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Willy Brandt

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Gregor Schöllgen
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Die Biographie

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Willy Brandt — Inhalt

Willy Brandt hat es weit gebracht: Vom unehelichen Sohn aus dem Lübecker Arbeitermilieu bis zum Vorsitzenden der SPD und Chef der Sozialistischen Internationale, vom NS-Verfolgten und Ausgebürgerten zum Bundeskanzler und Friedensnobelpreisträger. Er war Liebhaber und Genussmensch, dreifacher Ehemann und vierfacher Vater, rastlos Reisender und Autor zahlloser Artikel und Bücher, ein Mann mit vielen Freundschaften, aber ohne Freunde, gesellig, aber einsam – ein Mensch voller Widersprüche. Dieser epochalen Biographie gelingt es, das vielschichtige Wesen des Mannes zu entschlüsseln und ihn uns nicht nur als Politiker, sondern vor allem als Mensch auf neue Weise nahe zu bringen. Der Historiker Gregor Schöllgen ist eine Koryphäe der Brandt-Forschung: Als Mitherausgeber des Nachlasses besaß er auch Zugang zu dessen privaten Papieren, die von ihm mitbetreute „Berliner Ausgabe“ (2000–2009) der Schriften Willy Brandts gilt als Meilenstein. Kein Biograph hat so viele bedeutende Weggefährten, Angehörige, Freunde und Antagonisten des großen Politikers persönlich befragt, darunter Egon Bahr, Rut Brandt, Hans-Dietrich Genscher, Helmut Kohl, Johannes Rau, Walter Scheel, Helmut Schmidt, Gerhard Schröder und Richard von Weizsäcker.

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 13.08.2013
336 Seiten, WMePub
EAN 978-3-8270-7651-9
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Leseprobe zu „Willy Brandt“

Der Aufbruch

Einsam gegen den Strom
1913 – 1933


Es ist ein großer Tag. Am 21. Oktober 1969, um 11.22 Uhr, gibt der
Präsident des Deutschen Bundestages das Ergebnis bekannt: Mit
der hauchdünnen, aber hinreichenden Mehrheit von drei Stimmen
ist der Abgeordnete Willy Brandt zum Bundeskanzler der Bundesrepublik
Deutschland gewählt worden. Von außen betrachtet, ist
das der triumphale Höhepunkt einer scheinbar unaufhaltsamen und
beinahe bruchlosen Politikerkarriere im geteilten Nachkriegsdeutschland.
Willy Brandt selbst weiß es besser, »weil jedes Leben
von innen her [...]

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Der Aufbruch

Einsam gegen den Strom
1913 – 1933


Es ist ein großer Tag. Am 21. Oktober 1969, um 11.22 Uhr, gibt der
Präsident des Deutschen Bundestages das Ergebnis bekannt: Mit
der hauchdünnen, aber hinreichenden Mehrheit von drei Stimmen
ist der Abgeordnete Willy Brandt zum Bundeskanzler der Bundesrepublik
Deutschland gewählt worden. Von außen betrachtet, ist
das der triumphale Höhepunkt einer scheinbar unaufhaltsamen und
beinahe bruchlosen Politikerkarriere im geteilten Nachkriegsdeutschland.
Willy Brandt selbst weiß es besser, „weil jedes Leben
von innen her gesehen nichts weiter als eine Kette von Niederlagen
ist“. Das jedenfalls notiert er in seiner unverwechselbaren Handschrift
auf einen jener Zettel, die in unregelmäßigen Abständen ihren
Weg in zwei Aktenmappen mit Zitatensammlungen finden.
Neben anderen ihm wichtigen Materialien hebt Brandt auch diese
bis zu seinem Tod in seinem Haus in Unkel am Rhein auf.
Wir wissen nicht, wann sich Willy Brandt diesen Satz notiert
hat; aber wir wissen, daß er vom Autor des Romans 1984, dem
englischen Schriftsteller George Orwell, stammt, dem Brandt
während des Spanischen Bürgerkrieges begegnet ist; wir wissen
auch, daß Brandt Veranlassung genug hat, die notierte Erkenntnis
auf sein eigenes Leben zu beziehen. Denn selbst in der
Stunde des großen Triumphes holt ihn dieses Leben ein: „Frahm
nein“ ist auf einer der vier Stimmkarten zu lesen, die Bundestagspräsident
Kai-Uwe von Hassel nach der Wahl Willy Brandts
zum Bundeskanzler für „ungültig“ erklärt.
Wenn es stimmt, daß unser ganzes Leben, mehr oder weniger
stark, von den Erlebnissen der frühen Jugend und insbesondere
der Kindheit geprägt wird, dann hat Willy Brandt zeitlebens an
einer Bürde zu tragen gehabt: Am 18. Dezember 1913 erblickt er
in Lübeck als uneheliches Kind das Licht der Welt. Zwei Tage
später wird der Junge ins Geburtsregister der Hansestadt eingetragen
– unter dem Namen seiner Mutter. Fünfunddreißig Jahre
lang wird er amtlich den Namen „Herbert Ernst Karl Frahm“
führen, obgleich er sich bereits als Neunzehnjähriger erstmals
„Willy Brandt“ nennt. Wir bleiben im folgenden bei diesem
„Nom de guerre“, den er trägt, seit er den Kampf gegen die Hitler-
Diktatur aufnimmt.
Seinen Vater hat Willy Brandt nie gesehen. Eine männliche
Bezugsperson, welche die väterliche Rolle übernimmt, gibt es im
Leben des Jungen erst seit Ende des Jahres 1918, als sein vermeintlicher
Großvater Ludwig Frahm aus dem Krieg heimkehrt.
Da ist Willy Brandt bereits fünf Jahre alt, und natürlich
kann Ludwig Frahm, bei aller Fürsorge, den Vater nicht ersetzen.
So fehlen dem Jungen wichtige Erfahrungen: Wie sich die
Persönlichkeit im Konflikt mit dem Vater formt, erfährt er nicht;
was väterlicher Schutz bedeutet, bleibt ihm vorenthalten. „Der
Jugendliche aus dem vollproletarischen Haushalt“, schreibt er
als Sechzehnjähriger in einem Artikel für die lokale Presse,
„sucht Anlehnung. Und das ist leicht erklärlich, denn im Elternhaus
wird er sie meistens nicht finden können.“ Kann es angesichts
dieser frühen, prägenden Erfahrung überraschen, daß
sich Brandt seinerseits mit der Vaterrolle und dem Familienleben
schwergetan hat?
Jahrzehnte später stellt der beinahe Siebzigjährige fest, daß
er schon früh, nämlich während seines Exils in Norwegen, darauf
verzichtet habe, „die Entwirrung von Kindheitsproblemen
durch eine Analyse zu versuchen“. Er bleibt überzeugt, daß er
sein Leben auch ohne psychologische oder psychotherapeutische
Hilfe „bestanden“ habe. Er hat seine eigenen Wege und
Mittel der Lebensbewältigung. Einmal das Reisen: Kein zweiter
deutscher Politiker seines Formats ist zeitlebens so intensiv
unterwegs gewesen wie Willy Brandt, wenn auch eine Zeitlang,
während der Jahre 1933 bis 1945, nicht nur freiwillig, sondern
weil er verfolgt wird und im Untergrund tätig ist. Und dann das
Schreiben: Allein fünf Bände mit Lebenserinnerungen in einem
Gesamtumfang von zweieinhalbtausend Druckseiten,
zahlreiche Arbeiten mit mehr oder weniger deutlichen autobiographischen
Zügen nicht mitgerechnet, sind auch für einen
prominenten Zeitgenossen eine ungewöhnliche, aber noch
nicht einmal die vollständige Bilanz: Beginnend in seiner Berliner
Zeit, hat Brandt so häufig wie kein anderer deutscher
Politiker in Rundfunk- und Fernsehinterviews über sein Leben
gesprochen.
Auf den ersten Blick scheinen sich die beiden Wege zu widersprechen,
die Willy Brandt bis ins hohe Alter hinein einschlägt,
um schwere Krisen zu meistern. Dabei sind es lediglich
zwei Varianten eines Grundverhaltens: Sowohl das Reisen, bei
dem man nach vorne schaut, als auch die rückwärtsgewandte Erinnerung
vermeiden den Blick auf die Gegenwart mit ihren Ängsten,
Schmerzen und Niederlagen. Brandt hat im Laufe seines
bald achtzigjährigen Lebens einen in der Summe höchst erfolgreichen
Umgang mit dieser Doppelstrategie entwickelt. Mit ihrer
Hilfe überlebt er und übersteht schließlich, was andere aus
der Bahn geworfen hätte.
Als er erstmals unter dem Titel Mein Weg nach Berlin Memoiren
vorlegt, ist Willy Brandt noch nicht einmal fünfzig Jahre
alt. In den Jahren zuvor hat er manchen Rückschlag hinnehmen
müssen, zum Beispiel jeweils zwei gescheiterte Kandidaturen für
den Landesvorsitz der SPD in Berlin und für einen Platz im
Bundesvorstand der Partei. Die Rückschläge werden von verletzenden
Kampagnen begleitet, die sich auf seine Jahre im Exil
und im Widerstand gegen die Nazi-Diktatur, aber auch auf seine
Herkunft beziehen. Für den in solchen Krisenzeiten auf sein Leben
Zurückblickenden legt sich über die Lübecker Jahre ein
„undurchsichtiger Schleier …, grau wie der Nebel über dem Lübecker
Hafen. … Es ist schwer für mich, zu glauben, daß der
Knabe Herbert Frahm ich selber war.“
Nachdem er in den folgenden Jahren zweimal als Kanzlerkandidat
gescheitert ist und auch die Diffamierungskampagnen
einen neuen Höhepunkt erreicht haben, greift Willy Brandt erneut
zur Feder: 1966 erscheint unter dem Titel Draußen eine
Auswahl seiner „Schriften während der Emigration“. Mit seinen
autobiographischen Partien ist auch dieses Buch ein Akt der
Krisenbewältigung. Und so wird es bleiben. Nach seiner wohl
schwersten politischen Niederlage, dem Rücktritt vom Amt des
Bundeskanzlers am 6. Mai 1974, veröffentlicht er innerhalb von
nur acht Jahren nicht weniger als drei umfangreiche Erinnerungsbände.
Der letzte dieses Zyklus, Links und frei. Mein Weg
1930-1950, enthält zugleich einige der erhellendsten Selbstbeobachtungen,
die er für den Druck freigegeben hat. Wenige Jahre
später macht sich Willy Brandt ein letztes Mal ans Werk und legt
mit seinen Erinnerungen, die 1989 erscheinen, die Gesamtbilanz
eines ungewöhnlich reichen und wechselvollen Lebens vor.
Auch dieser Niederschrift geht eine schwere politische Niederlage
voraus – der zu diesem Zeitpunkt nicht geplante Rücktritt
als Vorsitzender der SPD aus nichtigem Anlaß im März 1987.
In vielen Fällen sind wir heute auf die diversen Selbstzeugnisse
Willy Brandts angewiesen, weil uns andere Quellen kaum
zur Verfügung stehen. Das gilt insbesondere für seine Lübecker
Jahre, in vieler Hinsicht aber auch noch für die Zeit des Exils.
Veranlassung, grundsätzlich an der Authentizität des Erinnerten
zu zweifeln, gibt es nicht. Wo wir auf andere zeitgenössische Informationen
zurückgreifen können, bestätigen sie in aller Regel
Brandts Version, und im übrigen kann nur die unverfälschte Erinnerung
ihre Funktion der Selbstvergewisserung erfüllen. Romane
schreibt er in Krisenzeiten eben nicht.
Wohl aber denkt er schon früh an seinen Ort in der Geschichte.
So gesehen ist die öffentliche Erinnerung immer auch Selbststilisierung
und der Versuch, mit eigenen Mitteln ein Bild für die
Nachwelt zu zeichnen. Als der Journalist Günter Struve im Auftrag
Willy Brandts dessen Arbeiten aus der Exilzeit für den Band
Draußen durchsieht, fällt ihm auf: „Wie hat der Mann früh angefangen,
an seine Rolle in der Geschichte zu denken. Das waren
keine literarischen Meisterwerke, aber alles edel und richtig.“ Seit
den fünfziger Jahren überläßt Brandt in dieser Hinsicht nichts
mehr dem Zufall. Schon mit dem ersten Memoirenband Mein Weg
nach Berlin beginnt diese Inszenierung des eigenen Lebens für die
Nachwelt. Das hat unter anderem zur Folge, daß der junge, idealistisch-
ungestüme Brandt in der Rückschau des alternden Mannes
mitunter reifer und zielstrebiger erscheint, als er tatsächlich
gewesen ist und gewesen sein kann.
In seinen letzten „Erinnerungen“, die fünfundsiebzig Jahre
nach seiner Geburt erscheinen, sagt Willy Brandt erstmals öffentlich,
was er über seinen Vater weiß. Erst nach Ende des
Zweiten Weltkriegs habe er es „gewagt“, die Mutter, „dabei die
briefliche Distanz wählend“, nach dem Namen des Vaters zu fragen.
Diese habe „prompt einen Zettel“ zurückgeschickt, auf
dem der väterliche Name vermerkt gewesen sei: John Möller aus
Hamburg. Das muß vor dem Mai 1949 gewesen sein, denn in seinem
Antrag auf Namensänderung benennt Brandt seinen Vater.
Jahre später, am 7. Juni 1961, fällt ein bis dahin unbekannter
Vetter namens Gerd André Rank brieflich „mit der Tür ins
Haus“, stellt sich als „außer Ihnen“ einziger „noch lebender
Enkel unserer gemeinsamen Großmutter, Frau Maria Möller“,
vor und zeichnet für den Regierenden Bürgermeister von Berlin
ein Bild des Vaters. Dem kann Willy Brandt entnehmen, daß
John Möllers Erinnerungsvermögen durch eine Verwundung
aus dem Ersten Weltkrieg beeinträchtigt gewesen ist, daß er als
Buchhalter gearbeitet hat und 1958 in Hamburg gestorben ist.
Nicht ohne Stolz zitiert Brandt 1989 den Cousin, wonach der
leibliche Vater „eine außergewöhnliche menschliche Tiefe besessen
und trotz seiner verhältnismäßig einfachen Position im
Leben eine Persönlichkeit dargestellt habe, die jene, die ihn
kannten, stark beeindruckt“ habe. Als die inzwischen geschiedene
Frau des Vetters diese Passage liest, greift auch sie zur Feder,
bestätigt Willy Brandt das von Gerd André gezeichnete Bild
und fügt hinzu, Vater John Möller sei ein „ruhiger, ausgeglichener
und besonnener Mensch“ gewesen.
Die Unklarheit über seinen leiblichen Vater, an deren öffentlicher
Aufklärung er sich erstaunlicherweise bis zu seinem Lebensabend
nicht beteiligt, macht Brandt zeitlebens zu schaffen,
auch bei seiner politischen Karriere. Im Laufe der Jahrzehnte
und vor allem im Zuge der Verleumdungskampagnen der fünfziger
und sechziger Jahre werden ihm zahlreiche Väter angedichtet,
darunter nach eigener Auskunft ein mecklenburgischer Graf,
ein deutsch-nationaler Amtsgerichtsrat, der bulgarische Kommunist
Wladimir Pogoreloff, der Dirigent Hermann Abendroth
und nicht zuletzt Julius Leber, der führende Lübecker Sozialdemokrat
und frühe politische Ziehvater Willy Brandts.
Zu Beginn der norwegischen Exilzeit macht sein Onkel
Ernst, der Bruder seiner Mutter Martha Frahm, „das familiäre
Chaos vollkommen“ und gibt Willy Brandt zu verstehen, daß
Ludwig Frahm „wahrscheinlich“ nicht der Vater seiner Mutter
und also auch nicht sein Großvater sei. Auch mit dieser Information
tritt Brandt erst 1989 an die Öffentlichkeit, und er
scheint dieser Version einiges abgewonnen zu haben: „Im alten
Mecklenburg“, schreibt er an seinem Lebensabend in etwas verklausulierter
Wendung, „wäre es nicht das erstemal gewesen,
daß eine Landarbeiterin dem gutsherrlichen Recht der ersten
Nacht zu gehorchen hatte; in diesem Falle wäre es die spätere
Frau des Ludwig Frahm gewesen, die früh starb“.
Mit anderen Worten: Willy Brandt hat zwar, wie jeder
Mensch, einen Vater und einen Großvater; zu Gesicht bekommen
hat er aber weder den einen noch den anderen. Jedenfalls
ist „Ludwig Heinr. Karl Frahm, geb. 31. 10. 75 in
Arpsrade“ – so der Personalbogen seines späteren Arbeitgebers
– nicht sein Großvater. Bevor dieser sich Anfang des
Jahrhunderts auf den Weg nach Lübeck macht, hat er als
Knecht auf einem mecklenburgischen Gut gearbeitet und
dort die Magd Wilhelmine kennengelernt. Als die beiden heiraten,
bringt diese ihre 1894 unehelich geborene Tochter
Martha mit in die Ehe. So wird Ludwig Frahm, der keine
leiblichen Kinder hat, in jungen Jahren Vater, genauer gesagt
Stiefvater, und nimmt im Leben der Martha Frahm die Stelle
ein, die er später auch bei deren Sohn einnehmen wird, die des
Ersatzvaters.
Es überrascht nicht, daß Ludwig Frahm von Willy Brandt
„Papa“ genannt wird und noch in dessen Reifezeugnis als Vater
firmiert. Wilhelmine Frahm, die Großmutter also, stirbt 1913,
wenige Wochen, bevor er selbst das Licht der Welt erblickt. Für
den Witwer Ludwig Frahm bleibt wenig Zeit, seinem Leben
eine neue Richtung zu geben. Der Ausbruch des großen Krieges
in den ersten Augusttagen des Jahres 1914 führt auch ihn für gut
vier Jahre an die Front. Immerhin überlebt er die Katastrophe.
1919 heiratet er zum zweiten Mal, und zwar die zehn Jahre jüngere
Dorothea Sahlmann. Willy Brandt kann sie „nicht ausstehen
“, muß aber fortan Ludwig Frahm, der als sein Großvater gilt
und als sein Vater herhalten muß, mit dieser Person teilen.
Folglich nennt er Dorothea Frahm auch nicht „Oma“, schon
gar nicht „Mama“, denn eine solche hat er ja, und zwar eine
richtige, sondern „Tante“. Als „Onkel“ firmiert übrigens der
Mann seiner Mutter, der mecklenburgische Maurerpolier Emil
Kuhlmann, den Martha Frahm heiratet, als der Junge dreizehn
Jahre alt ist. Aus dieser Ehe geht ein Sohn hervor, Brandts Halbbruder
Günter Kuhlmann. So markiert die unübersichtliche, in
entscheidenden Aspekten auch lange ungeklärte familiäre Situation
schon in der Kindheit Willy Brandts einen Punkt, an dem
er verletzbar ist. Das spüren bald auch seine Gegner.
Über seine Mutter erfahren wir durch Willy Brandt wenig.
1982 schildert er sie als „lebhaft, unbeschadet ihrer Neigung zur
Korpulenz“, mit dichtem dunkelblondem Haar und jenen „›slawischen‹
Backenknochen“, die er selbst „in abgemilderter
Form“ geerbt habe. Martha Frahm ist, „auf eine unverkrampfte
Art, naturverbunden und kulturhungrig“. Soweit es die Tätigkeit
als Verkäuferin im Konsumverein zuläßt, nimmt sie am politischen
und kulturellen Leben des Milieus und der Stadt teil. Ihr
Abonnement bei der Lübecker Volksbühne ist ihr wichtig; von
ihrer Verbindung zum Wanderverein der „Naturfreunde“ profitiert
Sohn Willy durch den einen oder anderen Sommeraufenthalt
an der Ostsee. Martha Kuhlmann stirbt im August 1969, we-
nige Monate nach ihrem Mann, kann also die Karriere ihres Sohnes
fast bis zum Höhepunkt der Kanzlerschaft verfolgen.
Um ihren Sohn durchzubringen, muß Martha Frahm hart arbeiten,
zumal ihr Stiefvater Ludwig Frahm seit Beginn des Krieges
im Feld steht. Häufig hat der Junge sie nicht gesehen. Dabei
ist die Mutter durchaus stolz auf ihn – und auf ihr Vaterland, das
einen Existenzkampf zu bestehen hat. Kaum ist der kleine Willy
drei Jahre alt, läßt Martha Frahm ihn ablichten: mit kaiserlicher
Uniform, Pickelhaube und Holzgewehr. In Kenntnis der weiteren
Biographie Willy Brandts hat der ungläubig staunende Blick
des solchermaßen zum strammen Militaristen beförderten Kindes
seinen eigenen Reiz. Martha Frahms Sechstagewoche bringt
es mit sich, daß der Sohn die meiste Zeit bei einer Nachbarin,
Paula Bartels-Heine, lebt. Sie verwahrt das Kind von Sonntagabend
bis zum folgenden Samstag. Jahrzehnte später beschreibt
sie ihn als einen „richtigen Jungen, der sich nicht die Butter vom
Brot nehmen ließ und durchaus seinen eigenen Kopf hatte“.
Das knappe und respektvolle Porträt, das Willy Brandt von
seiner Mutter zeichnet, ist nüchtern und distanziert. Von Emotionen
keine Spur. Das mag an der natürlichen Scheu vor einem
unangemessenen Exhibitionismus liegen, hat aber womöglich
auch damit zu tun, daß er als Kind nie wirklich erfahren hat, was
mütterliche Liebe und menschliche Nähe bedeuten. Noch im
hohen Alter stellt Brandt vor laufenden Kameras fest, daß es für
ihn nicht jene „normale Bindung geben konnte …, die jemand
empfindet und entwickelt, wenn er bei der Mutter aufwächst“.
Kein Wunder, daß er sich mit „normalen“ Bindungen zeitlebens
schwertut. Wie viele Menschen mit dieser Prägung sucht auch
er nach Ersatz – für die Liebe und für die Nähe. Finden wird er
ihn zunächst in der Jugendbewegung, sehr bald aber schon in der
Politik. Der Auftritt im politischen Raum, der Parteitag oder der
Wahlkampf, das sind Höhepunkte im Leben des Willy Brandt:
Hier lassen sich Menschen erreichen, läßt sich Bestätigung finden
und Nähe herstellen, ohne daß die Distanz aufgehoben werden
muß.
Erst mit der Rückkehr Ludwig Frahms aus dem Krieg hat der
Junge die dringend benötigte männliche Bezugsperson. Bei ihm
wächst Willy Brandt seit seinem sechsten Lebensjahr auf. Seit
September 1910 hat Ludwig Frahm Arbeit im Lübecker Drägerwerk,
und zwar als „Lastautofahrer in der Expedition“. Nach
dem Krieg lassen sich damit etwa 200 Mark im Monat verdienen,
und die reichen immerhin für eine kleine Wohnung in der Moislinger
Allee 49, „mit zwei Zimmern, Küche und vor allem einem
kleinen Bad, nebst Dachkammer für mich“, wie Brandt 1982
schreibt. Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß der Rückblick
des Alters die Kindheit in einem verklärten Licht erscheinen
läßt, bleibt doch der Eindruck, daß Willy Brandt, soweit das unter
den widrigen Umstände eben möglich ist, eine harmonische
Kindheit verbringt, und daran hat Ludwig Frahm einen entscheidenden
Anteil.
Er gibt dem Jungen ein Zuhause, weist ihm den Weg in die
sozialistische Arbeiterbewegung, ermöglicht ihm eine Ausbildung
und formt seinen Charakter maßgeblich mit. 1960 – und in
leicht variierter Form noch einmal 1982 – hat Willy Brandt von
seinem „vielleicht nachhaltigsten Kindheitserlebnis“ erzählt,
das sich wohl im Jahr 1921 zugetragen hat. Es ist die Zeit der Inflation;
in Lübeck streikt die Arbeiterschaft, und der Streik führt
zur Aussperrung. Das trifft auch den Ziehsohn des streikenden
Ludwig Frahm, für den sich in der Rückschau „die meisten der
frühen Erinnerungen mit dem Essen verbinden“. Man kann sich
leicht den sehnsüchtigen Blick vorstellen, mit dem der Achtjährige
die Auslagen einer Bäckerei fixiert, als einer der Direktoren
des Drägerwerks, also des Arbeitgebers Ludwig Frahms,
ihn sieht, mit ihm in den Laden geht und ihm zwei Laib Brot
kauft. Als der Junge daheim das kostbare Geschenk stolz präsentiert,
fordert ihn Ludwig Frahm zu seiner großen Überraschung
auf, die Brote wieder zurückzubringen: „Geschenkt! Ein
streikender Arbeiter nimmt kein Geschenk vom Arbeitgeber an.
Wir lassen uns nicht vom Feind bestechen. Wir sind keine Bettler,
die man mit Almosen abspeist. Wir wollen unser Recht,
keine Geschenke. Bring das Brot zurück, sofort!“

Gregor Schöllgen

Über Gregor Schöllgen

Biografie

Gregor Schöllgen, Jahrgang 1952, ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Erlangen, wo er das Zentrum für Angewandte Geschichte (ZAG) leitet. Er war Gastprofessor in New York, Oxford und London, ist Mitherausgeber der Akten des Auswärtigen Amtes und des Nachlasses von Willy Brandt. Er...

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