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Elsässer Sünden (Jules-Gabin-Reihe 2)Elsässer Sünden (Jules-Gabin-Reihe 2)

Elsässer Sünden (Jules-Gabin-Reihe 2)

Jean Jacques Laurent
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Ein Fall für Major Jules Gabin

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Elsässer Sünden (Jules-Gabin-Reihe 2) — Inhalt

Das malerische Elsass: Nichts als Liebe, Leid und Laster!

Ein Brandstifter geht in Rebenheim um. Bisher fielen nur leer stehende Häuser den Flammen zum Opfer, nun jedoch auch ein Mensch. War es ein Unfall oder mörderische Absicht? Gabins Ermittlungen führen ihn zu Bernadette. Die ehemalige Weinkönigin wurde bei einem Autounfall so schwer verletzt, dass sie seither entstellt ist. Sie hätte ein starkes Motiv – denn der Tote war der Unfallfahrer –, aber auch ein wasserdichtes Alibi. Und dann ist da noch Gabins Freundin Lilou, die ihren Besuch angekündigt hat. Was ist, wenn sie auf die hübsche Untersuchungsrichterin trifft, die ihn mehr als einmal geküsst hat?

Major Jules Gabin ermittelt:
Band 1: Elsässer Erbschaften
Band 2: Elsässer Sünden
Band 3: Elsässer Versuchungen
Band 4: Elsässer Verfehlungen
Band 5: Elsässer Intrigen

Alle Bände sind in sich abgeschlossene Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.

€ 12,00 [D], € 12,40 [A]
Erschienen am 01.03.2018
256 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31226-4
Download Cover
€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 01.08.2016
256 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97523-0
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Leseprobe zu „Elsässer Sünden (Jules-Gabin-Reihe 2)“

LE PREMIER JOUR

DER ERSTE TAG


Während er keuchend in die Pedale trat und ihm der Schweiß von der Stirn rann, bemühte er sich darum, auf die landschaftlichen Reize zu achten. Das lenkte ab und hinderte ihn daran, ständig an die nächste Pause zu denken. Denn bevor er sich ein schattiges Plätzchen suchen und seine zweite Wasserflasche leeren würde, wollte er mindestens weitere fünf Kilometer bei geschätzten dreihundert Höhenmetern schaffen.

Die Weinberge hatte er schon eine Weile hinter sich gelassen und hangelte sich auf seinem Rennrad nahe an der Waldgrenze [...]

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LE PREMIER JOUR

DER ERSTE TAG


Während er keuchend in die Pedale trat und ihm der Schweiß von der Stirn rann, bemühte er sich darum, auf die landschaftlichen Reize zu achten. Das lenkte ab und hinderte ihn daran, ständig an die nächste Pause zu denken. Denn bevor er sich ein schattiges Plätzchen suchen und seine zweite Wasserflasche leeren würde, wollte er mindestens weitere fünf Kilometer bei geschätzten dreihundert Höhenmetern schaffen.

Die Weinberge hatte er schon eine Weile hinter sich gelassen und hangelte sich auf seinem Rennrad nahe an der Waldgrenze entlang. Zwischen den dicht stehenden Nadelbäumen und wucherndem Farn schimmerte es rötlich durch die Zweige: der Buntsandstein, seit Jahrhunderten begehrtes Baumaterial für Burgen und Dörfer, aber auch Rohstofflieferant für die Glasmanufakturen. Inzwischen kannte er sich recht gut aus und wusste um die Besonderheiten der Landschaft. Dank seiner ausgedehnten Radtouren hatte er sich mit Flora, Fauna und geologischen Merkmalen vertraut gemacht – eine willkommene Abwechslung zu den vielen Stunden im Büro. Er hatte den teils rauen, teils lieblichen Charme der Vogesen schätzen gelernt, war Wildtieren begegnet und hatte ihm bislang unbekannte Pflanzen gesehen: die Torfmoose etwa, kleine robuste Stämme mit edelweißförmiger Krone, und sogar den seltenen fleischfressenden Sonnentau konnte er neulich bestaunen.

Er radelte weiter auf der kurvenreichen Piste, mal bergauf, mal bergab. Je größer die Anstrengung wurde und die Kondition nachließ, desto weniger Blicke hatte er für die schöne Umgebung übrig. Seine Energiereserven flossen in die Beine, nicht in den Kopf, und unwillkürlich entfernten sich seine Gedanken vom Hier und Jetzt.

Bald war er sehr weit weg. Über achthundert Kilometer. Jules Gabin dachte an seine alte Heimat an der Westküste Frankreichs. Die sonnenverwöhnten Ostertage hatte er dafür genutzt, um gemeinsam mit Lilou die Düne von Pilat zu erklimmen. Der riesige Sandhaufen vor den Toren von Arcachon faszinierte ihn jedes Mal aufs Neue. Mit einem Pizzakarton und einer Flasche Bordeaux unterm Arm hatten sie den steilen Anstieg gemeistert und waren dabei bis zu den Knöcheln im puderweichen, warmen Sand versunken. Auf dem Scheitel in gut einhundert Metern Höhe hatten sie ihre Picknickdecke ausgebreitet und sich in der Abenddämmerung zugeprostet. Mit dem Blick aufs Meer, seinen über alles geliebten Atlantik.

Nun war der Ozean so weit weg wie seine Freundin. Sehnsüchtig dachte er an seine zierliche, aber umso temperamentvollere Lilou und die viel zu kurze Zeit, die er mit ihr verbringen durfte. Die Wehmut ver­ursachte ein Ziehen in seiner Brust – oder lag es an der allmählich ausgehenden Puste?

Was konnte er dagegen tun, dass er sie vermisste? Starke Gefühle gehörten nun mal dazu, wenn man eine Fernbeziehung führte. Nichts anderes war es ja, auf das sich Jules eingelassen hatte. Hier und jetzt, zurück als Kommandant der Gendarmerie nationale im elsässischen Rebenheim, musste Major Gabin über diesen Dingen stehen und sich auf die Gegebenheiten seiner neuen Wirkungsstätte einlassen.

Die Erinnerung an das Picknick auf der Düne drang bis zu seinem Magen durch. Der fing fordernd an zu brummen. Da auch seine Beine nicht länger mitspielen wollten und das Gesäß schmerzte, reduzierte Jules seine Zielvorgabe und hielt Ausschau nach einem netten Plätzchen. Dort wollte er rasten, bevor er sich den Hang hinab zurück in sein Winzerörtchen rollen lassen würde.

Jules fand bald eine gemütliche Stelle an einem von Auen umgebenen Weiher. Nachdem er sein Rad an ­einen Baumstumpf gelehnt, den Helm abgelegt und sich die Fahrradhandschuhe abgestreift hatte, nahm er die Trinkflasche zur Hand und leerte sie bis auf einen kleinen Rest, den er der Vernunft halber für den Rückweg aufhob. Dann setzte er sich so, dass er eine gute Aussicht auf das Tal hatte. Jules öffnete seinen Rucksack und holte eine Brotzeit heraus – liebevoll zusammengestellt von seiner Zimmerwirtin Clotilde. Mit Heißhunger machte er sich über Bauernbrot, hart gekochte Eier und Münsterkäse her. Es schmeckte ihm so gut wie in einem Sternerestaurant. Mindestens! Während er sein casse-croûte genoss, rückten Atlantikküste und Lilou langsam wieder in die Ferne.

Kauend schaute er ins Tal, ließ seine Blicke über die sanften Hügel gleiten, die nahezu vollständig mit Wein bebaut waren. Dazwischen lagen die kleinen Orte der Weinstraße, verschlafene Nester und umtriebige Touristenzentren. Noch weiter entfernt, hinter Feldern und Autobahn, glitzerte das breite Band des Rheins in der Sonne. Die Grenze zum benachbarten Deutschland, wo man die Gipfel des Schwarzwalds erahnte.

Jules wischte sich Brotkrumen aus dem Mundwinkel und wollte gerade seine kurze Rast beenden, als er auf etwas aufmerksam wurde. In der Nähe von Rebenheim, am Fuß einer der Weinberge, tat sich etwas, das er zunächst nicht einzuordnen vermochte. Er war sich nicht sicher, ob es sich vielleicht bloß um einen Dunstschleier handelte. Eine Nebelschwade, die sich zwischen den abfallenden Hängen in den Reben bildete und für einen Frühsommermorgen wie heute typisch war.

Doch dann kam ihm die Idee, dass es auch etwas ­anderes sein könnte. Denn die Sonne stand inzwischen schon recht hoch und schien kräftig. Die Luft war zu trocken, um zu kondensieren. Sollte es sich um Rauch handeln?

Jules wog gerade noch das Für und Wider ab, da wurde seine Befürchtung bestätigt: Die Wolke breitete sich schnell aus, färbte sich schwarz. Sekunden ­darauf züngelten erste Flammen über der Kuppe.

„Putain!“, fluchte Jules und sprang auf. Hastig suchte er nach seinem Handy, das irgendwo am Grund seines Rucksacks liegen musste. Er agierte fahrig und nervös, denn Jules wusste sehr wohl, was sich im Tal abspielte: Der Feuerteufel hatte wieder zugeschlagen!

Seit Wochen trieb er sein Unwesen in den Gemeinden rund um Rebenheim. Mal brannte ein Heu­schober, mal ging ein Geräteschuppen in Flammen auf. Der Sachschaden hielt sich in Grenzen, und zum Glück gab es bislang keinen Personenschaden. Doch die Leute sorgten sich und machten Jules dafür verantwortlich, dass der Schuldige nach wie vor nicht gefasst werden konnte.

„Salut, Alain“, rief Jules in sein Smartphone, kaum dass sein Adjutant sich gemeldet hatte. „Es brennt! Ich schätze, wieder irgendeine Scheune. Ungefähr einen Kilometer nordöstlich von Rebenheim. Es könnte sich um das Gut von Miguel handeln. Schicken Sie sofort einen Wagen los. Das heißt, nein. Schnappen Sie sich François als Unterstützung und fahren Sie selbst hin! Und alarmieren Sie Claude. Er soll einen Löschzug rausschicken. Ich komme sofort nach.“

Mit Sorge beobachtete Jules, wie sich das Feuer rasch ausbreitete. Offenbar fand es ausreichend Nahrung in Form von aufgeschichtetem Holz oder Stroh. Es galt, keine Zeit zu verlieren. Jules raffte seine Sachen zusammen und sprang auf sein Rad. Er wusste, dass es eine Weile dauern würde, bis Claude seine Männer zusammengetrommelt hatte. Das kleine Rebenheim hatte natürlich nur eine freiwillige Feuerwehr, die noch dazu an chronischer Überalterung und Nachwuchsmangel litt. Die Überalterung bezog sich leider nicht nur auf Claudes Truppe, sondern auch auf die Rüstwagen der Marken Renault, Peugeot und Iveco. Sie wurden zwar wenig bewegt und hatten daher kaum Kilometer auf dem Tacho, hatten aber durchschnittlich zwanzig Jahre auf dem Buckel. Sie neigten dazu, gerade dann nicht anzuspringen, wenn es dringend nötig war.

Jules trieb sein Rad die Serpentinen herunter. Er nahm in Kauf, dass die schmalen Felgen seiner Rennmaschine Schaden nahmen, denn bei seiner rasanten Talfahrt konnte er unmöglich auf jedes Schlagloch achten. Er sauste an Rebstöcken vorbei, deren Laub in frischem Grün leuchtete, überholte andere Radfahrer, die gemächlich in die Pedale traten, und klingelte Wandergruppen beiseite, die dachten, dass die Wege nur für sie bestimmt wären.

Er hatte seinen eigenen Geschwindigkeitsrekord auf dieser Strecke geschlagen, als er keine Viertelstunde später an seinem Ziel eintraf. In gebührendem Abstand warf Jules sein Rad in die Böschung und versuchte, sich ein Bild der Lage zu machen. Wie vermutet, war eine Scheune in Brand geraten oder vielmehr ein größerer Schuppen. Weinbauer Miguel stellte hier seine Geräte unter, die er für die Lese benötigte. Der Holzverschlag, der etwa fünf mal fünf Meter maß und nicht höher als eine Garage war, brannte lichterloh. Die Flammen schlugen weit in die Höhe und erzeugten ein tosendes Prasseln. Obwohl Jules auf Distanz blieb, spürte er die Gluthitze auf seiner Haut.

Er schaute sich um, in der Hoffnung, Claudes Spritzenautos um die Ecke biegen zu sehen. Fehlanzeige. Es sah ganz danach aus, als würde der Einsatzwagen mal wieder streiken. Auch von Adjutant Lautner fehlte jede Spur. Wo blieb er bloß?

Jules verspürte das dringende Bedürfnis, etwas zu unternehmen. Doch was sollte er tun? Er hatte nichts bei sich, mit dem er das Feuer löschen konnte. Mit bloßen Händen schon gar nicht. So schwer ihm die Einsicht auch fiel, er allein konnte nichts ausrichten.

Er musste tatenlos mit ansehen, wie der Brand bald die ganze Vorderseite des Schuppens umschloss. Funken sprühend und gierig züngelnd fraß sich das Feuer durch die Bretter der Wände, verwandelte den Dachstuhl in ein rauchendes Gerippe. Die Flammen fauchten, das Holz krachte. Ein Höllenlärm!

So laut, dass Jules das andere Geräusch beinahe überhörte. Es handelte sich um eine Art Jaulen. Erst zurückhaltend und von längeren Pausen unterbrochen, dann kräftiger und anhaltend. Jules stutzte, fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Der Hitze zum Trotz wagte er sich näher an das Flammeninferno heran. Versuchte sich auf die Jaultöne zu konzentrieren.

Je näher er kam, desto deutlicher hörte er sie. Es waren jämmerliche Laute. In ihnen schwangen Angst und Leid mit. Jules meinte, dass sein Radlerdress jeden Augenblick auf seiner Haut schmelzen würde. Dennoch kämpfte er sich weiter voran, hielt die Hand zum Schutz gegen die Helligkeit vor die Augen.

Das qualvolle Jammern war nun nicht mehr zu überhören. Mit Einbildung, wie es Jules bis eben für möglich gehalten hatte, konnte das nichts mehr zu tun haben. Hier befand sich jemand in größter Not – und Jules musste ihm helfen.

Noch einmal sah er sich um, suchte die Straße nach heraneilenden Rettungskräften ab. Aber er blieb auf sich allein gestellt. Da es keinen Zweck hatte, sich weiter bis zu der brennenden Front vorzuarbeiten, wollte es Jules von der Seite versuchen. In der Hoffnung, dass der Brand noch nicht den kompletten Bau eingenommen hatte.

„Halten Sie durch!“, schrie er gegen das Dröhnen und Trommeln des Feuers an. „Ich hol Sie da raus!“

Von der Seite kommend stellte er fest, dass die ­Gerätescheune über einen kleineren Anbau verfügte. Dieser bestand ebenfalls aus Holz, jedoch hatten sich die Flammen noch nicht bis dorthin vorgearbeitet. Da das jämmerliche Heulen von hier aus noch klarer zu hören war, folgerte Jules, dass sich der Eingeschlossene in diesem Anbau aufhielt. Er suchte nach einer Möglichkeit hineinzukommen, entdeckte ein Tor, legte seine Hände auf den Metallbügel des Schlosses und zuckte mit schmerzerfülltem Gesicht zurück.

„Au, verflucht!“, stieß er aus und sah auf seine Handflächen. Wollte er sich keine Brandblasen zuziehen, musste er seine Finger schützen. Kurz entschlossen zog er sein Funktionsshirt über den Kopf und ­wickelte es sich um die Fäuste. So wollte er einen zweiten Versuch wagen.

Doch er kam nicht dazu. Einer der Balken löste sich aus dem Dachstuhl des Schuppens und sauste auf den Anbau nieder. Wie ein Rammbock durchschlug er die Abdeckung des Holzverschlages und trug das Feuer mitten hinein.

Der Eingeschlossene stieß einen entsetzten Schrei aus. Von Panik erfüllt, geradezu animalisch! Jules, der vor Schreck einige Schritte nach hinten getaumelt war, kam wieder näher.

„Keine Angst!“, rief er. „Ich öffne gleich das Tor!“

Jules nahm all seinen Mut zusammen, rannte gegen das wütend tobende Feuer, steuerte auf das Tor zu. Das tat er beinahe blind, denn er musste seine Augen gegen das gleißende Licht schützen. Seine Hände, jetzt mit dem Stoff seines Trikots geschützt, ertasteten das glühende Metall des Schließmechanismus. Er versuchte, ihn herunterzudrücken. Aber der Hebel klemmte.

Du musst es schaffen, stachelte er sich an. Er versuchte es abermals. Scheiterte. Dann auf ein Neues. Wieder und wieder. Zwecklos. Der Schieber ließ sich nicht bewegen, gab keinen Millimeter nach. Jules musste husten, der Rauch war unerträglich. Doch die kläglichen Töne von drinnen weckten neue Kräfte in ihm. Noch einmal probierte er, den Hebel umzulegen. Mit der Kraft der Verzweiflung schaffte er das Unmögliche, und endlich gab das Eisen nach! Die Blockade der Tür war aufgehoben. Jules zog das Tor auf. Die heiße Luft, die ihm entgegenblies, haute ihn beinahe von den Beinen.

Die Pforte stand jetzt offen. Jules jedoch, schweißnass und rußgeschwärzt, wusste, dass damit nichts ­gewonnen war. Er musste sich in das Flammenmeer hineinstürzen, das bedrohlich lodernd nur auf ihn zu warten schien. Mit wenigen Blicken sondierte er die Lage, entdeckte eine schmale Flucht, die wie durch ein Wunder nicht vom Feuer erfasst worden war.

„Ich hole Sie jetzt raus! Halten Sie sich bereit!“, rief er.

Jules löste die angesengten Stofffetzen von seinen Handgelenken und hielt sie sich vor Mund und Nase, um den beißenden Rauch abzuwehren. In geduckter Haltung lief er durch den Korridor, der ihn geradewegs zu einem vergitterten Abteil führte. Eine Abstellkammer? Hier musste sich der Unglückselige aufhalten, dachte Jules und versuchte, den Mann ausfindig zu machen.

„Wo sind Sie? Machen Sie sich bemerkbar!“, rief er gegen das Krachen des Gebälks an.

Beim näheren Hinsehen erkannte er, dass er nicht vor einer Abstellkammer stand, sondern einer Art Stall. Die Einsicht traf ihn wie ein Donnerschlag: Als er das Gatter öffnete, stand ihm ein Ziegenbock gegenüber. Verängstigt stieß das Tier seine klagenden Laute aus, die Jules für das Jammern eines Menschen in Not gehalten hatte.

Jules fackelte nicht lang, bekam das eingeschüchterte Tier zwischen den Läufen zu fassen und hob es hoch. Der Bock war nicht besonders schwer und gab sich lammfromm. Jules hatte keine Mühe, ihn aus der Flammenhölle herauszutragen.

Gerade im rechten Moment. Kaum hatte er die Scheune mit der Ziege in den Armen verlassen, brach der ganze Laden hinter ihm zusammen. Es rumste mörderisch, Zehntausende Funken stoben in den Himmel. Jules rang um Atem und dankte seinem Schöpfer dafür, dass er ihn mit heiler Haut davonkommen hatte lassen.

Da er so sehr auf den infernalischen Brand und das schlotternde Tier fixiert war, bekam er erst mit einiger Verzögerung mit, dass er nicht mehr allein war. Als er sich umsah, standen dort nicht nur die Feuerwehrautos mit Claudes einsatzbereiter Mannschaft, sondern auch Vincent Le Claire. Der Reporter der Lokalzeitung Les Nouvelles du Haut-Rhin richtete seine Kamera auf ­Jules und drückte ab.




LE DEUXIÈME JOUR

DER ZWEITE TAG


„Es hat ein bisschen was von Putins Aura, findest du nicht?“

Jules funkelte Joanna Laffargue böse an. Musste das wirklich sein, dass ihn die Untersuchungsrichterin damit aufzog? Reichte es nicht, dass sich schon die ganze Stadt darüber lustig machte?

Sie saßen sich auf der Terrasse der Brasserie Georges gegenüber. Die altehrwürdigen Kastanien schirmten die kräftige Mittagssonne ab. Vom staubigen Platz zwischen den Bäumen schallte das Klacken der Boulekugeln herüber, die von einigen Männern aus dem Ort geworfen wurden. Joanna sah wie immer fabelhaft aus. Die dezente Eleganz ihrer Kleidung betonte ihre Klasse. Ihre fesche Kurzhaarfrisur ließ sie noch jünger wirken, als sie ohnehin war. Jules aber konzentrierte sich einzig und allein auf ihre ozeanblauen Augen, die ihn herausfordernd ansahen.

„Putin?“, fragte er und tat so, als ließe ihn dieser Vergleich kalt. „Wie kommst du denn darauf?“

Joanna drehte die Zeitung mit dem Bericht über Jules’ Heldentat vom gestrigen Tag um, sodass er Le Claires riesengroß abgedrucktes Foto besser sehen konnte. Sie tippte auf Jules’ muskulöse Arme, die auf dem Bild den aschgrauen Körper des Ziegenbocks umschlossen.

„Diese heroische Pose mit nacktem Oberkörper, der beachtliche Bizeps“, zählte sie auf. »Und dann erst dein Gesichtsausdruck, männlich verhärmt und zu ­allem entschlossen. Ein echter Held eben.«

„Pah. Ich bin ein ganz anderer Typ als Putin“, meinte Jules und schob sein croque-monsieur beiseite. Eigentlich hätte das Sandwich sein Mittagessen sein sollen, aber Joannas Stichelei verdarb ihm den Appetit. „Schau doch“, sagte er und griff sich ins Haar. „Schwarze Locken. Die hat Putin nicht zu bieten. Außerdem bin ich fünfundzwanzig Jahre jünger.“

„Stimmt“, erwiderte Joanna und fasste ihn an den Oberarm. „Und auch deine Muskeln sind besser. Aber der Pathos ist ähnlich.“

„Lass den Unsinn.“ Jules schob ihre Hand weg. „Ich finde es nur begrenzt witzig, dass mich Rebenheim als Retter eines Ziegenbocks feiert.“

„Warum? Die Leute sind dir wirklich dankbar dafür, dass du Hugo gerettet hast“, sagte sie augenzwinkernd.

Hugo – das wusste Jules inzwischen – lautete der Name des Tiers. In Rebenheim hatte es der Bock nicht zuletzt dadurch zu einem gewissen Ruhm gebracht, dass er schon so lange lebte und jeden, der an Miguels Weingut vorbeikam, munter anmeckerte. Miguels Vater hatte den Ziegenbock angeschafft, damit er das Unkraut zwischen den Weinstöcken abfraß. Dass Hugo seiner Aufgabe mittlerweile weitaus länger nachkam, als es seine natürliche Lebenserwartung vorgesehen hatte, machte ihn zum Mythos.

»Der Bock ist uralt. Der wäre ohnehin bald ver­endet«, sagte Jules schroff.

Daraufhin legte Joanna ihre Hand noch einmal auf seinen Arm und streichelte ihn sanft. „Trotzdem war es ein nobler Zug von dir, dich für ihn stark zu machen“, flötete sie und fügte ein gehauchtes „Wladimir“ hinzu.

Es ärgerte ihn, dass Joanna ihn aufzog. Aber er hatte es sich ja selbst zuzuschreiben, denn was er sich gestern Morgen geleistet hatte, war ziemlich peinlich. Dass er das Blöken einer Ziege nicht vom Rufen eines Menschen unterscheiden konnte, festigte nicht gerade sein Renommee als Kommandant der örtlichen Gendarmerie. Gleichwohl konnte er sicher sein, dass Joanna es nicht böse meinte. Sie neckte ihn, machte ihm aber keine Vorhaltungen, wie sie es als seine disziplinarische Vorgesetzte ebenso gut tun könnte.

Während er ihren amüsierten, aber auch gütigen Blick studierte, dachte Jules über die Beziehung zwischen ihm und Joanna nach. Sie hatten keinen leichten Start gehabt, als Jules im letzten Herbst seinen Dienst in Rebenheim angetreten hatte. Joanna hatte ihn gleich am Anfang ordentlich angetrieben, um so schnell wie möglich den Mord an einer jungen Journalistin aufzuklären, und ihn immer wieder spüren lassen, wer das Sagen hatte – nämlich sie in ihrer Funktion als Untersuchungsrichterin. Doch dann hatte sich das Blatt ­gewendet. Jules bewies ihr sehr bald, dass er ein talentierter Ermittler war und sein kleines Team auf Trab bringen konnte. Dem zollte Joanna Respekt, indem sie Jules mehr und mehr freie Hand ließ. Und noch etwas kam hinzu: Zwischen ihnen beiden entwickelte sich eine Zuneigung, die bald über das hinausging, was man als kollegiales Verhältnis bezeichnen könnte. Es fehlte nicht viel für eine Affäre.

„Worüber denkst du nach?“, fragte Joanna, die anscheinend Jules’ verträumten Blick zu deuten versuchte. „Haderst du mal wieder mit deinem Schicksal? Ob es die richtige Entscheidung gewesen ist, deine Lilou in Royan zurückzulassen, um bei uns im Elsass auf Verbrecherjagd zu gehen? Wenn du sie so vermisst, hol sie doch nach.“

Jules setzte ein schiefes Lächeln auf. »Als ob das so einfach wäre. Du weißt genau, dass sie im Geschäft ­ihrer Eltern eingespannt ist. Gerade jetzt, wenn die Saison anläuft, wird sie gebraucht.« Lilous Eltern betrieben eine kleine Werft mit zwei Touristenbarkassen und setzten Urlauber auf die Leuchtturminsel Cordouan über. »Außerdem wüsste ich gar nicht, wo ich sie ­unterbringen könnte.«

Joanna schwenkte ihren erhobenen ­Zeigefinger vor seiner Nase. »Weil du dich noch immer nicht um eine Wohnung gekümmert hast und dich aus reiner ­Bequemlichkeit von Clotilde in der Auberge de la ­Cigogne durchfüttern lässt.«

„Weil ich keine Zeit für so etwas habe. Ich muss mich in die hiesigen Strukturen einfinden, unerledigte Fälle abarbeiten und solche Dinge.“

Sie ließ seine Argumente nicht durchgehen. „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.“

Jules ahnte, dass Joanna ihn nur zum Schein drängte. In Wahrheit wollte sie ausloten, ob sein Herz wirklich noch an seiner petite amie hing. Oder ob sich seine ­Gefühle mehr und mehr auf Joanna verlagerten. Sie ließ zumindest keine Gelegenheit aus, ihm schöne Augen zu machen.

Um dem Thema auszuweichen, wandte sich Jules ab und schaute den Männern beim Boule zu. Diese ­typisch französische Freizeitbeschäftigung war im Elsass weniger verbreitet, in Rebenheim jedoch hatte sich nicht zuletzt durch Jules’ Einfluss eine eingeschworene Gemeinschaft gebildet, die fast täglich die Kugeln rollen ließ. Mit besonders viel Inbrunst ging der alte Lino Pignieres zu Werke, Jules’ Vorvorgänger als Chef der Gendarmerie. Der stämmige Mann mit schlohweißem Bürstenhaarschnitt und Knollennase im zerknitterten Gesicht warf das schwere Eisen inzwischen mit einer ausgefeilten Technik, um die ihn manch ein Provenzale beneidet hätte. Für Mitte siebzig war er erstaunlich agil.

Jules konnte den brummigen Rebenheimer gut leiden. Dennoch lastete eine unausgesprochene Wahrheit auf ihrer Freundschaft. Linos lange verstorbener Vater, selbst ehemaliger Landgendarm, war in irgend­einer Form in den Lynchmord an einem Mädchen verwickelt gewesen. Der Tod des deutschstämmigen Kindes im Sommer 1945 war nie aufgeklärt worden. Jules vermutete, dass Lino um das Geheimnis sehr wohl wusste, es aber zum Schutz der Familien hütete. Jules juckte es in den Fingern, den Fall aufzuklären, und widmete sich den verstaubten Akten immer dann, wenn er gerade nichts Besseres zu tun hatte. Vorerst war allerdings nicht daran zu denken weiterzuforschen, denn er musste endlich diesen Feuerteufel dingfest machen.

Nach seiner Pause kehrte Jules in die Gendarmerie am Place Turenne zurück. Die Polizeistation im Corps de Garde prägte den von blumengeschmückten Fachwerkhäusern umgebenen Platz ebenso wie die im romanischen Stil gebaute Kirche Notre-Dame des Trois Épis und der große, kreisrund ummauerte Brunnen im Zentrum. Das Corps de Garde stammte aus dem sechzehnten Jahrhundert und war aus solidem Sandstein gemauert. Es wirkte trutzig, beinahe wie eine kleine Festung.

„Was gibt es Neues?“, fragte Jules, als er die Amtsstube im ersten Stock betrat.

Charlotte Regnier, deren Schreibtisch gleich neben dem Eingang stand, schaute nur kurz von ihren Unterlagen auf. Die junge Frau, klein und mit brünettem Pagenschnitt, erledigte Sekretariatsaufgaben und war die gute Seele der Wachstube. François Kieffer, dessen Arbeitsplatz vis-à-vis von Adjutant Lautners direkt vorm Fenster lag, erhob sich schwerfällig von seinem Stuhl. Der dickliche Gendarm, der in etwa Jules’ Alter hatte, aber mangels Ehrgeiz auf seiner niedrigen Rangstufe stehen geblieben war, hob seine Hand zu einer nachlässigen Form des militärischen Grußes.

„Nichts, Major“, antwortete er. „Rein gar nichts.“

Am liebsten hätte Jules seinen Mitarbeiter dazu aufgefordert, Haltung anzunehmen, anstatt mit hängenden Schultern und müdem Dackelblick das nicht vorhandene Ergebnis seiner Arbeit zu verkünden. Das Recht dazu hätte Jules, denn die Gendarmerie nationale war nach militärischen Maßstäben strukturiert.

„Nichts gibt es nicht“, sagte Jules streng. „Es sind mehr als vierundzwanzig Stunden vergangen, seit Miguels Scheune abgebrannt ist. Ich sehe nicht ein, länger auf den Bericht zu warten.“

Kieffer stöhnte und linste zu seinem Computer. Weit war der Gendarm mit seinem Protokoll nicht gekommen. Auf dem Bildschirm waren gerade mal zwei Zeilen zu sehen. „Es ist wie bei den anderen Bränden auch“, gab er behäbig von sich. „Wir haben Brandbeschleuniger gefunden, wieder Benzin. Auch der Kanister lag noch in den Trümmern. Er war der Hitze ausgesetzt, sodass Fingerabdrücke – sofern vorhanden – verdampft sind. Ansonsten gibt es keinerlei brauchbare Spuren. Nichts, was auf den Täter hinweist.“

Jules streckte seinen Oberkörper durch, in der Hoffnung, dass Kieffer sich ihn zum Beispiel nahm. »Das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Selbst wenn das Feuer die Spuren an der Scheune selbst vernichtet ­haben sollte, muss es andere Hinweise geben. Wie sieht es zum Beispiel mit Reifenspuren aus? Irgendwie muss der Brandstifter ja dort hingekommen sein. Habt ihr überprüft, ob in der Nähe ein Auto geparkt hat?«

Bedächtig schüttelte der Gendarm den Kopf. »Keine Reifenabdrücke. Zumindest nicht die von einem Auto. Bloß die von einem Traktor weiter hinten bei den ­Reben. Aber das haben wir geklärt. Der Traktor gehört Miguel. Und sonst …« Er konzentrierte sich auf die dürren Angaben seines Protokolls. „Sonst bloß ein paar Fahrradspuren.“

„Fahrradspuren?“ Jules horchte auf. „Könnten die etwas hergeben?“

„Kaum“, erwiderte Kieffer matt. »Der Weg entlang der Scheune ist eine beliebte Strecke für Mountain­biker, ist also unmöglich zu kontrollieren. Aber das können Sie als Rennradpilot ja nicht wissen, denn mit Ihren dünnen Felgen kommen Sie da sonst nicht hin.«

„Wie sieht es mit Zeugen aus?“, fragte Jules.

„Nichts Verwertbares. Wir haben Miguel und einige seiner Landarbeiter befragt. Fehlanzeige. Und sollte ein zufälliger Passant etwas beobachtet haben, sind wir darauf angewiesen, dass er sich bei uns meldet.“

„Hm“, grübelte Jules. „Also haben wir rein gar nichts.“

„Sag ich doch!“

Jules gab seine angespannte Haltung auf und setzte sich auf Kieffers Schreibtischkante. „Was wir bräuchten, wäre die Unterstützung von Experten auf diesem Gebiet. Die Kollegen der Police nationale in Strasbourg haben doch sicher einige Erfahrung mit feuerpolizeilichen Ermittlungen …“

„Sie wollen Hilfe aus Strasbourg? Keine Chance, die kommen nicht“, rief Charlotte von ihrem Platz herüber. „Nicht bei einer solchen Lappalie.“

„Na hören Sie mal, Charlotte, um ein Haar hätte es dem allseits beliebten Hugo das Leben gekostet“, witzelte Jules auf seine eigenen Kosten.

„Charlotte hat recht“, sagte Kieffer bierernst. „Bisher sind ja nur Holzverschläge und Unterstände angezündet worden, die nicht einmal versichert waren. Da kräht in Strasbourg kein Hahn nach, das sind für die Bagatellen. Und auch Madame Laffargue scheint sich nicht besonders dafür zu interessieren. Sonst hätte sie das Heft längst in die Hand genommen.“

Bei der Erwähnung von Joannas Namen musste ­Jules unwillkürlich husten. Er wusste sehr wohl, was hinter seinem Rücken über ihn und die Richterin getuschelt wurde.

„Haben Sie sich verschluckt, Major?“, fragte Kieffer scheinheilig.

„Nein, nein, schon gut.“ Jules erhob sich von Kieffers Schreibtischplatte. Er deutete auf den freien Platz ihm gegenüber. „Wo ist Adjutant Lautner? Noch nicht von der Mittagspause zurück?“

„Er müsste jeden Augenblick kommen“, sprang Charlotte in die Bresche. „Er ist gewiss unterwegs aufgehalten worden. Dienstlich, versteht sich.“

Wahrscheinlicher erschien es Jules, dass der Adjutant zu Hause in der Küche saß und sich von seiner Mutter mit elsässischen Köstlichkeiten aller Art verwöhnen ließ. Seit Jules es unterbunden hatte, dass Madame Lautner Mittag für Mittag mit einem Fresskorb in der Gendarmerie hereinschneite und die Belegschaft von der Arbeit abhielt, dehnte Alain Lautner seine Pause über alle Maßen aus. Ein Umstand, dem Jules kaum Herr werden konnte, ohne sich sehr unbeliebt zu machen. Wahrscheinlich schlemmte der ewige Junggeselle coq au riesling, sein Lieblingsgericht, oder genoss eine von Madame Lautners formidablen Hasenterrinen. Jules merkte, wie ihm allein bei dem Gedanken daran das Wasser im Mund zusammenlief.

Doch diesmal lag er falsch. Als Alain Lautner kurz darauf abgehetzt die Wache betrat, konnte er einen triftigen Grund für seine Verspätung vorbringen. Wie stets schlackerte seine Uniform an seinem dürren Körper, wobei sich Jules fragte, wie es Lautner gelang, seine Figur trotz der guten Küche seiner Mutter zu halten. Aufregung und Anspannung lag in seiner Stimme, als Lautner verkündete: „Eine Katastrophe! Es ist etwas Fürchterliches passiert.“

„Der Feuerteufel!“, stieß Jules aus. Er musste erneut zugeschlagen haben!

Doch Lautners Unruhe hatte eine andere Ursache. „Jean-Marie hat sich das Bein gebrochen. Er ist bei seiner letzten Tour mit dem Vorderrad aufs Bankett geraten und hat sich überschlagen. Er trägt mindestens für sechs Wochen Gips.“

„Mon Dieu!“, rief Charlotte und hielt sich die Hände vor den Mund. „Der arme Jean-Marie.“

„Schlimmer noch, er fällt für unser Vorbereitungskomitee aus. Wer soll jetzt die Streckenplanung übernehmen?“ Lautners Gesicht war aschfahl.

Jean-Marie Bouvier gehörte – genau wie Lautner und auch Jules – der örtlichen Radsportgruppe an. Da der Apotheker Bouvier nicht nur einer der eifrigsten Fahrer, sondern darüber hinaus ausgewiesener Feinschmecker war, oblag ihm die ebenso ehrenvolle wie verantwortungsvolle Aufgabe, die Route der traditionellen Frühjahrstour festzulegen. Dabei galt es, eine radsportlich anspruchsvolle sowie landschaftlich reizvolle Strecke mit kulinarischen Höhepunkten zu kombinieren. Bouvier sollte für die ganztägige Tour d’Alsace mehrere Etappenziele mit den lohnendsten Gasthäusern der Region auswählen. Jules war die Aufgabenstellung aus den vielen Vorbesprechungen in der brasserie geläufig, und er beneidete Jean-Marie nicht darum. Denn die Messlatte der Erwartungen lag hoch.

„Es bleibt ja kaum noch Zeit“, klagte Lautner. „Wer könnte das so kurzfristig übernehmen?“

Jules ging in Gedanken die anderen Mitglieder ihres Teams durch. Pierre, der Rentner, war zu alt. Genau wie Lino. Jean Paul Gardier hatte mit seiner Versicherungsagentur zu viel um die Ohren. Christian, der Jüngste im Team, hatte gewiss anderes im Kopf, als die Gegend nach guten Gasthäusern zu durchkämmen. Lautner hatte die Tour schon die letzten beiden Male organisiert.

Er war so sehr mit seinen Überlegungen beschäftigt, dass er zunächst gar nicht merkte, wie ihn Charlotte Regnier und Alain Lautner ansahen. Einmütig und entschlossen. Jules schwante Böses.

„Nein“, sagte er und hob abwehrend die Hände. „Kommt gar nicht infrage.“

„Aber, Chef, Sie wären der ideale Kundschafter“, ­redete Charlotte auf ihn ein. „Sie sind neu in der Gegend und sehen alles mit anderen Augen als wir Einheimischen.“

„Ja, Sie entdecken vielleicht Streckenabschnitte, die wir gar nicht mehr im Blick haben“, bestärkte sie Adjutant Lautner. „Und Lokale, die uns noch nicht aufgefallen sind.“

„Sie würden frischen Wind in die Sache bringen“, argumentierte Charlotte eifrig weiter.

„Da ist was dran“, pflichtete Kieffer ihr bei, obwohl der Gendarm eigentlich gar nichts damit zu tun hatte. Weder mit der Tour d’Alsace noch mit Radfahren an sich.

„Vergesst es“, stellte Jules klar. „Dafür bin ich nicht zu haben.“

Daraufhin begannen seine Mitarbeiter wild zu diskutieren. Jules blieb von ihrem angeregten Gespräch ausgeschlossen, denn die drei hatten kurzerhand die Sprache gewechselt und tauschten sich auf Elsässisch aus.

Er ließ sie eine Weile gewähren, bevor er in seine Faust hustete und fragte: „Und? Zu welchem Ergebnis seid ihr gekommen?“

Während die Männer sich mit verschränkten Armen und entschlossenen Gesichtern aufstellten, übernahm Charlotte das Reden. „Wir meinen, dass Sie es trotzdem tun sollten. Es wäre ein gebührender Einstand in der Radlertruppe.“

„Aber ich sagte doch gerade …“, setzte Jules zur ­Widerrede an, kam jedoch nicht weit.

Charlotte schnitt ihm das Wort ab. »Es würde ­erheblich zu Ihrer Integration beitragen.«

Integration? Zwar fühlte sich Jules in diesem Teil Frankreichs mitunter tatsächlich wie ein Ausländer, aber dass er Integrationsprobleme haben sollte, war ihm neu.

„Ich merke schon, ihr zieht wirklich alle Register.“ Er musste über die Hartnäckigkeit seiner Leute schmunzeln und wurde weich. „Na gut. Ich kann ja mal darüber nachdenken.“ Bevor er hinzufügen konnte, dass dies keine feste Zusage sei, fing Charlotte an zu klatschen. Kieffer schloss sich an. Jules sah zu, wie Lautner eine Nachricht in sein Handy tippte. Diese ging mit Sicherheit an Jean Paul, Pierre, Lino, Christian und die anderen, folgerte Jules und sah ein: Aus dieser Nummer würde er nicht mehr herauskommen.

„Am besten, wir besprechen alles Weitere in der brasserie. Gleich nach Feierabend“, schlug Lautner vor. Seine Erleichterung über Jules’ Quasizusage drückte sich dadurch aus, dass sein Gesicht wieder etwas Farbe annahm.

„Einverstanden“, sagte Jules, der am Abend ohnehin nichts vorhatte. Dann jedoch verpasste er seinem Untergebenen einen Dämpfer. „Bis es so weit ist, bleiben uns ein paar Stunden Zeit.“ Er nahm Kieffer und Lautner ins Visier, woraufhin sich Charlotte zurück an ihren Schreibtisch trollte. „Und apropos Radfahren, ich möchte, dass die Abdrücke von den Reifenspuren vor Miguels Scheune gesichert werden.“

Mit diesem Vorschlag vertrieb Jules nicht nur die gute Laune aus dem Büro, sondern stieß auch auf ­Unverständnis.

„Was versprechen Sie sich davon?“, fragte Lautner.

„Ich habe Ihnen doch gesagt, dass die Scheune direkt an einer Mountainbikepiste liegt“, sagte Kieffer und klang genervt über die Begriffsstutzigkeit seines Vorgesetzten. „Das bringt nichts, es sind viel zu viele Spuren.“

„Mich interessieren nur die, die bis dicht vor Miguels Gelände führen“, präzisierte Jules und ignorierte das Augenrollen des Gendarmen.

„Aber …“, setzte Kieffer erneut an.

„Kein Aber!“, entgegnete Jules scharf. »Falls der Brandstifter den Benzinkanister in einem Rucksack oder auf dem Gepäckträger transportiert haben sollte, hat er sein Rad in der Nähe abgestellt, um den Kanister nicht weit tragen zu müssen. Also kümmern Sie sich bitte darum, die Spuren zu nehmen. Oder haben Sie ­etwas Besseres anzubieten?«

Einhelliges Kopfschütteln.

Gut, dachte Jules. In den Spuren der Fahrradreifen sah er den ersten Ansatz, dem Feuerteufel auf die Schliche zu kommen. Er würde Kieffer mit den Abdruckmustern zum Zweiradgeschäft Cycl’évasion schicken und sie Gilbert, dem Besitzer, vorlegen lassen. Jules’ sehr optimistische Hoffnung bestand darin, dass ­Gilbert die Abdrücke einem bestimmten Fahrradtyp zuordnen könnte. Da hier im Ort fast jeder sein Rad im Cycl’évasion kaufte, rechnete sich Jules Chancen aus, dass er mit Gilberts Hilfe den Besitzer des entsprechenden Bikes feststellen könnte. Das Ganze würde selbstverständlich nur dann von Nutzen sein, wenn der Brandstifter überhaupt mit dem Rad unterwegs gewesen war.

Jean Jacques Laurent

Über Jean Jacques Laurent

Biografie

Jean Jacques Laurent ist das Pseudonym eines deutschen Autors, der bereits zahlreiche Kriminalromane verfasst hat. Mehrmals im Jahr reist er zu seiner Familie ins Elsass, wo er Land und Leute studiert und die gute Küche genießt. Immer mit einem Gläschen Weißwein dazu, denn im Gegensatz zu...

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