streptokokken, die Hauptursache für ambulant erworbene Pneumonie. Der natürliche Wirt des Ebolavirus ist vermutlich ein Flughund. Aber obwohl Antikörper gegen das Ebolavirus in verschiedenen in Afrika heimischen Fledertierarten gefunden wurden, sind aus ihnen noch nie vermehrungsfähige Viren isoliert worden. Das liegt höchstwahrscheinlich daran, dass das Ebolavirus, wie andere Viren, die sich im Lauf einer langen gemeinsamen Evolution an ihren Wirt angepasst haben, vom Immunsystem der Fledertiere sehr rasch aus dem Blutstrom eliminiert wird, aber vermutlich nicht, bevor es auf ein anderes Fledertier übertragen wurde. Das führt dazu, dass das Virus ständig in Fledertierpopulationen zirkuliert, ohne dass Virus oder Wirt geschädigt werden. Etwas Ähnliches geschieht bei Viren, die sich im Lauf ihrer Evolution ausschließlich auf den Befall von Menschen spezialisiert haben, wie Masern- und Polioviren: Eine Erstinfektion in der Kindheit führt gewöhnlich nur zu einem leichten Verlauf der Erkrankung; anschließend erholen sich die Betroffenen und sind lebenslang immun. Aber von Zeit zu Zeit wird dieser immunologische Gleichgewichtszustand gestört. Das kann natürliche Ursachen haben, zum Beispiel wenn eine genügend große Anzahl von Personen in der Kindheit nicht erkrankt, sodass die Herdenimmunität schwindet, oder wenn das Virus plötzlich mutiert – wie es beim Influenzavirus häufig vorkommt – und es zur Zirkulation eines neuen Virenstamms kommt, gegen den die Population kaum oder gar keine Immunität besitzt. Aber so etwas kann auch passieren, wenn wir uns unabsichtlich zwischen das Virus und seinen natürlichen Wirt stellen. Das war vermutlich beim Ebolavirus 2014 der Fall, als Kinder in Méliandou begannen, Angola-Bulldoggfledermäuse zu necken, die in einem hohlen Baum in der Mitte des Dorfes lebten. Und vermutlich löste ein sehr ähnliches Ereignis in den 1950er-Jahren den Spillover („Übersprung“) des HI-Vorläufervirus von Schimpansen auf Menschen im Kongo aus. Im Fall von AIDS besteht kaum Zweifel, dass die Einführung des Dampfschiffsverkehrs auf dem Kongo um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und der Bau neuer Straßen und Schienenwege in der Kolonialzeit eine wichtige Rolle bei der Verbreitung des Virus spielten, ebenso die Gier von Holzfällern und Holzfirmen. Aber auch soziale und kulturelle Faktoren hatten Einfluss: Wäre es nicht allgemein üblich gewesen, Bushmeat zu verzehren, und hätte die Prostitution rund um die Lager der Schienen- und Holzarbeiter nicht derart floriert, hätte sich das Virus wahrscheinlich nicht so weit verbreitet und so rasch vervielfältigt. Und hätte es nicht so tief verwurzelte kulturelle Überzeugungen und Gepflogenheiten in Westafrika gegeben – vor allem das Festhalten der Einheimischen an traditionellen Begräbnisriten und ihr Misstrauen gegenüber wissenschaftlicher westlicher Medizin –, hätte sich das Ebolavirus wohl kaum zu einer großen regionalen Epidemie entwickelt, geschweige denn zu einer globalen Gesundheitskrise.
Die vielleicht wichtigste Erkenntnis, die uns die Medizingeschichte vermitteln kann, ist jedoch die lange und enge Verbindung zwischen Epidemien und Krieg. Spätestens seit der attische Staatsmann Perikles den Athenern befahl, die spartanische Belagerung ihrer Hafenstadt 430 v. Chr. „auszusitzen“, gelten Kriege als Vorläufer tödlicher Ausbrüche von Infektionskrankheiten (was zweifellos auch 2014 in Westafrika der Fall war, wo ein jahrzehntelanger Bürgerkrieg und bewaffnete Konflikte dazu führten, dass die Gesundheitssysteme in Liberia und Sierra Leone am Boden lagen und völlig unzureichend ausgestattet waren). Auch wenn der Erreger, der für die Seuche in Athen verantwortlich war, niemals identifiziert wurde und vielleicht auch niemals identifiziert werden wird (zu den Kandidaten zählen unter anderem Anthrax, Pocken, Typhus und Malaria), bestehen kaum Zweifel, dass der entscheidende Faktor die drangvolle Enge war, die hinter den Langen Mauern der griechischen Stadt herrschte, denn dort suchten bis zu 300 000 Athener und Flüchtlinge aus ganz Attika Schutz. Dieses erzwungene Zusammenleben auf engstem Raum schuf ideale Bedingungen für die Verbreitung des Virus – wenn es denn ein Virus war – und verwandelte Athen in ein Leichenhaus (wie Thukydides schreibt, gab es keine Häuser, um die Flüchtlinge aus dem Umland zu empfangen, daher „mußten sie in der heißen Jahreszeit des Jahres in stickigen Kabinen untergebracht werden, wo die Sterblichkeit ungehemmt wütete“ ). Das führte dazu, dass Athen nach der dritten Infektionswelle um 426 v. Chr. ein Viertel bis Drittel seiner Bevölkerung verloren hatte.
Im Fall der Attischen Seuche verschonte die Krankheit aus ungeklärten Gründen die Spartaner und breitete sich offenbar auch nicht weit über die Grenzen Attikas aus. Doch vor 2000 Jahren waren Städte und Dörfer stärker isoliert, und es gab weitaus weniger Ortsbewegung von Menschen und damit von Pathogenen zwischen Ländern und Kontinenten. Leider ist das heute nicht mehr der Fall. Dank des weltweiten Handels und Reiseverkehrs überqueren neue Viren und ihre Überträger (Vektoren) ständig Grenzen und Zeitzonen, und an jedem Ort treffen sie auf eine andere Mischung von ökologischen und immunologischen Bedingungen. Das galt ganz besonders für den Ersten Weltkrieg: Damals boten das Zusammentreffen von zigtausend jungen amerikanischen Rekruten in Ausbildungslagern an der Ostküste der Vereinigten Staaten sowie ihre anschließende Überfahrt nach Europa und wieder zurück ideale Bedingungen für den bislang tödlichsten Ausbruch einer Pandemie in der menschlichen Geschichte.

Wirtschaft und Gesellschaft nach der Corona-Krise

Nominiert für den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis 2020

Kleine Maßnahme, große Wirkung – viele Fragen!

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Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Während der Corona-Pandemie beobachtet die ganze Welt die fieberhafte Forschung nach einem erlösenden Impfstoff: Kann er überhaupt sicher sein nach so kurzer Zeit? Viele Impfstoffe begleiten die meisten von uns schon seit der frühen Kindheit und dennoch wissen wir kaum etwas darüber: Seit wann gibt es sie? Wie funktionieren sie in unserem Körper? Und welche Risiken bergen sie? Am Ende steht oft eine Entscheidung: impfen oder nicht impfen? Dieses Buch gibt Antworten auf diese und andere wichtige Fragen.

Einleitung

Als ich vom Piper-Verlag gefragt wurde, ob ich ein Buch über das Impfen schreiben wolle, habe ich als jemand, in dessen Leben Impfungen immer eine herausragende Rolle spielten, gerne zugesagt.

Meine Eltern waren beide Ärzte, und schon als Kind erfuhr ich, dass meine Großmutter im Kindbett an der Influenza gestorben war. Infektionen haben mich seitdem eigentlich immer sehr beschäftigt, zumal ich kaum eine ausgelassen habe in dieser Zeit, in der es fast noch keine Möglichkeit eines Schutzes durch Impfung gab. Verstärkt wurde das durch die Tätigkeit meiner Mutter auf einer Infektionsstation während eines Ausbruchs an Kinderlähmung, die ja durchaus nicht nur Kinder befiel. Immer wieder sprach sie mit meinem Vater darüber, dass wieder neue „Eiserne Lungen“ gelaufen seien (diese frühe Möglichkeit künstlicher Beatmung kennt heute kaum noch jemand), als sie am Morgen ihren Dienst angetreten habe.

Zuvor hatte meine Mutter eine Zeit lang im „Amerika-Haus“ gearbeitet und daher noch gute Kontakte in die USA. 1955 bekam sie auf ihren Wunsch hin zwei Portionen eines neu entwickelten Impfstoffs gegen Polio. Und so wurde ich zusammen mit meiner kleinen Schwester auf unserem Küchentisch (der heute noch in meiner Küche steht) mit dem von Jonas Salk entwickelten ersten Impfstoff gegen Polio immunisiert. Ich denke, dass wir sicher zu den ersten Kindern in Deutschland gehörten, die damals gegen diese so schlimme Krankheit geimpft wurden. Heute befindet sich das 1988 von der WHO gestartete Programm zur Ausrottung der Polio im „Endgame“, nachdem im August 2020 feierlich erklärt werden konnte, dass nun auch ganz Afrika frei von Polio-Wildviren sei. Nur in Afghanistan und Pakistan gibt es heute noch wenige Erkrankungen durch Polio-Wildvirus, durch das zuvor in aller Welt unzählige Menschen gelähmt wurden oder starben.

Jahre später begann ich dann wie selbstverständlich mein Medizinstudium. Doch schon wenige Semester später plagten mich Zweifel, ob das wirklich eine gute Idee sei. Ich absolvierte gerade in der Uniklinik in Gießen mein Praktikum in der Krankenpflege, als ein kleines Mädchen eingeliefert wurde. Es lebte bei seinen Großeltern auf dem Land und hatte sich beim Schaukeln den großen Zeh geklemmt. Etwa 14 Tage später ging es der Kleinen gar nicht gut, und der Hausarzt vermutete einen grippalen Infekt. Dann kam das Wochenende, dem Mädchen ging es noch schlechter, aber die Großeltern wollten den Hausarzt an seinem wohlverdienten Wochenende nicht stören. Doch am Sonntag konnte sie den Mund nicht mehr aufmachen. Vom Kreiskrankenhaus wurde sie sofort zu uns in die Uniklinik gebracht. Unterwegs hatte sie den ersten Atemstillstand, den die Rettungssanitäter zum Glück überbrücken konnten. Die Kleine war an Tetanus erkrankt – Wundstarrkrampf.

Sie wurde in einen künstlichen Schlaf versetzt, bekam ein von Curare – einem Pfeilgift, das die indigenen Völker Südamerikas zum Jagen nutzen – abgeleitetes Medikament zur Muskelerschlaffung und musste künstlich beatmet werden. Knapp vier Wochen lang habe ich gefühlt Tag und Nacht an ihrem Bettchen gesessen, sie versorgt und gepflegt und nach dieser Zeit erleben dürfen, wie sie wieder aufgeweckt wurde und mit Tränen in den Augen „Mama“ zu mir sagte. Das kleine Mädchen hatte überlebt, und diese Erfahrung hat mich so berührt, dass ich beschloss, mein Medizinstudium fortzusetzen.

Ich wurde Arzt für Virologie und Infektionsepidemiologie und sah das Leid, das durch Rötelninfektionen in der Schwangerschaft verursacht wurde; das furchtbare Sterben von Kindern an SSPE, einer Spätfolge von Masern, die Jahre nach der Erkrankung das Gehirn zersetzte; die Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen durch eine chronische Hepatitis B und manch anderes trauriges Schicksal, das wir heute durch Schutzimpfungen vermeiden können.

Als Leiter der Abteilung für Umwelt- und Infektionshygiene am Gesundheitsamt einer Großstadt (Dienstbezeichnung: Seuchenreferent) erlebte ich noch einen letzten schweren Ausbruch von Diphtherie, der zu Panik in der Stadt führte. Nur das Gesundheitsamt impfte damals gegen diese Krankheit, und der Andrang war so groß, dass die Geimpften von der Feuerwehr durch die Fenster des Gebäudes ausgeschleust werden mussten. Es war eine Zeit, in der Schutzimpfungen von den Krankenkassen nicht bezahlt werden durften und daher hauptsächlich direkt in den Gesundheitsämtern im Rahmen von öffentlichen Terminen erfolgten. Ich erinnere mich an die vielen Impfungen gegen Kinderlähmung und Röteln und auch daran, wie sehr man sich schon damals eine Impfung gegen AIDS gewünscht hat.

23 Jahre war ich Mitglied der STIKO. Auch dort sah ich immer wieder, wie segensreich Impfungen sind, wie sorgfältig und mit welch hohem wissenschaftlichen Standard die Empfehlungen der Kommission vorbereitet und beschlossen werden.

 

Ich hoffe, dass ich in diesem Band zeigen kann, wie wertvoll Schutzimpfungen sind und wie dankbar wir für diese Möglichkeit einer effektiven und sehr sicheren Prävention schwerer und ohne Impfungen oftmals tödlicher Krankheiten sein können – und sollten.


1. Wie funktioniert unsere Abwehr, das Immunsystem?

Wir Menschen, aber auch alle Tiere, werden von unzähligen Mikroben als Lebensraum genutzt. Einige davon sind für uns einfach nur harmlos, andere sogar nützlich. Diese haben im Verlauf der Evolution eine Entwicklung vollzogen, die man als „Symbiose“ bezeichnet. Das bedeutet, sie profitieren von uns, aber wir auch von ihnen. Die Gesamtheit dieser eher nützlichen Mikroorganismen wird als „Mikrobiom“ bezeichnet. Und man geht davon aus, dass in und auf uns mindestens noch mal so viele Mikroorganismen leben, wie unser Körper Zellen hat.

Mit diesen fast 40 Billionen Mikroorganismen befasst sich dieser Band allerdings nicht, sondern mit den schädlichen Bakterien, Pilzen und Viren, die bedrohliche Erkrankungen verursachen können. Und da trifft es sich gut, dass Menschen und Tiere im Laufe der Evolution zum Schutz ein „Abwehrsystem“ entwickelt haben, das Immunsystem.

Das Wort „immun“ kommt aus dem Lateinischen. Da bedeutet es „unberührt, frei“. Wir kennen das auch z. B. von unseren Abgeordneten, deren Immunität vom Bundes- oder Landtag aufgehoben werden muss, bevor sie vor ein Gericht gestellt werden dürfen. In der Medizin bedeutet „immun“ so viel wie „geschützt“. Dieser Schutz vor schädlichen Mikroorganismen, in gewissem Maße aber z. B. auch vor bösartig gewordenen Krebszellen, ist dreistufig.

Die erste Hürde gegen das Eindringen von Mikroben bilden eine Reihe von Barrieren, die wie ein natürlicher Schutzwall wirken. Dazu gehören unter anderem die äußere Haut mit ihrem leicht sauren Schutzmantel, die Magenschleimhaut mit der starken Magensäure, die Schleimhäute von Nase und Rachen mit den Flimmerhärchen, die Fremdkörper wieder hinausbewegen, sowie Eiweißstoffe, sogenannte Enzyme, in der Tränenflüssigkeit und im Speichel, die die Zellwand mancher Bakterien zerstören können.

Beim eigentlichen Immunsystem wird ein angeborener Teil (zweite Stufe der Abwehr) von einem erworbenen (dritte und komplexeste Stufe) unterschieden. Die angeborene oder unspezifische Immunität steht mit ihren Zellen und löslichen Enzymen gleichsam bereit, um eingedrungene Schädlinge abzutöten. Das geschieht hauptsächlich durch sogenannte „Fresszellen“, zu denen die sich aus bestimmten Blutzellen, den „Monozyten“, entwickelnden „Makrophagen“ sowie die „neutrophilen Granulozyten“ gehören, die etwas mehr als die Hälfte der „weißen Blutkörperchen“ (Leukozyten) überhaupt ausmachen. Diese Fresszellen können schädliche Mikroorganismen aufnehmen und „verdauen“. Und die „Körnchen“ (Granula) der Granulozyten enthalten chemische Stoffe, die Mikroorganismen ebenfalls abtöten.

Die Riesenmenge an neutrophilen Granulozyten (bei einem Erwachsenen ca. 100 Milliarden pro Tag!) entsteht im Knochenmark. Sie wandern ins Blut und zirkulieren mit dem Blutstrom. Wenn sie ein Signal erhalten, dass irgendwo schädliche Mikroorganismen in den Körper eindringen, verlassen sie an der jeweiligen Stelle den Blutstrom und wandern ins Gewebe, wo sie gemeinsam mit ebenfalls eingewanderten Makrophagen eine „Entzündung“ hervorrufen, die sich durch Rötung, Schwellung, Überwärmung, Schmerzen und Funktionseinschränkungen bemerkbar macht. Der sich dabei oft bildende „Eiter“ ist nichts anderes als eine Ansammlung von Leukozyten und bekämpften Bakterien, die durch bestimmte Enzyme mehr oder weniger verflüssigt werden.

Im Gegensatz zum angeborenen Immunsystem, das ab dem Zeitpunkt unserer Geburt direkt mit der Arbeit beginnt, wenn das Eindringen von Krankheitserregern signalisiert wird, braucht die dritte Stufe der Abwehr, die erworbene Immunität, mehr Zeit. Die wichtigsten Zellen dieses Systems sind die Lymphozyten, die ebenfalls zu den Leukozyten gehören. Die Lymphozyten werden außer im Knochenmark noch in den lymphatischen Organen gebildet (Lymphknoten, Milz, Thymusdrüse, Mandeln und wohl auch Blinddarm). Im Knochenmark (engl. bone marrow) werden die Lymphozyten zu B-Zellen, in der Thymusdrüse zu T-Zellen. Die Lymphozyten müssen während ihrer Entwicklung „lernen“, welche Strukturen zu unserem Körper selbst gehören, damit sie diese nicht angreifen, sondern in Ruhe lassen. Auch das geschieht z. B. in der Thymusdrüse. Wenn diese Unterscheidung zwischen „selbst“ und „fremd“ nicht richtig funktioniert (was nur selten der Fall ist), kann es dazu kommen, dass die Lymphozyten fälschlich körpereigene Strukturen angreifen. Man spricht dann von „Autoimmunerkrankungen“.

Wenn die B-Zellen ein Fremdeiweiß (Antigen) erkennen, teilen sie sich und wandeln sich in sogenannte Plasmazellen um, die Antikörper produzieren, mit denen die jeweiligen Antigene unschädlich gemacht werden können. Einige werden auch in „Gedächtniszellen“ umgewandelt, die lange überleben und schnell wieder reagieren können, wenn das gleiche Antigen erneut festgestellt wird.

Die Rolle der T-Lymphozyten ist komplizierter und umfangreicher. Sie sind vor allem für intrazelluläre Antigene „zuständig“. Wenn ein T-Lymphozyt erkennt, dass eine Zelle z. B. durch ein Virus infiziert oder durch eine Mutation verändert ist, kann er diese zerstören (Killerzelle) oder zusätzliche Immunzellen anlocken (Helferzelle). Regulatorische T-Zellen verhindern überschießende Angriffe des Immunsystems auf körpereigene Strukturen. Und andere T-Zellen wandeln sich in T-Gedächtniszellen um und sorgen so ebenfalls für eine langfristige Immunität.

Das Virus, das uns alle bedroht

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Das Virus, das uns alle bedroht
Eine weltweite Pandemie, Zehntausende Todesopfer, Ausgangsbeschränkungen und eingeschränkte Grundrechte, ein internationaler Notstand, ausgerufen von der Weltgesundheitsorganisation: Das Coronavirus SARS-CoV-2 hält die Welt im Griff – mit unabsehbaren Folgen. Wir alle haben drängende Fragen:

  • Wie gefährlich ist das neuartige Coronavirus wirklich?
  • Wie kann man sich schützen?
  • Wann wird die Forschung Therapie- und Impfmöglichkeiten gefunden haben?
  • Was ist die richtige Strategie, um Neuinfektionen unter Kontrolle zu halten?
  • Welche Maßnahmen retten unsere Unternehmen und unsere Arbeitsplätze?
  • Was kann jeder Einzelne jetzt tun?

Dieses Buch beantwortet die wichtigsten Fragen zu Gesundheit, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik in Zeiten von Corona.

Einleitung

Dieses Buch ist im Laufe des März 2020 entstanden. Als die ersten Zeilen geschrieben wurden, war COVID-19 für viele Menschen noch ein vor allem asiatisches Problem. Zum 1. März hatte die Zahl an bestätigten Infektionen in Deutschland gerade die 100 überschritten. Viele von uns haben dieses Virus wohl zunächst unterschätzt und wurden dann von den Ereignissen und Bildern überrollt. Während die letzten Kapitel verfasst wurden, überschritt die Zahl der weltweit registrierten Infektionen gerade die Millionenmarke. Epizentrum war nicht mehr die Region rund um Wuhan, sondern New York.

Im Strom der Nachrichtenticker sollen diese 33 Antworten auf drängende Fragen Orientierung vermitteln, wichtige Hintergründe erklären und Zusammenhänge deuten, um diese beispiellose Krise besser zu verstehen. Immer wieder hilft dabei ein Blick in die Medizingeschichte. Wenn COVID-19 selbst dereinst in diese Annalen eingegangen sein wird, wird man darin lesen können, wie radikal ein Virus die Welt innerhalb weniger Wochen verändert hat.

In Coronazeiten ist vieles anders. Wenn dieses Buch erscheint, sind vermutlich schon einige Informationen darin nicht mehr aktuell. Und das ist auch gut so. Wohl noch nie zuvor ist der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn so schnell vorangeschritten wie in den ersten Wochen und Monaten dieser Pandemie. Genauso schnell hat sich unser Alltag verändert: Am einen Tag noch undenkbar, waren am Tag darauf bereits Ausgangsbeschränkungen beschlossen und die Freiheitsrechte beschränkt. Weil es die schier unberechenbare Gesundheitsgefahr erfordert, die von diesem Virus ausgeht, kaum größer als 140 Nanometer. Ein Nanometer ist übrigens ein Millionstel Millimeter.

Als Gesundheitsjournalist begegne ich dieser überwältigenden Krise wie jeder andere Mensch auch: gleichermaßen als Laie wie als Experte. Zu viel hat sie durcheinandergewirbelt, was unhinterfragt und so selbstverständlich war. Das Vertrauen in wissenschaftliche Erkenntnis hat derweil ein erfreuliches Comeback gefeiert. Was für die Expertise von Virologen gilt, gilt aber auch für dieses Buch: Wissen ist immer nur vorübergehend.

Das Wörtchen „Corona“ hat sich rasend schnell zum Inbegriff einer medizinischen genauso wie zu einer ökonomischen, politischen, sozialen und psychischen Ausnahmesituation entwickelt. Mein wichtigster Seismograf für die wirklich relevanten Fragen waren in diesen Wochen meine lieben Bürokolleginnen. Danke dafür! Ein besonderer Dank geht an L. für viel Verständnis, für noch mehr Liebe und das Wissen, sich mit niemand anderem zusammen lieber von Ausgangsbeschränkungen einengen lassen zu wollen.

Wenn auf den folgenden Seiten auf die weibliche Form zum Beispiel von Berufsbezeichnungen verzichtet wird, ist dies einzig der besseren Lesbarkeit geschuldet.


1. Erkältung, Grippe – oder doch Corona?

Ein leichtes Kratzen im Hals, ein wenig trockener Husten, ein bisschen Kopf- und Gliederschmerzen. Was man im Winter halt so an Erkältungssymptomen mit sich herumschleppt. Oder könnte es doch das neuartige Coronavirus sein? Die Verunsicherung und die Angst vor einer Epidemie, deren Auswirkungen nicht abzusehen sind, können belastender sein als die Symptome selbst – zumindest für 80 Prozent der mit dem neuartigen Virus Infizierten, bei denen die Krankheit mild oder ganz ohne Symptome verläuft.

Laut Robert Koch-Institut (RKI), das sich als höchste Behörde in Deutschland um Infektionskrankheiten kümmert, kommt es nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 am häufigsten zu Symptomen wie Fieber, trockenem Husten und Abgeschlagenheit. Schon deutlich seltener leiden Betroffene unter Atemproblemen, Kratzen im Hals, Kopf- und Gliederschmerzen sowie Schüttelfrost. Nur wenige leiden an Übelkeit und Durchfall, zu schweren Verläufen mit einer Lungenentzündung kommt es fast ausschließlich bei älteren Patienten oder Menschen mit einer Vorerkrankung.

Genau in diese Risikogruppe fielen die ersten beiden COVID-19-Todesopfer in Deutschland, die am 9. März 2020 vermeldet wurden: eine 89-jährige Frau aus Essen, gestorben an einer Lungenentzündung, sowie ein 78-Jähriger aus Heinsberg, vorbelastet mit Diabetes mellitus und Herzbeschwerden. Klare Risikogruppe, klarer Fall – und doch gar nicht so viel anders als bei der Influenza, also der echten Grippe.

Die wird genauso wie COVID-19 von Viren hervorgerufen: die Influenza von Influenzaviren, COVID-19 von dem neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2. Beides sind Atemwegserkrankungen, die sehr unterschiedlich verlaufen können. Bei der Infektion mit dem neuartigen Coronavirus fehlt aber häufig der Schnupfen, selbst wenn sich COVID-19 nur in den oberen Atemwegen festsetzt – falls es dann überhaupt zu Beschwerden kommt. Dies kann ein hilfreiches Unterscheidungsmerkmal sein. Außerdem überfallen einen die Symptome einer Grippe meist schlagartig. Sie hat eine kürzere Inkubationszeit, zwischen Ansteckung und ersten Beschwerden vergehen meist nur ein oder zwei Tage. Bei COVID-19 sind es im Durchschnitt fünf bis sechs, in manchen Fällen vermutlich bis zu 14 Tage. Oder aber die Infektion geht vorbei, ohne bemerkt zu werden.

Bei der Therapie geht es weiter mit den Gemeinsamkeiten. Es stehen nur begrenzt Medikamente zur Verfügung, die gegen das jeweilige Virus selbst wirken. Im Vordergrund steht, die konkreten Beschwerden zu lindern und im Notfall im Krankenhaus die beeinträchtigten Körperfunktionen zu unterstützen, zum Beispiel mit einem Gerät zur Beatmung. Präventiv rät Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, beim neuartigen Coronavirus alles genau so zu machen, „als würde man sich im Alltag vor Erkältung oder Grippe schützen“. Dazu gehören die richtige Nies- und Hustenetikette genauso wie altbewährte Hygieneregeln.

Gleichzeitig wird hier aber der maßgebliche Unterschied deutlich: Unser aller Immunsystem ist auf das neuartige Coronavirus nicht vorbereitet, denn es war bislang unbekannt. Gegen die Grippe steht jedes Jahr ein Impfstoff zur Verfügung. Auch wenn sich gerade einmal 35 Prozent der über 60-Jährigen gegen die Influenza impfen lassen – viel zu wenige. In der vergleichsweise harten Grippesaison 2017/2018 kostete sie laut Robert Koch-Institut 25 100 Menschen in Deutschland das Leben. Bis Anfang April 2020, also bis zum Ende der Grippesaison 2019/2020, hatte das RKI 183 531 nachgewiesene Influenzafälle gezählt – darunter 411 Todesfälle. Bei COVID-19 näherte sich die Fallzahl zu diesem Zeitpunkt gerade erst der 100 000 an. Bei mehr als 1400 Toten. Spätestens hier endet das Gegenrechnen aber, da über die jeweilige Dunkelziffer viel zu wenig bekannt ist und es schlicht zu früh ist, die Mächtigkeit von SARS-CoV-2 als neuem Krankheitserreger seriös beurteilen zu können.

Das mussten sich Wissenschaftler wie der Virologe Prof. Christian Drosten, Leiter des Instituts für Virologie an der Charité Universitätsmedizin Berlin, eingestehen, als sie komplexe Berechnungen zum weiteren Verlauf der Epidemie ausgewertet hatten. Viele Virusarten lieben kalte Temperaturen, im Sommer tun sie sich deutlich schwerer, sich zu verbreiten. Grippewellen enden zuverlässig, sobald die Temperaturen steigen. Im Falle von SARS-CoV-2 haben Experten aber die Hoffnung früh begraben, die Infektionswelle könne allein durch das Wetter zum Stillstand kommen. Umso wichtiger wird sein, dass bald passende Medikamente und ein wirksamer Impfstoff zur Verfügung stehen. Und umso wichtiger wird sein, sich selbst, vor allem aber Risikopersonen zu schützen.

Wer aufgrund der beschriebenen typischen Symptome befürchtet, sich mit dem neuartigen Coronavirus angesteckt zu haben, sollte zum Telefon greifen und nicht in die Hausarztpraxis fahren. Zu groß könnte das Infektionsrisiko für die Mitmenschen im Wartezimmer sein. Auch der Patientenservice des ärztlichen Bereitschaftsdienstes ist rund um die Uhr unter der Nummer 116 117 für solche Fälle zu erreichen. In dem Telefonat wird es vor allem darum gehen, inwieweit im Laufe der vergangenen zwei Wochen Kontakt zu einer infizierten Person bestanden hat oder ob man aus einem Risikogebiet eingereist ist. Lautet mindestens eine Antwort ja, schafft nur ein Labortest Klarheit. Den Abstrich nimmt ein Arzt während eines Hausbesuchs oder bei einem gesonderten Termin außerhalb der regulären Praxisöffnungszeiten. Bis das Testergebnis da ist, sollten Verdachtspersonen zu Hause bleiben, um niemanden zu gefährden.

Das leichte Kratzen im Hals soll also nicht in Panik münden. Ein wenig Achtsamkeit bei jedem Einzelnen macht es dem neuartigen Virus aber deutlich unbequemer, sich breitzumachen. „Dazu brauchen wir die gesamte Gesellschaft“, mahnte Gesundheitsminister Spahn angesichts der ersten Corona-Toten an. „Wir brauchen jeden einzelnen Bürger und jede einzelne Bürgerin.“

 

Tipp: Die meisten Infektionen mit dem neuartigen Virus SARS-CoV-2 verlaufen unproblematisch. Bleiben Sie ruhig, wenn Sie einen Verdacht auf COVID-19 haben – und schützen Sie Ihre Mitmenschen, indem Sie Menschenansammlungen meiden und einfache Hygieneregeln beachten.

Urlaub zuhause

Blick ins Buch
Gebrauchsanweisung fürs DaheimbleibenGebrauchsanweisung fürs Daheimbleiben

Urlaub zu Hause verbringen: Den meisten von uns ist der Gedanke so fremd wie früheren Generationen die Vorstellung einer Auslandsreise. Dabei ist Daheimbleiben kein Bekenntnis zur Langeweile, sondern die Möglichkeit, genau das zu finden, was wir in der Ferne oft vergeblich suchen: uns selbst. Es ist außerdem ein Akt der Rebellion – gegen Jetlags, CO2-Irrsinn und den Irrglauben, der geistige Horizont eines Menschen korreliere mit seinem Meilenkonto. Das beste Rezept gegen Stau ist immer noch, gar nicht erst loszufahren; man muss nur etwas mit sich und seiner Zeit anzufangen wissen. Harriet Köhler zeigt uns, wie wir zu Entdeckern in unserer Stadt werden, zu Weltenbummlern im eigenen Viertel und zu glücklichen Urlaubern in der eigenen Wohnung.

„Na, diese Reise fängt ja vielversprechend an!“

Erzherzog Franz Ferdinand unterwegs nach Sarajewo, als eine Achse seines Salonwagens heiß gelaufen war

LONELY PLANET

Vom Fernweh

„Da, wo du nicht bist, ist das Glück.“

Franz Schubert

Ein Buch über das Daheimbleiben sollte vermutlich nicht ausgerechnet an einem nasskalten Februartag vor einem Reisebüro beginnen, wenn der Winter schon so lang ist, dass man sich nicht mehr an das Gefühl erinnern kann, im T-Shirt durch die Stadt zu laufen, und der Frühling noch so fern, dass man sich kaum vorstellen kann, dass er überhaupt jemals wieder übers Land ziehen wird. Es sollte vielleicht nicht unbedingt an einem Tag beginnen, an dem für jeden, der auch nur ein bisschen Platz für Träume in sich hat, das Fernweh unbezwingbar wird.

Ich lebe in Berlin, einer Stadt, von der ich manchmal scherzhaft behaupte, sie läge nicht im Osten Deutschlands, sondern in Westsibirien. Der Winter hier dauert ungefähr neun Monate, und spätestens im Februar verliere ich regelmäßig den Glauben daran, dass er überhaupt jemals wieder geht. Die Pappeln in meinem Kiez säumen dann den Straßenrand wie eine Armee von Toten; in den von den Nachbarn im Sommer liebevoll gepflegten Baumscheiben beugen sich welke Funkien und Farne; und der Himmel hängt so tief, dass er einem auf die Schultern drückt.

In jenem Februar, in dem mich aus wolkenverhangenem Himmel plötzlich das Fernweh packte, war der Winter besonders grimmig. Oder vielleicht kam er mir auch nur besonders grimmig vor, denn ich hatte gerade einen kleinen Sohn geboren und konnte mich plötzlich nicht mehr einfach so vor der Kälte draußen verkriechen. Unser Baby schlief nämlich nicht, zumindest nicht in seinem Bettchen; obendrein war es oft schon gegen fünf Uhr morgens wach, weshalb ich nicht selten in der Morgendämmerung einen ersten Spaziergang unternahm, bei dem ich zwar erbärmlich fror, es hingegen, dick in Wolle gepackt und gemütlich schuckelnd, endlich, endlich ins Land der Träume glitt.

Ich werde diesen Winter nie vergessen: wie ich über die Rollsplittdünen auf den vereisten Gehwegen stapfte und den Kinderwagen durch die gefrorene Stadt bugsierte, vorbei an tiefgekühlten Hundehaufen, rußpatinierten Schneebergen und vergessenen Weihnachtsbäumen, in denen noch Lamettareste hingen. Ich werde die Kälte nicht vergessen, die ihren Weg noch durch die Maschen meiner dicksten Wollmütze fand. Die jeden meiner Schritte knirschen und jeden meiner Atemzüge einen Augenblick lang weiß in der Luft stehen ließ, ehe er sich in nichts auflöste.

Ich hatte mir in diesem Winter angewöhnt, mir einmal am Tag ein winziges Italiengefühl zu verschaffen und nach meiner morgendlichen Runde auf einen Cappuccino und ein Panino bei der kleinen italienischen Salumeria an der übernächsten Ecke einzukehren. Ich mochte die sizilianische Familie, die den Laden betrieb: Papa Nino, der jeden Morgen kistenweise frisches Gemüse in die Küche trug und die herrlichsten Antipasti wieder herausbrachte; seine Frau Maria, die mir stets einen Extrakeks auf die Untertasse legte; Carmelo und Salvatore, die beiden Söhne, die immer für einen Plausch zu haben waren und die das Baby, das mich regelmäßig an meine Grenzen brachte, jeden Tag aufs Neue mit einer Begeisterung feierten, dass ich mich meiner unglücklichen Gefühle fast ein bisschen schämte.

Doch an diesem Februarmorgen kam ich nicht bis zur Salumeria. Ich wurde aufgehalten: von den braun gebrannten Beinen einer Frau, von einem weißen Sandstrand und türkisfarbenem Wasser.

Direkt neben der Salumeria gibt es ein kleines Reisebüro, dem ich bis dahin keine große Beachtung geschenkt hatte. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie eine Reise aus dem Katalog gebucht – als ich jünger war, gehörte ich eher zu den Leuten, die einfach ohne Planung losfliegen und dann sehen, wohin der Wind sie trägt; später dann hatte ich meine Reisen stets selbst im Internet zusammenbastelt, war Empfehlungen gefolgt oder einfach dorthin gereist, wohin ich eingeladen war. Reisebüro, das hatte für mich immer ein bisschen nach all-inclusive gerochen, nach reservierten Sonnenliegen und Abendessen vom Büffet.

An diesem Tag im Februar aber stand ich plötzlich vor einem Aufsteller, der für 14 Tage in einem Fünf-Sterne-plus-Resort auf den Malediven warb, inklusive Flug.

14 Tage.

Fünf Sterne plus.

Malediven.

Eigentlich bin ich nicht der Typ für Strandurlaub. Ich finde es unbequem, lange auf einem Handtuch zu liegen, die Sonne ist mir zu heiß, und ich hasse es, mich ständig akribisch eincremen zu müssen. Und die Malediven fand ich als Reiseziel eher befremdlich – wer wollte schon freiwillig 14 Tage auf einer Insel verbringen, die man schneller umrundet hat als die Reichstagskuppel?

Doch jetzt blieb ich stehen, schuckelte den Kinderwagen von Hand weiter und betrachtete die herrliche Bräune der Frau, ihre schlanken Glieder, die sich im warmen Sand rekelten. Ich spürte in meinen Körper hinein: Wann hatte ich meine Beine eigentlich das letzte Mal bewusst gesehen? In den letzten Wochen war ich morgens bloß hastig in die lange Wollunterwäsche geschlüpft und abends in den karierten Flanellpyjama. Den Rest des Tages hatten sie mich mit schnellen Schritten durch die immergrauen Tage getragen, hatten ohne Luft und Tageslicht ihren Dienst verrichtet.

Mein Blick wanderte zum sich in der Ferne erstreckenden Horizont. Das Rauschen des Meeres – ich konnte es beinahe hören. Ich stellte mir vor, wie die glitzernden Wellen alles davonspülen würden: die bleierne Müdigkeit, die beinahe zum Normalzustand geworden war; das Gefühl der Unzulänglichkeit, das mich durch die Tage begleitete; die Kälte, die in den letzten Monaten nie ganz aus meinem Körper gewichen war. Ich stellte mir vor, wie sich meine Zehen in den warmen, feinen Sand krallen würden.

Eigentlich hatten mein Mann und ich erst wenige Wochen zuvor beschlossen, uns in unserem Reiseverhalten einzuschränken. Bis dahin hatten wir zu den Leuten gehört, die eigentlich ständig irgendwohin fuhren: im Sommer zu einer abgeschiedenen Bergpension in Südtirol, nach Korsika oder Marseille, im Frühling nach Palermo oder Palma, im Spätherbst nach Arles, nach Südafrika, nach Namibia. Wir verbrachten Weihnachten in Brügge oder Tallinn, Silvester in einem Haus in der Uckermark, Karneval in Köln, Ostern auf Capri. Wann immer wir mal drei freie Tage hatten, guckten wir, ohne darüber nachzudenken, nach Flügen – weil es irgendwie zum Leben dazugehörte, weil wir Lust darauf hatten und weil wir es uns halbwegs leisten konnten. Wir verreisten, weil wir das Gefühl hatten, dass die Welt uns offenstand und wir sie uns einfach nehmen konnten. Wir reisten, weil es schön war, beim Wiederkommen etwas zum Erzählen zu haben. Und wir reisten auch, weil es gesellschaftlich legitimiert war: Schließlich habe ich von klein auf gelernt, dass Reisen bildet.

Unseren Urlaub einfach zu Hause zu verbringen? Oder auch nur ein paar freie Tage? Auf die Idee wären wir im Leben nicht gekommen.

Nun hatten wir uns jedoch vorgenommen, uns beim Reisen deutlich zu beschränken. Oder zumindest etwas. Nicht, dass wir ganz und gar auf Urlaub verzichten wollten – wir nahmen uns nur vor, nicht mehr anlass- und gedankenlos in den Flieger zu steigen. Wir beschlossen, in Zukunft eingehend zu prüfen, ob eine Reise wirklich nötig war, und dann zu gucken, wie wir möglichst klimaverträglich dorthin kommen würden.

Aber jetzt, an diesem Februartag, an dem es draußen so kalt war, dass an den Fensterscheiben mancher Altbauten Eisblumen blühten, wusste ich plötzlich: Der Ernstfall war eingetreten. Ich musste verreisen, musste fort von hier.

Da war es, das Fernweh.

Fernweh – das Gefühl der Sehnsucht danach, an einem anderen Ort zu sein, kennt wahrscheinlich jeder. Dabei ist der Begriff noch gar nicht besonders alt; in Wörterbüchern tauchte er zum ersten Mal in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts auf, als Analogbildung zum viel älteren „Heimweh“. Die Gefühle, die die beiden Begriffe beschreiben, sind eigentlich gar nicht so verschieden; sie richten sich weniger auf einen Ort in der Außenwelt als auf eine innere Empfindung. Wer Heimweh hat, sehnt sich eher nach einem idealisierten Ort als einem realen. Er fühlt sich unbehaust, einsam und vermisst eine Zeit, in der er sich aufgehoben wähnte im Kreise seiner Freunde, seiner Familie. Wer unter Fernweh leidet, wünscht sich nicht einfach woanders hin. Klar: Wir sehnen uns nach den betörenden Gerüchen auf fremden Märkten, der unverständlichen Melodie fremdsprachigen Stimmengewirrs. Wir sehnen uns nach der Unübersichtlichkeit großer Städte, in denen man sich immer ein bisschen lebendiger, schneller, aufmerksamer fühlt. Wir sehnen uns danach, eine menschenleere Landschaft zu überblicken. Aber schon die Tatsache, dass sich das Wort „Fernweh“ durchgesetzt hat und nicht das ältere „Wanderlust“, deutet darauf hin, dass wir eigentlich ein Gefühl der Defizienz damit beschreiben, einen Mangel, einen Schmerz, ein Unbehagen: Wir sehnen uns vor allem nach einem anderen Leben – danach, nicht nur die winterliche Wollunterwäsche, sondern auch den Alltag abzustreifen. Danach, dass sich unter einer fremden Sonne alles auflöst, was uns von uns selbst entfernt, und nur noch übrig bleibt, was wir wirklich sind.

Es gibt bestimmt viele Gründe, warum Menschen ins Auto, in den Zug oder ins Flugzeug steigen und ihre kostbaren Urlaubstage dazu verwenden, an die abwegigsten Orte der Welt zu reisen, in eine gigantomanische Stadt oder an einen ausschließlich von Stechmücken besiedelten finnischen See: Wir haben das Bedürfnis nach Erholung, wollen unseren Horizont erweitern, die Welt sehen. Aber von allen Gründen, die Menschen fürs Reisen haben, ist das Fernweh vermutlich der stärkste. Erholen könnten wir uns ja auch bei einem Spaziergang im Stadtpark und einem anschließenden Bad. Von der Welt sieht man mehr, wenn man sich eine gut fotografierte Reisereportage im Fernsehen anschaut. Unseren Bildungshunger stillt auch ein gutes Buch oder der Besuch einer Sonderausstellung im Museum.

Doch die Sehnsucht danach, an einem anderen Ort etwas anderes zu erleben und dabei unser Alltags-Ich abzustreifen – die können wir nicht beiseitefegen. Für viele Menschen ist es ein echtes Bedürfnis: das Fremde zu entdecken, das schließlich auch in uns haust. Unsere deutsche Kartoffeligkeit hinter uns zu lassen. Unsere Korrektheit und Penibilität und Funktionskleidungsmentalität. Kein Wunder, dass wir uns grämen, wenn wir im Urlaub von Touristen umzingelt werden, die unsere Metamorphose ständig stören, weil sie uns immer wieder ins Gedächtnis rufen, wer wir eigentlich sind!

Steckt nicht in jeder von uns der Glamour einer Pariserin? Wir müssten nur durchs Marais flanieren. Sind wir nicht eigentlich großstädtische Kosmopoliten? Auf nach New York! Und wie herrlich es mal wieder wäre, seinen sizilianischen Stolz und seine Lässigkeit herauszukehren – man müsste nur nach Palermo fliegen und dort auf einer Terrasse mit Blick aufs Meer ein Glas sizilianischen Weißweins trinken!

Verbarg sich nicht auch in mir, der übernächtigten Mutti im dicken Daunenparka, noch ein anderer Mensch? Der Mensch, der ich früher einmal gewesen war? Einer, der gelassener, eleganter, interessanter, klüger, abenteuerlustiger, präsentabler, einfach irgendwie besser war als die Frau, der das Babyschuckeln so sehr in Fleisch- und Blut übergegangen war, dass sie abends, wenn das Baby im Bett war, auf dem Küchenstuhl weiterwippte wie eine Hospitalismuspatientin? Die Frau, die ich wirklich war?

Das Reisebüro habe ich dann natürlich nicht betreten, so viel Individualreisendenehre hatte ich auch nach der Geburt meines ersten Kindes noch im Leib. Doch die Sehnsucht verging nicht so einfach. Mir fiel ein Artikel in einem englischsprachigen Magazin ein, den ich ein paar Wochen zuvor gelesen hatte – zum Glück fand ich das Heft noch, es war sogar noch an der richtigen Stelle aufgeschlagen. Der Text handelte von einer Region im Südwesten Portugals, zwischen Lissabon und Algarve, die vom Tourismus noch kaum erschlossen war, dafür jedoch mit spektakulären Stränden und großartigen Fischlokalen aufwarten konnte, mit rauer, unberührter Landschaft und einfachen Steinhäusern. Ich klappte meinen Laptop auf und googelte ihren Namen: Alentejo.

Eigentlich hatten wir uns ja vorgenommen, nach Möglichkeit nicht mehr zu fliegen, aber mit dem Zug nach Portugal, noch dazu mit einem Säugling – das war natürlich Quatsch. Die Fotos, die nun auf dem Monitor erschienen, von steilen Klippen und dem schäumenden Ozean, verwandelten das in mir lodernde Fernweh in eine Feuersbrunst, die alle meine Bedenken mit flammender Zunge fraß. Ich rief meinen Mann an, der von der Idee begeistert war und mir einen Zeitraum im Sommer nannte, an dem sich die Reise für ihn gut einrichten ließe. Bis dahin war es zwar noch eine ganze Weile, aber, so frohlockten wir, das bedeutete auch, dass das Baby dann bestimmt aus dem Gröbsten raus sein würde.

Bei Airbnb entdeckte ich ein winziges Ferienhaus, ein altes Gebäude, das einmal zu einer Mühle gehört hatte und von einem Architekten modern-schlicht umgebaut worden war – mit bodentiefen Fenstern und altmodischen Zementfliesen, wie sie damals in Berlin jeder haben wollte. Es gehörte zu einem Estate mit mehreren anderen Ferienhäuschen, die wie zufällig über ein kleines Flusstal versprenkelt waren; unten am Fluss gab es ein schattiges, mit Teppichen und Sofas ausgestattetes marokkanisches Zelt und ein Kanu, das man sich ausleihen konnte. Jeden Tag, so versprachen es die Vermieter, würde uns morgens frisches Brot gebracht, einmal die Woche käme eine Yogalehrerin an den zum Anwesen gehörenden Pool, bis zum fantastischen, kinderfreundlichen Sandstrand waren es nur ein paar Kilometer.

Eine Yogastunde am Pool – das kam mir, die ich es in den letzten Monaten nur mit Mühe und Not zum Rückbildungskurs geschafft hatte, vor wie ein Heilsversprechen. Ich buchte drei Flüge nach Faro, einen Mietwagen und kompensierte, so viel Umweltbewusstsein hatten wir dann doch noch, bei Atmosfair die 1,7 Tonnen CO2, die wir dabei in die Luft pusten würden. Bei einer Reisebuchhandlung in der Nähe kaufte ich einen dicken Reiseführer, in dem ich immer mal wieder blätterte. Wenn mir langweilig war, klickte ich mich durch die Badebekleidungssortimente der großen Onlinehändler.

Immer noch schob ich im dicken Daunenparka Tag für Tag den Kinderwagen über verschneite Gehwege. Aber allein die Aussicht auf unsere geplante Reise führte dazu, dass mir mein Leben nicht mehr ganz so beengt vorkam und der Himmel über Berlin nicht mehr ganz so grau und grimmig. Manchmal, während ich eine besonders stille Sackgasse auf- und abmarschierte, malte ich mir aus, wie es sein würde, wenn ich das Flugzeug betrat: auf dem Arm das Baby, das jetzt noch ein schreiendes Bündel war, im Sommer aber vielleicht schon laufen können würde. Ich stellte mir vor, wie wir in unseren Mietwagen stiegen und die Küste entlang zu unserem hübschen Häuschen fahren würden. Ich spürte bereits die portugiesische Sonne auf der Haut und schon einen Augenblick später die erquickende Brandung des Atlantiks, der sich glitzernd auf einem Körper brach, der dann schon wieder mir gehören würde.

Enttäuschte Erwartungen

„Unter Wasser geht das Land weiter.“

Ludwig Fels

Als ich ein paar Tage nach unserer Rückkehr aus Portugal die Nachbarin aus der Wohnung gegenüber im Treppenhaus traf und sie sich erkundigte, wie unser Urlaub gewesen sei, erzählte ich von einem stillen, grünen Tal, durch das sich ein flüsternder, dunkler Fluss schlängelte, und von der Stelle, an der das Tal sich plötzlich zu einem weiten, weißen Sandstrand öffnete und sich in einer verschwenderischen Mündung mit dem Atlantik vermählte. Ich erzählte vom fangfrischen Fisch in einem ganz einfachen Restaurant an einer Landstraße, von Serpentinenstraßen in einer kargen, bergigen Landschaft, von Männern mit gegerbten Gesichtern, die mit Strohhut und Spitzhacke auf ihrem kleinen Stück Ackerland standen und in der Gluthitze der portugiesischen Nachmittagssonne versuchten, der dürren Erde etwas abzuringen. Ich erzählte vom schlichten, aber köstlichen Abendessen auf unserer Veranda und der flirrenden Hitze über der Terrasse am Pool, von der aus man einen Blick übers ganze Tal hatte. Und weil der Mann unserer Nachbarin Weinliebhaber war, hängte ich auch noch einen Exkurs über die fantastischen portugiesischen Weißweine an, von deren Qualität kaum jemand in Deutschland wusste und die man vor Ort selbst im Supermarkt in exzellenter Qualität bekam.

Nachdem ich in den Monaten zuvor fast ausschließlich über Babyschlaf, Babyzubehör und Babybrei gesprochen hatte, hörte mich fast wieder an wie ein richtiger Mensch. Ich hörte mich an wie eine Frau, die bereit war, ins Berufsleben zurückzukehren, abends auszugehen und nicht mehr ausschließlich mit Leuten zu verkehren, die ebenfalls Kinder hatten.

Ich hörte mich fast wieder an wie ich selbst.

Und log ich etwa? Natürlich nicht. Alles, was ich meiner Nachbarin erzählte, stimmte. Es war ein wunderbarer Urlaub gewesen. Portugal war toll, das Alentejo einer der schönsten Landstriche, in denen ich je gewesen war.

Und doch erzählte ich nur ein Teil der Wahrheit.

Ich erzählte jenen Teil der Wahrheit, der sich – weil unser Hirn dazu neigt, Erwartung und Realität in Einklang zu bringen, weshalb uns der Wein im Urlaub stets besser zu schmecken scheint und wir schwören könnten, dass das teure Ariel besser wäscht als das billige Tandil – aus der Vielzahl der Eindrücke durchgesetzt hatte. Jener Teil, der zu meiner Erinnerung geworden war.

Angela Merkel hat mal gesagt, sie möge an Deutschland besonders gern, dass die Fenster so schön schließen. Ich hatte immer über diesen Satz gelacht, aber in dem südportugiesischen Flusstal begriff ich, was sie damit meinte.

Denn die Wahrheit über unsere Reise ins Alentejo war auch: Das vermeintliche Architektenhaus wirkte wie von einem Hobbyhandwerker zusammengeschraubt. Die Küchenausstattung beschränkte sich auf zwei Herdplatten und eine Nespressomaschine; es gab keine brauchbaren Pfannen oder Messer, die Türen schlossen nicht richtig, und abends hatte man die Wahl zwischen greller LED-Beleuchtung, dem funzeligen Schein einer Stumpenkerze und kompletter Dunkelheit. Wenn man im feuchtkalten Schlafzimmer die Matratze des Bettes anhob, schlug einem der Geruch von Schimmel entgegen. Am Esstisch konnte man nur auf unbequemen Hockern sitzen, die umfielen, wenn man sich nur ein bisschen zu weit nach hinten lehnte.

Ohne Kind wäre das alles nicht weiter tragisch gewesen. Wir wären abends ins Restaurant gegangen und anschließend müde ins Bett gefallen und hätten uns um die Details unserer Behausung nicht weiter gekümmert. So aber versuchten wir Abend für Abend aus den sehr mäßigen Zutaten, die es im fast zwanzig Kilometer entfernten Supermarkt zu kaufen gab, ein brauchbares Essen zusammenzurühren, das wir dann auf Zehenspitzen auf die unbeleuchtete Terrasse trugen und im Schein einer Grabkerze einnahmen, weil die Tür zum Schlafzimmer nicht richtig schloss und wir panische Angst hatten, unseren Sohn zu wecken. Der war nämlich in den letzten Monaten erst so richtig ins Gröbste hineingeraten und schlief nun überhaupt nicht mehr (und wir in Folge auch nicht). Wir betranken uns mit tatsächlich großartigem Wein, allerdings aus bunten, eisbecherförmigen Gläsern. Wir ließen uns von den Mücken zerstechen, die Abend für Abend als gigantisches Geschwader aus der saftigen Vegetation am Fluss stiegen und sich auf uns stürzten. Wir redeten nur leise und hielten jedes Mal den Atem an, wenn auch nur das verhaltenste Knacksen aus dem Babyphone drang.

Das waren die Nächte. Die Tage verbrachten wir zu großen Teilen im Auto, weil das der einzige Ort war, an dem sich unser Sohn hin und wieder zu einem Nickerchen hinreißen ließ. Während wir fuhren, schwiegen wir, zum einen, weil wir befürchteten, das Kind zu wecken, zum anderen, weil wir uns in diesen Tagen über alles Mögliche stritten und nicht sonderlich wild darauf waren, überhaupt miteinander zu reden. Dass wir so schlecht drauf waren, lag nicht in erster Linie am Schlafmangel und auch nicht am anstrengenden Baby, sondern vor allem daran, dass wir merkten, dass wir durch einen bloßen Ortswechsel doch keine anderen Menschen geworden waren. Das, was sich in Berlin noch angefühlt hatte wie Urlaubsbedürftigkeit und Erschöpfung, fiel nicht plötzlich von uns ab, bloß weil wir im Urlaub waren. Was hatten wir uns nur von dieser Reise versprochen? Wir waren Mutter und Vater geworden und würden es auch bleiben, egal wohin wir flüchteten. Wir konnten unsere neuen Rollen nicht abschütteln, ob wir nun in Belize, Barcelona oder Berlin waren. Unser Leben hatte sich verändert, wir mussten es neu justieren, es ließ sich nicht einfach so abstreifen wie ein Winterparka.

Wer in die Fremde fährt, findet sich dort nicht, sondern hat sich selbst im Gepäck – das hätten wir eigentlich wissen müssen. Wer hat noch nie die Erfahrung gemacht, dass er in einem abgeschiedenen Ferienhaus Büroprobleme wälzt? Wer saß noch nie im Wellnessbereich eines fernen Hotels, zu gestresst, um seine Behandlung auch nur ansatzweise zu genießen? Wer hat noch nie erlebt, dass eine vermeintlich große Liebe dem Härtetest des ersten gemeinsamen Urlaubs nicht standhält? Wir entkommen uns nicht, egal wie weit wir wegfahren. Warum nur erhoffen wir uns genau das dann doch immer wieder? Warum bleiben wir nicht einfach zu Hause und machen das Beste aus dem, was wir sind?

Die Reise nach Portugal steckte mir noch lange in den Gliedern, auch als ich längst einen Termin mit einer Schlafberaterin in Berlin-Mitte vereinbart hatte und plötzlich süße, lange Nächte durchschlief. Sie steckte mir noch in den Gliedern, als mein Mann und ich uns längst wieder zusammengerauft und begriffen hatten, dass wir uns unglücklich machen würden, wenn wir mit den engen Grenzen haderten, die einem so ein Kleinkind setzt; dass wir annehmen mussten, was uns das Leben gebracht hatte, anstatt ständig dagegen anzukämpfen. Ich verspürte ihre Nachwirkungen sogar noch während der Kita-Eingewöhnung unseres Sohnes, als die zarte Urlaubsbräune auf meinem Gesicht längst verblasst war. Eigentlich verstrich sie erst, als ich endlich einmal dazu kam, die Urlaubsfotos, die ich mit meiner Kamera gemacht hatte, auf meinen Laptop zu überspielen, wo ich sie leicht bearbeitete – und beim Durchblättern plötzlich die Empfindung hatte, dass es doch ein ziemlich schöner Urlaub gewesen war. Die Bilder, die ich vom Flusstal gemacht hatte, waren herrlich. Das Ferienhaus: wunderschön mit seinen großen Fenstern und alten Kacheln. So niedlich: das vergnügt an einer Fritte nuckelnde Baby. Spektakulär: der Atlantikstrand.

 

Wenn eine Pandemie die Welt verändert

Blick ins Buch
1918 – Die Welt im Fieber

Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte

Eine Pandemie, die alles veränderte – der brandaktuelle SPIEGEL-Bestseller zur Geschichte der Spanischen Grippe jetzt im Taschenbuch! 

Es begann mit einem Virus, es endete im Massensterben und in einer völlig neuen Welt: Laura Spinneys Bestseller über die Spanische Grippe von 1918 zieht unfreiwillig akkurate Parallelen ins Heute. 

Als prämierte Wissenschaftsjournalistin und Bestseller-Autorin hat Laura Spinney eigentlich nur ihren Job gemacht. Ihr Buch über die Spanische Grippe und ihre allumfassenden Folgen für die gesamte Welt ist akribisch recherchiert, kenntnisreich analysiert und in einem atemberaubenden Tempo geschrieben, bei dem Medizingeschichte im Handumdrehen zum Thriller wird.

Doch nur wenige Jahre nach der Ersterscheinung auf Deutsch ist „1918 – Die Welt im Fieber“ zu einem fast prophetischen Kompendium geworden, das ungeahnte Parallelen zwischen den Jahren 1918 und 2020 zieht. Denn die Spanische Grippe und die Ausbreitung der Corona-Pandemie gleichen sich nicht nur in ihrem Krankheitsverlauf, sondern auch in der Reaktion der Menschen auf Vorsichtsmaßnahmen, Impfungen und die kulturelle Veränderung.

Spanische Grippe und Corona: Wiederholt sich die Geschichte?  

Ohne das Wissen aus der Infektionskette der Spanischen Grippe hätte die heutige Medizin nicht so schnell reagieren können – und wir hätten Covid-19 nicht so schnell verstanden. Laura Spinney bleibt bei den Fakten, aber wirft zwingende Fragen auf, die aus trockener Geschichtsbetrachtung einen tiefgreifenden Perspektivwechsel machen. 

Faktenreich und spannend wie ein Thriller, erstklassig recherchiert, brillant erzählt: Das vielleicht wichtigste Geschichtsbuch unserer Zeit 

Viren hat es immer gegeben. Seuchen ebenso. Doch bisher blieben sie immer im Nebel der Geschichte. Der SPIEGEL-Bestseller „1918 – Die Welt im Fieber“ holt die Erfahrungen der Menschheit mitten hinein ins Heute. Ein Taschenbuch, das man gelesen haben muss!

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Lungenentzündungen mit Hilfe der richtigen Atemtechnik bekämpfen

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Breath - AtemBreath - Atem

Neues Wissen über die vergessene Kunst des Atmens

Atmen heißt Leben - James Nestor bringt uns mit seinem Buch die verlorene Kunst des guten Atmens wieder näher

Die Atmung ist die einzige Körperfunktion, die der Mensch wirklich kontrollieren kann, bei der aber am meisten schief geht. Unsere Atmung kann uns helfen abzunehmen, unseren allgemeinen Gesundheitszustand positiv beeinflussen und sogar unser Leben verlängern. Wer richtig atmet, ist selbstbewusster und kann sich besser fokussieren.

James Nestors Leben gestaltete sich einst ziemlich chaotisch: Ihm ging es gesundheitlich schlecht, er war gestresst, lebte in einem baufälligen Haus und erholte sich von seiner dritten Lungenentzündung. Das alles änderte sich schlagartig, nachdem er einen Kurs für Sudarshan-Kriya-Atmung besuchte.

Wie viele andere Menschen machte sich Nestor bis zu diesem Zeitpunkt wenig Gedanken über diesen alltäglichen, aber lebensspendenden Akt. Schon nach der ersten Sitzung fühlte er sich jedoch wesentlich besser. Indem er sich einfach nur auf eine langsame Sauerstoffzufuhr durch die Nase konzentrierte, schlief er in der folgenden Nacht so gut wie schon lange nicht mehr.

Atmen Sie einmal tief durch und lassen Sie sich anschließend von Autor James Nestor in seinem Buch „Breath – Atem“ zeigen, wie es richtig geht.

Zehn Jahre hat James Nestor akribische Nachforschungen betrieben, Experteninterviews auf der ganzen Welt geführt, verschiedene Atemtechniken und die Auswirkung von Atembeschwerden am eigenen Körper getestet. Er bringt uns das Wissen von Schwimmtrainern ebenso nahe wie das von indischen Mystikern und strengen russischen Kardiologen, um zu zeigen, was die Atmung in unserem Körper auslösen kann.

„Breath – Atem: Neues Wissen über die vergessene Kunst des Atems“ ist eine aufschlussreiche Odyssee durch die spannende und gelegentlich etwas seltsam anmutende Welt des Atmens.

„Rund 10 000 Atemzüge braucht es, sein Buch durchzulesen, sagt James Nestor. Die Mühe lohnt – nicht nur wegen der erstaunlichen Fakten und Geschichten zu Atmen und Gesundheit. Dazu ist das Buch auch ein Selbstversuch und gerade deshalb so überzeugend.“ ― P.M.

Einleitung

Es sah aus wie ein Haus in Amityville: Von den Wänden blätterte die Farbe, die Fenster waren staubig, das Mondlicht warf drohende Schatten. Ich ging durch ein Tor, eine knarrende Freitreppe hinauf und klopfte.
Die Tür öffnete sich, eine Frau in den Dreißigern mit buschigen Augenbrauen und übergroßen weißen Zähnen bat mich herein. Ich musste die Schuhe ausziehen, dann geleitete sie mich in ein riesiges Wohnzimmer mit himmelblauer Decke, die mit weißen Wölkchen bemalt war. Ich setzte mich neben ein Fenster, das im Wind klapperte, und schaute im Licht der gelbsüchtigen Straßenlampen zu, wie die anderen hereinkamen. Ein Mann mit Augen wie ein Häftling. Ein streng dreinblickender Typ mit Jerry-Lewis-Koteletten. Eine Blondine mit einem unsymmetrisch platzierten Bindi auf der Stirn. Das gedämpfte Geräusch von Fußtritten und geflüsterten Hallos wurde überlagert von einem die Straße entlangrumpelnden Lkw; aus der Fahrerkabine dröhnte Paper Planes, die unentrinnbare Hymne des Tages. Ich legte den Gürtel ab, öffnete den Knopf am Bund der Jeans und setzte mich zurecht.
Ich war auf Empfehlung meines Arztes hier, der mir gesagt hatte: „Ein Atemtechnikkurs würde Ihnen guttun.“ Ich sollte meine versagenden Lungen stärken, mein zerfahrenes Gemüt beruhigen, vielleicht eine neue Perspektive gewinnen.
Mir ging es schon seit Monaten ziemlich schlecht. Ich hielt den Druck der Arbeit nicht mehr aus, und mein 130 Jahre altes Haus fiel auseinander. Ich hatte mich gerade von einer Lungenentzündung erholt. Im letzten Jahr hatte ich ebenfalls eine gehabt. Und im Jahr davor. Ich verbrachte die meiste Zeit zu Hause, keuchte vor mich hin, arbeitete und aß drei Mahlzeiten am Tag aus derselben Schüssel – auf dem Sofa, über wochenalte Zeitungen gebeugt. Ich war in einer Routine gefangen – körperlich, geistig und auch sonst. Nachdem ich einige Monate so dahinvegetiert hatte, befolgte ich den Rat des Arztes und meldete mich für einen Einführungskurs in einer Atemtechnik namens Sudarshan Kriya an.
Um 19 Uhr schloss die Frau mit den buschigen Augenbrauen die Haustür ab, setzte sich in die Mitte der Gruppe, legte eine Audiokassette in einen alten Gettoblaster und drückte die Play-Taste. Über dem Zischen der Grundfrequenz hörte man eine Männerstimme mit indischem Akzent. Die Stimme klang hoch, leiernd und unnatürlich melodiös; unweigerlich dachte ich an eine Comicfigur. Sie wies uns an, langsam durch die Nase einzuatmen und dann langsam wieder auszuatmen. Uns auf den Atem zu konzentrieren.
Wir atmeten ein paar Minuten lang nach Anweisung. Ich griff mir eine Decke aus einem Stapel und wickelte sie mir um die Beine, um meine besockten Füße vor der Zugluft des undichten Fensters zu schützen. Ich atmete und atmete, aber nichts geschah. Keine Gelassenheit überkam mich, keine Anspannung wich aus meinen verkrampften Muskeln. Nichts.
Zehn Minuten vergingen, vielleicht auch zwanzig. Ich begann mich zu ärgern und bereute schon, dass ich einen Abend damit verschwendete, auf dem Fußboden einer viktorianischen Bruchbude staubige Luft zu atmen. Ich öffnete die Augen und schaute mich um. Alle schauten ernüchtert und gelangweilt drein. Der mit den Häftlingsaugen schien zu schlafen. Jerry Lewis sah aus, als machte er sich in die Hose. Die Bindi-Frau saß erstarrt da und grinste wie ein Honigkuchenpferd. Ich überlegte, ob ich einfach gehen sollte, aber das kam mir unhöflich vor. Die Sitzung war kostenlos, die Kursleiterin war eine Freiwillige. Es gehörte sich, dass ich ihre Wohltätigkeit respektierte. Also schloss ich wieder die Augen, wickelte die Decke fester um mich und atmete weiter ein und aus.
Dann geschah etwas, auch wenn ich mir gar keiner Verwandlung bewusst war. Ich spürte keine Entspannung, der Schwarm nervtötender Gedanken verschwand nicht aus meinem Kopf. Aber es war, als wäre ich von einem Ort weg an einen anderen versetzt worden, und zwar übergangslos.
Die Kassette war zu Ende. Ich öffnete die Augen. Auf meinem Kopf spürte ich etwas Nasses. Ich hob die Hand, um es abzuwischen, und merkte, dass mein Haar triefnass war. Ich wischte mit der Hand übers Gesicht, spürte das Brennen von Schweiß in den Augen und schmeckte Salz. Ich schaute an mir hinunter und sah Schweißflecken auf Pullover und Jeans. Im Zimmer herrschten vielleicht 20 Grad, unter dem zugigen Fenster war es noch um einiges kühler. Alle trugen Jacken und Kapuzensweatshirts, um sich warm zu halten. Aber ich hatte meine Sachen unerklärlicherweise nass geschwitzt wie bei einem Marathonlauf.
Die Kursleiterin kam zu mir und fragte, ob alles in Ordnung sei, ob ich mich krank fühlte oder Fieber hätte. Ich antwortete, es gehe mir gut. Dann sagte sie etwas über Körperwärme und wie jedes Einatmen uns mit neuer Energie versorge und jedes Ausatmen alte, verbrauchte Energie freisetze. Ich versuchte, das zu verstehen, konnte mich aber nur schlecht konzentrieren. Mir ging dauernd im Kopf herum, wie ich in meinen durchweichten Sachen auf dem Fahrrad die fünf Kilometer von Haight-Ashbury nach Hause überstehen sollte.
Am nächsten Tag ging es mir sogar noch besser. Ich spürte tatsächlich die versprochene Ruhe und Gelassenheit in mir, die ich schon lange nicht mehr kannte. Ich schlief gut. Die kleinen Alltagsprobleme machten mir nicht mehr so zu schaffen. Meine Schultern- und Nackenmuskeln waren nicht mehr verspannt. Dieser Zustand hielt einige Tage an, bevor er langsam nachließ.
Was genau war da geschehen? Wie kann es zu einer so tiefgreifenden Reaktion kommen, wenn man sich eine Stunde lang in einem schäbigen Haus mit gekreuzten Beinen auf den Boden setzt und ein- und ausatmet?
Ich besuchte auch die nächste Sitzung des Atemtechnikkurses: wieder dasselbe Erlebnis, diesmal aber mit weniger Schweiß. Meiner Familie und den Freunden erzählte ich nichts davon, aber ich gab mir Mühe, zu verstehen, was geschehen war, und verbrachte schließlich mehrere Jahre damit, es herauszubekommen.

Während dieser folgenden Jahre reparierte ich mein Haus, riss mich zusammen und fand aus meiner erstarrten Routine heraus. Und ich entdeckte eine mögliche Antwort auf meine Fragen zur Atmung. Ich fuhr nach Griechenland, um eine Geschichte über das Apnoetauchen zu schreiben – die uralte Kunst, mit angehaltenem Atem Dutzende Meter tief zu tauchen. Zwischen den Tauchgängen befragte ich Dutzende Experten und hoffte, so eine Anschauung ihrer Technik und ihrer Beweggründe zu gewinnen. Ich wollte wissen, wie diese äußerlich unauffälligen Menschen – Programmierer, Werbeagenturmanager, Biologen, Ärzte – es schafften, ihren Körper so zu trainieren, dass er zwölf Minuten am Stück ohne Luft auskam, und dabei Tiefen erreichten, die die Wissenschaft vor einigen Jahren noch für unmöglich hielt.
Die meisten Leute, die im Schwimmbad zu tauchen versuchen, geben bei drei Meter Tiefe nach wenigen Sekunden auf, weil die Ohren heftig schmerzen. Die Apnoetaucher erzählten mir, sie hätten auch so angefangen. Ihre Verwandlung war reine Übungsleistung; sie hatten ihre Lungen gezwungen, härter zu arbeiten und ihre schlummernden Fähigkeiten zu nutzen, die wir anderen ignorieren. Sie bestanden darauf, dass sie nichts Besonderes seien. Jeder einigermaßen gesunde Mensch, der bereit sei, die Trainingszeit zu investieren, könne 30, 60, sogar 100 Meter tief tauchen. Es komme nicht aufs Alter, aufs Körpergewicht oder die erblichen Voraussetzungen an. Apnoetauchen, sagten sie, erfordere nichts weiter, als die Kunst des Atmens zu beherrschen.
Für sie war das Atmen keine unbewusste Handlung – nichts, das einfach so ablief. Es war eine Kraft, eine Arznei und ein Mechanismus, durch den sie fast übermenschliche Macht gewinnen konnten.
Eine Ausbilderin, die einmal über acht Minuten lang die Luft angehalten und einmal tiefer als 100 Meter getaucht war, sagte: „Es gibt so viele Arten des Atmens, wie es Nahrungsmittel gibt. Und jede Atemtechnik wirkt sich anders auf den Körper aus.“ Ein anderer Taucher erklärte mir, dass manche Atemtechniken das Gehirn mit Nährstoffen versorgen, während andere die Neuronen abtöten; dass manche gesund sind, andere aber das Leben verkürzen.
Sie erzählten verrückte Geschichten, wie sie durch besonderes Atmen die Ausdehnung ihrer Lungen um mehr als 30 Prozent vergrößert hatten. Sie berichteten von einem indischen Arzt, der mehrere Pfund Gewicht verloren hatte, indem er einfach anders einatmete, und von einem anderen Mann, der sich das bakterielle Endotoxin E. coli injizieren ließ und in einem rhythmischen Muster atmete, das sein Immunsystem stimulierte und so die giftigen Bakterien in wenigen Minuten vernichtete. Sie erzählten von Frauen, die ihren Krebs in Remission geschickt hatten, und von Mönchen, die mit ihrem nackten Körper über Stunden hinweg den Schnee im Umkreis zum Schmelzen brachten. Das klang alles absurd.
Wenn ich bei meinen Unterwasserrecherchen ein bisschen Freizeit hatte, meistens spätabends, arbeitete ich mich durch Stapel von Literatur zu diesem Thema. Sicher hatte sich doch die Forschung mit den Wirkungen des bewussten Atmens auf Landratten befasst? Irgendwo musste es doch Belege für die fantastischen Geschichten der Apnoetaucher über Atemtechniken zum Abnehmen, für mehr Gesundheit und Langlebigkeit geben?
Ich fand genug Material, um eine Bibliothek zu füllen – allerdings waren die Quellen allesamt Hunderte, teils Tausende Jahre alt.
Sieben Bücher des chinesischen Tao, die auf etwa 400 v. Chr. datiert werden, befassen sich ausschließlich mit dem Atmen – wie es uns tötet oder heilt, je nachdem, wie man es einsetzt. Diese Manuskripte enthielten genaue Anweisungen, wie man den Atem reguliert, verlangsamt, anhält und hinunterschluckt. Die Hindus hielten in noch früheren Zeiten Atem und Geist für identisch und schilderten aufwendige Verfahren, um die Atmung ins Gleichgewicht zu bringen und körperlich und geistig gesund zu bleiben. Es folgten die Buddhisten, die mit der Atemtechnik nicht nur ihr Leben verlängern, sondern höhere Bewusstseinsstufen erreichen wollten. Für alle diese Menschen und Kulturen war das Atmen starke Medizin.
„Daher wird der Gelehrte, der sein Leben nähren will, die Form verfeinern und seinen Atem nähren. Ist dies nicht offenbar?“, heißt es in einem alten Tao-Text.
So offenbar ist es wohl nicht. Ich schaute mich nach einer Bestätigung dieser Behauptungen in der neueren pulmonologischen Forschung um. Die Pulmonologie befasst sich innerhalb der Medizin mit Lungen und Atemwegen. Ich fand so gut wie nichts. Die Atemtechnik, so hieß es höchstens, sei nicht wichtig. Viele Ärzte, Forscher und Wissenschaftler, die ich befragte, bestätigten diese Haltung: 20-mal pro Minute, 10-mal durch den Mund, die Nase oder einen Tubus, egal. Wichtig ist, Luft in die Lungen zu bekommen – der Körper erledigt den Rest.
Um eine Vorstellung zu bekommen, wie die moderne Medizin das Atmen betrachtet, müssen Sie nur an Ihre letzte Vorsorgeuntersuchung denken. Der Arzt hat wahrscheinlich Blutdruck, Pulsfrequenz und Temperatur gemessen und Ihnen ein Stethoskop auf die Brust gedrückt, um den Zustand von Herz und Lunge zu prüfen. Vielleicht hat er mit Ihnen über Ernährung, Vitaminzufuhr, Arbeitsstress gesprochen. Irgendwelche Verdauungsbeschwerden? Schlafprobleme? Werden die Pollenallergien schlimmer? Asthma? Was machen Ihre Kopfschmerzen?
Er wird aber kaum Ihre Atemfrequenz gemessen haben oder das Gleichgewicht von Sauerstoff und Kohlendioxid im Blutkreislauf. Wie Sie atmen und welche Qualität die einzelnen Atemzüge haben, stand nicht zur Debatte.
Wenn die Apnoetaucher und die alten Texte jedoch recht haben, hängt alles davon ab, wie wir atmen. Wie kann etwas gleichzeitig so wichtig und unwichtig sein?

Ich grub weiter, und langsam schälte sich eine Geschichte heraus. Wie ich feststellte, war ich nicht der Einzige, der in letzter Zeit diese Fragen stellte. Während ich Texte durchging und Apnoetaucher und Superatmer befragte, waren Forscher an den Universitäten Harvard und Stanford und anderen angesehenen Institutionen gerade dabei, einige der fantastischsten Geschichten, die ich zu hören bekam, zu bestätigen. Aber das geschah nicht etwa in den Labors der Pulmonologie. Pulmonologen, so erfuhr ich, befassen sich hauptsächlich mit spezifischen Lungenkrankheiten – Kollaps, Krebs, Emphysem. „Wir sind für die Notfälle zuständig. So funktioniert das System“, erklärte mir ein erfahrener Vertreter des Fachs.
Nein, diese grundsätzliche Atemforschung spielt sich anderswo ab: in den schlammigen Ausgrabungsstätten antiker Gräber, den Behandlungsstühlen von Zahnarztpraxen und den Gummizellen psychiatrischer Krankenhäuser. Nicht gerade Orte, an denen man Spitzenforschung zu einer grundlegenden Lebensfunktion erwarten würde.
Wenige dieser Forscher hatten sich ursprünglich mit Atmung befassen wollen, aber sie stellten fest, dass sie es nicht vermeiden konnten. Sie fanden heraus, dass unsere Atemfähigkeit sich im Laufe der langen menschlichen Evolutionsgeschichte verändert und unsere Atemtechnik sich seit Beginn des Industriezeitalters beträchtlich verschlechtert hat. Sie entdeckten, dass 90 Prozent der Menschen – darunter sehr wahrscheinlich ich, Sie und fast jeder, den Sie kennen – falsch atmen und dass dieser Fehler eine lange Liste chronischer Krankheiten entweder verursacht oder verschlimmert.
Immerhin nicht ganz so deprimierend ist, dass einige dieser Forscher auch zeigen konnten, wie viele moderne Krankheiten – Asthma, Angstzustände, Aufmerksamkeitsdefizit, Hyperaktivität, Schuppenflechte und andere – gemildert oder sogar überwunden werden können, wenn man nur lernt, anders ein- und auszuatmen.
Diese Ergebnisse stellten traditionelle Annahmen in der westlichen Medizin auf den Kopf. Doch, Atmen in verschiedenen Rhythmen kann wirklich unser Körpergewicht und die Gesundheit insgesamt beeinflussen. Doch, unsere Atemtechnik verändert wirklich Größe und Funktion der Lungen. Doch, mit Atemübungen können wir unser Nervensystem bewusst beeinflussen, unsere Immunreaktionen kontrollieren und unsere Gesundheit verbessern. Doch, eine veränderte Atmung verlängert das Leben.
Wie sehr wir auch auf die Ernährung achten, wie viel Sport wir treiben, wie widerstandsfähig unsere Gene sein mögen, wie schlank, jung und klug wir auch sind – das alles hilft nichts, solange wir nicht richtig atmen. Das haben diese Forscher herausgefunden. Der fehlende Stützpfeiler der Gesundheit ist die Atmung. Sie steht am Anfang.

Das vorliegende Buch ist eine wissenschaftliche Abenteuerreise zur verlorenen Kunst und Technik des Atmens. Es erforscht die Verwandlung, die alle 3,3 Sekunden in unserem Körper stattfindet – so lange braucht der Durchschnittsmensch für einen Atemzug. Es erklärt, wie die Milliarden und Abermilliarden Moleküle, die man mit jedem Einatmen in seinen Körper holt, Knochen, Muskelscheiden, Blut, Gehirn und Organe aufbauen, und die neuen Erkenntnisse, wie diese mikroskopisch kleinen Bausteine Gesundheit und Zufriedenheit jedes Einzelnen morgen, nächste Woche, nächsten Monat, nächstes Jahr und die nächsten Jahrzehnte beeinflussen.
Ich spreche von einer „verlorenen Kunst“, weil viele dieser neuen Erkenntnisse so neu gar nicht sind. Die meisten Methoden, mit denen ich mich im Folgenden befasse, gibt es seit Hunderten, manchmal Tausenden von Jahren. Sie wurden in einer anderen Kultur zu einer anderen Zeit geschaffen, beschrieben, vergessen und entdeckt, um wieder vergessen zu werden. Das ging jahrhundertelang so.
Viele Pioniere dieses Fachgebiets waren keine Wissenschaftler. Sie waren Bastler, eine Gruppe unabhängiger Geister, die ich „Pulmonauten“ nenne und die über die Kraft des Atmens stolperten, weil ihnen nichts sonst mehr half. Sie waren Feldarzt im Amerikanischen Bürgerkrieg, französischer Friseur, anarchistischer Opernsänger, indischer Mystiker, reizbarer Schwimmtrainer, streng dreinblickender ukrainischer Kardiologe, tschechischer Olympiateilnehmer oder Chorleiter aus North Carolina.
Wenige dieser Pulmonauten haben zu Lebzeiten viel Ruhm oder Respekt geerntet, und mit ihnen wurden auch ihre Forschungsergebnisse begraben und zerstreut. Noch faszinierender war es, zu erfahren, dass ihre Methoden in den letzten Jahren wiederentdeckt, wissenschaftlich erforscht und bewiesen wurden. Die Früchte dieser ehemals abseitigen, oft vergessenen Forschungen bestimmen jetzt das Potenzial des menschlichen Körpers neu.

Aber wieso soll ich denn atmen lernen? Ich atme schon mein ganzes Leben lang.
Diese Frage, die Sie sich jetzt vielleicht gerade stellen, begegnet mir seit dem Beginn meiner Recherchen immer wieder. Wir nehmen einfach an, Atmen sei eine passive Tätigkeit – etwas, das halt zum Leben gehört: Solange man atmet, lebt man; wenn man aufhört, stirbt man. Aber Atmen ist nicht binär, und je mehr ich mich mit dem Thema befasste, desto mehr wurde es mir zum persönlichen Anliegen, diese grundlegende Erkenntnis weiterzugeben.
Wie die meisten Erwachsenen habe ich schon einen Haufen Atemwegserkrankungen durchgemacht. Das hat mich damals auch in den Atemtechnikkurs geführt. Und wie die meisten Menschen merkte ich, dass kein Antiallergen, Inhalator oder Vitaminpräparat und keine Diät besonders viel bewirken. Heilung – und noch weit mehr als Heilung – fand ich erst durch eine neue Generation von Pulmonauten.
Der durchschnittliche Leser braucht ungefähr 10 000 Atemzüge, um dieses Buch ganz durchzulesen. Wenn ich meine Sache gut gemacht habe, werden Sie von jetzt an mit jedem dieser Atemzüge ein vertieftes Verständnis des Atmens gewinnen und lernen, wie man es am besten anfängt. Ob 20-mal oder 10-mal pro Minute, ob durch Mund, Nase, Luftröhrenschnitt oder Beatmungsschlauch, ist eben nicht dasselbe. Es ist wichtig, wie man atmet.
Beim 1000. Atemzug werden Sie wissen, wieso der moderne Mensch die einzige Tierart mit chronisch schiefen Zähnen ist und was das für die Atmung bedeutet. Sie werden erfahren, wie unsere Atemfähigkeit im Laufe der menschlichen Entwicklung abgenommen hat und warum der Urmensch nicht geschnarcht hat. Sie werden zwei Männern mittleren Alters bei ihren Bemühungen gefolgt sein, eine 20-tägige, ebenso bahnbrechende wie masochistische Studie der Stanford University durchzustehen, die klären sollte, ob es wirklich nicht darauf ankommt, ob man durch Mund oder Nase atmet. Einige Ihrer neuen Erkenntnisse werden Ihnen Tage und Nächte ruinieren, besonders wenn Sie schnarchen. Aber in den folgenden Atemzügen finden Sie Rezepte zur Heilung.
Beim 3000. Atemzug kennen Sie die Grundlagen der heilenden Atmung. Diese langsamen und langwierigen Methoden stehen jedem offen – Alten und Jungen, Kranken und Gesunden, Reichen und Armen. Sie werden im Hinduismus, Buddhismus und Christentum sowie in anderen Religionen seit Jahrtausenden praktiziert, aber erst seit Kurzem wissen wir, dass man damit den Blutdruck senken, sportliche Leistungen steigern und das Nervensystem ins Gleichgewicht bringen kann.
Mit dem 6000. Atemzug befinden Sie sich im Land ernsthaften, bewussten Atmens. Sie werden über Mund und Nase hinaus tiefer in die Lungen vorstoßen, und wir begegnen einem Pulmonauten des 20. Jahrhunderts, der Veteranen des Zweiten Weltkriegs von ihren Emphysemen heilte und Kurzstreckenläufer trainierte, die bei Olympischen Spielen Goldmedaillen gewannen – beides, indem er die Kraft des Ausatmens nutzte.
Beim 8000. Atemzug werden Sie noch tiefer in den Körper vorgedrungen sein, um – ausgerechnet – das Nervensystem anzuzapfen. Sie werden die Kraft der Hyperventilation entdecken. Sie werden Pulmonauten treffen, die mithilfe der Atmung verkrümmte Wirbelsäulen begradigen, Autoimmunerkrankungen beherrschen und sich bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt innerlich aufheizen. Das ist alles eigentlich gar nicht möglich, aber Sie werden sehen, dass es doch funktioniert. Auch ich werde auf dieser Reise einiges lernen und zu verstehen versuchen, was vor einem Jahrzehnt in dieser viktorianischen Villa mit mir geschehen ist.
Wenn Sie den 10 000. Atemzug und das Ende dieses Buchs erreichen, werden Sie und ich wissen, wie die Luft, die in Ihre Lungen eintritt, jeden Augenblick Ihres Lebens beeinflusst und wie Sie Ihr volles Potenzial bis zu Ihrem letzten Atemzug ausnutzen.
In diesem Buch geht es um viele Fachgebiete: Evolutionsgeschichte, Medizingeschichte, Biochemie, Physiologie, Physik, Sportwissenschaft und andere. Aber hauptsächlich geht es darin um Sie.
Als Durchschnittsmensch werden Sie 670 Millionen Atemzüge im Leben tun. Vielleicht haben Sie die Hälfte schon hinter sich. Vielleicht sind Sie schon bei Nummer 669 000 000. Vielleicht möchten Sie ja noch ein paar Millionen dazu.