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Hasen feiern kein Weihnachten

Hasen feiern kein Weihnachten

Anne Blum
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Roman

„Anne Blum ist hier eine liebenswerte Geschichte um die Mittdreißigerin Tessa gelungen.“ - Wetzlarer Neue Zeitung

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Hasen feiern kein Weihnachten — Inhalt

Weihnachtsfans und Weihnachtshasser passen einfach nicht zusammen: Dieser Erkenntnis muss sich Tessa kurz vor dem Fest der Liebe stellen. Seit Jahren verbringt sie Weihnachten ihrem Freund Ole zuliebe an den Stränden Thailands, doch diesmal kommt alles anders: Kurz vor Heiligabend und dem Abflug nach Bangkok zerbricht ihre Beziehung mit einem Paukenschlag. Notgedrungen und um den Herzschmerz zu vergessen, verbringt Tessa die Feiertage bei ihrer liebevoll-verrückten Familie auf dem platten norddeutschen Land. Hier in Kappeln warten Weihnachtslieder singende Gartenzwerge, Lametta, Bratäpfel am Kachelofen sowie eine Riesenportion Trost und Liebe, aber auch der übliche Stress mit den beiden Schwestern. Dann steht auch noch Ole reumütig vor der Tür und will Tessa zurück. Doch ein sehr viel größeres Problem in ihrer Familie öffnet Tessa bald die Augen dafür, was wirklich zählt im Leben.

€ 7,99 [D], € 7,99 [A]
Erschienen am 04.10.2016
240 Seiten, WMePub
EAN 978-3-8270-7893-3
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Leseprobe zu „Hasen feiern kein Weihnachten“

1

20. Dezember

Der Himmel über Berlin war noch dunkel, als Tessa in ihrer kleinen Altbauwohnung in Prenzlauer Berg erwachte. Fette Schneeflocken taumelten vor dem Balkonfenster, vom Wind hin und her geworfen und von der Straßenlaterne angestrahlt. Wie wunderbar! Schnee war so selten in Berlin.

Am Vortag war die Gardinenstange mal wieder von den Wänden gekracht, und sie schliefen ohne Vorhänge. Ole neben ihr atmete noch friedlich in sein Kissen. Er schnarchte immer ganz leise, und sobald Tessa ihm übers Gesicht streichelte, hörte er auf. Wenn er schlief, [...]

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1

20. Dezember

Der Himmel über Berlin war noch dunkel, als Tessa in ihrer kleinen Altbauwohnung in Prenzlauer Berg erwachte. Fette Schneeflocken taumelten vor dem Balkonfenster, vom Wind hin und her geworfen und von der Straßenlaterne angestrahlt. Wie wunderbar! Schnee war so selten in Berlin.

Am Vortag war die Gardinenstange mal wieder von den Wänden gekracht, und sie schliefen ohne Vorhänge. Ole neben ihr atmete noch friedlich in sein Kissen. Er schnarchte immer ganz leise, und sobald Tessa ihm übers Gesicht streichelte, hörte er auf. Wenn er schlief, sah er aus wie ein großer, verletzlicher Junge, der sich Kraft holte für den Tag. Überhaupt hatte Ole sich trotz seiner 39 Jahre dieses Jungenhafte bewahrt, das Tessa so an ihm mochte.

Sie sah auf den Adventskalender auf der Kommode mit seinen vielen bereits geöffneten Türchen. ›Eigentlich schade, über Weihnachten immer weg zu sein‹, dachte Tessa. Im Grunde ihres Herzens liebte sie Weihnachten, diese ganz besondere Zeit im Jahr, den Advent, über Weihnachtsmärkte zu bummeln und Plätzchen zu backen. Tessa musste an den sagenhaften Christstollen ihrer Mutter denken, den sie früher zu Hause in der Adventszeit immer zum Nachmittagskaffee mit dick Butter gegessen hatten, und an den Duft der Braunen Plätzchen, die traditionell zum ersten Advent gebacken wurden, alle drei Töchter und die Mutter gemeinsam in der Küche. Tessa und ihre Schwestern hatten damals beschlossen, dass sie später mit ihren Kindern diese Tradition unbedingt fortsetzen wollten. Doch der ganz leise schnarchende Mann neben ihr war ein Weihnachtshasser und zog es vor, das Fest einfach ausfallen zu lassen und stattdessen nach Thailand zu reisen. Nachdem Tessa Ole ein einziges (und letztes) Mal mitgenommen hatte, vor vier Jahren, war ihr die Lust auf Weihnachten mit ihm gründlich vergangen. Wie sollte man die Feiertage genießen, wenn jemand die ganze Zeit spöttisch seine Mundwinkel verzog? Klar, ihre Eltern waren schon extrem, was Weihnachten anging. Beide übertrafen sich immer gegenseitig mit tollen Ideen für die Dekoration, die Mutter mehr im Innenbereich, der Vater im Vorgarten.

Der Radiowecker sprang an, und der aufgekratzte Moderator von Radio Eins versuchte, gute Laune zu verbreiten. „Leute, in vier Tagen ist Weihnachten, und wer seine Geschenke noch nicht besorgt hat, dem rate ich dringend, dranzubleiben und gleich unser Gespräch mit dem berühmten Psychologen Arne von Wesselhaus anzuhören über die Tücken des Schenkens. Vorher aber noch Christmas is all around von Billy Mack.“

„Mach das sofort aus! Furchtbar, dieser Weihnachtsterror“, murmelte Ole schlaftrunken und noch mit herrlich tiefer, satter Stimme.

Tessa schaltete das Radio aus und kuschelte sich in Oles Armbeuge. Ein wunderbarer Platz, um noch mal eine Runde zu schlafen, aber heute musste sie rechtzeitig im Büro sein. Es war ihr letzter Arbeitstag vor Weihnachten und dem dreiwöchigen Thailandurlaub, in den sie übermorgen fliegen würden. Weihnachten auf Ko Samui wie schon die letzten drei Jahre. In einer romantischen Hütte am Strand, einfach nur Chillen, Lesen, Schnorcheln, endlich mal wieder Zeit füreinander. In letzter Zeit war es etwas hektisch gewesen.

„Guck mal, ist das nicht herrlich mit dem Schnee?“, sagte Tessa.

„Grauenvoll. Ich hasse den Berliner Winter. Mann, bin ich froh, dass wir übermorgen hier weg sind!“

„Komm schon, so schlimm ist Weihnachten nun auch wieder nicht!“

„Also, bei deinen Eltern, das war schon hardcore. Ein Weihnachtsbaum mit Lametta! Und der Vorgarten sah aus wie für eine Schwulenparade dekoriert.“

Tessa musste schmunzeln. Als sie mit Ole da war, hatte ihr Vater eine Tannenbaumaußenbeleuchtung in Regenbogenfarben entworfen, die Ole zu der Frage provozierte, ob er die Schwulen- und Lesbenbewegung in Kappeln unterstütze. Irgendwie hatte Ole ja auch recht. Ihre Eltern übertrieben es ein bisschen mit Weihnachten. Sie waren einfache Leute, die vor ein paar Jahren ihr Heizungs- und Sanitärgeschäft aufgegeben hatten und nun im Ruhestand waren. Tessas Mutter war in diversen Handarbeitszirkeln und lernte Filzen, Kilten, Patchworken, immer wieder etwas Neues, um das Haus zu verschönern, und ihr Vater engagierte sich im Sportverein und in der Flüchtlingshilfe. Außerdem gab es die Enkeltochter Stella, die oft bei ihnen war. Leider gab es bisher noch keine weiteren Enkelkinder. Susanne, die Älteste, konnte keine Kinder mehr kriegen, und Tessa und ihre jüngere Schwester Maren hatten noch nicht geliefert. Tessa lächelte bei dem Gedanken. Sicher würden Ole und sie die Sache bald angehen. Sie war 35, es war nicht mehr endlos Zeit.

Tessa warf einen Blick auf die Geschenke, die sich noch verpackt in einer Ecke des Schlafzimmers türmten. Ihre Mutter, ihre Schwester Susanne, ihre Patentante und Tessa schickten sich die Geschenke vor Weihnachten immer gegenseitig zu.

Ole bemerkte ihren Blick. „Wetten, deine Mutter hat dir wieder eine Heizdecke, einen Flanellpyjama, Biberbettwäsche oder warme Wollhausschuhe geschickt, mit Bommeln dran?“

„Sie will eben, dass mir immer schön warm ist und ich mich nicht erkälte. Berlin liegt für sie ja schon fast in Russland.“

Ole schwärmte: „Ach, Baby, Heiligabend sind wir der Kälte entflogen und liegen am Strand und betrinken uns ganz gepflegt mit ein paar Cocktails, hm?“

Er strich Tessa durchs Haar und lächelte sie auf eine Weise an, dass ihr ganz warm wurde ums Herz und sie genau wusste, für wen sie seit Jahren zu Weihnachten auf Tannenbaum, die Gans und den sagenhaften Christstollen ihrer Mutter verzichtete. Mit diesem blendend aussehenden und charmanten Mann würde sie, Tessa Gutzeit, ihre drei Kinder kriegen, na ja, vielleicht auch nur zwei. Es würden hübsche und begabte Kinder werden, das war sicher.

Sie stand auf und ging in ihrem Flanellpyjama mit den großen roten Sternen, den ihr ihre Mutter letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte, zum Adventskalender (den hatten sie wiederum jedes Jahr), fischte aus dem kleinen Kästchen mit der Zwanzig drauf ein Stück Schokolade heraus und hielt es Ole hin.

Als der gerade zubeißen wollte, zog sie es zurück: „Weihnachten, Adventskalender und all das ist also supermegaoberspießig, ja?“

Er guckte sie mit großen braunen Augen treuherzig an: „Nein, es ist ein wunderbares Fest, sinnvoll und tiefgründig, mit den allerschönsten Sitten und Gebräuchen von A wie Adventskalender bis Z wie … äh … Zweige dekorieren!“

„So ist es brav!“ Triumphierend steckte sie ihm die Schokolade in den Mund, nicht ohne zuvor die Hälfte abgebissen zu haben.

Ole grinste. „Du Biest, jetzt bist du fällig.“ Er zog sie zu sich heran und begann, ihren Hals zu küssen, während sich seine Finger an den Knöpfen ihres Pyjamas zu schaffen machten.

Tessa entzog sich lachend. Er schien etwas enttäuscht. „Nie willst du morgens!“

„Ole, ich muss los! Im Büro wartet ein Riesenberg Arbeit. Dann muss ich noch Geschenke für meine Sippe besorgen, und heute Abend ist Weihnachtsfeier, das wird spät bei Mama Hase. Vor Mitternacht bin ich sicher nicht zurück.“

Ole setzte sich auf und stopfte sich das Kissen in den Rücken. Er sah süß aus mit seinen noch vom Schlaf zerstrubbelten Haaren. „Letztes Jahr kamst du hackedicht nach Hause. Du hast bestimmt eine Minute lang gebraucht, um die Wohnungstür aufzuschließen.“

„Anders ist das dort auch nicht auszuhalten, da müssen Nadja und ich uns einfach betrinken.“

Wie jedes Jahr graute Tessa vor der Weihnachtsfeier im Büro. Sie betreute bei der Firma film for kids eine Zeichentrickserie mit dem Titel „Familie Hase“, ein Einkauf aus den USA. Tessa war für die Überprüfung der Synchronisation zuständig und dafür, dass nichts Anstößiges in den Folgen vorkam. Die Gefahr dafür war allerdings gering, da „Familie Hase“ eine äußerst biedere Familienserie war, ja, fast schon ein bisschen langweilig. Tessa hätte gern mal was anderes gemacht, aber ihr Chef Sebastian behauptete, er könne bei dieser Serie unmöglich auf sie verzichten. Einen Vorteil hatte das Ganze jedoch, abgesehen vom soliden Gehalt, das ihr der Job einbrachte: Sie hatte Ole als Synchronstimme für Papa Hase unterbringen können.

Sein Job als Schauspieler lief alles andere als gut. Ab und zu hatte er kleine Rollen, aber dazwischen lagen lange Wartezeiten, in denen niemand was von ihm wollte, und das zehrte an seinen Nerven und seinem Selbstbewusstsein.

Jetzt verstellte Ole seine Stimme und klang wie Papa Hase: „Lass dich bei der Weihnachtsfeier bloß nicht von fremden Rammlern beschnuppern, die zu viel Glühwein getrunken haben und nicht mehr wissen, wo ihnen die Löffel stehen. Dann hoppelst du schnell weg, versprochen?“

Tessa musste grinsen, wie immer, wenn er Papa Hase nachmachte, mit diesem leichten Lispeln und dem naiven Ton. Sie fand, dass Ole die beste Stimme für Papa Hase war, die man sich vorstellen konnte.

Sie ging an die Wäschekommode und suchte nach der Angoraunterhose, die ihr ihre Mutter vorletztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Bisher war die Hose noch ungetragen, aber der heutige Wintertag schien doch genau richtig, um sie einzuweihen.

Ole erging sich währenddessen weiter in seinem Weihnachtsbashing: „Glühwein, warmer, süßer Rotwein, noch so eine Sache, die ich nicht nachvollziehen kann. Ständig sind alle Leute knülle, weil sie das Zeug nicht vertragen.“

Seine Glühweinallergie war auch der Grund, warum sich Tessa mit ihm niemals nur in die Nähe eines Weihnachtsmarktes traute, obwohl sie Weihnachtsmärkte eigentlich liebte. Sie hatte die Angoraunterhose inzwischen gefunden und schlüpfte hinein.

„Die Kaninchenfellunterbüx war doch sicher auch ein Geschenk von deiner Mutter.“

Tessa stand jetzt vor ihrem Kleiderschrank und überlegte, was sie heute für die Weihnachtsfeier anziehen sollte. „Wann hast du heute das Casting?“

„Um drei, muss aber noch den Text lernen.“

„War das nicht die Rolle mit nur einem Satz?“

Ole grinste. „Aber es ist der wichtigste Satz des ganzen Films!“ Er setzte eine bedeutende Miene auf. „Zeigen Sie mir bitte Ihre Ausweise!“

„Wow!“, sagte Tessa.

„Das wird die Rolle meines Lebens. Wenn die mich nicht nehmen, dann bringe ich mich um! Ach ja, ich habe gestern noch eine Anfrage für einen Tatort bekommen.“

Tessa freute sich. „Echt? Cool!“

„Als Leiche“, fügte er hinzu, bitter und doch nicht ohne Ironie.

„Weißt du“, versuchte Tessa, ihn aufzumuntern, „wenn du dich erst mal als Leiche profiliert hast, darfst du bestimmt auch bald ein Killer sein.“ Sie ging zu Ole, der noch eine Runde schlafen wollte, und strich ihm durch die Haare. „Auf jeden Fall gibt es bald wieder neue ›Familie Hase‹-Folgen zum Synchronisieren, falls Hollywood nicht vorher anruft.“ Sie gab ihm einen Kuss, voller Liebe, Zuneigung und Wärme, aber da war auch Routine, Alltag, so ein „Tschüss-bis-heute-Abend-mach-es-gut“-Kuss.


2

Eine halbe Stunde später, Tessa hatte noch geduscht und ein Müsli gegessen, verließ sie in ihrer dunkelblauen Daunenjacke und mit ihrem blauen Lieblingsbeanie auf dem Kopf die Wohnung. Im Erdgeschoss bei den Briefkästen traf sie Steffi aus dem Seitenflügel. Steffi war Stewardess, Ende dreißig, sah super aus und kam wohl gerade von einem Einsatz zurück. Unter dem offenen Mantel war noch ihr Lufthansa-Kostüm zu sehen, und auf dem Boden stand ihr Rollkoffer. Sie war für morgens halb neun bewundernswert perfekt gestylt, die blonden Haare topfrisiert, ihre Katzenaugen mit einem Lidstrich umrandet, eine sehr attraktive Frau. Steffis Mann Konrad war mal Texter in einer angesagten Werbeagentur gewesen, aber jetzt seit einem guten Jahr arbeitslos. Wenn Tessa ihn mal auf der Straße oder im Treppenhaus traf, versuchte er immer, einen energischen und vielbeschäftigten Eindruck zu machen, doch Tessa spürte seine zunehmende Hoffnungslosigkeit. Es war wohl gar nicht so einfach, mit Mitte vierzig noch was Neues zu finden. Kinder hatten sie und Konrad keine.

Steffi öffnete gerade ihren Briefkasten und holte Briefe heraus, die sie nicht zu erfreuen schienen.

„Morgen, Steffi!“

„Hallo, Tessa! So früh schon ins Büro?“

„Ja, ich muss noch einiges fertig machen vor Thailand.“

„Ach, wie ich euch beneide! Konrad und ich, wir feiern wieder bei seinen Eltern in Luckenwalde, das zieht uns beide immer ganz schön runter.“

„Warum bleibt ihr dann nicht gemütlich hier, zu zweit?“

„Ach, das ist noch schlimmer“, sagte Steffi, „dann krieg ich den ganzen Frust alleine ab.“ Sie lächelte tapfer, und Tessa zog mit einem „Dann tschüss!“ weiter, sie wollte unbedingt um neun Uhr im Büro in Mitte sein.

Es schneite immer noch ein bisschen, als Tessa zur Straßenbahn ging. Diese war gerammelt voll. Tessa war warm in der Daunenjacke (und der Angoraunterhose), denn die Heizung in der Bahn war voll aufgedreht, und Tessa fragte sich, wann die Berliner Verkehrsbetriebe endlich kapierten, dass Menschen im Winter in der Regel nicht nackt in U-Bahnen, Straßenbahnen und Busse einstiegen. Ihre Angoraunterhose kratzte ein bisschen auf der Haut.

Am Rosenthaler Platz stieg Tessa aus, ging noch ein paar Hundert Meter und stand dann vor dem Gebäude, in dem sie arbeitete. Ihr Büro bei film for kids lag im dritten Stock, sie nahm den Fahrstuhl. Als sie das Büro betrat, war Nadja, mit der sie seit Jahren nicht nur das Zimmer, sondern auch Freud und Frust teilte, bereits da. Nadja war von einer Kollegin zu einer guten Freundin geworden und ein fetter Pluspunkt bei film for kids. Ihretwegen kam Tessa gern zur Arbeit. Nadja, die sonst nie vor zehn Uhr kam, musste heute vermutlich ebenfalls ihre Stapel vor Weihnachten abarbeiten.

„Morgen, Tessa!“

„Morgen! Ist das nicht herrlich mit dem Schnee?“

„Ja“, sagte Nadja, „aber in einer halben Stunde geht er wieder in Regen über, und dann haben wir Schneematsch und den typischen Schmuddelwinter, wo du eher eine warme Regenjacke brauchst.“

„Du redest ja schon wie Ole, der Winter- und Weihnachtshasser!“

Nadja strich sich ihre halblangen dunklen Haare hinters Ohr und sah Tessa mit ihren rehbraunen Augen an. „Mir graut auch schon vor Weihnachten zu Hause in Wuppertal. Bestimmt löchert mich die ganze Sippe wieder drei Tage lang, ob ich endlich einen Kerl habe. Mit so einer Panik in den Augen! Hilfe, das Kind ist schon 36! Du weißt gar nicht, wie gut du es hast – drei Wochen in Thailand am Strand abhängen, herrlich!“

Tessa hängte ihre Jacke an einen Garderobenständer in der Ecke. Sie trug Skinny-Jeans, Stiefeletten und einen himbeerroten Mohairpulli, der ihre offenen blonden Haare umso blonder erscheinen ließ. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, wo ein Foto von Ole und ihr am Strand auf Ko Samui stand. Sie blickte darauf und freute sich plötzlich wieder sehr auf die gemeinsame Reise, die Wärme, das Meer. Keine Daunenjacke und keine kratzige Angoraunterwäsche! Klar, Weihnachten zu Hause war eine gemütliche Zeit, aber die drei Wochen in Thailand würden auch superflauschig werden und ihnen guttun. Sie kamen jedes Mal erholt und voller Kraft aus Asien zurück. Und dazu das leckere Essen, das überhaupt nicht dick machte!

„Man sagt ja, dass man die Menschheit in zwei Gruppen einteilen kann: in Bader und Duscher und in Weihnachtsliebhaber und Weihnachtshasser“, hörte sie Nadja, während sie ihren Rechner hochfuhr.

„Weißt du“, sagte Tessa versonnen, „ich liebe diese Zeit, wenn überall die Weihnachtsbeleuchtung an ist, ich liebe Braune Plätzchen und vermisse den sagenhaften Stollen meiner Mutter und unsere Gutzeit’schen Bratäpfel am Abend vor Weihnachten. Wenn du die mal probiert hast, weißt du, was echt leckere Bratäpfel sind, mit einer Marzipan-Nuss-Rosinen-Füllung. Aber am allerliebsten mag ich den Moment, wenn am Tannenbaum die Kerzen angezündet werden. Diese besondere Stimmung, das ist für mich Weihnachten.“

„Du bist wirklich eine echte Romantikerin.“

„Aber Ole findet das alles einfach nur kitschig. Vor vier Jahren mit ihm in Kappeln war das schlimmste Weihnachten in meinem Leben. Dann lieber Schnorcheln, Massage und Thaicurry.“

Ihre Praktikantin Julia beendete die Unterhaltung, als sie die Post brachte. Wie immer trug sie ein luftiges T-Shirt, das ihre Tattoos zeigte. „Morgen, die Damen!“

„Hallo, Julia, wie geht’s?“, fragte Tessa.

„Heute ist mein Gespräch mit Sebastian wegen der Festanstellung.“

„Wie lange machst du jetzt schon dein Praktikum?“, fragte Nadja.

„18 Monate“, seufzte Julia.

„Na dann, toi, toi, toi! Wir drücken dir die Daumen“, fügte Tessa hinzu.

Als Julia den Raum wieder verlassen hatte, drehte sich Tessa auf ihrem Schreibtischstuhl zu Nadja um und raunte mit verschwörerischer Stimme: „Stell dir vor, was ich gestern Nachmittag auf dem Flur mitgekriegt habe: Mr. Pechvogel ist solo und wieder zu haben! Er hat sich vor drei Monaten von seiner Freundin getrennt.“

„Echt? O mein Gott.“ Nadja wurde rot – ob vor Aufregung oder Freude, war schwer zu sagen.

Mr. Pechvogel war Kollege Arne, der die Rabenserie „Die Pechvögel“ betreute, eine entzückende witzige Serie aus Kanada. Nadja schwärmte heimlich schon lange für ihn, was im Büro niemand außer Tessa wusste. Aber es hatte immer geheißen, er sei ja mit dieser Schwedin zusammen, angeblich ein Unterwäschemodell, wobei solche Sachen in der Firma schnell mal erfunden wurden. Auf jeden Fall war es jetzt mit der Schwedin aus und Arne wieder frei. Er selbst mochte seine beiden Kolleginnen Tessa und Nadja offensichtlich, denn er kam öfter mal vorbei, den Kaffeebecher in der Hand, und sie redeten und witzelten über die Firma, die Projekte, das Wetter, über Berlin und manchmal auch über Fußball. Arne war Hertha-Fan und entsprechend gebeutelt. Und er war ein netter, humorvoller Typ und passte nach Tessas Meinung hervorragend zu Nadja.

Auf Tessas Monitor erschien jetzt als Bildschirmschoner ein braunhaariges Mädchen, das gerade über einer Eiswaffel mit drei Kugeln eine herrliche Schnute zog: Stella, Tessas Nichte und Patenkind und ein wahrer Schatz. Das Bild war im Sommer entstanden, als Ole und sie in Kappeln zu Besuch gewesen waren und Tessa ihrer Nichte ein Eis spendiert hatte. Die Kleine war inzwischen neun, und Tessa staunte jedes Mal über ihre ganz eigenen Ansichten und ihren sehr speziellen Humor. Schade, dass sie Stella erst wieder im nächsten Jahr sehen würde!

Sie öffnete die Datei für die Folge „Familie Hase – Einschulung“, setzte sich die Kopfhörer auf und schnappte sich das Dialogbuch, dann startete sie den Film. Sie musste darauf achten, ob die Synchronisation auf die Lippenbewegungen der Hasen passte. Es war der letzte Durchcheck, meist war da aber alles in Ordnung.

Der Vorspann mit fröhlicher Musik lief, während die „Familie Hase“ wie auf Memorykarten entfaltet wurde. Allein das war schon voll sechziger Jahre! Mama Hase, Papa Hase, die drei Kinder Bunny Blue, Bunny Green und Bunny Yellow, darüber eine pädagogische Stimme (die ebenfalls hoffnungslos altmodisch war und die Tessa gern durch eine junge, freche Kinderstimme ersetzt hätte, aber bisher hatte sie bei ihrem Chef Sebastian auf Granit gebissen): „Das ist ›Familie Hase‹, eine Familie wie jede andere auch, mit Mama, Papa und drei Kindern.“ Man sah eines der Kinder mit einer Schultüte, aus der oben Karottengrün herausragte, und die Stimme fuhr fort: „Heute seht ihr, wie Bunny Blue in die Schule kommt, in eine Hasenschule, versteht sich, und was die kleinen Hasen dort alles lernen müssen. Ja, man kann nicht immer nur in der Gegend herumhoppeln und den ganzen Tag lang Büschchen-wechsel-dich spielen! Für Bunny Blue beginnt heute der Ernst des Lebens, doch um ihm den Anfang zu versüßen, hat Mama Hase ihm in die Schultüte ein Bund frischer Möhren getan!“

Die Einschulungsfolge war die erste der siebten Staffel, die Mitte des folgenden Jahres ausgestrahlt werden sollte. „Familie Hase“ lief wöchentlich am Samstagnachmittag um Viertel nach drei auf dem Kinderkanal. In Amerika war sie schon ein Riesenhit gewesen, aber auch beim deutschen Publikum kam sie gut an und hatte sensationelle, vor allem aber stabile Quoten. Doch dafür fühlte Tessa sich nicht verantwortlich, die kreativen Macher der Serie saßen irgendwo in Hollywood, sie war lediglich dafür da, dass die Übersetzung stimmte und eben manches an die deutsche Kultur angepasst wurde. Wie so oft driftete Tessa mit den Gedanken bei der Arbeit ab und malte sich in ihrer Fantasie anhand der Hasenfamilie ihre eigene Zukunft aus: Mama Hase lag auf einer Liege unter Palmen am Strand mit einem Cocktail in der Hand, neben ihr kniete Papa Hase und nahm ihre Hand: „Willst du meine Frau werden?“ Und Mama Hase nickte und sagte: „Ja, gern!“ Und Papa Hase rief fröhlich: „Das müssen wir feiern! Ich hol schnell eine Flasche prickelnden Möhrchensaft!“

Eine Hand auf ihrer Schulter ließ Tessa zusammenfahren, sie drückte die Stopptaste und nahm die Kopfhörer herunter. Niemand anderes als Sebastian Brückle, ihr Chef, stand da und grinste breit. Sebastian war Schwabe und hatte seinen Dialekt auch nach vielen Jahren in Berlin nicht verloren. Er hatte sich vom ehemals militanten Hausbesetzer zum cleveren Geschäftsmann gewandelt, der besonders gern hübsche Praktikantinnen ausbeutete. Auch Tessa hatte hier nach ihrem Amerikanistikstudium vor vielen Jahren mal mit einem Praktikum angefangen, das niemals zu enden schien, Nadja ebenfalls.

„Mädle, net vergesse: Heut zur Weihnachtsfeier gute Laune mitbringä! Des isch Anordnung von ganz oba!“ Er grinste, und Nadja und Tessa warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Die alljährliche Weihnachtsfeier, bei der er es „so richtig krachen ließ“, war Sebastian immer ein besonderes Anliegen. „Des isch wichtig, dass mir mal so richtig feiern!“, war dann sein Motto, das er angetrunken auf der Weihnachtsfeier so oft wiederholte, dass es in der Firma bereits eine stehende Redewendung war.

„Un auch net vergesse: Die Geschenkle für de Julklapp bei der Moni abgebä!“ Moni war seine Assistentin, und manche in der Firma behaupteten, sie sei vielleicht auch mehr. Das konnte gut sein, denn dass Sebastian gern mal zu nahe kam, hatte seit einiger Zeit aufgehört. Gott sei Dank, es gab nichts Ätzenderes als einen Chef, der zutraulich wurde. „Uffbasse, nur kloine Sache, maximal drei Euro, und schö grauslig!“ Der Julklapp war sein besonderer Spleen. Sebastian war der Meinung, dass gerade der Julklapp mit den kleinen, geschmacklosen Geschenken das Betriebsklima nachhaltig verbesserte.

Er zog einen Briefumschlag aus seinem Cordjackett. Damit wedelte er vor Tessas Nase herum. »Da, ä Bschwerde von oiner Frauenbeauftragten. Unsere „Familie Hase“ isch reaktionär und entspricht nicht dem modernen Frauen- und Familienbild!«

Tessa holte tief Luft, das war die Vorlage, um Sebastian endlich auch ihre Meinung zur „Familie Hase“ zu sagen. „Na ja, darüber will ich ja schon länger mit dir reden. Ich habe das Gefühl, dass die Serie behäbig ist, altmodisch. Schon allein diese Sprecherstimme, da könnten wir doch eine freche Kinderstimme nehmen!“

Sebastian winkte ab. „Aber die Kids möga se, und die Quode isch au super. Grad weil des a bissele altmodisch isch, des isch ja grad cool. Noi, noi, Gutzeitle, da wird nichts geändert, solange i hier d Boss bin!“

Tessa hasste es, wenn Sebastian sie „Gutzeitle“ nannte, das war noch so eine Frechheit. Eines Tages würde sie hier kündigen und ihm bei der Kündigung all das an den Kopf werfen. Wie oft hatte Tessa sich schon ausgemalt, was sie Sebastian bei dieser Gelegenheit alles sagen wollte.

Ihr Chef war schon auf dem Weg zur Tür, drehte sich aber noch mal um und zeigte auf den Brief: „Wenn sich oine Frauenbeauftragte aufregt, dann liege mir grad richtig!“

Als er endlich verschwunden war, öffnete Tessa ihre Schublade, holte eine Krawatte mit Glitzer und hässlicher Weihnachtsdeko heraus und hielt sie hoch. „Mein Julklapp-Präsent habe ich jedenfalls schon!“


3

Kurz nach vier ging Tessa los, um Geschenke für ihre Familie zu kaufen, die dringend am nächsten Tag zur Post mussten, und dann hatte sie noch einen Termin bei der Kosmetikerin. Nadja hatte ihr eingeschärft, zur Weihnachtsfeier bloß pünktlich wieder da zu sein, sonst würde Sebastian, der Gute-Laune-Diktator, böse. Anschließend hatte sie noch Sebastians Mantra parodiert: „Des isch wichtig, dass mir auch mal so richtig feiern!“

Die Straßen waren voll und vom Schnee nichts mehr zu sehen. Es war bereits wieder dunkel und die Weihnachtsbeleuchtung schon eingeschaltet, was Tessas Herz höher schlagen ließ. Auch wenn sie die Adventszeit liebte, in den letzten Jahren war ihr der Advent immer etwas sinnlos vorgekommen, denn er endete nicht mit Weihnachten, sondern manchmal noch vor dem Entzünden der vierten Kerze mit einem Flug nach Bangkok. Wie aufregend war das früher vor Weihnachten als Kind gewesen, mit dem Adventskalender, dem Adventskranz und den vier Kerzen, von denen Woche für Woche eine mehr angezündet wurde. Zu sehen, wie Weihnachten immer näher rückte. Aber diese Großstadthektik hier fand Tessa grauenvoll. Alle drängelten und waren so gestresst, weil sie noch ihre endlos langen To-do-Listen abarbeiten mussten. Wie dumm von ihr, die Geschenke auf den letzten Drücker zu besorgen! Die Verkäuferinnen taten ihr leid. Sie wirkten so, als wenn sie Heiligabend um 16 Uhr bestimmt nur todmüde ins Bett fielen. Und die Dauerberieselung mit ausgeleierter Weihnachtsmusik war ja schon nicht auszuhalten, wenn man sie bloß zehn Minuten lang anhören musste.

Zum Glück wusste Tessa genau, was sie wollte, und fand es schnell. Für ihre Mutter besorgte sie in der Galerie Lafayette ein edles Wolltuch in gedeckten Farben und eine schöne Glasvase, die sie sich bruchsicher verpacken ließ. Für Susanne suchte sie in einem angesagten Laden Modeschmuck einer Designerin aus, der etwas ausgefallener war. Mit Maren schenkte sie sich schon seit Jahren nichts mehr, und bei ihrem Patenkind Stella hatte Tessa den Verstärker für eine E-Gitarre spendiert, den ihre Schwester aber besorgen wollte. Für ihren Vater, den alten Tüftler, hatte sie bereits übers Internet einen Gutschein für den Baumarkt in Kappeln besorgt. Tessa vermisste seine schrägen Erfindungen zu Weihnachten. Ein schneiender Springbrunnen zur Jahrtausendwende war ihr Favorit, leider war die Sicherung am ersten Weihnachtstag durchgeschmort. Auch die Türklingel, die Jingle Bells spielte, von vor vielleicht fünf, sechs Jahren war super, aber eierte nach zwei Tagen und klang dann so, als wenn ein Betrunkener lallte.

Tessa stand vor dem Kosmetiksalon Beauty Deluxe, trat ein mit ihren Tüten. Alina, eine der angestellten Kosmetikerinnen, begrüßte sie. „Wieso kaufst du Geschenke, Schätzchen, wenn du wegfährst in Urlaub?“

„Ach, für die Familie zu Hause in Kappeln“, sagte Tessa.

Alina hatte schwarz gefärbte lange Haare und immer sehr stark betonte Augenbrauen über ihren grünen Augen. Tessa hatte noch nie ein so ausdrucksstarkes Augenpaar erlebt. Der Salon war schlicht, an den weißen Wänden hingen ein paar gerahmte Fotoreproduktionen von stark vergrößerten Blütenkelchen. Alina führte sie in die kleine Kabine, wo Tessa sich bis auf die Unterwäsche auszog. Man kannte sich seit Jahren. Alina wusste alles über ihre Kundinnen, meist nur durch wenige Fragen. Sie selbst war Russin und früher mal Sportlehrerin gewesen, jetzt lebte sie seit einigen Jahren in Berlin. Tessa fühlte sich bei Alina gut aufgehoben, auch wenn die Angelegenheit, derentwegen sie kam, schmerzhaft und unangenehm war. Beinenthaarung. Die natürlich nur deshalb nötig war, weil sie mit Ole in den Badeurlaub fuhr. Hätte sie Weihnachten brav in Kappeln gefeiert, wäre sie drum herumgekommen.

Als Tessa sich auf den Rücken auf die mit weißem Papier bedeckte Liege gelegt hatte, begann Alina mit dem Einwachsen der Unterschenkel und redete nebenbei die ganze Zeit über irgendwelchen Ärger mit ihrer Hausverwaltung, sodass Tessa sich bald dem Schwall der Worte mit dem leichten russischen Akzent hingab. Sie versuchte, während der Prozedur an etwas Schönes zu denken: an Sonne, Strand, Schnorcheln, Chillen in der Hängematte und prächtige Sonnenuntergänge, die sie gemeinsam mit Ole bei einem Cocktail betrachtete.

Alina riss sie aus ihren Tagträumen: „Wie lange seid ihr jetzt zusammen, du und Ole?“

„Vier Jahre und neun Monate. Zusammenleben tun wir schon viereinhalb Jahre, also, da ist Ole mit seinem Koffer bei mir eingezogen.“

Alina lächelte. „Und wann wird geheiratet?“

Tessa guckte etwas unsicher. „Na ja, Ole ist ja Künstler. Er findet Heiraten spießig, und wenn, dann will er nur mit den Füßen im Indischen Ozean getraut werden. – Aua!“

Alina hatte ein Blatt abgerissen.

„Und du? Willst du etwa im Bikini im Indischen Ozean heiraten?! Ohne Brautkleid?“ Da war sie wieder, diese postsozialistische Strenge einer ehemaligen Sportlehrerin. Und dazu die erhobenen Augenbrauen.

Ehe Tessa antworten konnte, guckte Alina ganz versonnen: „Meine Hochzeit mit Dimitri war ganz groß und mit einem langen Kleid. Fünfzehn Meter Seide hat meine Tante Sonja verarbeitet! Das muss auch einfach sein, das lässt sich doch keine Frau entgehen. Man heiratet schließlich nur einmal im Leben!“

„Autsch!“ Das letzte Blatt wurde von Tessas Wade abgerissen.

Alina, die es immer wieder schaffte, Tessa von den schmerzhaften Momenten der Enthaarung abzulenken, lächelte. „Jetzt bist du bereit für schönen Thailand-Liebesurlaub! Wer weiß, vielleicht macht Ole dir zu Silvester einen Antrag unter Palmen!“

Nun lächelte auch Tessa wieder. Und freute sich. Die letzte Hürde war nur noch die dämliche Weihnachtsfeier. Dann hatte sie Urlaub und konnte in Ruhe packen und sich freuen. Übermorgen ging es los, nach Bangkok, dann weiter mit dem Anschlussflug direkt nach Ko Samui, ins Glück. Drei Wochen lang. Nadja hatte recht, sie war zu beneiden.

Plötzlich zeigte Alina auf Tessas Angoraunterhose und guckte dabei sehr streng: „Aber, Schätzchen, die ist was für alte Omas und für Sibirien. Kauf dir mal was Schickes!“

Tessa nickte kleinlaut und zog sich wieder an. Sie gab Alina heute ein besonders großzügiges Trinkgeld, einfach weil sie gerade so happy war, weil Weihnachten vor der Tür stand, weil es Russen in der Fremde nicht leicht hatten und weil die arme Alina nicht wegkonnte, sondern gleich nach Weihnachten wieder arbeiten musste und anderen Frauen die Körperhaare wegmachen, die Nägel schneiden, feilen und lackieren und den ganzen Tag reden und zuhören musste – und manchmal eben auch streng sein. Weil die arme Alina sich Thailand nicht leisten konnte und im Regen in Deutschland bleiben musste. Es gab viele gute Gründe, einfach mal großzügig zu sein.

Fröhlich verließ Tessa den Salon. Es war halb sechs, und sie würde in einer halben Stunde rechtzeitig zur Weihnachtsfeier zurück im Büro sein. Sie musste jetzt nur noch das jährliche Horrorevent in der Firma überstehen und Haltung bewahren. Wieder spürte Tessa das unangenehme Jucken der Angoraunterhose auf der Haut. Wie es der Zufall so wollte, kam sie gerade an einem Dessousladen vorbei, in dessen Auslage rote und schwarze Edeldessous dekoriert waren. Eine Schaufensterpuppe trug darüber noch einen sehr eleganten kurzen Kimono aus dunkelroter Seide. Tessa fragte sich, warum die Damenunterwäsche jedes Jahr um Weihnachten herum plötzlich schwarz und rot wurde, und ging in den Laden, um sich genau so was zuzulegen. Sie entschied sich für einen schwarzen Spitzen-BH mit dezent dunkelrot eingearbeitetem Muster und einen dazugehörigen Slip von Prima Donna. Und sie behielt beides auch gleich an, unten drunter, für Ole, vielleicht später. Wenn Tessa so darüber nachdachte, hatten sie bestimmt schon zwei Wochen nicht mehr miteinander geschlafen. Sie wusste selber nicht so recht warum. Den perfekt dazu passenden dunkelroten Seidenkimono nahm sie kurz entschlossen auch noch und ließ ihn sich in weißes Seidenpapier einpacken. Ole würde Augen machen. Sie hoffte, dass er heute beim Casting die Rolle bekommen hatte und sich nachher zu Hause nicht wieder frustriert amerikanische Serien reinzog und sie ihn erst wiederaufbauen musste.


4

Als Tessa im Bürogebäude von film for kids aus dem Fahrstuhl kam, dröhnte schon die Technomusik von der Weihnachtsfeier durch den Flur. Sie legte ihre Jacke und die Geschenke in ihrem Büro ab. Dann ging sie zu den anderen, die sie mit lautem „Hallo!“ und „Da bist du ja!“ begrüßten. Moni, Sebastians Assistentin, setzte ihr eine blinkende Weihnachtsmütze auf, so wie alle sie trugen, und nun gehörte Tessa zur großen Büroweihnachtsfeiergemeinschaft dazu. Man merkte, dass sich die anderen schon am Nachmittag das eine oder andere Gläschen gegönnt hatten. Nadja kam und drückte Tessa auch ein Glas mit Glühwein in die Hand. „Anders ist das hier nicht auszuhalten“, raunte sie ihr zu, und Tessa lächelte dankbar. Zum Glück tanzten sie noch keine Polonaise, das war letztes Jahr Sebastians Wunsch gewesen. Grauenvoll, wie kurz vor Weihnachten immer der schwäbische Spießer in ihm zum Vorschein kam. Wenn seine alten Hausbesetzerfreunde das wüssten!

„Du siehst supersexy aus mit der Weihnachtsmütze auf deinen langen blonden Haaren“, flüsterte Nadja Tessa zu, „die Typen gucken schon alle.“

Sie standen am Büfett, das Moni organisiert hatte und das aus Buletten, Salaten, Asiaspießen und Kanapees bestand. Tessa nahm sich eine Bulette und zwei Kanapees und verputzte sie hungrig, sie hatte den ganzen Tag über fast nichts gegessen.

„Wie läuft es an der Arne-Front?“, fragte Tessa leise.

„Als du in der Stadt warst, hat er eine Viertelstunde bei mir im Büro abgehangen und wollte wissen, wo ich Weihnachten feiere.“

„Und wie feiert er?“

„Oh, das habe ich vor lauter Aufregung ganz vergessen zu fragen“, sagte Nadja.

„Na, das kannst du ja noch nachholen“, beruhigte Tessa sie. „Geh mal ein bisschen näher zu ihm, gleich gibt es doch Julklapp, da habt ihr dann sofort wieder was zu reden!“

Jemand drehte die Musik leiser, denn vorne stand nun Sebastian mit dem großen Jutesack, aus dem er die Julklappgeschenke verteilte, und Nadja bewegte sich unauffällig Richtung Arne. Jeder bekam eines der kleinen Säckchen, die alle gleich aussahen, und packte nun die Geschmacklosigkeit, die er erhalten hatte, aus. Tessa hatte es ganz übel erwischt dieses Jahr: ein Kugelschreiber mit nackten Menschen in Dünen, die, je nachdem wie man den Kugelschreiber drehte, Sex hatten oder nicht. Da hatte ein Oberstreber die Vorgabe „geschmacklos“ mehr als übererfüllt. Während Tessa das Ding noch fassungslos anstarrte, raunte ihr Dirk, der IT-Fachmann der Firma, der plötzlich neben ihr stand, zu: „Der ist von mir!“

Dirk trug meist Kapuzensweatshirts und hatte aus Prinzip leicht fettige, halblange Haare, die ihm vermutlich was von einem genialischen Computernerd geben sollten. Manche nannten ihn auch heimlich „Schwabbel“, weil er einen Body-Mass-Index von weit über dreißig hatte. Er hatte schon letztes Jahr auf der Weihnachtsfeier versucht, sich an Tessa heranzumachen, und war ihr bei der Polonaise gar nicht von der Pelle gerückt. Tessa ignorierte Dirk daher einfach und wandte sich Sebastian zu, der neben ihr stand.

„Was hast du denn Schönes gekriegt?“, fragte sie ihren Chef, der prompt sagte: „Oh, i han no net nachgschaut!“ Und er zog die Krawatte von Tessa aus seinem Säckchen und verzog angewidert das Gesicht. Laut rief er in den Raum: „Wenn ich den verwisch, der die rausgsucht het, der kriegt glei ä frischtlose Kündigung!“

Alle starrten auf die herrlich kitschige Krawatte, und es bildete sich ein Chor: „Anziehen! Anziehen! Anziehen!“ Tessa zückte ihr Smartphone und filmte die Szene. Sie und Ole nahmen immer wieder mal kleine, absurde oder lustige Szenen auf, um daraus eines Tages einen Film zu machen. Sebastian machte gute Miene zum bösen Spiel, zog das Ding an und posierte auch noch keck vor Tessas Smartphone.

Kurz darauf steckte Tessa das Telefon und ihren neuen Kuli in die Hosentasche und ging auf den Flur. Sie wollte frische Luft schnappen. Auf dem Weg zum Balkon traf sie Nadja, die mit Arne und mit ein paar anderen Kollegen zusammenstand und herumflachste.

„Na, was hast du Schönes bekommen?“, fragte Nadja.

Tessa holte den Kuli von Dirk heraus und führte ihn vor, Nadja und Arne kriegten sich nicht ein vor Lachen.

„Der ist ja einfach spitzenmäßig!“

„Von Schwabbel“, sagte Tessa. „Und was habt ihr gekriegt?“

Arne zeigte eine Tasse in Form eines Dackels und Nadja eine Schneekugel, in der rosa Schnee über einem Weihnachtsmann in Lackleder herunterfiel.

Tessa sah ihre Praktikantin Julia zusammengekauert auf dem Balkon und ging hinaus zu ihr. Sie legte Julia, diesem Häuflein Elend mit Weihnachtsmütze, den Arm um die Schultern. Man sah, dass Julia geweint hatte. Ihre blonden Haare hingen traurig und schlapp unter der Mütze, und sie war noch blasser als sonst. Ihr Lippenpiercing zitterte.

„Julia, was ist denn?“

„Sebastian ist so ein Arsch! Ich könnte den ganzen Laden in die Luft sprengen.“

„Geht es um die Festanstellung?“

„Ab ersten Januar. Das hatte er mir fest versprochen und, vorhin hat er gesagt, doch noch ein halbes Jahr länger Praktikum.“

„Das hat er bei mir damals genauso gemacht. Er weiß einfach, dass er sich das erlauben kann, weil er im Medienbereich Praktikanten ohne Ende findet. Vielleicht suchst du dir besser was anderes. So toll ist der Laden hier doch auch wieder nicht. Ich versauere schon seit Jahren bei meinen Hoppelhasen!“

Julia schien sich wieder etwas zu fangen und fischte eine Zigarette aus ihrer Packung, während Tessa den tollen Blick über Berlin genoss, den man vom Balkon aus hatte. Man sah sogar den Fernsehturm. Julia bot ihr eine Zigarette an, doch Tessa winkte ab.

„Nee, hab aufgehört.“

„Biste schwanger?“

Tessa schüttelte den Kopf.

„Aber willste gern bald werden, stimmt’s?“

Tessa zuckte mit den Schultern, lächelte und nickte dann.

„Cool, dann werd ich deine Schwangerschaftsvertretung!“

Tessa war irritiert über diese Wendung des Gesprächs und sauer, dass Julia so wenig weibliche Solidarität zeigte. Aber sie schrieb es dem Glühwein zu und ging wieder rein.

In der Kaffeeküche quatschte sie eine Weile mit zwei Kolleginnen vom anderen Ende des Flurs, die sie selten zu Gesicht bekam. Als sich dann auch noch Moni zu ihnen gesellte und reichlich angeheitert ein paar interessante Details über Sebastian und die Firma ausplauderte, wurde es noch ganz amüsant.

Irgendwann fragte sich Tessa, was Nadja wohl machte, und ging sie suchen. Im Konferenzraum wurde inzwischen wild getanzt. Die Beats aus der Anlage, die Sebastian laut Moni eigens für die Weihnachtsfeier gekauft hatte, waren bestimmt noch kilometerweit auf der Straße zu hören. Doch Nadja war nicht unter den Tanzenden zu sehen.

Als Tessa wieder auf den Flur trat, fiel ihr Blick auf die Tür zum Kopierraum, die halb geöffnet war. Drinnen war es dunkel, aber Tessa nahm eine leichte Bewegung am Kopierer wahr. Als sie genauer hinschaute, erkannte sie Nadja und Arne, die eng umschlungen miteinander herumknutschten. Tessa war erst etwas überrascht, aber dann lächelte sie und freute sich für Nadja. Vielleicht hatte sie zumindest eine aufregende Nacht mit Arne vor sich. Sie ging nachdenklich ein paar Schritte weiter, da grapschte ihr jemand von hinten an den Po. Erschrocken fuhr sie herum. Sie sah auf IT-Dirk. Dessen Lippen waren schon ganz rot vom vielen Glühwein, und die Weihnachtsmütze saß schief auf seinen halblangen, leicht fettigen Haaren und blinkte verlangsamt, als wenn die Batterie gleich ihren Geist aufgeben würde. Er schien ganz schön angetrunken.

„Na, Tessababy, geiler Hintern, wollte ich dir immer schon mal sagen! Du bist echt ’ne supersteile Kollegin!“

Tessa bekam den Mund nicht wieder zu. Sie hasste Weihnachtsfeiern, sie hasste Glühwein, sie hasste Menschen, die nicht mehr wussten, was sie tun. Sie hasste Kollegen, die sich Mut antrinken mussten, um dann auf einer Weihnachtsfeier ihrer Geilheit freien Lauf zu lassen. „Danke, Dirk, ich wollte dir auch schon immer mal sagen, dass deine Wabbelbrüste enorm beeindruckend sind.“

Jetzt war Dirk sprachlos, stand da mit offenem Mund, wirkte plötzlich nüchtern. Tessa hatte endgültig genug. Draußen eine frustrierte Praktikantin, die nur auf ihre Stelle lauerte, und drinnen angetrunkene Kollegen, die so viel Mist bauten, dass ein ganzes Jahr nicht ausreichte, das wieder glattzubügeln. Zwangsweihnachtsfeiern in Büros und Betrieben gehörten verboten! Tessa warf einen Blick auf die Uhr in ihrem Smartphone: immerhin schon kurz nach neun. Und weil es wirklich keinen Grund mehr gab zu bleiben, da die einzige vernünftige und liebenswerte Person soeben im Kopierraum herumknutschte, was das Zeug hielt, beschloss Tessa, zu gehen und Ole zu Hause mit ihrem frühen Kommen zu überraschen. Sie freute sich auf ihn, auf einen gemütlichen Abend auf dem neuen Sofa, das sie sich monatelang zusammengespart hatte.

Tessa eilte in ihr Büro, zog die Jacke über und griff nach ihren Tüten mit den Geschenken. Sie warf einen letzten Blick in den Raum und rauschte dann Richtung Fluchttreppenhaus, um unbemerkt von den anderen und vor allem unbemerkt von Sebastian zu entkommen. Wer sie so gesehen hätte, hätte wirklich vermutet, dass da jemand auf der Flucht war.


5

Das Taxi nahm die Route durch Mitte nach Prenzelberg. Tessa sah durchs Fenster die Weihnachtsbeleuchtung überall. Die Geschäfte hatten bereits geschlossen. Sie atmete tief durch. Yeah! Sie hatte Weihnachtsferien! Drei Wochen frei! Sie konnte es noch gar nicht glauben. Noch steckten ihr jedoch die Weihnachtsfeier und dieser widerliche Dirk in den Knochen. Vorne quatschte der Taxifahrer ununterbrochen, Tessa hörte seinem Redeschwall nur mit halbem Ohr zu.

„Will die Olle unbedingt ’ne neue Küche mit Flüsterschubladen, ick meene, ick fahre mir hier jede Nacht eenen ab, und die Konkurrenz wird och immer größer. Weihnachten ist natürlich jutet Geschäft mit die janzen Weihnachtsfeiern und so, wenn se eenem nicht die Taxe vollkotzen, is och schon vorjekommen. Aber Heiligabend, det is heilig. Da komm wa alle zusammen, die janze Sippe, det volle Programm, Boom, Kerzen, aber echte! Und Jeschenke, bis der Arzt kommt. Wissen Se, ick versteh die Leute ja nich, die Weihnachten in die Karibik fahrn, nach Kuba oder Australien. Na, leck ma doch die Bollen. Da schmelzen doch de Kerzen bei vierzig Grad im Schatten!“

Tessa musste schmunzeln. Berliner Taxifahrer, noch so eine Pest.

„Und wo feiern Se Weihnachten?“, wollte er schließlich mit einem prüfenden Blick in den Rückspiegel wissen.

„In Thailand, auf Ko Samui. Ohne Kerzen, weil’s zu heiß ist“, sagte Tessa und freute sich, dass er zur Abwechslung mal sprachlos war. „Da vorne rechts können Sie dann halten“, fügte sie hinzu.

Er stoppte, sie zahlte und gab noch ein weihnachtlich großzügiges Trinkgeld für die Flüsterschubladen.

„Firma dankt und denn schönet Fest!“, grummelte der Fahrer.

„Danke, das wünsche ich Ihnen auch.“

Tessa stieg aus. Sie sah Licht in ihrer Wohnung, also war Ole da. Es war schön, nach Hause zu kommen und zu wissen, dass da jemand auf einen wartete, den man liebte. Nicht allein zu sein. Der Mond stand groß und hell über der Straße. Ein paar Sterne waren am städtischen Nachthimmel mehr zu erahnen, als wirklich zu sehen. Wie toll waren immer die Sternenhimmel auf Ko Samui!

Tessa betrat den Hausflur. Als sie die Wohnung aufschloss, wunderte sie sich über die ziemlich laute Popmusik aus dem Wohnzimmer. Die Tür zum Wohnzimmer war geschlossen, sie rief ein „Bin wieder da!“, aber bei der Lautstärke konnte es gut sein, dass Ole sie gar nicht hörte. Sie hängte ihre Tasche und Daunenjacke an die Garderobe und nahm die Weihnachtsmütze aus der Jackentasche. Tessa warf einen Blick darauf und musste plötzlich grinsen. Sie hatte eine Idee.

Tessa verschwand ins Bad und kam kurz darauf in dem neu erworbenen Spitzen-BH und dem passenden Slip wieder heraus. Sie schnappte sich aus dem Schuhregal im Flur ein paar High Heels, zog sie an und stellte sich in aufreizender Pose vor den Flurspiegel. Dann setzte sie noch die Weihnachtsmütze auf, die auf ihren langen blonden Haaren keck blinkte. Sie sah aus wie ein Unterwäschemodell aus der Weihnachtswerbung. Zu guter Letzt fischte sie aus ihrer Tasche noch den eingepackten Kimono, wickelte ihn aus dem Seidenpapier und zog ihn über. Auch wenn Ole ein Weihnachtshasser war – Tessa war überzeugt, dass ihm ihr Aufzug gefallen und er Augen machen würde. Manchmal musste man seinen Partner – und sich selbst – eben auch mal überraschen. Sie schloss den Kimono vorn mit dem Gürtel, Ole sollte sie ja noch selbst auspacken. Dann lächelte sie sich im Spiegel an, atmete tief durch und öffnete die Tür zum Wohnzimmer – nicht ahnend, dass dies der letzte Moment eines anderen Lebens war.

Das Wohnzimmer war dunkel, doch Tessas Weihnachtsmütze ließ die Szenerie, die sich ihr bot, in rot blinkendem Licht erscheinen. Ole lag auf dem Sofa, hatte aber seinen Anzug noch an. Tessa sah eine blonde Mähne über einem dunkelblauen Stewardesskostüm auf und ab wippen und wusste sofort, wer da auf Ole saß. Eine leere Flasche Sekt lag auf dem Boden und zwei halb volle Sektgläser standen auf dem Couchtisch. Es war einer dieser Momente, in denen man sich wünscht, im Erdboden zu versinken, einfach weg zu sein.

In Schockstarre stand Tessa in ihrer weihnachtlichen Verkleidung in der Tür. Ole hatte sie durch das Blinken natürlich auch sofort entdeckt. Einen Moment später drehte sich auch Steffi, die mit dem Rücken zu ihr war, um, und beide starrten sie an, als wäre sie der Teufel im Kimono. Man konnte wirklich nicht sagen, wer sich mehr erschreckte.

Tessa ging zur Anlage und schaltete die Musik aus. Es kehrte Stille ein. Eine sehr stille Stille. Und peinliches Schweigen. In ihrem Outfit schämte Tessa sich doppelt und dreifach. Sie nahm die Mütze vom Haar, pfefferte sie auf den Boden und stotterte völlig fassungslos: „Was macht ihr da auf meinem neuen Bettsofa?“

„Du, äh, also die Steffi … das ist jetzt echt nicht, was du vielleicht denkst …“, stammelte Ole.

„Was denke ich denn?“, schrie Tessa. Ihre Stimme kippte fast. „Dass ihr hier bei Popmusik poppt, während ich bei der Weihnachtsfeier bin?!“

Steffi war inzwischen von Ole runter, klaubte ihre Sachen zusammen und huschte gebückt und mit einem bedröppelten „Sorry, Tessa!“ aus dem Wohnzimmer. Man hörte noch, wie sie sich im Flur hastig anzog.

Ole hatte inzwischen Boxershorts und Anzughose wieder hochgezogen und ging nun beschwichtigend auf Tessa zu. „Tessa, es hat wirklich nichts zu bedeuten. Steffi kam mit einer Flasche Sekt vorbei und hatte Megafrust, war notgeil und, na ja …“

„Du meinst, da hast du ausgeholfen? Nachbarschaftshilfe sozusagen?“

Ole guckte belämmert, aber dann zeigte er auf Tessas Outfit. Vor lauter Wut hatte sie nicht bemerkt, dass sich der Kimono vorn geöffnet hatte und nun die edlen Dessous zu sehen waren. „Was hast du denn da Schickes an?“

Die Bezeichnung Jemandem eine knallen traf vollkommen auf das zu, was nun folgte. Tessa holte aus, und es knallte wirklich, als ihre Hand auf seiner Wange landete. So wütend war sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gewesen. Ihre Hand brannte.

Sie stapfte auf ihren High Heels ins Schlafzimmer, nahm Oles Koffer vom Schrank und warf seine Sachen hinein, alles, was sie zu fassen bekam. Dann schleppte sie den Koffer raus auf den Balkon und pfefferte ihn von dort auf die Straße, wo sich die Sachen auf dem Bürgersteig verteilten.

Ole folgte ihr, blieb aber in einer Art Sicherheitsabstand und redete die ganze Zeit beruhigend auf sie ein. „Tessa, das war ein Riesenfehler, ich weiß. Ich habe Mist gebaut, aber bitte, bitte, beruhige dich! Ich liebe dich! Das gerade eben war doch einfach nur Sex.“

Tessa rauschte an ihm vorbei wieder ins Wohnzimmer, nahm seine Hanteln, die dort herumlagen, und seine DVDs, marschierte damit erneut auf den Balkon und warf wieder alles runter auf die Straße. Das tat gut, war aber nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.

„Bitte, Tessa, lass uns in Ruhe reden. In Thailand bringen wir das alles wieder ins Lot!“

„Ah, danke für das Stichwort!“ Tessa ging zum Esstisch und griff nach den beiden Flugtickets, die dort lagen. Sie drehte sich zu Ole um und zerriss sie vor seinen entsetzten Augen genüsslich in viele kleine Stücke.

„So, und jetzt raus aus meiner Wohnung und für immer aus meinem Leben!“

Ole stand da wie in Schockstarre.

„Den Haustürschlüssel!“ Sie hielt die offene Hand hin.

Er fischte aus seiner Hosentasche den Schlüssel und gab ihn ihr.

Und dann ging er, endlich, Richtung Tür, und Tessa hörte das Schloss der Wohnungstür.

Sie ließ sich in den Sessel fallen und starrte auf den Stuck an der Zimmerdecke, bis alles zerfloss, weil sich ihre Augen mit Tränen füllten. Soeben war eine ganze Welt zusammengebrochen. Nicht nur die letzten vier Jahre und neun Monate, auch ihre Zukunft, alles lag in Scherben.

Über Anne Blum

Biografie

Anne Blum wurde an der schleswig-holsteinischen Ostseeküste geboren und lebt heute in Berlin. Nach dem Studium der Theaterwissenschaft und Literatur arbeitete sie als freie Radiojournalistin, sattelte dann aufs Drehbuchschreiben um. „Hasen feiern kein Weihnachten“ ist ihr Debüt.

Pressestimmen
Wetzlarer Neue Zeitung

„Anne Blum ist hier eine liebenswerte Geschichte um die Mittdreißigerin Tessa gelungen.“

BR 5 aktuell

„Sehr unterhaltsam erzählt Anne Blum diese zeitgemäße Weihnachtsgeschichte vom Wiederentdecken des vergessenen Zaubers einer Zeit der Heimlichkeiten.“

Schlei-Bote

„Romantik, Witz und eine Prise Drama à la Bridget Jones.“

anima-libri.de

„Humorvoll-romantische Weihnachtslektüre vom Feinsten.“

buecherunddiewelt.wordpress.com

„Eine Geschichte mitten aus dem Leben mit tollen Charakteren, warmherzig erzählt. Fünf Sterne für diese wirklich schöne Weihnachtsgeschichte und eine Leseempfehlung für die Feiertage.“

Floh auf lovelybooks.de

„Dieses Buch ist nicht nur einfach ein wunderbarer Roman, nein, dieses Buch ist eine Metapher, ein Ritt zwischen den Emotionen und ein Lesevergnügen für jeden Romanliebhaber.“

monikaschulte.blogspot.de

„›Hasen feiern kein Weihnachten‹ - ein Weihnachtsroman vom Feinsten und zudem ein großartiges Lesevergnügen! Frisch, lebendig und wunderschön erzählt!“

Kommentare zum Buch
Kathrin Frei am 30.10.2016

Tolles Buch! Tessas fesselnde Liebesgeschichte eingebettet in einen Weihnachtsroman ist einfach ein Muss. Ich konnte es kaum zur Seite legen!

Ein wunderbarer Weihnachtsroman!
Monika Schulte am 19.10.2016

Ein wunderbarer Weihnachtsroman!   Wie jedes Jahr wird Tessa auch in wenigen Tagen wieder mit ihrem Freund Ole über die Feiertage nach Thailand fliegen, doch dann erwischt Tessa den Mann, von dem sie dachte, dass sie ihn irgendwann heiraten würde, in flagranti mit einer Nachbarin. Tessa flüchtet zu ihrer Familie nach Kappeln in Norddeutschland. Kitschige Gartenzwerge, die auch noch singen können und Unmengen an Lametta warten hier im Kreise ihrer Familie auf sie. Lange Zeit für Liebeskummer hat Tessa jedoch nicht, denn da taucht plötzlich Sven auf, ihr ehemaliger Schulkamerad und sorgt für Schmetterlinge im Bauch.   „Hasen feiern kein Weihnachten“ - ein wunderbarer Weihnachtsroman, den man nach der letzten Seite mit einem glücklichen Lächeln schließen wird. Tessa synchronisiert eine Kinderserie fürs deutsche Fernsehen, bei der es um eine Hasen-Familie geht. Sie würde viel lieber in der Heimat Weihnachten feiern, doch ihr Freund Ole ist ein Weihnachts-Hasser. Die Ereignisse überstürzen sich und so landet Tessa doch bei ihrer Familie im heimeligen Kappeln.   „Hasen feiern kein Weihnachten“ - ist aber nicht nur einfach so eine weihnachtliche Liebesgeschichte. Dieser Roman – übrigens der erste der Autorin! - ist viel mehr, zeigt sie doch sehr gut, wie beschauliche Weihnachten im Kreis der Familie ablaufen kann. Da sind nicht nur Herz, Schmerz und gute Gefühle. Wie in vielen anderen Familien auch – wer kennt es nicht? - kommt man endlich zur Ruhe oder auch nicht. Man ist gestresst. Die Familie sitzt zusammen. Neid, Eifersüchteleien und ähnliches brodeln an die Oberfläche. Doch „Hasen feiern kein Weihnachten“ wäre kein Weihnachtsroman, wenn es hier nicht, auch nach großer Aufregung um Tessas Vater, doch wieder zu einem wunderbaren Ende kommen würde. Ich liebe Weihnachtsromane und diese Geschichten MÜSSEN einfach ein Happyend haben!   „Hasen feiern kein Weihnachten“ - ein Weihnachtsroman vom Feinsten und zudem ein großartiges Lesevergnügen! Frisch, lebendig und wunderschön erzählt!

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