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Die Bücher von Andrea Sawatzki

Andrea Sawatzkis ungeschminkter autobiografischer Roman

Unerschrocken und fragend nähert sich Andrea Sawatzki ihrer eigenen Kindheit.

BrunnenstraßeBrunnenstraße
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Roman

„Ungeschminkt und berührend“ ARD

Keine Kindheit wie jede andere. Eine, die Andrea Sawatzki in intensiven Momenten erzählt: Der Journalist Günther Sawatzki gibt sein altes Leben auf, um mit seiner Geliebten zusammen zu sein, mit der er auch eine Tochter hat, Andrea. Bald stellt sich heraus, dass dieser weltläufige und gebildete Mann schwer krank ist. Das nicht einmal zehnjährige Mädchen muss sich um den Vater kümmern, dessen anfängliche Symptome der Vergesslichkeit schnell ernster werden. Bis zu einem katastrophalen Ende. Unerschrocken und fragend nähert sich Andrea Sawatzki ihrer eigenen Kindheit.

Ein eindringlicher und sehr persönlicher Roman der Bestsellerautorin

„Andrea Sawatzki beschreibt ihre Kindheit zwischen Verzweiflung und Verantwortung ohne jede Larmoyanz. Das nimmt einen mit.“ HR2

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Lesung
Samstag, 23. November 2024 in Edewecht
Zeit:
20:00 Uhr
Ort:
Aula im Gymnasium Edewecht,
Göhlenweg 3
26188 Edewecht
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Die Bundschuhs

In den hinreißend komischen Familienromanen spielt Gundula Bundschuh die Hauptrolle. Die Bücher der Bundschuh-Reihe in der richtigen Reihenfolge.

Ganz nah beieinander - Schauspielen und Schreiben

Ein Gespräch mit Andrea Sawatzki

Sie sind eine der erfolgreichsten Schauspielerinnen Deutschlands und sehr viel unterwegs. Gleichzeitig haben Sie in den vergangenen Jahren gleich sieben Romane geschrieben. Wie lassen sich die Schauspielerei und die Arbeit als Autorin miteinander verbinden?
Sehr gut! In den Filmen fülle ich meine Figuren mit Leben, beim Schreiben kann ich sogar noch weitergehen und die Menschen, die ich erfinde, ganz nach meinen Vorstellungen schaffen. Das heißt, Ich habe beim Schreiben alle Zügel in der Hand und kann meine Figuren durch alle nur erdenklichen Höhen und Tiefen schicken. Das macht mir großen Spaß … vor allem, weil ich die von mir erfundene Gundula in den Verfilmungen selbst spiele.

Wieviel verbindet Sie mit Ihrer herzerfrischend chaotischen Heldin Gundula?
Sie ist in mancherlei Hinsicht  mein Alter Ego. Ich habe  sie unter anderem erfunden, um meine eigenen Erfahrungen mit dem Älterwerden zu beschreiben. Außerdem meine zeitweilige Unfähigkeit, mich mit meinen Unzulänglichkeiten abzufinden, mich aus der Distanz zu betrachten und eventuell ein bisschen besser zu verstehen. Gundula treibt ja, genau wie mich selbst, die permanente Sorge um, dass ohne ihren direkten Beistand die gesamte Bundschuh-Familie dem Untergang geweiht ist (was im Falle der Bundschuhs eventuell sogar zutreffen würde). Ich glaube, dass Frauen oftmals diesem fürchterlichen, selbstauferlegten Perfektionsanspruch entsprechen möchten und nicht selten daran zerbrechen. Das ist fatal. Und diese Botschaft möchte ich meinen Leserinnen auf humorvolle Weise nahebringen, ihnen sozusagen emphatisch einen Spiegel vorhalten und auch mal über sich selbst lachen zu können. Mir selbst jedenfalls hilft das sehr oft …

Sie schreiben seit einigen Jahren Ihre turbulenten Geschichten über die Familie Bundschuh. Sind Sie selbst ein Familienmensch?
Absolut. Es geht nichts über meine drei Männer! Wobei sich unsere Familie tatsächlich nur auf vier Personen und einen Hund beschränkt ...

Könnten Sie sich vorstellen, wie Gundula als Großfamilie mit Kindern, Eltern und Großeltern in einem Haus zu leben?
Wenn man allerdings mit einer gehörigen Portion Abenteuerlust und Humor an die Sache herangehen würde, könnte ich es mir durchaus vorstellen… da müsste ich aber erst mal unsere Söhne fragen …)))

Ihr neuer Roman erzählt von dem Umzug von Berlin aufs Land. Was hat Sie an dieser Konstellation gereizt?
Ich suche für meine Bundschuhs immer wieder Situationen, die sie völlig überfordern, und lasse sie dann aufeinander los. Dabei entwickeln meine Bundschuhs durchaus auch kriminelles Potential. Möglicherweise werde ich darauf in einem zukünftigen Bundschuh-Roman noch stärker eingehen, reizen würde mich das schon. In „Woanders ist es auch nicht ruhiger“ lasse ich die Bundschuhs aufs Land ziehen, weil der Berliner Flughafen endlich eröffnet wird und das Haus im Rotkehlchenweg  in der Einflugschneise liegt. Da Gundula und Gerald ihre beiden Mütter und auch Rose und HaDi nicht ohne weiteres loswerden und sich kein bezahlbares Haus in ruhiger Lage für die Großfamilie finden lässt , kaufen sie einen Dreiseitenhof, den Gerald bei einer Zwangsversteigerung ergattert. Dieses Hof steht seit Jahren leer, keiner traut sich an dieses Haus ran, und im Lauf der Geschichte wird auch klar, warum. Familie Bundschuh jedoch ist erst mal stolz und glücklich, diese Immobilie für sich gefunden zu haben, denn alle erhoffen sich dort Ruhe und Frieden. Aber weil sich immer jeder selbst mitnimmt, wird daraus natürlich nichts ...

"Gundula ist ja aus mir selbst entstanden, und ich liebe es, sie einer neuen Chaossituation auszusetzen und zu gucken, was sie sich einfallen lässt, um da wieder heil rauszukommen."


Andrea Sawatzki

Man könnte sagen, dass dieser Roman – mehr noch als die Vorgänger – ein höchst aktuelles Buch ist. Corona und der Berliner Flughafen zum Beispiel spielen eine gewisse Rolle. Sind Ihnen die sich verändernden gesellschaftlichen Umstände ein Anliegen?
In meinen Augen sind die Bundschuhs die ideale Möglichkeit, um auf gesellschaftliche Veränderungen und Missstände aufmerksam zu machen. Ich glaube, Kritik oder Haltungen sind über schwarzen Humor besser zu transportieren  als mit erhobenem Zeigefinger. „Lachen ist die Anästhesie des Herzens.“ In dem ein oder anderen Familienmitglied der Bundschuhs erkennt man sich ja doch wieder und dadurch, dass man über ihn lachen muss, reflektiert man dann vielleicht das eigene Handeln oder Denken. Das würde mich jedenfalls freuen. 

In den Verfilmungen Ihrer Bücher um die Bundschuhs spielen Sie die Hauptrolle der Gundula selbst. Ist das ein Fluch oder ein Segen, wenn Sie sich wieder an den Schreibtisch setzen für einen neuen Roman?
Gundula ist ja aus mir selbst entstanden, und ich liebe es, sie einer neuen Chaossituation auszusetzen und zu gucken, was sie sich einfallen lässt, um da wieder heil rauszukommen. Aber auch der Rest der Familie ist mir inzwischen genauso nah ist wie die Gundel. Ich habe die alle ins Herz geschlossen und kenne sie bis in ihr Innerstes. Dadurch, dass meine phantastischen Schauspielkollegen die Familienmitglieder so treffend und begeistert zum Leben erwecken, sind mir auch  meine literarischen Figuren näher. Ich höre den Klang ihrer Stimmen, sehe, wie sie sich bewegen, rieche ihr Parfum, weiß, was sie mögen und was nicht und kann ihnen dadurch immer neue Farbtupfer verpassen. Das finde ich großartig, das ist ein echtes Geschenk.


Blick ins Buch
Ein allzu braves MädchenEin allzu braves Mädchen

Roman

Ihre roten Haare leuchten zwischen dem Grün der Bäume. Verstört und mit bloßen Füßen findet man die junge Frau in einem Waldstück. Ihr anfängliches Misstrauen den Psychiatern gegenüber weicht erst ganz allmählich dem Bedürfnis, ihre Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, die wirklich niemanden kalt lässt. Aber entspricht das, was sie erlebt zu haben glaubt, auch der Wahrheit?

MONTAG

1

Sie hatte sich in ein nahe gelegenes Wäldchen geflüchtet und kauerte unter den tief hängenden Ästen einer Tanne. Die Arme um ihren Oberkörper geschlungen, wiegte sie sich sanft vor und zurück, als wolle sie sich selbst festhalten. Um nicht auseinanderzubrechen.

Obwohl es kalt war, fror sie nicht, sie war empfindungslos. Der Regen hatte ihr Haar durchnässt, Tropfen perlten über ihr blasses Gesicht und rannen an ihrem Hals hinab.

Dumpf starrte sie auf das Muster der Tannennadeln zu ihren Füßen, und ihre Gedanken verloren sich in Bildern und Geschichten, die sie daraus ersann. Der Blick ihrer hellblauen Augen war starr, aber ihre Lippen umspielte ein leises Lächeln. Beides schien nicht recht zusammenzupassen, was ihrem Gesicht einen Ausdruck unendlichen Verlorenseins verlieh. Und doch fühlte sie sich wie befreit. Als hätte sie eine Last, die jahrelang schwer auf ihren Schultern gelegen hatte, endlich abgeworfen.



2

Die beiden Jungen streiften lachend durch das dichte Wäldchen auf der Suche nach einem geeigneten Ort zum Versteckspielen, und ihre hellen Stimmen schienen an den knorrigen Stämmen der alten Bäume abzuperlen und tief in das große Schweigen einzusinken, das den Wald erfüllte. Sie sprachen lauter als nötig, um die bösen Geister fernzuhalten, und knufften sich gegenseitig, als sich im tief hängenden Grün einer Tanne vor ihnen etwas bewegte. Sie verstummten, dann fassten sie sich in der Vorfreude auf eine spannende Entdeckung an den Armen und schoben sich langsam näher an die Tanne heran. Neugier und Furcht hielten sich die Waage. Sie mussten sich bemühen, das hysterische Kichern zu unterdrücken, das an ihren Kehlen zupfte. Sacht bewegte sich etwas zwischen den Bäumen, schien sanft hin- und herzuwiegen, und ein Ton, hoch und metallisch, ließ die Jungen erschauern. Aber die Neugier war schließlich stärker als die Angst, also pirschten sie nah aneinandergedrängt weiter und bogen endlich ein paar Zweige zur Seite, um sehen zu können, was sich dahinter verbarg.

Der Schrei, den sie ausstießen, war ohrenbetäubend. Dann rannten sie los.



3

Den beiden Polizisten, die kurze Zeit später in dem Wäldchen erschienen, bot sich ein merkwürdiger Anblick: Vor ihnen hockte, den Oberkörper tief vornübergebeugt, eine junge Frau. Sie trug ein grünes Paillettenkleid und hohe schwarze Lederstiefel, die strähnigen Haare schimmerten rötlich, und ihr Gesicht war dreckverkrustet. Ihre Hände und die nackten Beine waren voller Erde. Sie hielt ihre Knie umschlungen und sang leise vor sich hin. Die Beamten sprachen sie mehrere Male vergeblich an, es schien, als sei die Frau nicht bei Sinnen und habe sich forttragen lassen in eine fremde Welt.

Plötzlich aber hob sie den Blick und sah die Polizisten von unten an. Ihre Augen waren von einem eisigen Blau, und ein kalter Schauer überlief die Männer, als die junge Frau plötzlich die Zähne fletschte und ein kaum wahrnehmbares Knurren von sich gab. Dann kicherte sie leise und senkte den Blick wieder.

Über Funk forderten die Beamten einen Wagen an, weil ihnen die Begegnung nicht geheuer war, und als der eine Viertelstunde später endlich eintraf, packten sie die Frau und trugen sie in das bereitstehende Polizeifahrzeug. Sie leistete keinen Widerstand und brach ihr Schweigen nicht.

Außer ihrer Kleidung trug die junge Frau nichts bei sich. Da man ihr keine Auskunft über ihren Namen oder Wohnort entlocken konnte und sie einen stark verwirrten Eindruck machte, wurde sie sehr bald in die Psychiatrie überführt.



4

Man hatte sie eingeschlossen. Ihr Zimmer war klein und überhitzt. Es gab nur ein Bett, ein Waschbecken und eine Toilette. Unter dem Fenster standen noch ein Tischchen und ein Stuhl. Wenn sie sich auf den Stuhl stellte, konnte sie aus dem Fenster blicken.

Eine Pflegerin hatte sie gewaschen und ihr einen Overall gegeben. Jetzt saß die junge Frau auf dem Bett und hatte die Arme fest um den Oberkörper geschlungen.

Das angebotene Essen rührte sie nicht an. Sie starrte auf das Gekritzel an der Wand. Es schien keinen Sinn zu ergeben, und darum beschäftigte sie sich damit, in den Linien der Buchstaben und den Schatten des Gemäuers eine eigene Bedeutung zu suchen.

Sie lauschte den Schritten und Stimmen der Menschen vor ihrer Tür. Wenn jemand davor stehen blieb, durchbohrte die Angst sie wie ein heißer Pfeil. Sie wollte allein sein, ungestört. Wieder starrte sie an die Wand. Das Sonnenlicht, das durch das hohe Fenster fiel, warf Schatten und Lichtflecken darauf. Es flimmerte auf der rauen Oberfläche. Sie erkannte eine sommerliche Landschaft, Felder, die sich in der Ebene erstreckten, ab und zu ein einsamer Baum, der Schatten eines Tieres, einer Wolke. Dann das satte Gelb des reifen Korns, welches sich sacht im Wind wiegte.

So verging die Zeit, bis es dunkel wurde. Irgendwann legte sie sich schlafen.



DIENSTAG

5

Am frühen Morgen ging bei der Polizeidienststelle Grünwald ein Anruf ein. Ein Anwohner beschwerte sich darüber, dass die Hunde im benachbarten Garten seit Tagen bellten und jaulten. Obwohl er mehrmals bei seinem Nachbarn geklingelt hatte, öffnete niemand, und langsam begann er sich Sorgen darüber zu machen, dass dem alleinstehenden Mann etwas zugestoßen sein könnte. Die Frage, ob es möglich sei, dass sich der alte Herr auf Reisen befinde, verneinte er. Das sei völlig ausgeschlossen, Herr Ott würde seine Hunde niemals allein zurücklassen. Außerdem führe Herr Ott ein äußerst zurückgezogenes Leben und sei nicht sonderlich gesellig.

Als die Polizei wenig später am Ott’schen Grundstück eintraf, machten die ausgehungerten und aggressiven Schäferhunde es den Beamten unmöglich, das Haus zu betreten. Erst als die Tiere betäubt und abtransportiert worden waren, konnten sich die Polizisten daranmachen, die massive Eichentür des eleganten Gebäudes aufzuhebeln.

Sie traten in den großzügigen Eingangsbereich, wo ihnen sofort ein muffiger Geruch entgegenschlug. Der Raum lag im Halbdunkel. Die schweren, vergilbten Vorhänge vor den Fenstern verwehrten den Blick in den Garten. Die biedere Einrichtung stand in merkwürdigem Gegensatz zum pompösen Äußeren der Villa. Auf einer Kommode standen allerlei Porzellanfiguren, vornehmlich spielende Kinder und Hunde aller Rassen, an den Wänden Stickbilder mit Landschafts- und Hundemotiven. Den abgenutzten Dielenboden bedeckten fadenscheinige Perserteppiche.

Im Haus war es still, was wegen des Lärms, den die Hunde kurz zuvor gemacht hatten, nun besonders auffiel. Außer dem Ticken einer alten Standuhr war nichts zu hören, die Stille dröhnte in den Ohren.

Nachdem die Beamten das Erdgeschoss durchsucht hatten, stiegen sie die breite geschwungene Treppe in das obere Stockwerk hoch.

Im Schlafzimmer stießen sie gleich neben der Tür auf die Leiche des Hausherrn. Er lag nackt, mit eingeschlagenem Schädel und erheblichen Verletzungen am ganzen Körper in einer Lache getrockneten Blutes. Seine Gliedmaßen wirkten seltsam verrenkt. Die trüben, eingefallenen Augen waren aufgerissen, der Mund war weit geöffnet wie zu einem tonlosen Schrei. Anscheinend hatte der alte Mann versucht, vor seinem Mörder zu fliehen, denn eine getrocknete Blutspur zog sich von der Mitte des Raums bis hin zur Tür.



6

Sie hatte nahezu zwölf Stunden geschlafen, was für Neuzugänge nicht unüblich war. Nachdem sie etwas Brot mit Marmelade und Kaffee zu sich genommen hatte, brachte man sie in den Therapieraum.

Die Psychiaterin, die sie dort erwartete, war um die fünfzig, von schlanker Gestalt, das dunkle Haar kinnlang geschnitten. Die braunen Augen hinter den Brillengläsern wirkten sanft und hatten doch etwas Energisches. Sie gab der jungen Frau die Hand, die sich kühl und fest anfühlte.

Die Psychiaterin wies der jungen Frau einen Stuhl zu, und setzte sich selbst an ein kleines Tischchen mit einer Blumenvase.

Dann sagte sie: „Mein Name ist Minkowa. Das Doktor können wir uns sparen. Wie heißen Sie?“

Die junge Frau schwieg.

„Sie wurden gestern früh in einem Wäldchen aufgefunden. Haben Sie eine Erinnerung daran, wie Sie dahin gelangt sind? Was davor geschehen ist?“

Die Patientin blickte an der Ärztin vorbei an die Wand und schwieg.

„Gibt es jemanden, den wir informieren sollen, jemanden, der sich eventuell Sorgen macht, warum Sie heute Nacht nicht nach Hause gekommen sind?“

Die junge Frau fixierte die Wand, und die Stimme der Psychiaterin wurde leiser und immer leiser. Irgendwann hörte sie sie nicht mehr. Sie hatte eine Stelle entdeckt, die einer Flusslandschaft glich. An den Rändern des Wassers wuchsen dichte Büsche, dahinter breiteten sich Wiesen aus. Sie strahlten in sattem Grün, und der Fluss schlängelte sich klarblau durch die Landschaft. Das sah schön aus, und sie gab sich der Vorstellung hin, am Ufer zu sitzen und hinabzublicken in die Tiefe des Gewässers.

Plötzlich riss die Stimme der Psychiaterin sie aus ihren Träumen.

Die junge Frau blickte auf.

„Kann ich Ihnen helfen?“

„Nein. Danke.“ Sie hatte offenbar beschlossen zu sprechen. „Ich musste bei der Landschaft an meine Kindheit denken. Da sah es genauso aus.“

Die Ärztin blickte zur Wand. Außer dem Weiß der Tapete entdeckte sie nichts.

„Haben Sie denn schöne Kindheitserinnerungen?“

„Ja.“ Die junge Frau neigte den Kopf zur Seite und lächelte. „Ich wuchs auf dem Land auf. Wir hatten ein großes Haus mit einem riesigen Garten. Hinten war ein kleiner Weinberg, mein Vater war leidenschaftlicher Gärtner und wollte unbedingt eigenen Wein anbauen.“ Sie lachte. „Hat aber meistens nicht geklappt, irgendwelche Schädlinge oder Bakterien haben die Ernte oft ruiniert.“

Es war nicht erkennbar, warum sie so lange geschwiegen hatte und jetzt ein scheinbar normales Gespräch zu führen begann.

„Was macht Ihr Vater beruflich?“, fragte Dr. Minkowa.

„Er war Journalist. Er ist leider vor einiger Zeit gestorben. Meine Mutter auch. Sie kamen bei einem Autounfall ums Leben.“ Die junge Frau senkte den Kopf und blickte zu Boden.

„Das war schwer für Sie?“

„Das war der schlimmste Moment meines Lebens, als ich die Nachricht bekam. Ich war zu Hause und machte gerade das Gästezimmer fertig, meine Eltern wollten mich für ein paar Tage besuchen. Dann klingelte es, und die Polizei stand vor der Tür.“

Sie verstummte. „Ich möchte nicht darüber reden, nein.“ Ihr Blick ging nach innen.

„Natürlich nicht. Wann war das?“, fragte Dr. Minkowa vorsichtig.

„Weiß nicht, vor einigen Jahren. Ich unterteile den Schmerz nicht in Zahlen. Er ist allgegenwärtig.“

„Möchten Sie aus Ihrem Leben erzählen? Ich würde mich freuen, mehr über Sie zu erfahren. Wie heißen Sie?“

Die junge Frau schwieg unbeirrt.

„Wo sind Sie aufgewachsen?“

„In Schwaben, später sind wir dann in ein größeres Haus in Bayern gezogen. Da war ich noch klein, vielleicht acht. Mein Vater hat mir ein Pony geschenkt, das stand hinten im Garten und hat meiner Mutter immer den Gemüsegarten zertrampelt. Es hieß Loretto.“

„Ihre Mutter war nicht berufstätig?“

„Nein, sie musste nicht arbeiten. Sie wollte immer für mich da sein und hat sich um das Haus und alles gekümmert. Wir hatten viel Besuch. Meine Mutter hat leidenschaftlich gern gekocht. Eigentlich hatten wir immer ein volles Haus. Das war manchmal ziemlich chaotisch, aber schön. Ich konnte auch immer Freundinnen einladen.“

Die Psychiaterin überlegte kurz, dann fragte sie: „Erinnern Sie sich daran, wie Sie gestern früh in das Wäldchen gekommen sind?“

„Also, so wie ich mich kenne, war ich wahrscheinlich feiern und hab dann die Orientierung verloren. Das passiert mir manchmal.“

„Wie lautet Ihre Adresse? Wir haben keinen Ausweis bei Ihnen gefunden.“

„Oh, wo hab ich den denn bloß gelassen?“ Die junge Frau wirkte abwesend.

Sie sah durch die Psychiaterin hindurch. Dann schien sie den ernsthaften Versuch zu unternehmen, sich zu erinnern. Nach einiger Zeit hob sie resigniert die Schultern.

„Ich weiß es nicht. Es tut mir leid, ich kann mich an gar nichts mehr erinnern.“

Panik trat in ihr Gesicht, und sie knetete ihre Hände.

„Machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde Ihnen helfen, sich zu erinnern. Wir werden gemeinsam herausfinden, was geschehen ist. Und bald werden wir sicher auch wissen, wo Sie wohnen und wer Sie sind. Sie können wieder nach Hause zurück.“

„Das wäre ganz schön.“



7

Abends durfte sie duschen. Eine Pflegerin holte sie ab und brachte sie ins Untergeschoss. Dort befanden sich die Waschräume. Die Luft war feucht, es roch ein wenig modrig, denn die Abflüsse waren verstopft, und das schmutzige Wasser konnte nicht abfließen.

Sie ekelte sich, aber nachdem die Pflegerin ihr ein Stück Seife in die Hand gedrückt und die Kabinentür hinter ihr geschlossen hatte, fühlte sie sich besser. Sie stellte sich unter den Brausekopf und drückte den Knopf in der Wand. Dann schloss sie die Augen, legte den Kopf in den Nacken und ließ sich das heiße Wasser übers Gesicht laufen.

Sie erinnerte sich daran, wie sie als kleines Mädchen bei Regen aus dem Haus gelaufen war. Niemand hatte das damals verstanden. Sie war süchtig nach dem Regen gewesen, süchtig nach den dunklen Wolken und dem Grollen des Donners. Sie liebte die Einsamkeit, und bei schlechtem Wetter konnte sie sicher sein, dass sie kaum jemandem begegnen würde.

Sie war ein stilles Kind gewesen. Zurückhaltend und wohlerzogen. Die Mutter hatte ihr Kleider genäht und Pullover für den Winter gestrickt und einen Tellerrock aus roter Wolle, der bis hoch zu ihren Hüften geflogen war, wenn sie sich im Kreis drehte. Sie hatte immer Tänzerin werden wollen. Oder Tierärztin. Oder Verkäuferin in einem Tante-Emma-Laden. Ihr Haar war dünn und rötlich, und manchmal hatte sie sich eine Wollstrumpfhose über den Kopf gestülpt und geträumt, die Beine, die seitlich an ihrem Körper baumelten, wären Zöpfe.

Das Handtuch war rau, sie rubbelte damit über ihren Körper, bis die Haut brannte. Dann begleitete die Pflegerin sie zurück in ihr Zimmer. Sie setzte sich unter dem kleinen Fenster auf den Boden und starrte auf das graue Linoleum vor sich. Lange Zeit blieb sie so sitzen.

Es wirkte, als habe sich die Leblosigkeit auch Zugang zu ihrer Seele verschafft. Aber in ihrem Kopf tobte es. Sie versuchte sich verzweifelt an die Stunden zu erinnern, bevor man sie im Wald entdeckt hatte, aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Kaum hatte sie das Gefühl, einen klaren Gedanken zu fassen, löste er sich schon wieder auf.

Sie wusste, sie war mit ihrem Mini zur Arbeit gefahren und hatte den Wagen am Straßenrand geparkt. Es war bereits dunkel gewesen, als sie auf das Haus zugelaufen war, und sie hatte sich darüber geärgert, dass sie sich das Haar eingedreht hatte, bevor sie losgefahren war, denn es hatte in Strömen geregnet.

Danach war jede Erinnerung ausgelöscht.

Das Nächste, was sie vor sich sah, war die nass glänzende Fahrbahn am frühen Morgen. Es wurde gerade hell, sie saß in ihrem Auto und fuhr ziellos durch die menschenleeren Straßen. Sie fror und wusste nicht mehr, wo sich der Schalter für die Heizung befand. Irgendwann stieg sie dann aus, weil sie das Gefühl hatte, etwas Dunkles säße hinter ihr auf dem Rücksitz und beobachtete sie. Sie öffnete die Wagentür und rannte los. Bis sie sich in einem Wald wiederfand und sich unter den Zweigen eines Baumes versteckte. Ihr war übel, und sie bekam keine Luft, die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Und irgendwann wachte sie wieder auf, wie aus einem langen Traum. Sie hatte Kinderstimmen gehört und wusste im ersten Moment nicht, ob die Stimmen zu ihrem Traum gehörten oder real waren.


Plötzlich öffnete sich die Zimmertür, und eine Pflegerin brachte das Abendessen. Brot, helle Wurst und abgepackter Käse. Nachdem sie wieder gegangen war, lag minutenlang ein unangenehmer Schweißgeruch in dem kleinen Raum.

Die junge Frau rührte das Essen nicht an.

Andrea Sawatzki

Über Andrea Sawatzki

Biografie

Andrea Sawatzki, geboren 1963, gehört zu den bekanntesten deutschen Film- und Fernsehschauspielerinnen. Nach ihrem SPIEGEL-Bestseller „Ein allzu braves Mädchen“ erschien die turbulente Weihnachtskomödie „Tief durchatmen, die Familie kommt“. Mit „Von Erholung war nie die Rede“, „Ihr seid natürlich eingeladen“, „Andere machen das beruflich“ und „Woanders ist es auch nicht ruhiger“ veröffentlichte sie mittlerweile vier weitere Bücher um die Familie Bundschuh. Alle fünf Bände wurden mit Andrea Sawatzki, Axel Milberg und anderen für das ZDF verfilmt. Andrea Sawatzki lebt mit ihrem Mann, dem Schauspieler und Autor Christian Berkel, ihren gemeinsamen zwei Söhnen und einem Hund in Berlin.

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Sonntag, 05. Dezember 2021 von


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