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Sechs Jahre Weltumrundung

Sabine Hoppe
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Im Lkw-Oldtimer durch 54 Länder

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Sechs Jahre Weltumrundung — Inhalt

Freiheit auf vier Rädern

7,5 Tonnen schwer, 32 Jahre alt – das ist Paula, ein Mercedes-Lkw mit Oldtimer-Status, den Sabine Hoppe und Thomas Rahn zu ihrem neuen Zuhause erklären. Statt nach dem Studium direkt ins Berufsleben einzusteigen, beschließen die beiden, auf Weltreise zu gehen. Dass sie erst sechs Jahre später wieder zurückkehren werden, ahnen sie zu diesem Zeitpunkt nicht. Sie durchqueren Asien, reisen entlang der legendären Panamericana von Kanada bis Feuerland und fahren der Länge nach durch Afrika. Sie teilen mit Nomaden das Feuer, entgehen nur knapp einem Bürgerkrieg und kämpfen mit zahlreichen Pannen. Jeder Tag hält neue Herausforderungen und unerwartete Begegnungen für sie bereit – ein packender Bericht über einen Roadtrip ins Ungewisse.

€ 16,00 [D], € 16,50 [A]
Erschienen am 01.07.2021
352 Seiten, Klappenbroschur
EAN 978-3-492-40642-0
Download Cover
€ 15,99 [D], € 15,99 [A]
Erschienen am 01.03.2019
320 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99280-0
Download Cover

Leseprobe zu „Sechs Jahre Weltumrundung“

Prolog: In der Falle
Sabine
Nichts zu sehen. Durch das Fenster spähe ich in die Dunkelheit. Habe ich mir das Klopfen nur eingebildet? Nein. Ich erkenne einen kleinen Mann, der vor unserem Fahrzeug steht. Thomas erhebt sich von der Sitzbank, schiebt den dicken Eisenriegel zur Seite, drückt den Hebel nach unten, und die Tür schwingt auf. Erst jetzt entdecke ich weitere Schatten. Thomas schaltet die Außenbeleuchtung ein und zuckt zurück. Wir blicken in die finsteren Gesichter von gut zwanzig Männern, die mit Gewehren, Macheten und Holzknüppeln bewaffnet vor [...]

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Prolog: In der Falle
Sabine
Nichts zu sehen. Durch das Fenster spähe ich in die Dunkelheit. Habe ich mir das Klopfen nur eingebildet? Nein. Ich erkenne einen kleinen Mann, der vor unserem Fahrzeug steht. Thomas erhebt sich von der Sitzbank, schiebt den dicken Eisenriegel zur Seite, drückt den Hebel nach unten, und die Tür schwingt auf. Erst jetzt entdecke ich weitere Schatten. Thomas schaltet die Außenbeleuchtung ein und zuckt zurück. Wir blicken in die finsteren Gesichter von gut zwanzig Männern, die mit Gewehren, Macheten und Holzknüppeln bewaffnet vor dem Lkw stehen und uns genauso stumm anstarren wie wir sie.
Spät am Abend auf der Suche nach einem Nachtplatz hatten wir am Rande eines kleinen Dorfes im Norden von Laos geparkt. Alles schien ruhig und friedlich, als wir ankamen. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Aber jetzt, eine Stunde später, steht dieser Trupp vor uns, mit weit aufgerissenen Augen, die Waffen fest im Griff. Die Männer sind stämmig, manche Gesichter dunkel und faltig, einige von ihnen tragen Mützen. Soldaten sind es nicht, denn die würden keine Macheten in den Händen halten. Es war leichtsinnig, gleich die Tür zu öffnen. Was machen wir jetzt?
Mein erster Blick fällt auf den schmalen Durchgang, über den wir vom Wohnkoffer in die Fahrerkabine gelangen. Doch bei Nacht in diesem unwegsamen Gelände wäre ein Fluchtversuch mit unserem behäbigen Fahrzeug aussichtslos. Wir sitzen in der Falle.



TEIL 1
TRANSASIEN

Deutschland
Eine Idee nimmt Gestalt an
Sabine
„Was denkst du, wie lange dauert es, einmal um die Welt zu fahren?“
„Keine Ahnung. Lass es uns doch ausprobieren!“
Ich kenne Thomas, seit er mit vierzehn in meine Klasse kam. Beide besuchten wir das Gregor-Mendel-Gymnasium in Amberg in der Oberpfalz. Mit siebzehn wurden wir ein Paar, mit neunzehn schnürten wir zum ersten Mal unsere Rucksäcke, um auf eigene Faust Europa zu erkunden. Wir ließen den alltäglichen Luxus zurück, schliefen in Gemeinschaftssälen mit bis zu sechzig Leuten, kauerten auf Bahnhöfen und liefen uns die Füße wund. Doch da war es, das Gefühl von Freiheit und Abenteuer.
Jahr für Jahr wurden die Reisen länger, die Ziele ferner. Unsere Neugier auf die Welt und ihre Bewohner wuchs und mit ihr die Idee einer Langzeitreise.
2007 tauschten wir erstmals die Rucksäcke gegen einen kleinen Bus und erkundeten acht Wochen lang Neuseeland. Nicht mehr angewiesen auf öffentliche Verkehrsmittel und Unterkünfte hatten wir die herrlichsten Fleckchen Erde ganz für uns, konnten abseits ausgetretener Pfade die entlegensten Ecken entdecken und lernten das Gefühl von Freiheit noch einmal vollkommen neu kennen. Davon wollten wir mehr, das war uns klar.
Also nahmen wir eine Karte und überlegten, wie lange es dauern würde, einmal mit dem eigenen Fahrzeug um die Welt zu fahren: Ein Jahr Europa und Asien, ein Jahr Nord-, Mittel- und Südamerika, ein Jahr Afrika. Drei Jahre – das klang unglaublich lang. Wollten wir das wirklich? Einen derart langen Zeitraum unterwegs zu sein, konnte sich weder Thomas noch ich mir vorstellen. Dennoch begannen wir mit der Planung.
Thomas studierte damals im sechsten Semester Forstwissenschaft in Freising bei München. Ich hatte gerade in Stuttgart mein Vordiplom in Freier Malerei absolviert. Die Uni abzubrechen kam für uns nicht infrage. Wir nahmen uns also vor, den Abschluss des Studiums anzugehen und in den etwa zwei Jahren bis dahin all die Dinge zu organisieren und zu planen, die vorab erledigt werden konnten.
Drei Jahre reisen, was würde das kosten? Wir kalkulierten Essen, Treibstoff, Verschiffungen, Visa, Gebühren und Eintrittsgelder und kamen auf 750 Euro pro Person und Monat. Für die gesamte Zeit bräuchten wir somit je 27 000 Euro.
Thomas hatte bereits als Kind den Wunsch gehegt, eine Weltreise zu machen. Mit dieser Idee im Hinterkopf legte er das ihm zur Verfügung stehende Geld schon immer lieber zur Seite, als es auszugeben. Er lebte günstig in einer Wohngemeinschaft, arbeitete neben dem Studium an mehreren Lehrstühlen an der Uni, im Winter als Snowboardlehrer. Auch ich hatte bereits etwas Geld angespart. Ich verkaufte mein Auto, einige Ölgemälde, die ich in den letzten Jahren gemalt hatte, und arbeitete jede freie Minute in der Kaffeerösterei meiner Brüder. Ich kündigte meine Einzimmerwohnung in Stuttgart, zog für ein Semester in mein Atelier an der Kunstakademie und übernachtete auf einem Sofa zwischen Leinwänden, Paletten und Ölfarben.
Auf der Suche nach einem geeigneten Reisefahrzeug entdeckten wir im Internet die Anzeige für einen gebrauchten Lastwagen mit Wohnkabine und Allradantrieb, der früher beim Bundesgrenzschutz seinen Dienst getan hatte. Groß, laut, langsam, 7,5 Tonnen schwer und damals gerade dreißig Jahre alt. Der Vorbesitzer hatte den ehemaligen Funkwagen bereits zum Wohnmobil ausgebaut und ihm einen Namen gegeben: Paula.
Paula hatte alles, was wir wollten: Eine Küchenzeile mit Gasherd, Spülbecken und Kühlschrank, eine Sitzecke für vier Personen, die zum Gästebett umgebaut werden konnte, und ein Doppelbett. Ein winziges Bad mit Toilette und Dusche, Solarzellen und Staukisten auf dem Dach und große Wasser- und Dieseltanks. Paula war perfekt. Fast. Thomas konnte nur unter der Dachluke aufrecht stehen, während ich mit meinen ein Meter 64 genügend Platz zum Umherspringen hatte.
Uns war schnell klar, das wird unser neues Heim. Nachdem Paulas Aufgabe über zwanzig Jahre darin bestanden hatte, Grenzen zu beschützen, sollte sie fortan das Gegenteil machen: Sie sollte uns helfen, Grenzen zu überschreiten. Wir bauten einen kleinen Holzofen ein, ergänzten eine Schiebetür, damit wir den Durchgang zwischen Fahrer- und Wohnkabine schließen konnten, gaben ihr einen neuen Anstrich, und dann war Paula startklar.
Auch die Reiseroute stand fest. Wir wollten in Richtung Osten aufbrechen, über die Türkei nach Iran einreisen, Turkmenistan durchqueren und entlang der Seidenstraße durch Usbekistan bis Kasachstan fahren. Nach zwölf Monaten würden wir Wladiwostok am äußersten Ende Russlands erreichen und dort Paula auf ein Schiff setzen, das sie über den Pazifik nach Kanada bringt. Nach einem Jahr entlang der Panamericana bis Argentinien sollte eine weitere Passage über den Atlantischen Ozean folgen. In Südafrika angelandet, würden wir dann über Land zurück nach Europa fahren. Es konnte losgehen!28. November 2009, heute ist der Tag der Abreise. Seit Wochen verdränge ich den Gedanken an den Moment des Abschieds. Jetzt ist er gekommen. Bringen wir ihn hinter uns. Eine letzte Umarmung, dann steigen wir ein.
Es fällt mir schwer, meine Gefühle zu ordnen. Da ist die Traurigkeit, meinen Eltern, Großeltern und Brüdern auf unbestimmte Zeit Lebewohl zu sagen. Da ist die Unsicherheit und die Angst vor dem, was in der Fremde auf uns wartet. Aber gleichzeitig spüre ich auch die riesige Vorfreude auf ein freies, selbstbestimmtes Leben und die unbändige Neugierde auf fremde Kulturen und ferne Länder.
Während wir beide, jeder für sich, unseren ganz eigenen Gedanken nachhängen, fahren wir unserem neuen Leben entgegen: Einem Leben voller Unbekanntem, Spannung und Abenteuer.


Bulgarien
Kilometer 2718
Alles anders als gedacht
Sabine
Ich will nach Hause, denke ich, sage es aber nicht. Seit drei Wochen sind wir unterwegs, und der Reisealltag sieht ganz anders aus, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Dabei hätte ich es ahnen müssen. Schon die erste Probefahrt im vergangenen Frühjahr war ein Desaster. Auf dem Weg nach Slowenien platzte bei Paula eine verrostete Bremsleitung. Nicht irgendwo, sondern ganz oben am Wurzenpass in Österreich bei achtzehn Prozent Gefälle. Ein Spezialabschleppwagen konnte Paula bis zur nächsten Werkstatt bringen. Vier Stunden am Haken, zwei Tage Reparatur. Die komplette Reisekasse für die zweiwöchige Probefahrt war innerhalb von drei Tagen aufgebraucht. Großartige Vorzeichen für unser Vorhaben, mit dieser alten Kiste um die Welt zu fahren.
Warum habe ich zu dem Zeitpunkt nicht schon erkannt, dass unsere Vorstellungen von einer Langzeitreise mit einem Oldtimer, der älter ist als wir, absolut naiv sind?
Immerhin verbreitet nun der neu eingebaute Holzofen wohlige Wärme in der Wohnkabine. Doch statt zahlreicher interessanter Begegnungen und kulturellem Austausch tuckern wir mit durchschnittlich sechzig Stundenkilometern durch menschenleere Landstriche. Österreich, Slowenien, Ungarn liegen hinter uns, jetzt sind wir in Bulgarien: und keine Menschenseele weit und breit.
Wer würde jetzt auch freiwillig einen Fuß vor die Tür setzen? Es ist Mitte Dezember und bitterkalt. Uns geht es ja ganz ähnlich. Nur kurze Zeit, nachdem wir ausgestiegen sind, um einen Ort zu besichtigen, klettern wir auch schon die kleine Metallleiter zurück in die warme Stube. Winter im Wohnmobil ist miserabel. Es wird spät hell und früh dunkel. In den wenigen Stunden Tageslicht versuchen wir, Strecke zu machen, Städte zu besichtigen, Einkäufe zu erledigen und einen geeigneten Stellplatz für die Nacht zu finden. Um vier Uhr kündigt sich bereits die Abenddämmerung an. Ab drei heißt es somit Ausschau halten. Ungeübt holpern wir stundenlang Feldwege entlang. Die Stimmung wird von Minute zu Minute schlechter, weil wir uns nicht einigen können.
„Komm lass uns hier parken, hier stören wir zumindest niemanden.“
„Nein. Hier ist es hässlich. Da war doch ein Fluss auf der Karte eingezeichnet, da kann man bestimmt schön am Ufer stehen.“
Es kommt aber kein idyllisches Ufer, vielmehr wird der Feldweg so eng, dass wir rückwärts rangieren müssen. Die Sonne ist untergegangen, ich stehe in der Dunkelheit, Äste verkratzen laut quietschend die Kunststofffenster, und ich gestikuliere wild mit der Stirnlampe in der Hand, in der Hoffnung, dass wir den Lkw nicht auch noch in dem sumpfigen Abwassergraben festfahren, aus dem gerade modrig stinkendes Wasser in meinen Schuh rinnt.
Gestern allerdings hatten wir Glück. Zur richtigen Tageszeit tauchte ein offizieller Lkw-Stellplatz auf. So konnten wir die Nacht zwischen laufenden Motoren und Schlagschraubern am Rande der Straße verbringen. Nicht gerade die pure Reiseromantik, und dennoch sind solche Abende wie gestern kleine Lichtblicke. Wir fühlen uns wohl zwischen den freundlichen und hilfsbereiten Fahrern aus aller Welt.
Der bisherige Reisealltag ist eintönig, das Fahren ist anstrengend und unangenehm laut. Der alte Diesel dröhnt uns in den Ohren. Wir halten den Lärm nur mit Gehörschutz mehrere Stunden am Stück aus. An eine Unterhaltung beim Fahren ist kaum zu denken, an Musik überhaupt nicht. Wo bleibt das Gefühl von Freiheit und Abenteuer? Haben wir uns derartig getäuscht?
„Sag mal, wir wollten ja eigentlich ein paar Wochen hier in Bulgarien bleiben, aber bei dem Wetter hat das doch keinen Sinn“, scheint Thomas meine Gedanken zu erraten. „Was hältst du davon, wenn wir Gas geben, Rumänien zügig durchfahren und die Zeit lieber in Griechenland verbringen? Wenn wir Glück haben, können wir Weihnachten am Strand feiern.“
In Gedanken sehe ich uns schon im warmen Sand liegen und höre die Wellen sanft rauschen. „Klingt gut!“, stimme ich zu.Die höheren Temperaturen in Griechenland bringen neue Überraschungen mit sich. Ein dünner weißer Schimmelflaum überzieht auf einmal den halben Holzausbau der Wohnkabine. Durch das viele Heizen muss sich Feuchtigkeit an den Wänden abgesetzt haben, und die steigenden Temperaturen bringen das Ganze nun zum Blühen. In Litochoro besorgen wir Chlorreiniger und suchen uns außerhalb des Ortes ein Plätzchen, wo wir dem Schimmel zu Leibe rücken können. Wir reiben die Oberflächen ab und säubern mit alten Zahnbürsten jede Ritze. Wir bauen sämtliche Fenster aus, um auch die Rahmen behandeln zu können, und lassen sie in der Sonne trocknen.
Um uns herum wächst nichts als kleine, dornige Büsche. Wir stehen irgendwo im Norden Griechenlands, mitten in der Einsamkeit auf einem Hügel. Mein Blick schweift in die Ferne, die endlos scheint. Vereinzelte Wolken ziehen vorüber. Die untergehende Sonne taucht den Himmel in kitschiges Rot-Violett. Ich streife die gelben Plastikhandschuhe ab und lasse mich mit Thomas auf die Campingstühle nieder. Ja, so habe ich mir das vorgestellt! Genau so. Nur ohne die Kälte, die wir bisher hatten, ohne den Lärm beim Fahren, ohne die anstrengende Stellplatzsuche und ohne schimmelnde Innenverkleidung. Genau genommen hatte ich mir bis auf den kleinen Hügel und die Dornbüsche alles vollkommen anders vorgestellt. Und doch versöhnt mich der Anblick und weckt die Hoffnung in mir, dass da draußen mehr auf uns wartet.


Griechenland
Kilometer 3330
Heiße Quellen an Silvester
Thomas
Den Weihnachtsabend verbringen wir am Strand. Ein abgebrochener Kiefernzweig steckt als provisorischer Weihnachtsbaum vor uns im Sand. Wir sind auch hier die einzigen Menschen weit und breit. Zum Baden ist es eindeutig zu kalt. Die Strände im Norden Griechenlands sind verwaist, die Ferienanlagen zugesperrt, Cafés und Restaurants geschlossen.
„Schau mal. Eine Nachricht von Wolfgang. Sie sind bei den heißen Quellen der Thermopylen und wollen dort Silvester verbringen. Sie fragen, ob wir in der Nähe sind und vorbeikommen wollen“, sage ich zu Sabine.
Wolfgang und Diana sind mit Töchterchen Gaia wenige Monate vor uns in einem ähnlichen Fahrzeug aufgebrochen. Sie sind in unserem Alter, stammen auch aus der Oberpfalz. Ein Treffen wäre eine gute Gelegenheit, sich näher kennenzulernen.Am übernächsten Abend liegen wir alle gemeinsam im dampfend heißen Wasser der Thermalquelle. Ich schaue in den klaren Sternenhimmel und habe zum ersten Mal auf der Reise das Gefühl, genau im richtigen Moment am richtigen Ort zu sein.
Es stellt sich heraus, dass auch Wolfgang, Diana und Gaia in Richtung Osten unterwegs sind. Wohin, ist noch nicht ganz klar. Vielleicht nach Russland, später eventuell nach Nepal oder Indien. Es tut gut, sich auszutauschen, denn wir stehen vor ganz ähnlichen Herausforderungen. Wir unterhalten uns stundenlang über technische Details am Fahrzeug, Wolfgang kennt sich wesentlich besser mit der alten Technik aus. Weder Sabine noch ich hatten bisher je an Autos geschraubt. Vor der Abfahrt hatten wir einmal einen Reifen an Paula gewechselt, viel mehr Ahnung haben wir nicht. Wir verbringen die Nachmittage unter dem Fahrzeug, und ich versuche zu verstehen, wie wir bei Bedarf Bremsen und Kupplung nachstellen können, wie man die Filter reinigt und an welchen Stellen Paula regelmäßig geschmiert werden möchte.
Wir vergleichen unsere Methoden, in der Wildnis umweltschonend Wäsche oder Haare zu waschen, wie man auf dem Gasherd Brot backen kann und diskutieren lange über Vor- und Nachteile verschiedener Reiserouten.Eine Woche verbringen wir gemeinsam, dann treibt die Neugier Sabine und mich weiter. Wir haben nicht nur Kraft und Zuversicht getankt, sondern verabschieden uns mit dem Wissen, dass wir nicht allein sind. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich unsere Wege früher oder später wieder kreuzen werden.


Türkei
Kilometer 4569
Ein Hauch von Orient
Thomas
Am 15. Januar erreichen wir knapp dreißig Kilometer hinter Alexandroupolis die griechisch-türkische Grenze. Gleich werden wir die Europäische Union verlassen. Unser erster richtiger Grenzübertritt steht bevor. Haben wir alle wichtigen Dokumente griffbereit? Wie sollen wir Einreiseformulare ausfüllen, wenn wir kein Türkisch können?
Angespannt halte ich neben dem ersten Grenzhäuschen, und wir steigen aus. Vor uns öffnet sich ein Fenster. Ein junger Beamter in Uniform streckt mir seine Hand entgegen. Unsicher zieht Sabine die Pässe aus der Dokumentenmappe und reicht sie mir, ich gebe sie weiter an den Beamten.
„Nein“, winkt dieser ab, „die Pässe will ich nicht.“
Wieder streckt er mir die Hand entgegen und blickt mich erwartungsvoll an.
Ich zögere, sehe ihn irritiert an.
Er beugt sich so weit es geht aus seinem Häuschen, streckt seine Hand noch ein Stückchen weiter in meine Richtung und sagt mit freundlicher Stimme: „Hoşgeldiniz!“
Endlich begreife ich: Er möchte mir die Hand schütteln. Was bin ich aber auch begriffsstutzig! Es folgt ein kräftiger Händedruck. „Hoşgeldiniz. Willkommen in der Türkei!“
Es kann so einfach sein. Eine kleine Geste mit großer Wirkung. Meine Unsicherheit ist verflogen. Mit gespannter Neugier durchlaufen wir die kurze Grenzabwicklung. Meine Bedenken waren unbegründet, die Einreiseformulare sind zweisprachig auf Englisch und Türkisch. Wenn wir irgendetwas nicht verstehen oder nicht wissen, an welchen Schalter wir als Nächstes müssen, wird uns von allen Seiten geholfen. Bereits nach einer knappen Stunde rollen wir über türkische Straßen in Richtung Istanbul.
„Geschafft“, lächelt Sabine, packt die Unterlagen wieder ins Handschuhfach, legt die Füße aufs Armaturenbrett und macht es sich bequem. Doch lange kann sie nicht so entspannt sitzen. Um die Orientierung zu behalten, verwenden wir ein kleines GPS-Gerät. Warum wir uns für dieses Modell entschieden haben, weiß ich nicht mehr, doch schon jetzt verfluche ich es. Das kleine Display gibt keinerlei Überblick über den Verlauf der Strecke, und die große Datenmenge in Städten überfordert es komplett. Bis sich die Karte endlich fertig aufgebaut hat, sind wir längst falsch abgebogen. Das ist mit einem Pkw schon lästig, aber wie soll man mit einem Lkw in engen Altstadtgassen wenden? Oder im dichten Verkehr die gesamte Strecke rückwärtsfahren? Solche Situationen so gut es geht zu vermeiden, erfordert von Sabine mindestens so viel Konzentration wie von mir. Geduldig versucht sie, die winzige Karte zu lesen. Ich versuche, auf ihre Anweisungen zu reagieren.
„Jetzt auf die linke Spur wechseln!“
„Hier?“
„Ja. Moment. Nein, halt.“
„Was jetzt?“, rufe ich genervt.
„Doch nicht links. Wir müssen rechts weg. Hier!“
Sabine streckt ihren Kopf aus dem Beifahrerfenster, winkt wie wild mit dem rechten Arm und zeigt dem Autofahrer neben uns an, dass wir die Spur wechseln werden.
Im Rückspiegel sehe ich, dass der Fahrer bremst und uns einscheren lässt. Sabine fällt zurück auf ihren Sitz und widmet sich wieder dem GPS: „Jetzt links!“
„Wo?“
„Hier!“
Ich steige auf die Bremse, die Autos hinter uns hupen. „Kann ich die Anweisungen nicht ein klein wenig früher haben?“, schimpfe ich angespannt, obwohl ich weiß, wie schwer es ist, mit dem Gerät die richtige Abzweigung zu finden.
Der Verkehr in Istanbul ist erheblich trubeliger, als wir das gewöhnt sind. Über verstopfte Stadtstraßen rollen wir ins Zentrum. Zwischen Altstadt und Bosporus finden wir einen öffentlichen Parkplatz. Nicht ruhig, nicht schön, aber praktisch. Ich drücke auf den Abstellknopf für den Motor. Das Brummen verstummt, und auch draußen scheint der Verkehr für einen Moment innezuhalten. Als würden sie gemeinsam einen Kanon anstimmen, erklingen von allen Seiten nach und nach Gesänge der Muezzine und breiten einen Klangteppich über der Stadt aus. Wir stehen auf einem Parkplatz neben einer vierspurigen Straße. Neben uns Wohnhäuser, Hafenanlagen, Verkehrsschilder und eine Ampel. Nichts Ungewöhnliches, doch die Stimmen der Muezzine haben eine solche Kraft, dass es der Situation jede Banalität nimmt und mir zeigt, dass wir jetzt dort sind, wo wir hinwollten: in der Fremde.
Am nahe gelegenen Hafen sitzen Angler, die ihre Schnüre in die Meerenge zwischen Europa und Asien hängen lassen. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie das tun, kommt mir vollkommen fehl am Platze vor. „Mensch! Hier treffen sich Europa und Asien! Wie großartig, an diesem besonderen Platz zu angeln“, möchte ich ihnen zurufen. Natürlich albern. Sie sind jeden Tag hier, und ihre Begeisterungsfähigkeit für den Ort entspricht wohl der eines Münchners, der jeden Tag auf dem Weg zur Straßenbahn am Hofbräuhaus vorbeiläuft und nicht ebenso entzückt darüber ist wie der japanische Tourist aus Osaka, der es soeben zum ersten Mal sieht. 
Sabine und ich sind fasziniert. Wir sitzen auf einer niedrigen Betonmauer und starren auf die andere Seite des Bosporus. Dort liegt es: Asien. Einen knappen Kilometer entfernt. Häuser mit flachen roten Ziegeldächern staffeln sich einen sanften Hügel hinauf. Einige Minarette und eine große, im Wind wehende türkische Fahne überragen die Häuser. Istanbuls asiatischer Teil glänzt nicht in bunten Farben wie auf den Postkarten der Souvenirläden. Im winterlichen Nebel erscheint alles eher trüb und grau, denn es regnet. Es regnet von früh bis spät, und es ist kalt. Schneeflocken mischen sich in den Dauerregen. Istanbul könnte so schön sein, doch jetzt, Mitte Januar, wirkt alles etwas trostlos.
Wir besuchen die Blaue Moschee, die auffällig nach Fußkäse riecht, und schlendern durch den quirligen Basar, doch die meiste Zeit hangeln wir uns von Teestube zu Teestube, um der Kälte zu entfliehen. Dass Sabine dort meist die einzige Frau ist, stört weder sie noch die Einheimischen. Wir schlürfen süßen Schwarztee und sehen beim Okey zu. Ein Spiel mit kleinen nummerierten Spielsteinen, das ich von zu Hause unter dem Namen Rummikub kenne. In den Teehäusern wird mit solcher Geschwindigkeit gespielt, dass ich nur staunen kann. Ein junger Mann mit dunklem Haar, braunem Hemd und einem verschmitzten Lächeln auf seinem schmalen Gesicht sitzt am Tisch neben uns und dreht die kleinen Spielsteine mit unbegreiflicher Geschicklichkeit. Egal wie sehr ich mich auf den Spielstein zwischen seinen Fingern konzentriere, ich habe keine Chance, etwas zu erkennen. Doch er kennt die Zahl auf der Unterseite bereits, noch bevor er den Stein zieht und mit einem lauten Klacken auf das kleine Holztableau vor sich stellt.
Wir schlendern lange durch die Gassen und erst spät am Abend zurück zu Paula. Ich bin aufgeregt, denn morgen verlassen wir Europa.


Kilometer 4888
Ankommen im Reisen
Sabine
Mit jedem Meter steigt meine Vorfreude. Mit einem lauten „Tack-Tack“ rollen wir über die letzte Fuge der Brücke über den Bosporus, und Paulas Räder drehen sich auf einem neuen Kontinent. Wir sind tatsächlich mit der alten Kiste bis nach Asien gefahren.
Ein neuer Kontinent, doch noch immer die gleiche Stadt. Weitere 25 Kilometer erstreckt sich der asiatische Teil von Istanbul vor uns, dann führt die Autobahn aus dem Stadtgebiet heraus. Wir biegen auf eine Nebenstraße nach Norden ab, die zur Schwarzmeerküste führt.
Aus der Teerstraße wird nach einer Stunde ein Feldweg, aus dem Feldweg eine Fahrspur, die schließlich vor ein paar von Sträuchern bewachsenen Dünen endet. Mehrere Ruinen ohne Dächer stehen davor, die es offensichtlich nie zu ihrer Bestimmung als Ferienanlage geschafft haben. Eine hellbraune kugelrund gefressene Kuh mit kurzen schwarzen Hörnern blickt mich verdutzt an, als wollte sie sagen: Ich glaube, ihr seid hier falsch.
Ich bin müde. Der stete Regen hat bereits seinen Weg durch das Dach ins Fahrzeuginnere gefunden. Je nachdem wie wir parken, tropft es entweder ins Bad oder aufs Bett. Bad ist nicht schlimm, dann läuft es durch den Ablauf der Dusche wieder hinaus. Heute tropft es wieder auf das Bett, das ist deutlich schlechter. Thomas klettert aufs Dach und dichtet die Stellen notdürftig mit Klebeband ab.
Ein paar Tage tasten wir uns an der Schwarzmeerküste entlang, doch der stete Schneeregen treibt uns nach Süden.
Wir verlassen die Küste, lassen Ankara links liegen und sind unterwegs nach Kappadokien, das für bizarre kegelförmige Gesteinsformationen, Höhlenwohnungen aus der Bronzezeit und zahlreiche Felsenkirchen bekannt ist. Der Himmel ist strahlend blau, die Luft ist klar und stechend kalt. Auf der Suche nach einem schönen Fleckchen für die Mittagspause biegen wir von der Hauptroute ab und folgen einer Schotterpiste zu einem abgelegenen Stausee. Vor uns stehen zwei Männer auf dem Weg, vielleicht Anfang sechzig, Gewehre über die Schulter gehängt. Als wir näher kommen, halten sie uns freudig winkend auf. Mit einer unverkennbaren Bewegung, bei der sie ein gedachtes Teeglas zwischen Daumen und Zeigefinger an den Mund führen, bitten sie uns in ihr Haus. Ich frage mich, wie wohl die Frauen über diese spontanen Einladungen ihrer Männer denken. Schließlich bleibt die Arbeit an ihnen hängen, und sie werden vorher ja nicht einmal gefragt.
Ismaels Frau allerdings scheint über unseren Besuch sehr erfreut. Sie läuft uns mit offenen Armen entgegen, und Ismael stellt sie als Semra vor, indem er sich schmunzelnd würdevoll vor ihr verbeugt. Die beiden leben in einem kleinen Steinhaus, das aus einem Vorraum und einem etwa gleich großen, durch einen Holzherd geheizten Wohnraum besteht. Die Mauersteine sind nur grob behauen und stellenweise weiß gekalkt. Durch zwei kleine Fenster fällt Licht herein. Krumme Baumstämme tragen das Dach, und am Boden liegt ein alter, ausgeblichener Teppich. Auf einer Kommode im Eck sind Polster gestapelt, zwei weitere liegen am Boden. Ich nehme an, bei Tag dienen sie als Sitzgelegenheit, nachts als Bett. Aus der Einladung zum Chai wird ein ganzes Essen. Semra holt Teig aus dem kühlen Vorraum, setzt sich mit ausgestreckten Beinen auf den Boden und stellt einen niedrigen Tisch über ihren Schoß. Auf ihm walzt sie den Teig mit einem langen Holzstab blitzschnell zu hauchdünnen Fladen, wobei sich der Teig mehrfach um den Stab wickelt. Fasziniert schauen wir zu. Sie winkt mich zu sich und reicht mir das Rundholz. Vorsichtig probiere ich das Rollen, doch bei mir klebt der Teig sofort zusammen. Ich lache über meine Ungeschicktheit, und alle lachen mit. Semra bestreicht die Fladen mit einer Füllung aus klein geschnittenem Gemüse und Tomatenpaste, rollt sie zusammen und schiebt sie für wenige Minuten in den Ofen. Dazu gibt es Oliven, selbst gemachten Schafskäse und frische Milch.
Unsere fehlenden Türkischkenntnisse verhindern zwar eine flüssige Unterhaltung, aber Ismael hat seine ganz eigene Verständigungsmethode aus Pantomime und Schreien entwickelt, die zumindest teilweise von Erfolg gekrönt ist. Semra und Ismael leben schon lange hier. Ihr einziger Sohn ist vor Jahren bei einem Lkw-Unfall ums Leben gekommen. Ich spüre die Trauer in ihren Worten, als sie uns davon erzählen. Nun lebt ein junger Bursche als Angestellter mit in ihrem Haus.
Ismael fragt, ob wir einen Fotoapparat dabeihätten. Schreipantomimisch macht er uns klar, dass sie sich sehr freuen würden, wenn wir ein paar Bilder machen und ihnen schicken würden. Wir hatten die Kamera im Auto gelassen, denn obwohl wir gerne und viel fotografieren, hätten wir es in einer Situation wie dieser als unangebracht empfunden, gleich mit der Kamera in der Hand in das Haus zu laufen. Wir wurden aus Gastfreundschaft eingeladen, um zusammenzusitzen und gemeinsam Tee zu trinken, nicht um als Erstes alles für das Fotoalbum festzuhalten. Umso mehr freut mich die Frage nach einem gemeinsamen Erinnerungsfoto. Ismael posiert erst mit einem großen Messer in der Hand, dann mit seiner Schrotflinte. Semra zieht schnell ein besonders schönes, strahlend weißes Kopftuch an, und Ismael stellt sich mit einer respektvollen Geste neben seine Frau, dann fotografieren wir die beiden vor ihrem Haus. Eine Begegnung wie die mit Semra und Ismael, die herzliche Gastfreundschaft, die uns entgegengebracht wurde, entschädigt uns für alle Mühen und zerstreut die Zweifel. 
Langsam bekommen wir auch ein besseres Auge dafür, wo wir einen geeigneten Stellplatz finden, wie wir an Gas, Brennholz oder Trinkwasser kommen. Langsam finden wir uns in diese Form des Reisens ein.
Im nächsten größeren Ort lassen wir die Fotos drucken und schicken Abzüge an die Adresse, die uns Ismael mitgegeben hat. Ein weiteres Bild der beiden hängen wir neben unseren Esstisch im Lkw. Jetzt freue ich mich jedes Mal beim Betrachten über diese besondere Begegnung.


Kilometer 6677
Extravaganter Schulbesuch
Thomas
Mit seiner ordentlichen Kleidung, kräftigen Statur, eleganten Brille und dem freundlichen Ausdruck passt Orhan perfekt in das Bild eines gutmütigen Musiklehrers. Wir lernen ihn und seinen Kollegen Emre in einem Café in Silifke kennen, einer kleinen Stadt unweit des Mittelmeers.
„Du bist Künstlerin?“, fragt Emre, der ein bisschen Englisch spricht. „Orhans Frau ist Kunstlehrerin. Ihr müsst sie unbedingt kennenlernen.“
Emre und Orhan wechseln ein paar Worte auf Türkisch, dann erklärt Emre uns: „Heute seid ihr bei mir zum Abendessen eingeladen, morgen bei Orhan, und zu seiner Chorprobe müsst ihr auch unbedingt mitgehen.“
Die beiden übertrumpfen sich in Gastfreundschaft. Orhan hat am ersten Abend bei Emre mitbekommen, dass Sabine kein Fleisch isst, deshalb hat seine Frau ausschließlich vegetarische Gerichte gekocht, obwohl wir nicht die einzigen Gäste sind. Auch viele Kollegen und der Schuldirektor sind zu dem Abendessen geladen. Eine lustige Feier, wie ich sie zu Hause auch mal haben möchte: Vor dem Abschied greifen alle Gäste zu Besen und Staubsauger, putzen und fegen und hinterlassen die Wohnung sauberer als zuvor. Wo wir nun schon das halbe Kollegium kennen, werden wir vom Direktor auch gleich noch eingeladen, seine Schule zu besuchen.Gleich am nächsten Morgen sitzen wir in seinem Büro. Ein kleiner Raum mit einem viel zu großen Holzschreibtisch in der Mitte, dahinter ein breiter Drehsessel, auf dem zurückgelehnt der stattliche Direktor sitzt. In dem kleinen Raum bleibt kaum Platz, um an dem Tisch vorbeizugehen, denn an den Wänden sind Stühle aufgereiht, die sich nach und nach mit Lehrerinnen und Lehrern jeden Alters füllen. Ich zähle sechzehn Personen. Bei der Größe der Schule muss das fast das gesamte Kollegium sein.
Auf meine Frage, wer denn momentan die Kinder in den Klassenzimmern beaufsichtige, erklärt Emre mit hochgezogenen Augenbrauen: „They work hard, very hard!“, und lacht. Im Rektorat sind mittlerweile fast alle Stühle besetzt. Jedes Mal wenn sich die Tür öffnet, dringt ohrenbetäubendes Kindergeschrei vom Gang herein. Eine zierliche Frau schlüpft durch die Tür und steigt mit kleinen Schritten über die vielen Füße im Raum. Emre, der bisher neben uns saß, rutscht einen Sitz nach rechts und macht für sie den Stuhl neben uns frei.
„Now you can talk. She is our English teacher“, erklärt Emre, der bis jetzt der Einzige mit Englischkenntnissen war.
Die junge Englischlehrerin setzt sich unsicher auf den angebotenen Platz neben uns. Nach zwei Sätzen stellt sich heraus, dass auch sie kaum ein Wort Englisch spricht. Sie sagt leise, sie beherrsche eher die Grammatik, im Sprechen sei sie nicht so geübt. Ihr ist es sichtlich peinlich, und wir bemühen uns, es dennoch nach einem Gespräch aussehen zu lassen. Natürlich bemerkt trotzdem jeder, dass unsere Unterhaltung stockend verläuft. Zum Glück scheint dies weder den Rektor noch ihre Kollegen zu wundern. Nach kurzem gespannten Zuhören vertiefen sich alle wieder in ihre sichtlich amüsanten Gespräche. Ich suche gerade nach einer möglichst leicht verständlichen Frage auf Englisch, da ertönt lautes Klopfen.
Wieder öffnet sich die Tür, wieder schwappt der Lärm der schreienden Kinder – „they work very hard“ – vom Gang herein. Ein schlanker Mann mit einem großen Koffer in der Hand betritt schwungvoll den Raum. Aus der Reaktion der anderen ersehe ich, dass niemand ihn zu kennen scheint. Er legt seinen Koffer auf den großen Holztisch. Alle warten gespannt, was nun kommen mag. Eine kurze Begrüßung, ein paar Sätze auf Türkisch, die ich nicht verstehe, die aber sehr routiniert klingen. Dann öffnet er den Koffer und packt ein großes beigefarbenes Gerät aus, das aussieht wie ein riesiger Föhn mit viel zu langem Griff. Er steckt das Kabel in eine Dose in der Wand, tritt hinter den Direktor und lässt die beweglichen, surrenden Rollen erst über den Rücken dann über die Oberschenkel des Rektors gleiten. Eigentlich ist gerade Unterrichtszeit, aber das ganze Kollegium sitzt im Direktorat und beobachtet, wie ein Vertreter für Massagegeräte den Körper des Rektors bearbeitet und dabei die Vorteile seines Produkts erklärt.
„Wer möchte es noch ausprobieren?“, fragt der Vertreter offenbar, und schon kreist das Gerät durch die Lehrerschaft. Der Rektor ist nach der fünfminütigen Vorführung überzeugt, kauft das Gerät und lädt uns sowie das gesamte Kollegium kurzerhand zum Mittagessen in ein nahe gelegenes Restaurant ein.


Iran
Kilometer 8219
Vermeintlicher Grenzhelfer
Sabine
IRAN. Vier große Buchstaben stehen auf dem Wegweiser über uns. In dem Moment, als wir unter ihm hindurchfahren, stellt sich ein leichtes Kribbeln in der Magengegend ein und Assoziationen dringen aus dem Unterbewusstsein hervor: Schurkenstaat. Die Achse des Bösen. Muslimische Fundamentalisten.
Zwar hatten wir auch positive Berichte über Iran gelesen, aber jetzt, drei Kilometer vor der Grenze, bin ich doch beunruhigt. Mich beschleicht eine Mischung aus Skepsis und Unsicherheit, und zugleich warte ich gespannt auf die Gelegenheit, meine diffusen Vorstellungen mit der Realität abzugleichen. Bald ist es so weit, wir nähern uns dem Grenzposten von Bazargan. Den Kopf voller Zweifel. Die Taschen voller Bargeld. 
Zum Glück hatten wir vorgestern noch erfahren, dass unsere Kreditkarten in Iran nicht funktionieren werden. Das Land ist wegen der weitreichenden Sanktionen vom internationalen Zahlungsverkehr abgeschnitten. Kein Bargeld per VISA oder Mastercard. In Doğubeyazıt, dem letzten großen türkischen Ort, spuckte der Bankautomat zum Glück auf Wunsch noch US-Dollar aus. Wir sind also zumindest finanziell gerüstet. 2000 Dollar und zusätzlich 800 Euro als Reserve, das sollte mehr als genug sein, um zu zweit acht Wochen durch Iran zu reisen. Länger dürfen wir nicht bleiben, unsere Visa sind sechzig Tage gültig.
Auch was die Kleidung betrifft, habe ich mich vorbereitet. In Diyarbakır, im Osten der Türkei, habe ich mir einen halblangen, dunklen Mantel und Kopftücher zugelegt, um mich entsprechend der iranischen Kleiderordnung bedecken zu können. In einem Youtube-Video habe ich gelernt, welche Varianten es gibt, einen Hidschab zu tragen. Noch fühlt sich das Kopftuch ungewohnt an, und ich habe Angst, dass es mir beim nächsten Windstoß vom Kopf fliegt. Ständig zupfe ich daran herum.
Auch Thomas ist angespannt. Wir wissen nicht, wie der Grenzübertritt verlaufen wird. Wir haben viel gelesen, was in Iran alles verboten sein soll: Schweinefleisch und Alkohol, Literatur mit unsittlichen Inhalten und anstößigen Bildern, wozu auch Kataloge und Zeitschriften mit Frauen in Bikinis zählen können. Keine Einfuhr von CDs mit verbotenen Liedern, keine Navigationsgeräte. Selbst Jeans seien als Zeichen des Westens nicht gern gesehen, heißt es im Reiseführer. Ganz generell bestünde die Gefahr, für einen ausländischen Spion gehalten zu werden. In Gedanken gehe ich unser Gepäck durch. Wir haben zwei Laptops, zwei Handys, ein GPS-Gerät, drei Festplatten, eine große Fotoausrüstung und ein Diktiergerät. Jeder von uns hat zwei gültige Pässe dabei. Diese haben wir vor der Abreise beantragt, weil wir gehört hatten, dass ein iranisches Visum im Pass Probleme bei der Einreise in die USA verursachen kann. Sollen wir all diese Dinge auf den Formularen bei der Einreise angeben oder sie lieber versteckt lassen? Geben wir sie nicht an und sie werden aber beim Durchsuchen des Fahrzeugs gefunden, was erwartet uns dann?
Kaum haben wir die iranische Grenze erreicht, plagt uns ein völlig anderes Problem. Es ist etwa einen Meter siebzig groß, dunkelhaarig und grinst unentwegt. Seit wir ausgestiegen sind, klebt er an uns wie ein Blutegel. Wie werden wir diesen selbst ernannten Grenzhelfer los?
„Nein, danke. Wir möchten keine Hilfe.“
„Doch, doch, mit meiner Hilfe geht alles schneller“, erwidert er.
„Vielen Dank, aber wir haben keine Eile.“
„Es ist viel billiger, wenn ich euch helfe.“
„Wir brauchen Ihre Hilfe nicht“, werde ich deutlicher.
„Gebt mir die Dokumente, ich erledige das“, sagt er bestimmt und streckt seine Hand nach unseren Pässen aus.
„Nein. Lass uns in Ruhe!“
Freundliches Ablehnen hilft nicht. Ignorieren auch nicht. Bestimmtheit ebenso wenig. Dass man in Iran ein Angebot oft drei Mal ausschlagen muss, bis die Ablehnung gilt, hatten wir gelesen. Doch um Taarof, die iranische Höflichkeit, geht es hier schon lange nicht mehr. Seit einer Stunde weicht er nicht von unserer Seite. Jetzt, da er gemerkt hat, dass wir ihn loswerden wollen, läuft er uns auch noch voraus. Langsam werde ich richtig sauer. Egal welches Büro wir betreten, er ist vor uns dort und redet bereits auf die Beamten ein. Dabei sind Typen wie er an den Grenzen in den wenigsten Fällen hilfreich. Ich habe vielmehr das Gefühl, sein Job ist es, die Grenzabwicklung derart zu verkomplizieren, dass man am Ende glaubt, man hätte es ohne ihn nie geschafft. Aber darauf lassen wir uns nicht ein, und sein aufgesetztes Grinsen macht mich zunehmend wütend.
Die iranischen Beamten selbst sind überaus hilfsbereit und freundlich. Sie bieten uns Tee und Kuchen an, und auf unser Bitten hin setzen sie unseren „Freund“ vor die Tür. Doch er kennt natürlich den Ablauf. Als wir das nächste Büro betreten, das in einem kleinen Gebäude einige Hundert Meter den Berg hinab liegt, wartet er bereits auf uns und reibt sich freudig die Hände. Der Uniformierte am Schreibtisch erklärt, wir müssten zunächst 800 Euro für iranische Tankkarten bei der Bank einzahlen.
Unser Helfer grinst weiterhin breit: „Und, glaubt ihr mir nun, dass es mit meiner Hilfe günstiger ist?“
„Nein, das glauben wir nicht!“
Wir lassen die beiden mit der Forderung nach 800 Euro stehen und fahren wieder zurück zu den hilfsbereiten Beamten, um uns den Ablauf noch einmal genau erklären zu lassen.
Tatsächlich brauchen Ausländer seit wenigen Wochen spezielle Tankkarten, und zwar aus folgendem Grund: Diesel wird hier im Land nur von kommerziellen Fahrzeugen gefahren und deswegen staatlich subventioniert. Der Liter kostet derzeit 650 Rial, das entspricht 1,4 Eurocent, also ziemlich genau ein Hundertstel dessen, was er im Nachbarland Türkei kostet. Daher wird, oder wurde, naheliegenderweise viel Diesel ins Nachbarland geschmuggelt. Um das zu verhindern, braucht jeder, der in Iran tanken möchte, eine Tankkarte. Ausländer müssen dazu vorab die staatliche Subvention kompensieren. Ein Liter kostet dann letztlich für den Touristen etwa fünfzig Cent. An der Grenze sollen wir angeben, welche Strecke wir in Iran zurücklegen wollen, und die entsprechende Treibstoffmenge in Form einer Tankkarte kaufen.
Die Beamten beschreiben, wo diese Tankkarten ausgegeben werden. Wir fahren zu dem Gebäude und parken auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Während Thomas im Inneren des länglichen Hauses verschwindet, beobachte ich alles vom Fahrzeug aus. Das Gebäude hat zwei nebeneinanderliegende Eingänge in zwei Räume. Nach kurzer Zeit kommt Thomas aus dem rechten Eingang und betritt den linken. Da biegt unser lästiger Helfer im Taxi um die Ecke, steigt aus und läuft in den rechten Eingang. Kurz darauf kehrt er zurück, steigt wieder ins Taxi und fährt davon. Jetzt kommt Thomas von links zurück und geht wieder durch die rechte Tür. Ich frage mich gerade, ob unser Freund aufgegeben hat, da kehrt das Taxi zurück, und das Katz-und-Maus-Spiel geht weiter. Dieses Mal steigt nicht der Helfer, sondern der Taxifahrer aus und geht durch die linke Tür. Gut, denke ich, noch hat er Thomas nicht gefunden, und fühle mich ein klein wenig wie Miss Marple. Schon ist der Taxifahrer zurück und verschwindet durch die rechte Tür. Jetzt muss ich eingreifen und Thomas warnen.
Ich rutsche vom Beifahrersitz, folge dem Taxifahrer und lande in einer Schalterhalle voller wartender Männer. Ich schlüpfe zwischen ihnen hindurch und entdecke Thomas, wie er sich bereits freudig, aber unwissend mit dem Taxifahrer unterhält.
„Pass auf, der steckt mit dem Helfer unter einer Decke“, warne ich ihn.
Thomas nickt; jetzt ist er im Bilde.
Zufrieden kehre ich auf meinen Beobachtungsposten zurück und warte. Kurz darauf kommt Thomas mit zwei Tankkarten zurück. Statt wie behauptet 800 Euro musste er lediglich 246 Euro bezahlen. Kein Wunder, dass der Grenzhelfer so hartnäckig war – bei dieser Gewinnspanne.


Kilometer 8821
Die Freundin heiratet man nicht
Sabine
Ich merke sofort, dass ich mit meiner strengen Art, das Kopftuch zu tragen, fehl am Platze bin. Auch in meinem langen, gerade geschnittenen Mantel fühle ich mich plump gekleidet, wenn ich all die hübschen Iranerinnen um mich sehe, die kurze, figurbetonte Mäntelchen tragen. Ich muss mir in Täbris dringend etwas anderes zum Anziehen kaufen.
Mit neuem Mantel und lockerem Kopftuch fühle ich mich nun schon wohler, doch ich bin unsicher, wie ich mich Männern gegenüber verhalten soll. Ich habe gelesen, es sei unhöflich, wenn ein Mann einer fremden Frau die Hand gibt. War der junge Student, der uns gerade im Park begrüßt hat, also frech? Darf ich meinerseits einem Mann die Hand anbieten, oder wirkt das vulgär?
So manche Frage klärt sich, als wir Samira und Karim kennenlernen. Die beiden sind 27 Jahre alt, also zwei Jahre jünger als wir. Samira ist schick gekleidet, ihre braunen Augen strahlen Selbstbewusstsein aus, sie trägt ihr Kopftuch lässig über dem Hinterkopf. Karim, schlank und kaum größer als sie, ist ein charmanter junger Mann. Ein hübsches Paar, könnte man meinen, doch so einfach ist das in Iran nicht. Laut Gesetz ist es Frauen verboten, sich privat mit einem Mann zu treffen, der nicht zur Familie gehört. Auch gesellschaftlich ist es verpönt. Dabei wohnen die beiden nicht etwa zusammen, sie verbringen lediglich ab und zu Zeit in der Öffentlichkeit gemeinsam. Selbst das kann zu großen Problemen führen.
Als wir die beiden näher kennenlernen, erzählt Samira eines Abends, dass sie vor zwei Jahren kurz davorstand zu heiraten: „Die Mutter eines jungen Mannes hat bei meinen Eltern angefragt, ob sie sich eine Verbindung zwischen mir und ihrem Sohn vorstellen könnten. Meine Eltern überließen mir die Entscheidung. Ich kannte den Jungen nicht, aber ich fühlte mich geschmeichelt und war neugierig. Also wurden erste Treffen vereinbart.“ Samira seufzt.
Ich höre ihr schweigend zu.
„Wir mochten uns auf Anhieb und verliebten uns. Er lud mich ein, ihn zu Feierlichkeiten bei Freunden zu begleiten. Wir verbrachten immer mehr Zeit miteinander, und ich freute mich auf die Hochzeit. Doch als seine Mutter erfuhr, dass ich mit ihm ausgegangen war, wollte sie die Verbindung nicht mehr. Sie war der Meinung, wenn ich mit ihrem Sohn ausginge, täte ich das auch mit anderen Männern.“ Samira hält kurz inne. Mit Tränen in den Augen spricht sie weiter: „Ich war überzeugt, dass seine Liebe stark genug sein würde, um seiner Mutter zu widersprechen. Doch er hörte auf sie und heiratete kurz darauf ein anderes Mädchen, das noch nie mit einem Jungen ausgegangen war.“ Samira schüttelt ungläubig den Kopf. „Auch meine Eltern konnten das nicht verstehen. Sie hatten mir ja erlaubt, mit ihm auszugehen, wir sollten uns doch kennenlernen. Aber meine Eltern kommen ursprünglich aus Urmia, dort sind die Leute viel liberaler als hier in Täbris. Ich kann bis heute nicht glauben, dass mir das passiert ist. Wenn ich Pech habe, passiert mir das Gleiche auch mit Karim.“
„Nein, so bin ich nicht“, wehrt Karim ab.
„Würdest du dich gegen deine Familie stellen, wenn sie mich nicht wollen?“, fragt Samira energisch zurück.
Ohne seine Beteuerungen abzuwarten, fügt sie erklärend hinzu: „Ich würde gern daran glauben, aber es ist ein ungeschriebenes Gesetz: Seine Freundin heiratet man nicht.“
Wir unterhalten uns noch lange weiter. Von dem schwierigen Thema, wie junge Menschen in Iran ihre Beziehungen verheimlichen müssen, wechseln wir zu Erfreulicherem. Es ist Mitte März, das Neujahrsfest in Iran steht kurz bevor. Nowruz, der „Neue Tag“, wird am 21. März gefeiert. Danach folgen dreizehn Festtage, an denen landesweit das öffentliche Leben stillsteht und alle Basare geschlossen sind.
„Morgen ist Tschahar Schanbe Suri. In der ganzen Stadt werden Feuer angezündet, und alles feiert. Wenn ihr mitkommen wollt, holen wir euch ab!“, bietet Karim an.Gemeinsam mit ihm und Samira sitzen wir am folgenden Tag in einem neuen weißen Kleinwagen und rasen durch die Nacht. Frische Luft weht durch die offenen Fenster, und unsere Kopftücher flattern im Wind.
„Menschenansammlungen sind verboten, daher weiß man nie, wo gerade gefeiert wird“, lacht Samira. „Halt! Schau, dort in der Seitengasse brennt ein Feuer!“
Karim bremst ruckartig, wir springen aus dem Fahrzeug. Samira hält mich zurück: „Geht nicht zu nah ran. Die Jungs springen nicht nur übers Feuer, sie werfen auch Knaller rein. Man weiß nie, welche Wucht die haben. Die Feuerwerkskörper sind meist selbst gebaut.“
Kaum hat Samira das gesagt, erschüttert ein mächtiger Schlag den Boden und eine Druckwelle die kühle Nachtluft. Unbeeindruckt kommt Karim aus der feiernden Menge zurück: „Das Feuer brennt schon zu lange, die Polizei wird gleich da sein. Lasst uns abhauen.“
Wir rasen von Feuer zu Feuer, steigen aus, beobachten, wie junge Männer zu lauter Musik aus dem Kofferraum um die Flammen tanzen und junge Frauen Beifall klatschen. Im richtigen Moment halten wir uns die Ohren zu, steigen wieder ein und düsen davon, bevor die Polizei auftaucht. Gewaltige Donnerschläge lassen die Stadt erzittern. Autos preschen durch die Straßen. Ich weiß nicht, was in dieser Nacht riskanter ist, der komplett verrückte Verkehr oder die selbst gebastelten Böller.Zwei Tage nach Nowruz lädt uns Samira zum Auftakt der Feiertage zu sich nach Hause ein. Sie wohnt bei ihren Eltern. Ich freue mich riesig über die Einladung, aber damit stellt sich für mich auch die Frage: Was zieht Frau zu einer privaten Feier an? In der Öffentlichkeit muss ich ein Mäntelchen tragen, dort lege ich es sicher ab. Kann ich eine kurzärmelige Bluse darunter tragen? Ich entscheide mich doch lieber für etwas Langärmliges.
Samira öffnet die Tür im zweiten Stock eines Mehrfamilienhauses und heißt uns willkommen. Sie trägt ihr Haar offen und ein Trägeroberteil aus schwarzer Spitze, das ich als „gewagt“ bezeichnen würde. Ich habe meinen Mantel noch nicht ausgezogen und fühle mich schon jetzt underdressed.
Wir betreten die gepflegte Vierzimmerwohnung und lernen Samiras Eltern, ihren wenige Jahre jüngeren Bruder Said und ein befreundetes junges Ehepaar kennen. Auch Karim ist gekommen. Alle sprechen fließend Englisch, wir können uns gut unterhalten. Samira zeigt uns ein Album ihrer Eltern. Auf kleinen vergilbten Fotos sehen wir ein junges Paar in Badehose und Bikini an einem See, die beiden in Schlaghosen vor einem schicken BMW, sie trägt wallendes, langes Haar, er hat einen lustigen Schnauzer.
„So sah es hier in den Siebzigerjahren aus, als der Schah noch an der Macht war. Die beiden sind oft zum Urlaub in die Türkei gefahren“, erzählt Samira von ihren Eltern.
Wir sind überrascht. Das Album sieht aus, als könnten wir es aus jeder deutschen Schrankwand gezogen haben. Wie schwer muss es für die Eltern sein, selbst in Freiheit aufgewachsen zu sein und nun zu erleben, wie die eigenen Kinder unter den strengen Regeln leiden.
„Die Jugend hat es mit den Einschränkungen am schwersten“, erzählt Samiras Vater, „wenn man erst einmal verheiratet ist, wird vieles einfacher.“
Doch wie soll man den richtigen Partner finden, wenn man sich vor der Hochzeit kaum kennenlernen darf?
Viele junge Iraner sehen die Auswanderung als einzigen Weg in die Freiheit. Immer wieder wurden wir in den letzten Tagen hier in Täbris auf der Straße gefragt, welche Chancen man als Iraner in Deutschland habe, welche Berufe dort gefragt seien. Viele wollen weg. Dabei lieben sie ihr Land. Auch Samira will weg. Gemeinsam mit ihrem Bruder hat sie sich für die Greencard in den USA beworben. Ihr Bruder hat eine gewonnen, sie nicht. In wenigen Wochen wird er Iran und seine Familie verlassen.
„Stell dir vor“, sagt Samira leise an diesem Abend zu mir, „du hättest mein Leben – nur für einen Tag.“Für uns als Touristen ist Iran ein tolles Reiseland. Die Menschen begegnen uns ausgesprochen herzlich. Wo immer wir auftauchen, werden wir mit den Worten „Welcome to Iran“ begrüßt. Fragen wir nach dem Weg, werden wir in ein Taxi gesetzt, das bereits bezahlt ist, bevor wir überhaupt eingreifen könnten. Die Polizisten sind freundlich und drücken ein Auge zu, wenn wir falsch parken. Als Frau werde ich in Iran sehr zuvorkommend und höflich behandelt, wenngleich manche Fragen, die mir gelten, an Thomas gerichtet werden: „Wie heißt sie? Wie geht es ihr? Gefällt ihr Iran?“ Die iranische Kleiderordnung kann ich als zeitlich begrenztes Experiment gut ertragen. Zwei Monate, dann kann ich wieder T-Shirts anziehen, Röcke in beliebiger Länge und die Haare offen tragen. Ich fühle mich sehr wohl und sicher in diesem Land. Als Gast ist es wunderschön, hier zu sein. Als junger Mensch in Iran aufzuwachsen, ist hingegen sicherlich alles andere als einfach.
Der einzige Ort, an dem ich Frauen in der Öffentlichkeit ohne Kopftuch sehe, sind die Skipisten von Dizin. Das Band der Schneebrille wird hier offenbar als ausreichende Verhüllung geduldet. Auf den Snowboards sausen wir den Berg hinab.
Von den verschneiten Gipfeln des Elburs-Gebirges reisen wir durch Teheran bis nach Isfahan, eine Stadt, von der man sagt, sie sei die halbe Welt. Meine Eltern besuchen uns dort für zehn Tage, und mit ihnen gemeinsam streifen wir durch die schummrigen Basare, durch prachtvolle Moscheen und über die weitläufigen Plätze der Stadt.
Von Kerman im Süden des Landes fahren wir in die Dascht-e Lut, die große Sandwüste, bis in die Oasenstadt Tabas. Wasser strömt durch uralte Kanäle aus den nahe liegenden Bergen. Für uns ist es angenehm, nach fünf Tagen in der lebensfeindlichen Trockenheit wieder Grün zu sehen. Welche Bedeutung diese Oasen damals für die Kamelkarawanen hatten, die über Wochen durch die Hitze der Wüste unterwegs waren, kann ich mir nun gut vorstellen.

Sabine Hoppe

Über Sabine Hoppe

Biografie

Sabine Hoppe, 1980 geboren, studierte Germanistik und Kunsterziehung an der LMU München. Im Anschluss an das erste Staatsexamen absolvierte sie das Diplom in Freier Malerei an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Nach dem Studium ging sie gemeinsam mit Thomas Rahn sechs Jahre in einem...

Thomas Rahn

Über Thomas Rahn

Biografie

Thomas Rahn, 1980 geboren, studierte Architektur und Forstwissenschaften an der TU München. Nach dem Studium ging er gemeinsam mit Sabine Hoppe sechs Jahre in einem Lkw-Olditmer auf Weltreise. Seit 2010 ist er hauptberuflich als Vortragsreferent tätig und berichtet deutschlandweit in live...

Kommentare zum Buch
Sechs Jahre Weltumrundung
Helene Güldenberg am 20.04.2019

Das Buch ist eine tolle Ergänzung zu den Vorträgen. Der Schreibstil ist super und lässt die Erlebnisse total mitempfinden.Ich kann den Mut und die Leistung der beiden nur bewundern. Das Buch ist so spannend geschrieben, dass man gar nicht mehr aufhören kann zu lesen.

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