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Die Liebe kommt selten allein

Die Liebe kommt selten allein

Colleen Coleman
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Roman

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Die Liebe kommt selten allein — Inhalt

Mit achtundzwanzig Jahren muss Evelyn erkennen, dass ihre Ehe mit James in eine Sackgasse geraten ist. In Dublin will sie ihr Leben neu ordnen. Sie nimmt einen Job in einem charmanten kleinen Pub an, und zu ihrer eigenen Überraschung gefällt ihr die Arbeit. Sie ist endlich mal wieder so richtig glücklich. Und sie verliebt sich in den Musiker Danny. Gemeinsam schmieden sie schon Zukunftspläne, als eine Reihe unvorhergesehener Ereignisse Evelyns Welt noch einmal gehörig durcheinander bringt. Ist Evelyn bereit, all ihren Mut zusammenzunehmen und für ihre Träume zu kämpfen?

€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 02.07.2019
Übersetzt von: Sina Hoffmann
304 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99311-1
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Leseprobe zu „Die Liebe kommt selten allein“

1

„Mr und Mrs O’Connor?“

„Ich heiße Evelyn.“ Ich schüttle der Paartherapeutin die Hand. „Ich habe den Termin vereinbart.“

Sie nickt, während mich der Blick ihrer veilchenblauen Augen durchdringt. „Shannon Brannigan, sehr erfreut, Sie kennenzulernen. Ich muss zugeben, dass Sie das jüngste Paar in meiner Beratung sind. Frisch vermählt?“

Ich schüttle den Kopf. Wenn es doch nur so wäre. Als Frischvermählte sind wir geradezu übereinander hergefallen. Wir waren unzertrennlich. Konnten weder den Blick noch die Finger voneinander lassen. Mittlerweile kommt es mir [...]

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1

„Mr und Mrs O’Connor?“

„Ich heiße Evelyn.“ Ich schüttle der Paartherapeutin die Hand. „Ich habe den Termin vereinbart.“

Sie nickt, während mich der Blick ihrer veilchenblauen Augen durchdringt. „Shannon Brannigan, sehr erfreut, Sie kennenzulernen. Ich muss zugeben, dass Sie das jüngste Paar in meiner Beratung sind. Frisch vermählt?“

Ich schüttle den Kopf. Wenn es doch nur so wäre. Als Frischvermählte sind wir geradezu übereinander hergefallen. Wir waren unzertrennlich. Konnten weder den Blick noch die Finger voneinander lassen. Mittlerweile kommt es mir vor, als sei das eine Ewigkeit her.

„Nein. Wir sind seit sieben Jahren verheiratet, seit zehn Jahren sind wir zusammen.“

„Ah, verstehe. Eine Schulliebe.“

Im Leben hätten wir nicht gedacht, dass wir einmal hier landen würden, in der obersten Etage eines vornehmen Büroblocks in der Stadt, meilenweit entfernt von unserem Cottage am Meer. Über eine solche Szene hätten wir uns gnadenlos lustig gemacht. Eheberatung? Wir? Um Himmels willen! Was für eine unglaubliche Zeit- und Geldverschwendung. Gefühlsduseliges Gefasel. Ein unangenehmer Eingriff in die Privatsphäre. Viel zu amerikanisch. Viel zu teuer. Wir waren der Meinung, dass man sich eben besser trennt, wenn eine Paartherapie nötig sein sollte. So einfach. Wir waren der Meinung. Ich überlege kurz. Das ist auch immer noch James’ Meinung. Ich weiß genau, dass er es für eine absolut blödsinnige Idee hält, dass wir hier sind. Früher haben wir ähnliche Gedanken, Träume und Meinungen gehabt.

Jetzt nicht mehr.

Schon lange nicht mehr.

Shannon Brannigan reicht James die Hand. An seinem gelangweilten, glasigen Blick kann ich erkennen, dass er gar nicht zugehört, sondern nur auf die Strandidylle ihres Bildschirmschoners gestarrt hat – Sonne, Meer und Surfer. Typisch.

Ich stupse ihn an.

Er starrt mich so finster an, als sei ich seine Mutter und er ein schikanierter Teenager. Ganz ehrlich: Die Kinder, die ich unterrichte, verhalten sich erwachsener.

Er schüttelt die Hand der Paartherapeutin und schenkt ihr ein halbherziges Lächeln. Ich musste ihn wirklich herzerren, und genau so sieht er auch aus. Lange, widerspenstige Locken bilden eine wirre, blonde Wuschelmähne, dazu trägt er ein Basketballshirt und eine Sonnenbrille. Drinnen. Eine Ray-Ban im wolkenverhangenen, regnerischen irischen Wetter. Also bitte. Kurzer Realitätscheck, James! Wir sind nicht auf Ibiza. Ich verdrehe die Augen. Bemühen? Stolz? Grundlegender Anstand? Auf deine Spielchen lasse ich mich gar nicht erst ein. Da bekomme ich nur Kopfschmerzen.

„Was?“, fragt er.

Ich antworte nicht. Jetzt starre auch ich auf den Bildschirmschoner. Weißer Sand, türkisfarbenes Meer. Sieht wie eines unserer Flitterwochenfotos aus. Mittlerweile kommt es mir vor, als hätte ich diese Zeit gar nicht selbst erlebt. Ich merke, wie James mich von der Seite mustert.

„Nur weil du dich wie eine Politikerin kleidest? Hier gibt es keinen Dresscode, oder?“

Ich trage meine Arbeitskleidung. Da ich direkt von meinem verantwortungsvollen Erwachsenenjob komme, bei dem ich nicht jeden Abend in der Woche bis in die frühen Morgenstunden hinein FIFA auf der Playstation spielen kann, sondern früh aufstehen, pünktlich fertig sein und richtige, anständige und angemessene saubere Kleidung tragen muss, die in diesem Jahrzehnt gekauft wurde und die ich nicht mit den Zehen vom Teppich auflese, nachdem ich zwanzigmal die Snoozetaste gedrückt habe. Wenn mir James heute begegnen würde, würde ich ihn überhaupt eines Blickes würdigen? Wahrscheinlich nicht. Er sieht gut aus, zweifellos, aber ich würde denken, nee, zu cool, zu gekünstelt; absolut nicht mein Typ. Und wenn wir aus unerfindlichen Gründen doch bei einem Date landen sollten, weiß ich genau, dass ich alle Warnhinweise bemerken würde. Seine Faulheit, sein Egoismus und seine unerträgliche Unordnung würden mir sofort ins Auge springen. Da hätte ich gleich gesagt: Danke, ich bin raus. Ich hätte die Beine in die Hand genommen. Ich hätte die Beine in die Hand genommen und wäre GEFLOHEN.

Shannon Brannigan legt die Hände ineinander. „Folgen Sie mir bitte, hier entlang.“ Sie kommt mir ein wenig arrogant vor, als hätte sie all das schon zigmal erlebt. Wahrscheinlich denkt sie sich auch: Zu früh geheiratet. Erwachsen geworden und auseinandergelebt.

Das hoffe ich jedoch nicht. Ich hätte gern, dass sie für ihr Wucherhonorar mit etwas aufwartet, das deutlich weniger klischeehaft ist. Vielleicht wird sie uns ein paar gemeinsame Dates verschreiben, die wir absolvieren müssen, um unsere Liebe wieder aufleben zu lassen, oder uns ein paar tantrische Übungen empfehlen, die uns auf ein neues Level der Vertrautheit heben und dazu führen, dass wir nicht mehr die Augen verdrehen, wenn der jeweils andere spricht. Wenn das so ist, wird das hier unglaublich einfach und überschaubar werden. Vielleicht habe ich uns damit gerade zu einer Lösung geraten, bevor wir überhaupt in ihrem Sofa mit den unzähligen Kissen versinken. James und ich haben früh geheiratet, zu einem Zeitpunkt, als wir noch nicht wirklich wussten, wer wir selbst sind. Und jetzt, sieben Jahre später, haben wir uns zu vollkommen unterschiedlichen Menschen entwickelt. Aber das passiert Paaren doch andauernd! Die Therapeutin wird uns ein maßgeschneidertes Eherezept verschreiben, und in kürzester Zeit wird wieder alles in Ordnung kommen. Yeah, da scheint das unglaublich hohe Honorar auch gleich viel preiswerter zu sein.

Ms Brannigan bietet uns zwei Sitzplätze nebeneinander an. James verdreht die Augen und vergräbt seine Hände tief in den Jeanstaschen. Ich hoffe wirklich, sie weiß, was sie tut. Hoffentlich kann sie uns helfen, denn so, wie es zurzeit ist, können wir nicht weitermachen. Wir würden uns früher oder später gegenseitig umbringen.

„Möchten Sie etwas trinken? Nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, um sich in der neuen Umgebung zu orientieren.“

James’ Blick schweift zum Fenster, und er starrt es an, als denke er darüber nach, jeden Augenblick hinauszuspringen.

Sie schenkt uns Wasser ein. „Wie sind Sie auf mich gestoßen?“, erkundigt sie sich.

„Im Internet.“ Ich trinke einen Schluck und versetze James einen Stoß mit dem Ellbogen. Wir sind hier und bezahlen dafür; jetzt tu um Himmels willen wenigstens so, als würde es dich etwas angehen! Ich erzähle ihr lieber nicht, dass ich sie über eine aufploppende Online-Werbung entdeckt habe, nachdem ich täglich bei Google Fragen wie „Gibt es das verflixte 7. Jahr tatsächlich? Woher weiß man, ob man verheiratet bleiben sollte? Wie viele Jungverheiratete bleiben verheiratet? Warum ist mein Ehemann so ein Idiot? Wird es irgendwann mal besser?“ eingegeben habe.

Ich hatte gehofft, James gegenüber verständnisvoller und toleranter zu werden. Ich dachte, ich könnte loslassen und aufhören, mir Sorgen zu machen, aber es war unmöglich. Und ja, mir ist klar, dass er mich weder betrogen (dafür ist er zu faul) noch versucht hat, mich die Treppe hinunterzustoßen (dafür schläft er zu lange), noch unser Bankkonto geplündert hat (er kann sich nicht an die PIN erinnern … nie). Es gibt also nicht die eine große, gravierende Sache zwischen uns, dafür aber schrecklich viele kleine Dinge. Ein anhaltender, unerbittlicher Regenschauer von wütend machenden, aufreibenden, kraftraubenden, verdammt schmerzlichen Kleinigkeiten. Und dazwischen kann ich nichts Gutes mehr erkennen.

„Ich habe die Fragebögen durchgesehen, die Sie vor der Sitzung ausgefüllt haben.“

„Fragebögen? Das war wohl eher ein Verhör. Fast hundert Fragen, die sich nur um das eine drehen“, erklärt James.

Innerlich atme ich erleichtert auf, dass er alles ausgefüllt hat. So hat sie nun immerhin etwas, womit sie arbeiten kann. Und zumindest zeigt dies ein Fünkchen Bereitwilligkeit seinerseits.

„Vielen Dank, ich weiß Ihre Mitarbeit sehr zu schätzen. Die Fragebögen waren sehr aufschlussreich und haben mich darüber ins Bild gesetzt, an welchem Punkt Sie beide sich derzeit befinden – sowohl als Paar als auch als Einzelpersonen. Allein schon die Tatsache, dass Sie beide heute hergekommen sind, ist wirklich positiv. Das bedeutet, dass Sie bereit sind, etwas zu tun, damit eine Besserung eintritt. Ich möchte Ihnen gern dabei helfen, dass Sie Hürden, die Sie wahrnehmen, überwinden und wieder auf den richtigen Weg gelangen.“

Das stimmt – ich möchte wirklich, dass sich etwas ändert. Ich möchte sämtliche Hürden einreißen und mit Riesensprüngen etwas Neues angehen, etwas, das Bedeutung hat, das mich glücklich macht und erfüllt. Ich richte mich auf. James fährt sich mit den Händen übers Gesicht, bläht die Backen auf und pustet dann aus.

„Versuchen Sie, ehrlich zu sein. Bitte denken Sie daran, dass Sie hier in einem sicheren Hafen sind. Ich bin nicht hier, um über Sie zu urteilen. Ganz im Gegenteil, ich möchte Ihnen dabei helfen zu erkennen, wie Sie im besten Fall vorgehen. Ich bin fest davon überzeugt, dass Sie im Grunde selbst schon wissen, was zu tun ist, dass Sie bereits den Ursprung des Problems erkannt haben und tief in Ihrem Inneren die richtige Lösung kennen. Meine Aufgabe ist es, Ihnen dabei zu helfen, Ihren ganz eigenen Weg zu dieser Lösung zu finden. Sind Sie so weit einverstanden?“

Wir beide nicken. Lösungen. Darum sind wir hier.

„Ich schlage vor, dass wir mit einem kleinen Spiel beginnen. Es soll eine Art Eisbrecher sein, damit unser Gespräch in Gang kommt und sich auch neue Kommunikationsrichtungen eröffnen. Damit wir auch in Gebiete vordringen, die bisher möglicherweise vernachlässigt wurden.“

Sie greift unter den Tisch und holt ein Gesellschaftsspiel heraus, das Monopoly sehr ähnelt.

„Lassen Sie uns gleich eintauchen. Insbesondere für Paare, die in einer immer gleichen Gesprächsstruktur gefangen sind, betrachte ich dieses Spiel als ein exzellentes Hilfsmittel. James, bitte würfeln Sie. Ziehen Sie dann mit Ihrer Spielfigur vor und – je nachdem, auf welchem Feld Sie landen – nehmen Sie sich eine Karte in der entsprechenden Farbe.“

James rutscht vor und nimmt sich den Würfel, ohne dabei Blickkontakt mit einer von uns aufzunehmen. Er atmet schwer durch die Nase ein. Er würfelt eine Sechs, bewegt seine Figur auf ein rotes Rechteck und nimmt sich eine rote WAHRHEIT-Karte, auf der steht: Beschreiben Sie Ihren Partner.

„Früher oder heute?“, fragt er.

Was für eine Frechheit! Ich drehe mich zu ihm, um ihn in die Schranken zu weisen. „Was soll das denn jetzt heißen?“

Shannon legt eine Hand auf mein Knie. „Der andere Spieler muss schweigen und dem Sprecher die Möglichkeit geben, ungestört seine Meinung auszudrücken.“

James lächelt zum ersten Mal an diesem Tag. „Ungestört? Stille? Na, das wäre ja mal was Neues.“ Er reibt sich die Hände. „Früher: Meine Partnerin war glücklich. Heute: Meine Partnerin ist unglücklich. Sehr unglücklich. Sehr bissig. Immer.“

Ich winde mich auf meinem Sitz. „Ähm … das stimmt nicht. Ich bin manchmal glücklich, nur nicht so oft in deiner Gegenwart.“ Die Worte kommen mir über die Lippen, bevor mir klar ist, was ich da sage. Shannon presst einen Finger auf die Lippen. „Sorry“, flüstere ich mit gesenktem Kopf.

James fährt fort: „Früher hat sie zugehört, doch jetzt nicht mehr. Früher hat sie auch noch andere Sachen gemacht, aber jetzt arbeitet sie nur noch, und wenn sie nach Hause kommt, meckert sie über die Arbeit und schläft dann auf dem Sofa ein, weil sie so müde ist. Ihre Freizeit verbringt sie damit, Kollegen anzurufen, um noch mehr über die Arbeit zu reden. Früher haben wir gemeinsam Dinge unternommen. Schöne Sachen. Wir waren glücklich. Früher hat sie gelacht und Witze gemacht, doch jetzt meckert sie nur noch, seufzt und schreit, und manchmal brüllt sie.“ Er wirft mir einen kurzen Blick zu. „Ich sag nur, wie es ist, Evelyn.“

Ich muss mich auf meine Hände setzen, um sie ruhig zu halten, so wütend bin ich. Bei dieser Eheberatung sollte es darum gehen, dass James erkennt, welch einen miesen Ehemann er abgibt; hier geht es nicht um mich. Ich nörgle, keife und brülle nur, weil er mich dazu bringt! Wenn er einfach das machen würde, was er soll und wann er es soll, und auf einem anständigen Niveau, dann müsste ich auch nicht immer wieder so auf ihn losgehen. Mein Gesicht ist rot vor Wut. Ich muss mich zusammenreißen. Ich kann wohl kaum mit einem wutverzerrten Gesicht hier sitzen – kurz davor, ihm die Augen auszukratzen – und dann behaupten, ich sei nicht gereizt oder übellaunig. Ich trinke einen großen Schluck Wasser und versuche, mich zu beruhigen.

„Vielen Dank für Ihre Wahrheit.“ Shannon nickt James zu. „Evelyn, jetzt sind Sie an der Reihe. Würfeln Sie bitte, wenn Sie dazu bereit sind.“

Langsam würfle ich mit der Vorahnung des Spielers, der alles zu verlieren hat. Ich würfle eine Zwei. Lila Spielfeld. Ich nehme mir eine lilafarbene WUNSCH-Karte und lese sie laut vor.

„Wenn Sie am Morgen aufwachen würden und alles Schlechte in Ihrem Leben wäre verschwunden, wie sähe dann Ihr Tag aus?“

O wow! Diese Wunschkarte gefällt mir. Ich wünschte, sie wäre mehr als nur ein Wunsch. Und sofort habe ich ein Bild vor Augen. Es breitet sich wie ein wunderschöner Kinofilm vor mir aus.

„Ich würde wunderbar ausgeruht und ausgeschlafen aufwachen. Ich würde die Augen öffnen, und alles wäre friedlich. Das Haus wäre sauber, aufgeräumt, ja fast wohlriechend. Nirgendwo würde irgendwelcher Kram rumliegen, es gäbe keinen Grund, zu meckern oder sich zu streiten, keinerlei sarkastische Kommentare. Ich würde zur Arbeit gehen und hätte die Energie, meine Arbeit richtig gut zu machen, weil ich glücklich und entspannt bin. Wenn ich nach Hause käme, würde ich meine Freundinnen anrufen. Vielleicht würden wir ins Theater oder shoppen gehen, anschließend abends noch einen Wein in der Stadt trinken. Danach würde ich in ein sauberes, ordentliches Zuhause zurückkehren, in dem meine Lieblingsmusik leise im Hintergrund liefe, ich würde mich auf ein Bad und ein Buch freuen und dann ins Bett gehen. Das Gleiche würde ich am darauffolgenden Tag noch einmal machen.“

„Und das war’s?“, fragt James. „Du könntest alles haben, was du willst, und du würdest arbeiten und ein Bad in einem aufgeräumten Haus nehmen?“ Er verdreht die Augen.

„Ja, genau das. Ein ganz schlichtes Leben. Eigentlich beruhigt mich allein schon der Gedanke daran“, erkläre ich Shannon. „Seligkeit. Ordnung. Beschaulichkeit.“

„James, wenn Sie diese Karte gezogen hätten, wie hätte Ihre Antwort gelautet?“, fragt Shannon.

Lächelnd lehnt er sich auf seinem Stuhl zurück. „Ich würde in einer Villa direkt am Strand aufwachen; die Sonne steht hoch am Himmel. Ich bin ganz allein, keine Arbeit, keine Verantwortung, keine Aufgabenliste, keine E-Mails von Banken und Versicherungen oder irgendein Steuerkram. Da ist niemand, der mir sagt, was ich tun soll oder wie ich es tun soll. Niemand, der über mich urteilt, mich kritisiert oder pausenlos meckert … da sind nur ich, die Sonne und der Sand zwischen meinen Zehen.“ Seine Wangen sind gerötet, und in seinem Blick erkenne ich eine Vitalität, die ich lange nicht mehr gesehen habe.

„Und ein eiskalter Mojito in deinen Händen?“, erlaube ich mir hinzuzufügen.

Er lächelt, reibt sich die Hände an den Oberschenkeln und nickt. „O ja.“

Shannon wartet, bis Stille zwischen uns herrscht. „Zwei sehr unterschiedliche Vorstellungen, wie der Traum von einem Leben aussehen würde. Was aber absolut in Ordnung ist; normalerweise ist das kein Problem, normalerweise ist das durchaus etwas, womit wir arbeiten können.“

Normalerweise? Wir beide richten uns ein wenig auf und beugen den Kopf vor, um zu hören, was sie zu sagen hat.

„Doch bei Ihnen beiden habe ich das Problem, dass ich nicht überzeugt bin, dass Sie – Sie beide – den Weg als verheiratetes Paar weitergehen wollen.“

„Bitte?“, frage ich verwirrt.

Mir entgeht nicht, dass auch James leicht verwirrt ist. Er neigt den Kopf, um besser zuhören zu können, während er mit den Fingern über sein stoppeliges Kinn fährt. „Was genau meinen Sie damit?“

„Ich glaube nicht, dass auch nur einer von Ihnen beiden noch weiter verheiratet sein möchte“, stellt sie sachlich fest. Als wäre das vollkommen offensichtlich.

Ich schüttle ungläubig den Kopf und schaue erst sie, dann James an. Eigentlich dachte ich, sie sollte das mit uns wieder hinkriegen. Ich hatte angenommen, ihre Aufgabe sei es, uns ein Rezept für unsere Ehe auszustellen. Das Tränen in die Augen treibende, kostspielige tantrische Eherezept.

„Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht folgen“, erkläre ich ihr.

„Pssst!“, zischt James mir zu, beugt sich vor und stützt sich mit den Ellbogen auf den Knien ab.

„Meine große Sorge ist, dass keiner von Ihnen den anderen in seiner Vorstellung beinhaltet hat. Nicht ein einziges Mal. Nicht das kleinste bisschen. Wenn überhaupt, so waren Sie entspannt und ungezwungen angesichts der Vorstellung, getrennt zu sein, Raum zu haben, das Freiheitsgefühl zu haben, Ihr Leben als die beste Version Ihrer selbst zu leben – und Sie haben sehr präzise und unterschiedliche Ideen, wie dies aussehen soll.“ Sie konzentriert sich auf mich, der Blick ihrer lilafarben geschminkten Augen ist äußerst ernst.

„Evelyn, teilen Sie wenigstens ein kleines bisschen James’ Vorstellung?“

Ich beiße mir auf die Unterlippe. Ich kann jetzt nicht lügen. Sie wird es sofort wissen. Er wird es wissen. Und ich weiß es auch. „Früher, in der Vergangenheit vielleicht … aber jetzt nicht mehr.“

Ich starre in meinen Plastikbecher. Kein Wasser mehr drin.

„James, teilen Sie wenigstens ein kleines bisschen Evelyns Vorstellung?“

Gedankenverloren tippt er sich mit dem Finger an die Lippen. „Nein.“ Zum ersten Mal, seitdem wir das Büro hier betreten haben, schaut er mir in die Augen. „Und Evelyn, es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber ich glaube, das werde ich auch nicht mehr.“

Wir schmoren in unseren Geständnissen, während das Schweigen zwischen uns immer zäher und stickiger wird. Ich nehme an, es wäre sinnvoll, jetzt miteinander zu streiten. Ihm an den Kopf zu werfen, wie unmöglich es wäre, wenn er jetzt seinem Bauunternehmen den Rücken zukehrt, unsere Familien und all unsere Freunde und Verantwortlichkeiten zurücklässt, um als Genussmensch und Lebenskünstler irgendwo auf einer Baleareninsel am Strand zu leben.

Aber mir kommt kein Wort über die Lippen. Ich habe das Gefühl, alles schon gesagt zu haben. Ich warte eher darauf, dass er etwas sagt; dass er versucht, mich zu überzeugen. Doch das tut er nicht. Vielleicht ist das seit Jahren das erste Mal, dass wir bei einer Sache tatsächlich einer Meinung sind.

Shannon reicht uns je eine kleine weiße Schreibtafel und einen dicken schwarzen Marker.

„Wir haben also nun Ihre Träume genauer betrachtet, Ihre ureigensten Träume, die Sie glücklich machen würden. Jetzt möchte ich, dass Sie über die Zukunft nachdenken. Dabei ist es wirklich wichtig, dass Sie ehrlich antworten, ohne sich von Freunden, Eltern oder voneinander beeinflussen zu lassen.“

Ich schlucke schwer. Das wird nicht leicht. Ich habe noch nie eine Entscheidung alleine getroffen, ich habe immer Freunde, meine Eltern oder James nach ihrer Meinung gefragt. Dass die Tafel abwischbar ist und man alles Geschriebene sofort wieder löschen kann, nimmt mir ein wenig die Angst. Immerhin stehen wir diese Sache gerade gemeinsam durch. Wir sind vielleicht immer noch nicht in der Lage, alle Probleme zu lösen. Möglicherweise war die Sitzung bis hierher lediglich eine Abschreckungstaktik, vielleicht hat die Therapeutin uns nur zeigen wollen, wie es wäre, wenn unsere Beziehung nicht mehr zu retten wäre, wenn wir uns trennen müssten. Himmel, was würden die Leute im Dorf denken?! Was für eine Schande. Es wäre wirklich einfacher, zusammenzubleiben, schon allein, um dem Dorfgetratsche aus dem Weg zu gehen. Aber wahrscheinlich sind wir genau deswegen hier. Weil es uns alles andere als leichtfällt, zusammenzubleiben.

Ich ziehe die Kappe meines Stifts ab.

„Wenn all Ihre Träume wahr werden würden, wo sehen Sie sich dann in fünf Jahren? Wie würde Ihr Leben aussehen? Was hätten Sie bis dahin erreicht? Und worauf wären Sie stolz?“ Als Signal, dass wir anfangen sollen, nickt sie uns zu.

Zuerst traue ich mich nicht, etwas aufzuschreiben. Mein Traum ist zu kostbar, zu persönlich. Was ist, wenn sie mit dem Kopf schütteln oder das Gesicht verziehen werden, weil meine perfekte Vorstellung von einer perfekten Welt unmöglich zu realisieren ist? Ich will nichts notieren, das widerlegt oder wegdiskutiert werden kann.

Ich halte nicht inne, weil mir nichts einfällt. Im Gegenteil, ich habe sogar eine kristallklare Vorstellung davon, was ich will, aber ich bin unsicher, ob ich davon schon erzählen möchte. Ich kritzle ein wenig auf meiner Tafel herum, bevor ich alles mit dem Ärmel wegwische. Ich weiß es wirklich nicht. Es wird erwartet, dass ich wirklich viel von mir preisgebe. Und zu diesem Zeitpunkt kommt mir alles noch so schwach und zerbrechlich vor. Ich weiß nicht, ob ich mich trauen kann, das zu artikulieren.

Verstohlen schaue ich zu James; er starrt immer noch aus dem Fenster.

„Lassen Sie sich ruhig Zeit“, sagt Shannon. „Wir können uns dafür so viel Zeit nehmen, wie Sie benötigen.“

Da richtet sich James auf und beginnt, konzentriert auf seine Tafel zu schreiben.

Okay, wenn James derart vorlegt, muss ich jetzt auch Gas geben. Ich spiele mit dem Marker, schließe die Augen und versuche, mir mein Leben in fünf Jahren vorzustellen. Dann werde ich dreiunddreißig Jahre alt sein. Glasklar sehe ich alles vor meinem geistigen Auge. Als würde ich einen Ausschnitt eines Amateurfilms sehen, bei dem Darsteller aus meinem Leben mitspielen, doch wir befinden uns an einem mir unbekannten Drehort. Wir befinden uns auf einer Party, und ich trage riesengroße Umstandskleidung. Meine Mutter ist in der Nähe, ich lache mit meiner Schwester, und rund um uns herum befinden sich viele glückliche, lächelnde Menschen, die essen, trinken und tanzen. Ich bin unglaublich glücklich, so glücklich wie noch nie zuvor, und streiche über meinen kugelrunden Bauch. Ich bin aufgeregt und freue mich auf die Zukunft, die vor mir liegt, auf diese, meine Familie für immer und ewig.

Aber wie realistisch ist das? Jedes Mal, wenn ich mit James darüber sprechen wollte, ob ich vielleicht die Pille absetzen sollte, ob wir versuchen wollen, ein Baby zu zeugen, hat er sich den Nacken gerieben, geseufzt und erklärt, dass wir uns doch geeinigt hätten, das erst anzugehen, wenn das Cottage wirklich fertig ist; wenn wir dreißig sind; wenn wir ein weiteres Mal in Urlaub gefahren sind; wenn er seinen jeweiligen Arbeitsauftrag zu Ende gebracht hat. Jedes Mal gibt es etwas anderes, was zuerst erledigt werden muss, jedes Mal heißt es warten, bis …

„Fertig?“, fragt Shannon. Ich werde jäh aus meinen Gedanken gerissen. Hastig kritzle ich zwei Punkte auf meine Liste.

●        eine Familie gründen (1–4 Kinder, ganz gleich, ob Mädchen oder Junge)
●        Cottage fertigstellen

Als ich noch einmal an die Partyszene denke, wird mir schlagartig klar, wie wichtig mir dieser Wunsch ist. In fünf Jahren will ich ein Leben führen, das von einem bestimmten Inhalt, einem Lebensziel erfüllt ist – voller Hoffnung, Liebe und Bedeutung. Es soll sich anfühlen, als habe mein Leben begonnen, und nicht, als hinge es ziellos in einem Wartezimmer fest, irgendwo zwischen Vergangenheit und Zukunft. Vor sieben Jahren haben wir unser Traumhaus gekauft, ein kleines Cottage an der Küste in unserer Heimatstadt, hoch oben auf einem Hügel, von dem man auf den Atlantik hinausblickt. Es war baufällig und dadurch für uns erschwinglich. Ich wollte das Haus aus seinem Dornröschenschlaf wachküssen und ihm unseren Stempel aufdrücken. Da James Bauunternehmer ist, sollte man eigentlich meinen, dass die Arbeiten am Haus zügig erledigt wären. Doch das wirklich Letzte, wonach ihm nach einem anstrengenden Tag im Job der Sinn stand, waren noch mehr Bauarbeiten. Daher bewohnen wir eine unvollendete Baustelle. Mein Traum in fünf Jahren? Ein Zuhause zu haben, in das man Leute einladen kann; ein Ort, der von Lachen und Musik erfüllt ist. Freunde und Familienmitglieder können kommen und bleiben – ein Gästezimmer für meine Schwester, wenn sie aus Dublin zu Besuch kommt, sogar für meine Mutter, wenn sie zum Babysitten hier ist! Oh, und natürlich ein Kinderzimmer … 

Ich schaue zu James. Er ist fertig und legt seinen Marker mit einem zufriedenen Grinsen auf den Tisch zurück.

Shannon deutet auf uns. „Gut, dann zeigen Sie sich nun bitte gegenseitig Ihre Tafeln.“

So, jetzt geht’s los.

James schielt auf meine Tafel. „Kinder und das Haus, das war’s. Keine große Überraschung.“

Ich nicke. „Das hier ist kein Spiel, James. Ich bin nicht hergekommen, um dich reinzulegen.“

Ich beuge mich vor, um seine Tafel zu lesen. Es sieht wie eine lange Gleichung aus.

 

5 Jahre = 260 Wochen

260 Wochen = 1820 Tage

1820 Tage = 43 680 Stunden

43 680 Stunden = 2 620 800 Minuten

 

„Weiß ich denn, was ich in 2 620 800 Minuten machen werde?“, fragt er. „Nein, das weiß ich nicht. Ich halte es für ziemlich lächerlich, so weit in die Zukunft zu schauen.“

Jetzt holt sogar Shannon tief Luft.

James zuckt mit den Schultern. „Ich verstehe einfach nicht, warum das so eine große Sache ist. Wer weiß denn schon, was noch alles zwischen jetzt und dann passiert? Wir könnten uns zu vollkommen anderen Menschen entwickelt haben, die völlig andere Dinge wollen als jetzt. Das ist durchaus schon vorgekommen, warum soll es also nicht noch einmal geschehen? Für mich ist das einfach eine sinnlose Aufgabe. So einfach ist das.“

Und es ist in der Tat so einfach und doch auch so komplex. Denn just in diesem Augenblick wird mir klar, dass es uns beide aufhalten und bremsen würde, wenn wir zusammenblieben. Was auch immer geschehen wird: Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem sich unsere Wege trennen sollten. Obwohl wir so nicht mehr weitermachen können, lieben und respektieren wir uns doch zu sehr, um unsere gesamte Energie in die Reparatur von etwas zu stecken, das sich nicht mehr reparieren lässt. Von all unseren Freunden waren wir die Ersten, die sich verliebt haben, die Ersten, die sich gegenseitig versprochen haben, sich für immer zu lieben. Jetzt sind wir die Ersten, denen klar wird, dass sie einen Riesenfehler gemacht haben. Ende der Fahnenstange für Mr und Mrs O’Connor, zurück zu Evelyn Dooley.

Doch dieses Mal bin ich eine achtundzwanzigjährige Geschiedene, die nicht die geringste Vorstellung davon hat, was als Nächstes kommen soll.

 

James und ich danken Shannon Brannigan für ihre Hilfe und gehen zum Fahrstuhl. Wir starren auf die Türen aus gebürstetem Stahl, beide geschockt und unsicher, was jetzt passieren soll. Ungläubig angesichts dessen, was wir innerhalb so kurzer Zeit herausgefunden haben, und fassungslos darüber, dass eine Entscheidung solcher Tragweite weniger Zeit benötigt hat als eine Fahrt zu IKEA.

„Wollen wir das wirklich durchziehen?“, frage ich.

James holt tief Luft. „Ich denke schon. Es wird Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen, meinst du nicht?“

„Ich glaube, anfangs wird es sich noch ziemlich lang sehr seltsam anfühlen. Aber ich stimme dir zu, es wird Zeit für etwas Neues.“ Ich stupse ihn an. „Keiner wird dich jetzt mehr ermahnen, innerhalb des Tempolimits zu bleiben. Und du wirst keinen tuntigen Wein mehr trinken und keine einzige Kochsendung anschauen müssen. Das ist doch eine ganze Menge, worauf du dich freuen kannst.“ Ich grinse.

Er grinst auch. „Ja, das stimmt allerdings. Und was ist mit dir? Keine Strafzettel mehr, weil ich zu schnell gefahren bin, keine Boxershorts mehr, die auf der Treppe herumfliegen, oder Zigarettenkippen vor der Hintertür.“

„Es war nicht alles schlecht mit uns, Mr O’Connor. Wir hatten auch schöne Zeiten.“

Er nickt, und unsere Blicke treffen sich. „Viel Glück, Evelyn. Das meine ich wirklich ehrlich. Ich hoffe, alles wird so, wie du es dir vorstellst.“

„Das hoffe ich für dich auch.“

Im Parterre angekommen, umarmen wir uns zum Abschied und gehen in unterschiedliche Richtungen. Wir entscheiden uns, ab hier allein weiterzugehen und das Leben anzusteuern, das auf jeden von uns wartet, wie auch immer es aussehen mag.

Mein Auto steht auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ich fahre ohne ein bestimmtes Ziel los, ich will mich einfach nur auf den Weg machen, das Gefühl haben, in Bewegung zu sein. Ich schalte das Radio ein, schüttle mein Haar und lasse die Fensterscheiben runter.

Wow. Das war’s. Und es geht uns beiden gut damit.

Tatsächlich glaube ich sogar, dass wir beide ein wenig aufgeregt sind.

Ich trete auf das Gaspedal und drehe die Musik lauter.

Ich jedenfalls bin es.



2


Drei Monate später

Frühstücksspeck. Der effektivste Wecker der Welt. Ich höre, wie er in der Pfanne brutzelt. Gegen meinen Willen werde ich wie per Zielsuchautomatik davon angezogen. Der Duft von Speckscheiben, die über Eichenholz geräuchert wurden und nun in Butter gebraten werden, wabert den Flur entlang und dringt in mein Zimmer.

Ich bin wieder zu Hause. Bevor ich überhaupt die Augen geöffnet habe, kann ich das mit absoluter Sicherheit sagen – das wunderbare Aroma eines reichhaltigen, frisch zubereiteten irischen Frühstücks, der pfeifende Wasserkessel auf dem Aga-Ofen, das Muhen der Rinder auf der Weide, der lokale Radiosender, der stündlich aktualisierte Nachrichten über das Wetter und die aktuellen Beerdigungsfeiern liefert.

Ich reibe mir die Augen. Seit ich hier bin, habe ich so viel geschlafen. Mum denkt vermutlich, dass ich den Schlaf gebraucht habe. Was auch immer es ist, ob ein emotionaler Burn-out oder eine Nebennierenschwäche, ob ich völlig platt und gerädert bin und einfach nur die großartige, altmodische Verhätschelung von Mammy Dooley und viel Ruhe und Schlaf gebraucht habe, ich fühle mich schon viel besser. Ich komme mir aber auch ein wenig so vor, als sei ich nie weg gewesen. Und das ist kein gutes Zeichen für eine erwachsene Frau. Ich muss mir eine Wohnung besorgen, lernen, allein zu leben, und allmählich damit anfangen, mich mit diesem Gedanken anzufreunden … aber jetzt noch nicht. Bevor ich herkam, war ich zu gestresst, um darüber nachzudenken. Mittlerweile bin ich wahrscheinlich zu entspannt dafür, mich mit einer Aufgabe unter Druck zu setzen, die ich schlichtweg auf einen anderen Tag verschieben kann.

So, da bin ich nun also, wieder zurück im Bauernhaus. Eingemummelt im unteren Etagenbett, dessen Metallrahmen immer noch mit Elfen- und Herzaufklebern übersät ist und in den die verschlüsselten Initialen von allen, für die wir in Jugendjahren geschwärmt haben, gekratzt sind. Ich bin wieder da, auf der anderen Seite des jungen Liebestraums, im Kinderzimmer, das ich mir während meines vorehelichen Lebens mit meiner Schwester geteilt habe.

„Evelyn, bist du schon wach? Frühstück steht auf dem Tisch!“

Ich weiß, wie lieb es ist, dass sie mich so bemuttert. Übertrieben bemuttert mit ihren liebevoll gebutterten Schnitten vom selbst gebackenen Brot, mit Käse, frisch gelegten Hühnereiern und Unmengen von Tee mit Zucker und Milch … Aber so kann es nicht weitergehen. Mir ist klar: Für meine Selbstachtung und den Cholesterinspiegel muss ich mir langsam Gedanken darüber machen auszuziehen … wirklich.

„Hast du mich gehört, Evelyn? Komm, solange das Essen noch warm ist.“

Ich stöhne, schlage die Bettdecke zurück und komme nicht umhin zu denken, dass ich vielleicht ein wenig überstürzt aus dem Cottage ausgezogen bin. Ja, dorther rührt mein Herzschmerz, und ja, es wäre ein einziger Albtraum gewesen, aber wenigstens hätte ich mich dort nicht wieder wie eine Neunjährige gefühlt.

Im Morgenmantel und riesigen Pantoffeln in Bärentatzenform gehe ich in die Küche. Ich bleibe auf der Türschwelle stehen und reibe mir im Licht der hellen Morgensonne noch einmal die Augen.

„Setz dich hin und iss. Das hier ist der perfekte Start in den Tag.“ Sie legt mir ein weiteres Würstchen auf den Teller. Und dann noch eine Scheibe Blutwurst.

„Bitte, Mum. So kann ich nicht weiteressen.“

Sie schaut zu mir auf. „Was stimmt denn mit meinem … Du meine Güte, warte mal!“

Mit einem Geschirrtuch saust sie zum Aga-Ofen und kehrt mit einer Schüssel Waldpilze zurück.

„So ist’s recht!“ Sie setzt sich hin und lächelt zufrieden. „Nun sag schon: Was ist an meinem Essen falsch? Beste Speisen, eines Königs würdig!“

„Das sind sie auch. Es schmeckt köstlich. Aber innerhalb kürzester Zeit werde ich aus allen Nähten platzen.“ Und wir reden hier nur vom Frühstück. Beim zweiten Frühstück serviert sie eine heiße, frisch aus dem Ofen kommende Scheibe ihres saftigen, teegetränkten Früchtebrots mit selbst gemachter Brombeermarmelade. Zu Mittag gibt es einen riesigen Teller mit frischem Salat und Kräutern aus dem Garten, dazu Schinken mit Honigglasur, und zum Abendessen … Oh, allein schon beim Gedanken daran drohe ich zu platzen. Rinderbraten mit Guinness Pie, dazu cremiges Kartoffelpüree oder Irish Stew mit Klößen oder Corned Beef mit Kraut … Alles, was weniger als zehntausend Kalorien hat, wird hier nur als Snack betrachtet.

„Das reicht dann aber auch für heute, Mum, okay? Ich muss das dringend zurückschrauben“, erkläre ich ihr, während ich in die Schnitte beiße. Gott, schmeckt das gut! Mit der Diät fange ich nach dem Frühstück an. Es ist sinnlos, damit anzufangen, wenn das Brot noch frisch und warm ist.

Mum mustert mich einen Moment lang, streut Salz und Pfeffer über die Pilze und schiebt mir die Schüssel über den Tisch zu.

„Du wirst im ganzen Land keine einzige Mutter finden, die es gut findet, wenn ihre Tochter blass und spindeldürr ist. Jetzt hast du wenigstens wieder ein wenig Farbe im Gesicht und auch ein wenig zugenommen. Was ist schon dabei? Gar nichts.“ Sie reckt ihre Gabel in die Höhe. „Du isst das jetzt auf! Denk bloß an all die hungernden Kinder auf der Welt, die nichts zu essen haben. Und du hast diesen großen Teller vor dir stehen!“

Ich nehme mir einen gehäuften Löffel Pilze. Jegliche Pläne, Essen gezielt abzulehnen, das ich nicht auf meinem Teller haben möchte, lösen sich in Luft auf, wenn meine Mutter die Nummer mit den Schuldgefühlen abzieht. Da habe ich keine Chance. Sie weiß eben genau, dass das funktioniert. Und zwar jedes Mal.

So hatte ich mir das nach der Trennung eigentlich nicht vorgestellt. Ich hatte recht, als ich James gesagt habe, dass es zu Beginn seltsam werden würde. Das ist es auch immer noch. Man gewöhnt sich so sehr an jemanden, dass es einem fast wie Urlaub vorkommt, wenn man den anderen nicht mehr jeden Tag sieht. Es fühlt sich jedenfalls nicht so an, als sei dies für immer. Aber wir haben keine zweiwöchige Beziehungspause vereinbart, sondern beschlossen, unsere Leben komplett zu trennen, unsere Koffer zu packen und One-Way-Tickets zu kaufen. Und da braucht es eben eine Weile, um das zu begreifen.

Nachdem wir gepackt, sortiert, alles getrennt und aufgeteilt hatten – von den Konten bis zum Bettzeug –, war es für mich am einfachsten, wieder bei meiner Mutter einzuziehen. James und ich hatten das Gefühl, dass es besser ist, einen klaren Schnitt zu vollziehen, anstatt im Cottage zu bleiben und sich mit all den Erinnerungen an einen unerfüllten Traum zu quälen. James beschloss, eine Auszeit zu nehmen und auf Reisen zu gehen. Ich habe jede freie Minute damit verbracht, die Wände zu streichen, den Garten zu bepflanzen, die Böden sowie sämtliche Oberflächen im Haus zu polieren, um seinen Wert zu steigern und es so marktfähig und verkaufbar wie möglich zu machen. Wenn es einmal leer geräumt ist und sich in gutem Zustand präsentiert, könnten wir es sofort zum Verkauf anbieten. Das Bauernhaus, in dem ich groß geworden bin, bietet genügend Platz, um dort all meine Kartons und Kisten unterzustellen, und außerdem ist mein Kinderzimmer seit meinem Auszug noch nahezu unberührt geblieben, weshalb ein Einzug dort zu dem Zeitpunkt eine selbstverständliche und vernünftige Lösung war. Doch nachdem ich nun schon eine Weile hier bin, wird mir immer klarer, dass dies kein Dauerzustand sein kann, wenn ich wirklich raus und mit meinem Leben und meiner neuen Freiheit etwas anstellen will.

Zu Beginn war es sicherlich fantastisch, so verhätschelt und verwöhnt zu werden. Seit meinem Wiedereinzug habe ich nicht einen Finger rühren müssen; Mum erledigt die komplette Wäsche, kocht und kümmert sich um die Hausarbeit. In dieser Hinsicht ist es wirklich der Himmel auf Erden. Aber ich muss aufhören, es mir zu bequem zu machen, denn wenn ich so verharre, werde ich es niemals zu etwas bringen. Mum wird alles für mich erledigen, um mir die Mühe zu ersparen, und überall einspringen, damit ich gar nicht erst ins Schwitzen gerate. Nachdem nun alle rechtlichen Angelegenheiten geregelt sind und ich Zeit genug hatte, um mich an den Auszug aus dem Cottage und daran, nicht mehr James’ Ehefrau zu sein, zu gewöhnen, werde ich mich wieder mit der echten Welt auseinandersetzen müssen.

Ich schätze mal, dass es nur natürlich ist, dass man sich nach einer so umfassenden Veränderung in seinem Leben erst mal am liebsten verstecken möchte. Man braucht Zeit zum Nachdenken, um die nächsten Schritte auszutüfteln. Alles läuft auf den eigenen Selbstschutz hinaus. Indem Mum sich um den ganzen alltäglichen Kram gekümmert hat, hat sie mir viel Raum und Zeit zum ungestörten Nachdenken ermöglicht. Zeit, darüber nachzudenken, was ich von meinem Leben erwarte. Bis jetzt habe ich nur herausgefunden, was ich nicht will. Ich möchte nie wieder mein Leben um eine einzige Person herum aufbauen. Aber zu weiteren Erkenntnissen bin ich nicht gelangt. Ganz gleich, welchen Schritt ich als Nächstes mache: Ich will absolut sicher sein, dass es der richtige ist. Und ich hoffe sehr, dass ich diesen Schritt erkenne, wenn es so weit ist.

 

Als es draußen schon wieder dunkel ist, skype ich mit meiner Schwester.

„Das ist eine einzigartige Möglichkeit, Evelyn“, verkündet Tara und nippt an einem Weißwein in ihrem LAX-Hotelzimmer. Wenn man die Zeitverschiebung von acht Stunden bedenkt, pichelt sie ganz schön früh, aber als Stewardess bemisst Tara die Zeit nicht anhand von Tag und Nacht, Licht und Dunkelheit, sondern einzig und allein anhand von Abflug und Ankunft, Arbeitszeit und Freizeit. „Dies könnte sich als die größte und wichtigste Möglichkeit deines Lebens herausstellen!“

Als sie dies hört, holt meine Mutter tief Luft und schlägt mit der Hand auf den Küchentisch. „Was redest du da, Tara? Ihre Ehe ist gescheitert. Wie könnte man das in Gottes Namen als Möglichkeit betrachten? Es ist schlichtweg eine Katastrophe, nichts anderes! Ein totales Desaster, in jeder Hinsicht!“

Mit großen Schritten taucht sie wutschnaubend hinter mir auf und beugt sich über meine Schulter, um Tara auf dem Bildschirm zu sehen. „Du hast leicht reden, Fräulein! Du scharwenzelst auf der anderen Seite der Welt herum. Du bist nicht mitten im Schlamassel. Du kennst doch Ballybeg und weißt, wie das hier läuft! Tratschen hinter vorgehaltener Hand, neugierige Blicke, spitze Bemerkungen und Fragen. Erst gestern bin ich beim Friseur in die Mangel genommen worden: ›Stimmt es, dass sich deine Tochter und der junge James O’Connor getrennt haben? Ist er hinter ihrem Rücken fremdgegangen? Oder etwa sie?‹ Und weißt du, wen ich dann entdeckt habe? Mit dem Kopf im Waschbecken? Niemand anderes als Mrs O’Connor höchstpersönlich! Oh, war das peinlich. Ich wusste gar nicht, wo ich hinschauen sollte. Seit sich diese verdammte ›Möglichkeit‹ aufgetan hat, habe ich keine Ruhe mehr!“

Tara und ich verstummen, Tausende Meilen voneinander getrennt, sie auf der anderen Seite des Atlantiks. Wir beide wissen nur allzu gut, dass es besser ist, nicht noch weiter Öl ins Feuer zu gießen, sie zu unterbrechen oder, Gott bewahre, ihr gar zu widersprechen. Mum streift sich die Strickjacke über die Schultern und trinkt mit kräftigen Schlucken ihren restlichen Tee.

„Ich geh mit dem Hund raus. Ich habe mir diesen Unsinn lange genug angehört. Ich habe keine Ahnung, auf welchem Planeten ihr beide lebt. Warum man sich nicht irgendwo niederlassen und glücklich sein kann, begreife ich einfach nicht.“

Muffin stürzt auf sie zu und springt aufgeregt um ihre Füße. Mum schlüpft in ihre Regenstiefel, schnappt sich die Hundeleine und schaut dann zu mir; unsere Blicke treffen sich.

„Weißt du, was mich irritiert, Evelyn? Hast du ernsthaft geglaubt, dass das Eheleben im Alltag aus Küssen und Rosen besteht? Ich war dreißig Jahre lang mit deinem Vater verheiratet. Meinst du, da war jeder Tag eitel Sonnenschein? Natürlich nicht. Aber so ist das Leben. Man steht auf und macht weiter. Und es ist immer noch Liebe. Und immer noch Ehe. So was nennt man durchhalten. Und wenn du mich fragst, waren es nicht Liebe oder Freundschaft, die zwischen James und dir gefehlt haben – es war das fehlende Durchhaltevermögen. Und dann auch noch diese Eheberaterin, die hat alles nur noch schlimmer gemacht. Ihr hättet zu mir kommen sollen. Ich hätte das für euch beide geklärt.“

Sie schüttelt den Kopf und murmelt etwas vor sich hin über Jesus, Maria und Josef, die ihr Kraft geben mögen. Und Geduld. Und Verstand. Muffin nimmt einen Ball ins Maul und läuft schwanzwedelnd zur Tür.

„Komm, Muffin, wir gehen mal an die frische Luft und überlassen die beiden ihren ›Möglichkeiten‹.“

Die Tür knallt zu, und weg sind sie.

„Du meine Güte, sie tobt ja richtig!“, stellt Tara hinter ihrem Weinglas fest.

„Ich weiß. Normalerweise ist alles in Ordnung, aber wenn sie ins Dorf hinuntergeht und ihre Freunde trifft, dann wird natürlich wieder Salz in die Wunde gestreut. Was ziemlich unangenehm ist, wo ich doch wieder hier eingezogen bin.“

„Was wird denn aus dem Cottage?“

„Wir hoffen, dass wir es schnell verkaufen können. James hat mir allen Papierkram überlassen und erklärt, es sei ihm egal, wie viel wir dafür bekämen, solange es so kurz und schmerzlos abläuft wie möglich. Wenn wir also tatsächlich einen Käufer finden sollten, werde ich das erste vernünftige Angebot annehmen, das reinkommt. Ich habe fast alles in dieses Cottage reingesteckt, daher kann ich nichts Neues anmieten, bis es nicht verkauft ist. Obwohl ich es hier kaum noch ertrage. Alles ist so verkrampft und angespannt. Ich dachte, Mum würde sich nach einer Zeit wieder einkriegen, aber davon ist nichts zu merken.“

Tara schenkt sich noch einmal großzügig nach.

„Und wo ist James hin? Ist er auch bei seiner Familie untergekommen?“

„Nein, er ist noch auf Reisen. Während wir reden, befindet er sich wahrscheinlich auf halbem Weg nach Ibiza.“

„Oder übernachtet bei einem Kumpel auf dem Boden, weil er seinen Flug verpasst hat oder weil er Probleme mit dem Sicherheitspersonal hatte, weil er seinen Reisepass verloren hat … Ohne dich kommt James doch niemals von A nach B.“

Aus alter Gewohnheit heraus will ich an meinem Ehering drehen. Doch er ist nicht mehr da. Natürlich nicht. Er liegt in einem Karton in der Garage, zusammen mit meinem Hochzeitskleid, Fotoalben und Kram aus zehn Jahren, den ich für unbezahlbar gehalten habe und der jetzt überhaupt keinen Wert mehr für mich hat.

„Wie läuft’s bei der Arbeit?“, erkundigt sich Tara.

„Alles gut, im St. Mary’s ist immer noch alles beim Alten. Ich komme klar.“

„Evelyn? Komm schon, raus mit der Sprache. Mum ist nicht mehr da, du kannst mit mir reden.“

„Die Arbeit ist Mist. Fionnuala ist vor mir befördert worden, und O’Driscoll hat es auf mich abgesehen. Ich weiß, dass sie mich am liebsten loswerden würde. Wenn man nicht einen auf glückliche Familie macht, ist man in ihren Augen eine Geächtete. Sie hat mich wissen lassen, dass sie meinen persönlichen Angelegenheiten nicht unnötig viel Aufmerksamkeit schenken will. Dass der Bischof solche Dinge nachteilig bewertet und ich als Botschafterin der Schule beim Namen Mrs O’Connor bleiben soll, solange ich an der Schule bleiben möchte.“

„Du machst Witze. Das ist ILLEGAL. Das kann sie dir doch nicht ernsthaft sagen, sie kann dir nicht vorschreiben, wie du heißen sollst …“

„Ja, schon klar, aber was soll ich machen? Soll ich meinen Anwalt für Menschenrechte anrufen?“

„Du musst da weg.“

„Ich kann da nicht einfach aufhören.“

„Doch, das kannst du.“

„Okay, ich denke darüber nach“, lüge ich. Was ich auf gar keinen Fall tun werde. Die Aufregung wird sich schon wieder legen. Mum wird sich beruhigen, der Dorfklatsch wird sich früh genug wieder um andere drehen, und die Arbeit … na ja, ich werde mich daran gewöhnen.

Aber Tara ist noch nicht fertig mit mir. „Du brauchst eine Veränderung. Einen Neubeginn. Du musst von dort weg und woanders neu starten.“

„Das würde einen super Eindruck machen: Zuerst beende ich meine Ehe, dann mein Arbeitsverhältnis … meinen professionellen Vollzeitjob mit Pensionsberechtigung …“

Tara stellt ihr Glas ab und beugt sich vor.

„Evelyn, ich weiß, dass du Angst hast. Ich weiß, dass du einen harten Schlag wegstecken musst. Aber du bist dein ganzes Leben lang vernünftig gewesen und auf Nummer sicher gegangen – du bist Dorflehrerin, hast den Jungen von nebenan geheiratet, hast ein Cottage im Dorf gekauft – und jetzt sieh dir an, wohin das geführt hat.“

„Oh, danke, Tara, jetzt geht es mir gleich schon viel besser.“

„Nein, was ich sagen will: Im Leben gibt es keine Garantien. Du hast es wie ein anständiges Mädchen versucht, versuch es nun auf deine Art. Mach etwas, das nur für dich ist.“

Bei ihr klingt das alles so einfach. Ich muss zugeben, dass mir die Vorstellung gefällt, etwas Neues zu beginnen, woanders neu anzufangen. Aber was? Und wo?

„Was ist mit Mum?“

„Sie kommt schon klar. Sie hat viele Freunde und ihr eigenes Leben. Jetzt ist deine Zeit gekommen, dich zu finden. Du bist achtundzwanzig, nicht achtundachtzig. Zieh nach Dublin, zu mir. Bei meinen transatlantischen Flügen bin ich ohnehin die meiste Zeit unterwegs. Mein Apartment ist zwar klein, aber es bietet genug Platz für uns. Inez wird es nichts ausmachen – sie würde sich sogar sehr freuen, dich kennenzulernen. Ich erzähle immer von dir. Und wenn ich dann zu Hause bin, können wir wie in guten alten Zeiten zusammen in einem Bett schlafen.“

Bei dieser Vorstellung muss ich lachen. Dad hatte uns auf Taras unerbittliches Drängen hin ein Stockbett gebaut. Als es fertig war, hat sie allerdings keine einzige Nacht in ihrem Bett gelegen, ohne den Kopf nach unten zu schwingen und mich zu fragen, ob ich zu ihr nach oben klettern und mich neben sie kuscheln könne. Ich schüttle den Kopf. Zwei erwachsene Frauen – eine Lehrerin und eine Stewardess –, die sich in ein Einzelbett quetschen sollen. Irgendwie fühlt es sich an, als hätte ich so hart daran gearbeitet, die Leiter hinaufzuklettern, nur um wieder auf das erste Feld auf dem Spielbrett zurückzufallen.

„Du weißt doch, was Dad dazu sagen würde.“ Sie wirft mir einen sanften, wohlüberlegten Blick zu.

„Setz dir den Himmel zum Ziel und greif nach den Sternen“, sagen wir beide wie aus einem Munde.

Sie hat recht. Mein Vater hat sich nicht mit Kleinkram abgegeben, er hat sich immer auf das Wesentliche konzentriert. Er wollte nicht, dass wir stehen bleiben, sondern weitermachen und unsere Ziele fest im Blick behalten. Wenn ihr auf dem Weg dorthin hinfallt, pflegte er zu sagen, dann bittet um Hilfe, klopft euch den Staub ab und probiert einen anderen Weg aus. Er würde wollen, dass ich meine Reise wieder antrete, anstatt zu lange stillzustehen. Denn es gibt so viel zu erleben, so viel anzustreben.

An Taras Hotelzimmertür klopft es. „Ups! Ich muss, wir ziehen los. Denk mal drüber nach, was ich gesagt habe, okay? Hab dich lieb. Und lass mich dir helfen. Lass uns das machen, ja?“

Ich nicke und werfe ihr zum Abschied eine Kusshand zu, dann ist sie fort.

Ich sitze an Mums Küchentisch. Kein Geräusch ist zu hören außer dem Ticken der Uhr und dem Iahen eines Esels draußen auf dem Feld. Dublin. Das klingt verführerisch. Einfach in den Zug einzusteigen und das alles hier zurückzulassen ist richtig, richtig verlockend. Ich stelle mir vor, ich würde in einem Buch diese Seite weiterblättern, die Seite mit der Besessenheit meiner Mutter über den Klatsch und Tratsch im Dorf, die Seite mit Mrs O’Driscolls Diktatur ebenso wie die Seite, auf der ich am leer stehenden Cottage vorbeifahre, das traurig und verlassen mit einem großen „Zu verkaufen“-Schild dasteht. Im Augenblick habe ich lediglich die erdrückende Situation mit James gegen die Situation bei Mum eingetauscht, die mir die Luft abschnürt. Ich liebe sie, aber in diesem Lebensabschnitt sollten wir keine Mitbewohnerinnen mehr sein. Ich brauche meine eigenen vier Wände; ich muss mein Leben von Grund auf neu aufbauen. Da kann eine Rückkehr zu meinem Leben, wie ich es vor James geführt habe, nicht die Antwort sein. Taras Angebot könnte eine echte Möglichkeit sein. Und zwar genau die Möglichkeit, auf die ich gewartet habe.

Ich kaue auf meinem Daumennagel herum. Zu gehen ist das eine, aber was würde mich da erwarten? Kein Geld, kein Job; ich würde mir lediglich ein wenig Platz in der Wohnung meiner Schwester erschnorren. Ist das wirklich erstrebenswert? Hier habe ich wenigstens ein Zuhause, hier habe ich Sicherheit. Dublin ist zwar nur vier Autostunden entfernt, aber das Schwierige besteht ja nicht darin, von einem Haus in ein anderes zu ziehen. Jeder kann eine Tasche packen und einen Schlüsselbund gegen einen anderen eintauschen. Ich muss ehrlich zu mir sein: So ein Umzug ist viel mehr als das. Und es gehört weitaus mehr dazu, als ein paar Sachen in eine Tasche zu schmeißen und sich ein Zugticket zu kaufen. Es braucht Mut, echten Mut, um ein Leben hinter sich zu lassen, sich von allem zu verabschieden, was man kennt, und die Bequemlichkeit des Vertrauten und Geliebten zu verlassen, um woanders ganz von vorn anzufangen.

Ich gehe zur Spüle und starre in den strahlend blauen Himmel hinauf. Es ist so wunderschön hier. Meine Mutter begreift nicht, warum jemand woanders leben wollen würde. Unser Nachthimmel ist zwar genauso dunkel wie anderswo, doch unsere Sicht auf die Sterne ist ohnegleichen. Wir leben in der entlegensten Ecke Europas. Von hier aus kann ich sehen, wo das Land das Meer berührt, wo das Meer in den Himmel übergeht und der Himmel wieder auf das Land trifft – eine fließende Farbpalette von Grün über Weiß bis Blau am Tag und ein sternenübersätes, tintenhaftes Schwarz bei Nacht. Es ist ein kostbarer Ort, ein geradezu magischer Ort und dazu noch der einzige Ort, an dem ich je gelebt habe. Die wogenden Wellen des Atlantiks prallen Tag und Nacht an unsere Küsten, wie schon seit Tausenden von Jahren. Ein nahtloses Geschehen, ein ununterbrochener Klang, der die Vergangenheit mit unserer Gegenwart verbindet. Und doch verändert sich die Küstenlinie mit jedem Tag, mit jeder Minute, die die Elemente an ihr rütteln und sie formen. Und im Augenblick kommt es mir so vor, als müsse mein Leben komplett durchgerüttelt und neu geformt werden, damit ich das Leben führen kann, das ich führen möchte.

Setz dir den Himmel zum Ziel und greif nach den Sternen.

Als Kinder sind wir jedes Mal, wenn wir es mit etwas zu tun bekamen, das scheinbar nicht zu schaffen war – von langen Divisionsaufgaben in Mathe bis zu Querfeldeinläufen – zu Dad gelaufen und wir haben geheult, um uns getreten und darauf beharrt, dass wir es nicht schaffen würden, dass wir noch nicht so weit seien. Zu viel, zu schwer, zu unmöglich. Jedes Mal hat er uns geantwortet, dass ihn das Ergebnis nicht interessiere; das würde sich schon von selbst regeln und Grund zur Freude sein, solange wir nur bereit seien loszulegen. Das sei alles, was wir tun müssten; das Ziel anpeilen und gut anfangen, dann wäre er schon stolz auf uns.

Tara hat recht. Er würde wollen, dass ich wieder anfange, etwas aus meinem Leben zu machen. Dass ich vielleicht mit Tränen in den Augen anfange, mit wehem Herzen, leeren Taschen und einer Vergangenheit, die in Scherben liegt; aber er würde wollen, dass ich einen Anfang mache. Alles braucht einen Anfang. Und wenn man einmal angefangen hat, wer weiß dann schon, welche Abenteuer einen erwarten? Greif nach den Sternen, dann wirst du weiter kommen, als du dir jemals hättest vorstellen können.

Ich klappe meinen Laptop auf und lasse den Cursor um das Facebook-Symbol kreisen. Ich hatte mir vorgenommen, James nicht in den sozialen Medien zu stalken. Doch da ich mich an der Schwelle zu einer weiteren großen Veränderung in meinem Leben befinde, muss ich einfach nachschauen, wie es ihm geht. Wie er damit klarkommt, dass alles durchgerüttelt wurde. Ich hole tief Luft und gehe auf Facebook.

Sein Profilbild ploppt auf dem Bildschirm auf. Vor zwei Minuten hat er es geändert. Auf dem Foto sitzt er auf einem Hocker vor einer Theke aus Bambusholz, hinter ihm ein leuchtend oranger Himmel. Bereits jetzt wirkt er, mit einem Mojito in der Hand, sonnengebräunt, entspannt und glücklich. Seine Augen leuchten so, als hätte er kurz zuvor gelacht. Ich mustere das Bild eingehender und erkenne neue, mir unbekannte, kräftige Zeichnungen auf seinem Unterarm. Das Tattoo, das er sich seit Jahren gewünscht hat. Etwas, das er schon immer wollte und das ich ihm ausgeredet habe. Mein Blick fällt auf seinen nackten Ringfinger. Dort ist keine helle Linie zu erkennen, kein Anzeichen davon, dass er nur gerade keinen Ring trägt, dass dies ungewöhnlich ist.

Das ist der neue Normalzustand. Ich sitze an einem Samstagabend am Küchentisch und frage mich, wie das Leben woanders ist. Jemand schreibt einen Kommentar unter sein Foto: Du lebst deinen Traum, Kumpel! Unsere Trennung hat meinem Ex-Mann Flügel verliehen. Wohingegen ich mich fühle, als seien meine beschnitten worden.

Ich höre die Schritte meiner Mutter und Muffins Hecheln, als sie sich der Haustür nähern. „Evelyn? Bist du noch da?“

Ja. Noch da. Ich sitze allein in der Küche des Hauses, in dem ich meine Kindheit verbracht habe, in einem Fleeceschlafanzug von Primark, und habe Angst vor der unbequemen Wahrheit, die meine Mutter mir als Nächstes unter die Nase reiben könnte.

Muffin kommt als Erste hereingeflitzt, stürzt auf mich zu und springt mit leuchtenden Augen, voller Liebe und Enthusiasmus an mir hoch. Ich kraule ihr den Kopf und schmiege mich an ihren Hals, während sie mit dem Schwanz wedelt und versucht, sich mir auf ihre quengelnde, winselnde Art mitzuteilen. Warum kann nicht einfach jeder ein wenig mehr Hund sein? Warum können wir nicht einfach jedes Mal auf diese Weise lieben? Uns den anderen gegenüber so verhalten, wie wir es mit Tieren tun?

Ich blicke Muffin in die Augen. „Irgendwann werde ich der Mensch sein, für den du mich hältst.“

Der Mensch, für den Tara mich hält. Der Mensch, der ich selbst gern sein möchte.

Und dann wird mir schlagartig klar, wer dieser Mensch ist. Ein Geistesblitz, ein flüchtiger Eindruck, und jetzt weiß ich plötzlich, was ich tun muss. Noch bevor meine Mutter ihren zweiten Gummistiefel abgestreift hat und die Küche betritt, habe ich meiner Schwester eine Nachricht geschrieben.

Bist du bereit? Dublin, ich komme!

Denn ich habe mir ein Ziel gesetzt, und es ist die Zeit gekommen, dass ich nach diesen Sternen greife.

Colleen Coleman

Über Colleen Coleman

Biografie

Colleen Coleman ist eine irisch-kanadische Schriftstellerin. Sie arbeitete zehn Jahre lang als Lehrerin für Englisch und Philosophie, bevor sie ihren großen Traum wahr machte und ihren ersten Roman schrieb. Heute lebt sie mit ihrem Ehemann und ihren Zwillingstöchtern in London, Irland und auf...

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