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Faszination Regenwald

Bücher und Reiseberichte aus dem Dschungel

Montag, 18. August 2014 von Piper Verlag


Expeditionen in den Dschungel

Faszination Regenwald: Tauchen Sie mit unseren Reiseautor:innen ein in eine Kultur, die so völlig anders ist als unser Alltag. Unsere Bücher beschreiben Begegnungen mit Menschen und die vielfältigen Gesichter des Regenwalds.

Blick ins Buch
Nachtschicht mit ArasNachtschicht mit Aras

Als Tierärztin und Artenschützerin im Dschungel

Zwischen Abenteuer und Artenschutz
Sie ist in den Dschungeln der Welt zu Hause: Hannah Emde, leidenschaftliche Tierärztin und Artenschützerin, engagiert sich rund um den Globus, um Tiere vor dem Aussterben zu bewahren. Dabei haben es ihr die Regenwälder besonders angetan. Sie arbeitet mit seltenen Nebelpardern auf Borneo, mit bunten Großpapageien in Guatemala oder mit Berggorillas in Ruanda.

„Hannah erzählt so lebendig, dass man meint, mit ihr im Dschungel zu sein.“ NEON

Mitreißend berichtet sie in ihrem Buch von ihren Projekten und vermittelt eindringlich, warum Exoten wie der Lemur auf Madagaskar und der Bullenhai in Costa Rica gefährdet sind und was wir tun können, um ihren Lebensraum zu sichern. Sie beschreibt, wie die Gesundheit von Umwelt, Tier und Mensch voneinander abhängt und warum der Schutz der Ökosysteme unser oberstes Ziel sein sollte.

Der Bestseller, ergänzt, überarbeitet und aktualisiert

Prolog
Schwül-feuchte Luft strömt mir entgegen, als ich die Autotür öffne. Meine Kleidung klebt an der Haut, es herrschen über 30 Grad. Neugierig blicke ich mich um. Das Auto parkt unter einer großen Brücke. Um mich herum stehen weitere Pick-ups, ich erkenne vereinzelte Häuser, und zweihundert Meter entfernt befindet sich ein menschenleeres Restaurant. Ich schnappe mir meinen Rucksack und folge einem schmalen Trampelpfad in Richtung Bootssteg. Hier startet die letzte Etappe der Reise, mein Ziel: eine kleine Forschungsstation mitten im Regenwald der Insel Borneo – weit weg von der Zivilisation. Begleitet werde ich von Peter; der Malaysier ist Manager der Forschungsstation.
Ich hebe den Blick, und zum ersten Mal taucht er vor mir auf: der Kinabatangan River. Ein mächtiger schlammbrauner Fluss, der sich durch Urwälder und Schwemmebenen bis in die Sulusee windet. Er entspringt im Herzen der nebelverhangenen Regenwälder im Hochland und ist Lebensader der Provinz Sabah. Die Einheimischen nennen ihn „Sabahs Geschenk an die Erde“. Die atemberaubende Vielfalt der Tierwelt entlang dieses Gewässers ist etwas ganz Besonderes. Lediglich das gewaltige Flusssystem des Amazonas hat einen vergleichbaren Artenreichtum zu bieten.
Umrahmt von gigantischen Bäumen und sattem Grün, liegt der breite, reißende Fluss vor mir. Mein Herz schlägt schneller. Für uns Forschende ist der Kinabatangan der einzige Weg, auf dem wir in die Tiefen des Dschungels gelangen. In den Naturdokus, die ich vor meiner Abreise geschaut habe, wird das Wasser charmant als „kaffee-“ oder „bernsteinfarben“ beschrieben, und es heißt, an seinen Ufern würde das Überraschende alltäglich. Zwar ist das Wasser meiner Meinung nach schlicht schlammbraun, doch vor allem bin ich enorm gespannt auf die nächsten drei Monate im Dschungel.
Ich kann es kaum erwarten, endlich auf das Wasser zu kommen. Mit Schwimmweste um die Schultern und Rucksack auf dem Schoß sitze ich aufmerksam auf der Vorderbank des kleinen Motorboots, das Peter hinter mir steuert. Der Fahrtwind bläst mir ins Gesicht, und Urwaldbäume in allen Größen und Formen rauschen an mir vorbei. Ein herrlich frischer Duft aus Wald und Unbekanntem liegt in der Luft. Das dunkle Wasser spritzt vom Boot ab, und am Horizont türmen sich Wolkenberge auf. Wir rasen von einer Flussschlinge in die nächste.
Aufgeregt versuche ich, überall gleichzeitig hinzugucken. Über meinen Kopf fliegt ein Nashornvogel-Pärchen hinweg: große schwarze Vögel mit weißer Brust und einem mächtigen gebogenen Schnabel, auf dem ein fast ebenso großes Horn sitzt. Durch ihren hektischen Flügelschlag, der mich ein bisschen an flatternde Hühner erinnert, kann ich sie am Himmel gut identifizieren.
Eine weitere Bewegung fällt mir ins Auge: Eine Gruppe Affen erkundet das Ufer. Bestimmt fünfzehn Langschwanz-Makaken laufen leichtfüßig am Wasser entlang und suchen nach Futter. Ein Baby klammert sich am Rücken seiner Mutter fest, zwei Junge tollen über den Boden. Als sich das Motorboot nähert, schauen sie kurz auf, mustern uns kritisch und sprinten geschickt den nächsten Baumstamm hinauf. Die auslaufenden Äste des großen Baumes wippen verräterisch. Hinter jeder Flussbiegung wartet eine neue Überraschung auf mich.
Plötzlich zeigt Peter auf das Ufer rechts von uns und bremst das Boot ab: Langsam schiebt sich ein großer, schuppiger Rücken aus dem trüben Wasser. Erschrocken erkenne ich ein monströses, spitz zulaufendes Maul mit gewaltigen Zahnreihen und zwei gelbe, eng beieinanderstehende Augen. Der braunschwarze Panzer hebt sich kaum vom Ufer ab.
Mittlerweile ist das riesige Reptil ganz aus dem Wasser gekommen und schleicht bedrohlich über den schlammigen Boden, ehe es sich niederlässt. Ein Leistenkrokodil, das größte Krokodil der Welt. Begeistert präge ich mir alles genau ein.
„Leistenkrokodile können über sieben Meter lang werden mit bis zu einer Tonne Gewicht. Und sie sind zahlreich im Kinabatangan vertreten. Sehr zahlreich. Es ist das größte aller heute lebenden Reptilien“, erklärt mir der Malaysier stolz.
Andächtig mustere ich das prähistorische Raubtier. Ruhig liegt es in der Sonne und nimmt keinerlei Notiz von unserem Boot.

„Wichtigste Regel für dich: niemals im Kinabatangan schwimmen! In den angrenzenden Dörfern sind schon Menschen von Krokodilen schwer verletzt worden. Meist waren es Kinder, die am Wasser spielten“, fährt Peter fort.
Ich muss schlucken. Während der Weiterfahrt entdecke ich noch mindestens sechs weitere Krokodile am Flussufer, die meisten liegen bewegungslos in der Sonne. Manche haben ihr Maul weit geöffnet und präsentieren ihre gewaltigen Zähne.
„Wir befinden uns hier in den Tieflandschwemmebenen des Kinabatangan-Flusses!“, ruft mir Peter über das Motorengeräusch zu. „Sie gehören zu den wenigen Regionen der Erde, in denen zehn unterschiedliche Primatenarten heimisch sind. Neben den bekannten Orang-Utans, Gibbons, Makaken und Languren lebt hier einer der seltensten und einzigartigsten Affen der Welt. Gleich müssten wir an einer Gruppe vorbeikommen.“
Staunend suche ich die vorüberrauschenden Bäume ab, und dann sehe ich sie: orangefarbene Flecken mit großer, birnenförmiger Nase und dickem Kugelbauch – die Nasenaffen. Mit beeindruckenden Sprüngen bewegen sie sich in den üppigen Bäumen fort. Ein großer Affe fühlt sich von dem näher kommenden Boot gestört, streckt seinen Oberkörper nach vorne, zeigt seine Zähne und beginnt laut zu rufen. Mich erinnert das Gebrüll allerdings eher an ein bedrohliches Schnarchen.
„Nasenaffen zählen zu den seltensten Affen der Welt, nur etwa siebentausend Tiere leben in freier Wildbahn. Ihr Lebensraum schrumpft stetig“, erklärt mir der Manager.
Es ist eine große Freude, der Affengruppe beim Fressen und Toben zuzuschauen.
Die Naturdokumentationen haben nicht übertrieben: Der Kinabatangan sprüht nur so vor Leben. Ein herausragendes Beispiel dieses Artenreichtums ist der Sunda-Nebelparder. Eine sehr scheue und durch ihre ungewöhnliche Fellzeichnung exzellent getarnte Raubkatze, die nur auf Borneo vorkommt. Mein Traum ist es, diese besondere Katze während meines Forschungsaufenthaltes zu Gesicht zu bekommen.
Ein besonders liebenswertes Tier, das mir in freier Wildbahn allerdings nicht mehr begegnen wird, ist das Sumatra-Nashorn. Das kleine, vollkommen behaarte Nashorn, das hier über fünfunddreißig Millionen Jahre gelebt hat, ist nämlich seit 2015 in Sabah ausgestorben. Eine tragische Entwicklung, die mir die Fragilität dieses Ökosystems schmerzlich vor Augen führt.
Während der rasanten Flussfahrt über den Kinabatangan spüre ich ein Kribbeln in mir aufsteigen: ein aufgeregtes Glücksgefühl – auf ins Unbekannte!


TEIL I: FASZINATION WILDNIS


1. Mein Naturkundemuseum in der Schublade
Goldenes Licht flutet den Raum, die Vögel zwitschern fröhlich vor sich hin, und der Wind rauscht durch das Blätterdach. Widerwillig erwache ich aus meinem Tiefschlaf und öffne vorsichtig die Augen. Etwas enttäuscht stelle ich fest, dass ich mich gar nicht im Dschungel befinde. Das Bett ist zu weich, die Luft zu trocken und das Zwitschern zu eintönig. Da kommt der neumodische Tageslichtwecker mit Vogelfunktion an seine Grenzen. Ernüchtert blicke ich aus dem Fenster. Weder Affen noch Nashornvögel in den Bäumen, stattdessen grauer Himmel, Nieselregen und ein Linienbus, der sich durch die Straßen kämpft. Wenigstens die Kohlmeisen im Baum gegenüber lassen mich nicht im Stich. Mein Leben lang habe ich in Städten gewohnt, und trotzdem werden mir all der Beton, der laute Verkehr, die Hektik und der getaktete Lebensstil manchmal zu viel. Dann zieht es mich in die Ferne, in ein einfaches Leben aus dem Rucksack mit vier T-Shirts, Gummistiefeln, fremden Sprachen, hohen Bäumen und wilden Tieren.
Ich bin Hannah und wohne in Bonn, wenn ich nicht gerade in den Dschungeln unserer Erde arbeiten darf. Ich esse gerne Reis, mag keine Spinnen und freue mich über jede warme Dusche. Warum das so ist – und warum ich nicht eine klassische Tierärztin in der Kleintierpraxis geworden bin, sondern lieber einer vom Aussterben bedrohten Raubkatze durch den Regenwald folge –, erzähle ich in diesem Buch. Ich möchte meine Leserinnen und Leser  mitnehmen auf eine Reise. Eine Reise durch fremde Länder und dichte Wälder mit wilden Tieren und interessanten Begegnungen. Und vor allem möchte ich herausfinden, warum der Orang-Utan auf Borneo, der Lemur auf Madagaskar oder der Hellrote Ara in Guatemala vom Aussterben bedroht sind und was wir alle dagegen tun können.

Mit meiner Kaffeetasse in der Hand setze ich mich an den Laptop und gehe die Newsletter in meinem Posteingang durch. Schlagzeilen fluten die Kanäle:
„Eine Million Arten sind vom Aussterben bedroht“.
„Ein Massensterben wie bei den Dinosauriern – nur menschengemacht“.
„Artensterben so gefährlich wie der Klimawandel“.
Bestürzt lese ich mich durch die Nachrichten. 2019 veröffentlichte der Weltbiodiversitätsrat (IPBES)  der Vereinten Nationen einen wichtigen Bericht über den Zustand der Biodiversität. Hundertfünfzig Fachleute aus fünfzig Ländern analysierten dafür Tausende Studien zum Thema Artenvielfalt und Ökosystemleistungen. Erstmals bezogen sie darüber hinaus auch das Wissen indigener Völker und regionaler Gemeinden mit ein.
Was bedeutet Biodiversität überhaupt? Dieser etwas sperrige Begriff beinhaltet alles, was zur Vielfalt der belebten Natur beiträgt, also eigentlich alles, was uns umgibt: unterschiedliche Arten von Tieren, Pflanzen, Moosen, Pilzen und Mikroorganismen – im Boden, in der Luft, unter Wasser oder in den Bäumen. Unter Biodiversität versteht man aber auch die Vielfalt der Lebensräume – von Wüsten bis zum Regenwald, vom Gebirge bis zum Sumpfgebiet. Oft vergessen, aber nicht weniger wichtig, ist die genetische Vielfalt. Sie beschreibt die Vielfalt an Pflanzen oder Tieren innerhalb einer Art, denn nur durch diese genetische Vielfalt können sich Arten an die sich rasant verändernden Lebensbedingungen durch Klimawandel, menschliche Einflüsse oder Krankheiten anpassen. Als Beispiel eignen sich hier die verschiedenen Apfelsorten, die in Deutschland angebaut werden. Manche sind frostresistenter als andere und können somit einem frostreichen Frühjahr trotzen, sterben nicht ab und tragen im Herbst trotzdem Früchte. Ohne Biodiversität gäbe es kein Leben auf unserem Planeten. In der Wissenschaft sprechen wir von sogenannten Ökosystemleistungen der Biodiversität, also Leistungen aus der Natur, die uns wie selbstverständlich zur Verfügung stehen: sauberes Trinkwasser, fruchtbare Böden zum Anbau von Lebensmitteln, saubere Luft zum Atmen, eine Vielfalt an Insekten, die unsere Apfelbäume bestäuben, eine Regulierung von schädigenden Krankheiten oder Wälder, die CO2 speichern. Biodiversitätsschutz bedeutet demnach nicht nur, die Schönheit der Natur zu bewahren, sondern auch die Grundlage des Überlebens für uns Menschen auf unserem Planeten zu sichern.
Leider sind die Ergebnisse des Artenschutzberichtes  erschreckend: Immer mehr Tier- und Pflanzenarten sind vom Aussterben bedroht. Gründe dafür sind eine intensive Nutzung der Landflächen und Meere durch Landwirtschaft, Waldrodung, direkte Ausbeutung von Wildtieren und Organismen, Überfischung oder Ozeanversauerung. Auch der Klimawandel mit seiner zunehmenden Trockenheit, den Starkregenfällen und der Erwärmung der Ozeane bringt die intakten Ökosysteme an ihre Grenzen. Hinzu kommen die Verschmutzung der Umwelt und die Verbreitung invasiver Arten , die heimische Tiere und Pflanzen verdrängen. Sogar bei unseren Nutztieren schwindet die Vielfalt. Laut Biodiversitätskonvention sollten bereits bis 2020 der Verlust der Lebensräume um die Hälfte reduziert, die Überfischung gestoppt und Schutzgebiete erweitert werden. Keines dieser Ziele wurde erreicht.
Ich bin entsetzt. Mit einer derart schlechten Bilanz habe ich nicht gerechnet. Eine Million Arten vom Aussterben bedroht – es haut mich um, so etwas zu lesen. Schließlich sind darunter auch Arten, die wir bisher nicht mal kennen. Beispielsweise der Tapanuli-Orang-Utan, der erst vor wenigen Jahren auf Sumatra entdeckt wurde und mit nur achthundert Individuen schon jetzt als die seltenste Menschenaffenart der Welt gilt. Häufig sind es sogar Arten, von denen wir noch gar nicht wissen, welche Rolle sie im Ökosystem spielen. Jeden Tag gehen dabei Informationen verloren, die für uns Menschen von großer Bedeutung sein können, zum Beispiel für die Gewinnung von Arzneimitteln und Antibiotika. Gleichzeitig verspüre ich einen starken Drang, etwas gegen das fortschreitende Artensterben zu tun.
Bedrückt klappe ich den Laptop wieder zu. Mein Kaffee ist mittlerweile kalt. Klar achte ich beim Kaffeekauf auf Bioanbau und fairen Handel, um die Kleinbauern in den Anbauregionen zu unterstützen und dem Ökosystem nicht zu schaden. Zahlreiche alltägliche Kaufentscheidungen wie diese können einen Unterschied machen, aber reicht so etwas aus, um unseren Planeten lebenswert zu halten? Ich hatte noch nie einen besonderen Hang zur Schwarzmalerei und bin froh, als ich in dem Bericht doch noch einen Hoffnungsschimmer entdecke. Auf die Frage, ob sich der Rückgang der Artenvielfalt überhaupt noch aufhalten lasse, antworten die Publizierenden mit einem klaren Ja. Aber nur, wenn auf allen Ebenen unverzüglich und konsequent gegengesteuert wird.

Ich liebe Tiere. Ob groß, klein, schuppig, süß oder gefährlich – nichts fasziniert mich so sehr wie die Tierwelt. Deswegen bin ich Tierärztin geworden. Das wollte ich schon als kleines Mädchen: „Tiereztin“ steht in krakeliger Schrift in meinem „Wilde Hühner“-Freundebuch. Was ich damals mit sieben Jahren gar nicht mochte, sind „Tierkweler“. Auch das hat sich bis heute nicht geändert.
„Du hattest immer diesen besonderen Draht zu Tieren“, erzählt mir meine Mutter, als ich sie nach den Anfängen meiner Tierliebe befrage. „Schon im Kindergarten, da warst du gerade mal fünf, bist du mit den Vorschulkindern jeden Freitag zur Jugendfarm gefahren, um Ställe auszumisten und Tiere zu füttern. Die anderen Kinder hatten Angst, den Stall des Ziegenbocks sauber zu machen, weil der so stur war. Aber Klein Hannah ließ sich davon nicht beeindrucken, stapfte schnurstracks in den Stall und stemmte sich gegen den Bock, wenn er sie beiseitedrängen wollte. Berührungsängste Tieren gegenüber waren dir völlig fremd.“
Ich bin im Rheinland aufgewachsen, in einem Haus am Stadtrand mit kleinem Garten und viel Grün drum herum. Meine Kindheit spielte sich weitgehend draußen ab, und ich hatte nie Hemmungen, mich dreckig zu machen. Als Tochter einer Biologin und eines Forstwissenschaftlers wurde ich in einem naturverbundenen Haushalt groß und kam früh mit einem umweltbewussten Lebensstil in Berührung. Das erste gemeinsame Projekt mit meiner Mutter, an das ich mich erinnere, war das Züchten von Salzkrebsen. Wir starteten öfter solche Experimente: Insektenhotels bauen, Zwiebelschalen mikroskopieren oder Spinnen aufziehen, um die Abneigung ihnen gegenüber zu verlieren. Gut, Letzteres hat bei keinem von uns so richtig geklappt. Ein Dackel gehörte ebenfalls zur Familie Emde. So lernten meine Schwester und ich schon früh, Verantwortung für ein Tier zu übernehmen.
Mein Vater erzählte damals gern, dass er bei „Wetten, dass …?“ die Wette abschließen wolle, zwölf verschiedene Baumarten an ihrem Geschmack zu erkennen. Daraufhin verbrachte ich einige Tage damit, Bäume anzulecken, weil ich das auch können wollte. Außerdem hatte ich eine Vorliebe für Naturschätze. Bereits in der Grundschule begann ich damit, jeden schönen Stein, jede Feder und jeden Knochen einzusammeln, den ich im Wald fand. Meine große Schwester pflegte eine hübsche Ausstellung von Edelsteinen und Sammelfiguren in ihrer Glasvitrine. So etwas wollte ich auch haben, allerdings war mir all die Ordnung zu viel Aufwand, sodass mein „Naturkundemuseum in der Schublade“ etwas rustikaler ausfiel. Als mein großer Stolz musste es von jedem Gast des Hauses bewundert werden.
Mit der Zeit häuften sich immer mehr „Materialien“ an, die ich vorsichtig mit dem Lupenglas inspizierte und dann in der Schublade verschwinden ließ. Eines Tages begrüßten mich viele kleine Mitbewohnerinnen in meinem Kinderzimmer. Zu meiner großen Freude und dem Entsetzen meiner Eltern hatten sich Hunderte weiße Larven in dem Rehschädel in meiner Schublade eingenistet. Daraufhin bestanden die Erwachsenen darauf, dass ich ihnen jeden neuen Fund erst zeigte, bevor er dort seinen ehrenvollen Platz bekam.
Auch meine Grundschullehrerin trug zu meinem frühen Forscherdrang bei. Frau Vogel schickte uns, wann immer es möglich war, hinaus in die Natur. Sie weckte durch ihren anschaulichen und spannenden Unterricht einen Wissensdurst in mir, für den ich ihr bis heute dankbar bin.
Frau Vogel führte von Anfang an zahlreiche Projekte mit unserer Klasse durch, die nicht im Lehrplan standen, entdeckte meine Stärken und förderte mich, wo immer es ging. Dabei blieb mir am meisten unser Schneckenprojekt im Gedächtnis: Jeder Gruppentisch bekam ein Terrarium mit Weichtieren. Wir richteten ihnen das Zuhause naturnah ein, teilten uns die Fütterungszeiten ordentlich auf, gaben unseren Schnecken Namen, erforschten und studierten sie. Das hatte zur Folge, dass ich ein großer Schneckenfan wurde. Stundenlang konnte ich hinter unserem Haus neben den Büschen hocken und Schnecken beobachten. Andere spielten mit Barbies oder Gameboys, ich veranstaltete Schneckenrennen, sammelte Futter und pflegte die schleimigen Tierchen. Einmal nahm ich eine Schnecke mit in mein Kinderzimmer, um sie genauer unter die Lupe zu nehmen. Ich muss ungefähr sieben Jahre alt gewesen sein. Als ich mich nach dem Abendessen wieder zu ihr gesellen wollte, war sie nicht mehr aufzufinden. Erst erzählte ich niemandem von meinem schmerzlichen Verlust, bis meine Eltern einige Wochen später fast verzweifelten. Es stank ziemlich übel in meinem Zimmer, doch keiner konnte sich die Ursache erklären. Mein Vater montierte die halbe Holzvertäfelung ab, da er dahinter eine tote Maus vermutete, doch der penetrante Verwesungsgeruch blieb unaufgeklärt. Sogar Dackel Lotta kam als Spürhund zum Einsatz. Da nahm mich meine Mutter zur Seite: „Hannah, war hier irgendein Tier in deinem Zimmer? Sei ehrlich, ich schimpfe auch nicht.“
Betreten gab ich zu: „Mhhm … na ja … ich hatte eine Schnecke in der Hosentasche. Dann gab es Abendbrot, und ich habe sie hier so lange auf den Tisch gelegt. Und als ich wiederkam, war sie nicht mehr da.“
Jetzt wussten sie zumindest, wonach sie suchten, aber es dauerte trotzdem noch einige Tage, bis sie einen dunklen, streng riechenden, festgetretenen Fleck an einer Kante des Teppichs fanden. Danach durfte ich keine lebendigen Tiere mehr mit in mein Zimmer nehmen. Und hatte nie wieder einen Teppich.
Meine Mutter erzählt heute noch lachend: „Mir war klar, dass das bei dir nie die ›Pferdenummer‹ werden würde. Du hast auf dem Reiterhof schon immer lieber mit den Tieren gearbeitet, als sie zu striegeln oder ihnen Flechtfrisuren zu zaubern. Du wolltest nicht Tierärztin werden, weil du so gerne Tiere streichelst, sondern weil du sie erforschen wolltest.“

Meine ersten wichtigen Naturmomente erlebte ich in Schweden. Seit ich klein bin, fahre ich dorthin, damals häufig mit Familie und VW-Bus in den Sommerferien, später dann mit den Pfadfindern oder Freundinnen. Wildes Zelten, Blaubeeren pflücken, Pfannkuchen über dem Feuer. In klaren, kalten Seen schwimmen und mich anschließend auf den warmen Felsen wieder aufwärmen. Klar kenne ich die Geschichten von Astrid Lindgren, und Ronja Räubertochter bleibt eine große Heldin.
Ich schwärme für warme Zimtschnecken und rostrote Schwedenhäuschen, aber vor allem liebe ich diese raue skandinavische Natur: Nadelwälder, so weit das Auge reicht, moosbewachsene Felsen, einsame Inseln und die kurzen Sommer. Besonders eindrücklich blieben mir die langen Kanutouren. Im Nachhinein bewundere ich den Mut meiner Eltern. Für zehn Tage mit zwei Kanus, zwei Kindern, zwei Zelten und einem Dackel auf dem Wasser unterwegs zu sein ist wahrlich eine Herausforderung. Auf diese Weise lernte ich schon als Kind, meine Sinne zu schärfen und sorgsam mit meiner Umwelt umzugehen.

Meine erste lange Station im Ausland war ein Jahr in den USA. Zwei Tage nach meinem sechzehnten Geburtstag flog ich nach Pennsylvania. Ich lebte bei einer Gastfamilie in einer Kleinstadt, besuchte die Highschool und spielte in der Drumline (Schlagzeuggruppe) einer Marching Band. Schnell erfuhr ich kulturelle Unterschiede. Mit meiner Mülltrennung und dem Stromsparen wurde ich zur Exotin. Zu dem Fast-Food-Restaurant auf der anderen Straßenseite fuhr die Familie mit dem Auto. Und für den Black Friday standen wir bereits um fünf Uhr morgens in der Warteschlange der Shopping Mall.
Ich erlebte die Konfrontation mit dem amerikanischen Lebensstil als eine Herausforderung und Bereicherung zugleich. Losgelöst aus meinem bisherigen Wertesystem lernte ich, die Dinge infrage zu stellen, bewusster durch die Welt zu gehen und meinen eigenen Standpunkt zu finden. Sogar unsere Politik und unser Gesundheitssystem wusste ich plötzlich anders zu schätzen. Und vor allem lernte ich dort Folgendes: Anpassung, Kommunikation, Heimweh überwinden, neue Freunde finden und Englisch.
Zurück in Deutschland plante ich mit meiner Pfadfindergruppe ein Projekt für ein Waisenhaus in Südafrika. Für die Finanzierung sammelten wir ein Jahr lang Spenden, verkauften selbst gebackene Plätzchen, putzten Fenster, arbeiteten als Kinderbetreuer und veranstalteten Flohmärkte: zehn Jugendliche und zwei Gruppenleiter aus unterschiedlichen Lebenssituationen (Schule, Zivildienst, Ausbildung, Studium, Arbeit, frischgebackener Vater) mit einem gemeinsamen Ziel.

Unsere Reise beginnt in der Hauptstadt Johannesburg. Ich bin mittlerweile fast achtzehn, die Jüngste der Gruppe, und freue mich, dieses fremde Land besser kennenzulernen. Wenige Wochen zuvor fand die Fußballweltmeisterschaft in Südafrika statt, und Shakiras Worte „Waka waka … ’cause this is Africa!“ begleiten uns die gesamte Reise. Für die ersten Tage in Johannesburg kommen wir in den Gastfamilien südafrikanischer Scouts unter. Anfangs wirken die riesigen Mauern mit Stacheldraht und Elektrozaun noch etwas einschüchternd, aber unsere südafrikanischen Freundinnen und Freunde machen uns das Wohlfühlen leicht. Schnell wird mir deutlich, dass wir uns in den reicheren Teilen der Stadt aufhalten.
Wir besuchen das Apartheid-Museum, steigen in eine Goldmine und lernen viel über die Geschichte des Landes. Anschließend geht es für unsere Gruppe mit zwei Kleinbussen Richtung Süden. Die Landschaft wird immer grüner, die Straßen werden immer wilder, und wir lernen auch die ärmeren Gegenden des Landes kennen: In einem Lager aus Wellblechhütten leben illegale Einwanderer dicht beieinander. Sanitäre Anlagen und sauberes Trinkwasser gibt es nicht.
In der Nähe von Mbombela beginnen wir mit unserem Projekt im AIDS-Waisenhaus Siyakhula. Als wir über die staubigen Straßen der Townships fahren, ist uns noch etwas mulmig zumute, denn wir wissen nicht, was uns erwarten wird. Doch sobald wir im Waisenhaus ankommen, werden wir von so vielen aufgeregten Kindern empfangen, dass es einfach nur schön ist. Wie froh die Kinder sind, viel Aufmerksamkeit und Abwechslung zu bekommen. Wir erfahren Neugierde und pure Lebensfreude. Gerade bei dem Fußballspiel „Deutschland gegen Südafrika“ mit dem zerfledderten Ball auf staubigem Boden blühen wir alle auf.
Unsere Unsicherheit weicht fünf sehr bewegenden und anstrengenden Tagen. Wir streichen ein Haus, erneuern Fußböden, bauen einen Gartenzaun und einen Kompostkasten. Außerdem kaufen wir von dem Geld, das wir in Deutschland verdient haben, einige Utensilien für das Waisenhaus ein. Am letzten Tag des Siyakhula-Projektes treffen wir abends auf die südafrikanischen Scouts, bei denen wir für die nächsten Nächte unterkommen sollen. Wir werden euphorisch mit Gesang, Tanz, Lagerfeuer und Gebäck von den Jugendlichen begrüßt. Das Leben bei den Gastfamilien im Township ist das krasse Gegenstück zu dem Leben der reichen weißen Gastfamilien, bei denen wir in Johannesburg wohnten: Fließendes Wasser für ein paar Stunden und ein eigenes Zimmer hat hier kaum einer. Aber das ist überhaupt nicht mehr wichtig, denn die Gastfreundschaft ist überwältigend.
Als Nächstes steht ein Zeltlager mit zweihundert afrikanischen Scouts auf unserem Programm. Wir hatten dieses Camp schon in den Gruppenstunden in Deutschland vorbereitet und uns ein passendes Programm für die Sieben- bis Zehnjährigen überlegt. Zum Glück kommen unsere Spiele, Stationen und Morgenrunden gut an, und wir genießen die Tage mit den Kindern.
Mein abschließendes Highlight dieser Reise ist der Kruger Nationalpark. Wir zelten mit Affen und bunten Vögeln und werden nachts von Löwengebrüll geweckt. Ein Traum geht für mich in Erfüllung, als wir in einem Safaribus sitzen und nach wilden Tieren Ausschau halten: Ein riesiger Elefant überquert vor uns die Schotterpiste, Zebras stehen zwischen den Bäumen, und Schwarzfersenantilopen springen durch die Savanne. Durch mein Fernglas entdecke ich eine Gruppe Löwen, die im Schatten eines Baumes döst. Der Kopf einer Giraffe taucht plötzlich zwischen den Baumkronen am Straßenrand auf. Wie in Zeitlupe rennt sie über das goldgelbe Gras. Am Flussufer tummeln sich die Flusspferde.
Augenblicke, die ich tief in mein Herz geschlossen habe. Und die ich heute noch abrufen kann, als Beginn meiner Liebe für das wilde Leben auf unserem Planeten.


2. Über Grenzen gehen – auf die Philippinen
Bonn. Ich habe gerade mein Abitur abgeschlossen, da stecke ich schon in den Vorbereitungen für mein erstes eigenes internationales Abenteuer: zwölf Monate Freiwilligendienst auf den Philippinen. Nach der Schule erst einmal etwas ganz anderes machen, bevor es mit dem Studium weitergeht – das schwebte mir seit Langem vor. Ich recherchiere stundenlang nach Organisationen und Projekten im In- und Ausland, die etwas mit meinen Interessen zu tun haben: eine Seehundschutzstation an der Nordsee, oder ab zur Schutzstation Wattenmeer?
Letztendlich stoße ich auf einer Berufsmesse in Köln zufällig auf den entwicklungspolitischen Freiwilligendienst des Bundesministeriums, weltwärts. Da ich für ein Auslandsjahr auf finanzielle Unterstützung angewiesen bin, bewerbe ich mich bei den zuständigen Organisationen, durchlaufe Bewerbungsrunden und bekomme tatsächlich einen Platz bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) – für mich geht ein Traum in Erfüllung.
Die Einrichtung für Entwicklungszusammenarbeit ist eine große Organisation, die überall auf der Welt tätig ist. Ich bin froh, dass die GIZ mich mit meinen achtzehn Jahren gut auf die bevorstehende Aufgabe vorbereitet: Es gibt Medical Check-ups und Informationsveranstaltungen, Visa und Flüge werden für mich gebucht, und ich nehme an einem fünftägigen Vorbereitungsseminar teil, das mich für die Arbeit im Ausland sensibilisiert und nachhaltig prägt.
Sätze wie „It’s not right, it’s not wrong, it’s just different!“ klingen mir heute noch bei Auslandsaufenthalten im Ohr, und ich versuche, Probleme ohne meine „kulturelle Brille“ zu beurteilen. Als ich damals mit den anderen Freiwilligen in den Flieger Richtung Südostasien stieg, hätte ich nie gedacht, dass mich diese zwölf Monate so anhaltend verändern würden. Neben tropischem Klima, fremden Lebensmitteln, Ilonggo (der Ortssprache) und Selbstständigkeit lernte ich vor allem eins kennen: ein Zuhausegefühl am anderen Ende der Welt.

Insel Negros. Die Philippinen sind ein schönes und vielfältiges Land. Nicht ohne Grund zählen ihre siebentausend Inseln zu den fünfunddreißig Biodiversitäts-Hotspots der Welt. Es existiert dort eine sehr hohe Anzahl einheimischer Arten. Gleichzeitig ist ihr Lebensraum aber einer starken Gefährdung ausgesetzt. Für mich ist es das erste Mal in den Tropen, und ich genieße es, in das Leben auf den Visayas einzutauchen. Diese Inselgruppe liegt im Zentrum der Philippinen und überrascht mich mit ihren traumhaften Sandstränden, dem Regenwald, den Wasserfällen und Vulkanen.
Für mein Freiwilligenjahr wohne und arbeite ich auf der Insel Negros in Bacolod City, von der die friedliche Natur nur eine kurze Fahrt mit dem Tricycle entfernt ist. Die alten Motordreiräder sind das Hauptverkehrsmittel auf den Philippinen. Sie bestehen aus einem Motorrad mit Beiwagen, auf dem sechs Leute plus Fahrer Platz haben. So dachte ich zumindest am Anfang, denn letztendlich sind wir meistens zu elft auf dem klapprigen Gefährt unterwegs. Das Leben findet auf den Straßen statt. Das kennt man aus vielen südlichen Ländern, aber auf den Inseln scheint diese Lebensweise besonders ausgeprägt. Die Wohnungen sind quasi zur Straße hin offen. Die Sari-Sari-Stores, kleine Lädchen am Straßenrand, in denen alles von Chips über Eier bis hin zur einzelnen Zigarette verkauft wird, sind halb Wohnzimmer, halb Kiosk. Eine Familie sitzt selten in ihrem Haus (ein Raum ist meist Schlaf-, Wohn- und Esszimmer zugleich), sondern unterhält sich angeregt mit ihren Nachbarn auf der Straße. Fußnägel werden lackiert, oder es wird mit den Bekannten von gegenüber über das nicht anspringende Motorrad gefachsimpelt. Kinder jeden Alters sind überall mit dabei.
In genau solch einer Nachbarschaft wohne ich zusammen mit zwei weiteren Freiwilligen aus Deutschland. Wir wurden von den Filipinos herzlich empfangen und rasch gut integriert. Teilweise etwas zu gut: Erst nachdem ich mich einige Monate über die extrem hohen Stromrechnungen wundere, komme ich mit meinen Mitbewohnern auf die Idee, unseren Stromkasten zu inspizieren. Mit der Zeit haben sich immer mehr Nachbarn unseren Strom abgeklemmt – reicht wohl, wenn einer zahlt? An den Kabelsalat entlang der Straßen hat sich eh jeder gewöhnt, der gehört zum Stadtbild. Und als mir zum dritten Mal die Schuhe von der Veranda geklaut werden, beschließe ich, sie nur noch im Haus zu lagern. Alles letztlich nur Kleinigkeiten.
Ein Stück die Straße hoch befindet sich eine winzige Eatery mit Plastikstühlen, eine Art Imbiss, in dem sich die Berufstätigen zur Mittagszeit angeregt unterhalten. In einer Glasvitrine stehen fünf Gerichte, die von den Frauen am Morgen gekocht wurden. Jeder bedient sich selbst aus den dampfenden Töpfen: etwas Gemüse, Hühnchen, dazu natürlich Reis.
Wenn ich aus dem Haus gehe, werde ich von den Filipinos mit einladendem Lachen und einem begeisterten „Good Morning, Mam! How are you, Mam?“ begrüßt. Jeden Morgen nehme ich den Jeepney zur Arbeit, ein altes, klappriges, bunt geschmücktes Militärfahrzeug ohne Fensterscheiben, umfunktioniert zum Linienbus. Das Ticketgeld, sieben Philippinische Peso, gebe ich einfach nach vorne zum Fahrer weiter und rufe gedehnt „Bayaaad!“, um kundzutun, dass ich zahlen möchte. Und wenn ich aussteigen will, klopfe ich gegen das Blechdach und rufe „Lugar lang! Anhalten!“. Bushaltestellen gibt es nämlich nicht. Auf den Straßen herrscht reges Treiben. Verkehrsregeln werden nur äußerst ungern befolgt. Wer laut genug hupt, gewinnt, und wer die nächste Lücke findet, darf fahren. Es ist ein Chaos, doch ein gewisser Verkehrsfluss herrscht trotzdem. Das Beeindruckende dabei: Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer wirken tatsächlich sehr entspannt.
Ich bin gerade neunzehn geworden und arbeite für meinen Freiwilligendienst an der West Negros University in Bacolod City an einem Umweltbildungsprojekt. Dort unterstütze ich eine Stiftung, die sich zum Ziel setzt, endemische Arten, also Tiere, die nur auf den Philippinen vorkommen, zu erhalten und die Wälder vor Ort zu schützen – die Negros Forests and Ecological Foundation. Denn auf den Philippinen stellen der Raubbau an Ressourcen durch zum Beispiel Dynamitfischerei und Bergbau sowie die Abholzung der Wälder aufgrund von Palmöl- und Zuckerrohrplantagen große Probleme dar. Die Monokulturen verdrängen die Diversität der Regenwälder, und den Tieren wird der Lebensraum genommen. Außerdem ist und bleibt Korruption weitverbreitet. Die Oberschicht besteht aus einigen reichen und alteingesessenen Familien, die viel Macht ausüben. In den Firmen der fünfzehn reichsten Familien des Landes wird über die Hälfte des Bruttosozialprodukts erwirtschaftet. Nicht nur materieller Reichtum, sondern auch politische Positionen werden von Generation zu Generation weitergereicht.
Ein wichtiger Schritt in Richtung Umweltschutz und Nachhaltigkeit auf den Inseln ist, neben der Armutsbekämpfung, die Umweltbildung: Welche Tier- und Pflanzenarten leben im eigenen Land, und warum hängt das eigene Wohlergehen davon ab, sie zu schützen? Der kleine Zoo der Foundation kann dazu beitragen, indem er über den Reichtum des eigenen Landes an Natur und endemischer Artenvielfalt aufklärt und für einen umweltbewussten Lebensstandard sensibilisiert. Trotzdem wird mir in diesem Jahr deutlich, wie schwer es ist, in einem Land für den Umweltschutz zu arbeiten, in dem die Menschen in vielen Regionen selbst noch um das Überleben kämpfen und auf Jobs auf den Plantagen angewiesen sind, um ihre Familien zu ernähren.
Armut ist in meinem Leben auf den Philippinen jeden Tag präsent ist. Trotzdem habe ich selten so ein herzliches, freundliches und gut gelauntes Volk wie die Filipinos kennengelernt. Es ist beeindruckend, woher die Menschen ihre Lebensfreude und Kraft schöpfen. Hier zählen andere Werte zum persönlichen Glück als in Europa: Familie und Zusammenhalt stehen an oberster Stelle, und auch der Glaube ist den Filipinos sehr wichtig.
Was ich in diesem Jahr besonders lieben lerne, ist die Entdeckung der Langsamkeit. Hier existiert ein anderes Tempo: Das beginnt im Straßenverkehr, in dem man nie schneller als dreißig Stundenkilometer fahren kann. Oder die fast schon heiligen Mittags- und Kaffeepausen. Als Deutsche fällt es mir anfangs schwer, mich alldem anzupassen, schließlich bekommt man so doch kaum Arbeit geschafft? Aber nach einiger Zeit kann ich mich dieser Entschleunigung hingeben und vermisse sie seither im gehetzten Deutschland immer wieder.

Tan-Awan. Neben den Umweltprojekten führe ich an der West Negros University im Rahmen meines Freiwilligendienstes auch ein Forschungsprojekt mit einem mehrköpfigen Team aus Professorinnen, Professoren und Studierenden durch. Dafür untersuchen und dokumentieren wir die Kultur und Traditionen einer indigenen Gemeinschaft. Das Dorf Tan-Awan liegt verborgen in den Bergen am Ilog-Hilabangan, dem längsten Fluss der Insel Negros, und ist etwa acht Stunden von Bacolod City entfernt. Die siebentausenddreihundert Einheimischen in Tan-Awan leben noch relativ abgeschottet vom modernen westlichen Einfluss. Obwohl die Indigenen zum größeren Volk der Bukidnon gehören, sind einige ihrer kulturellen Bräuche einzigartig. Viele Indigene leben noch heute weit entfernt im Hinterland und betreiben dort Ackerbau. Das durchschnittliche Familieneinkommen in der Region liegt bei zweitausend Philippinischen Peso pro Monat, das sind circa 37,50 Euro. Ziel unserer Forschung ist es, kulturelle Praktiken wie Sprache, Kunst, Medizin und Essenszubereitung des Dorfes Tan-Awan kennenzulernen. Denn auch in diesen ländlichen Gebieten werden westliche Werbung, moderne Kommunikation und Technologie immer präsenter, und das Bewusstsein der Bevölkerung über ihre eigene Kultur nimmt ab. Es ziehen jedes Jahr mehr Bewohner in die umliegenden Städte und lassen ihre Heimat mitsamt den Traditionen und dem Wissen zurück.
Im Rahmen des Projektes lebe ich mit dem Forschungsteam für mehrere Wochen mit der indigenen Gemeinschaft zusammen. Wir nehmen Anteil an den täglichen Routinen der Dorfbewohnerinnen, führen mithilfe von Übersetzern Interviews mit den Stammesältesten und Medizinmännern und verfolgen den wöchentlichen Tauschhandel am Fluss, den sogenannten Barter Trade. Dieser Handel findet in Tan-Awan traditionell jeden Freitag an den Ufern des Ilog-Hilabangan statt. Er ist die Wasserquelle für viele Tausend Menschen in der Provinz und ein wichtiger Transportweg. Das Flussufer wird zum Ort des Handels von landwirtschaftlichen Produkten und ist für viele der einzige Weg, an Lebensmittel und Güter zu kommen.

Eines frühen Morgens im Dorf lehne ich über einer kleinen Wanne und wasche mich. Nachdem ich mir das eiskalte Wasser mit einer Schöpfkelle über den Kopf geschüttet habe, bin ich hellwach. Gleich brechen wir zum Flussufer auf. Es ist erst kurz nach vier, und ich habe auf dem harten Steinboden nicht besonders viel schlafen können – an das rustikale Leben muss ich mich noch gewöhnen. Ich teile mir das kleine Zimmer mit Lilibeth, einer philippinischen Professorin. Im Gegensatz zu mir scheint sie, ihrem Schnarchen nach zu urteilen, sehr gut genächtigt zu haben.
Nach einem fünfzehnminütigen Fußmarsch erreichen Lilibeth und ich das Flussufer. In völliger Dunkelheit werden schon die ersten Stände aufgebaut. Schweigend stehe ich am Rand und folge dem Geschehen. Langsam fällt Sonnenlicht auf die Bergspitzen, und die ersten Frauen, Männer und Kinder überqueren den Fluss. Manche kommen zu Fuß, ihre Ware auf dem Kopf balancierend, manche reiten auf Ponys, voll bepackt mit Säcken und Körben, andere doch tatsächlich auf ihrem Carabao (Wasserbüffel). Sie alle haben einen langen Weg aus den Bergen hinter sich. Sogar viele Kinder bringen auf ihrem Weg zur Schule Waren am Ufer vorbei. Staunend beobachte ich das mir so fremde Bild. Ich schieße Fotos und lausche den Fragen, die Lilibeth den Händlern stellt.
„Die meisten Kinder fangen im Alter von zehn Jahren an zu arbeiten, um die Familie zu unterstützen“, erklärt ein junger Mann mit Kappe und rotem Shirt, der gerade Reissäcke von seinem Tricycle lädt. „Während der Aussaat und Erntesaison bekommen die Kinder regelmäßig Schwierigkeiten mit der Schule im Dorf. Die Arbeit auf den Feldern ist intensiv und zeitaufwendig, daher ist es für sie eine Herausforderung, sich auf schulische Aktivitäten zu konzentrieren.“ Er tätschelt seiner kleinen Tochter liebevoll den Kopf.
Ich entdecke zwei junge Mädchen, die Arm in Arm das Ufer entlanglaufen. Vielleicht sind es Schwestern, denke ich mir, in ihren weißen und rosa Kleidern sehen sie hübsch zurechtgemacht aus. Im Kontrast dazu laufen sie in Flip-Flops über das schlammige Ufer. Was mir nie wieder aus dem Kopf geht, ist ihr eindringlicher Blick. Ich habe das Gefühl, nicht in Kindergesichter zu schauen, sondern in Gesichter, die schon sehr viel erlebt und gesehen haben. Vielleicht zu viel für ihr Alter: in Gesichter, die früh erwachsen werden, Verantwortung für ihre Familie mitübernehmen und harte körperliche Arbeit leisten mussten. An diesem Morgen wird mir wieder bewusst, wie privilegiert und behütet ich doch aufgewachsen bin.
Lilibeth und ich sprechen mit einem Mann, der auf seinem Wasserbüffel über den Fluss geritten kommt. Der muskulöse Büffel mit seinen gewaltigen Hörnern zieht einen selbst gebauten Karren aus einfachen Holzstämmen hinter sich her. Der junge Mann hat sich ein schwarzes Tuch um den Kopf gewickelt, auf seiner linken Schulter prangt ein blasses Tattoo, und um seine Hüfte trägt er ein dünnes Seil, an dem seine Machete befestigt ist. Er erklärt uns: „Da das Vieh einen wesentlichen Teil des täglichen Überlebens unserer Familien ausmacht, kümmern wir Landwirte uns intensiv um unsere Tiere. Mein Wasserbüffel ist mein wertvollster Besitz. Er bekommt mehr zu essen als ich, und wenn es ihm nicht gut geht, behandele ich ihn mit Medikamenten und Vitaminen.“
Bald erscheint das erste Balsa hinter der Flussbiegung. Es handelt sich um ein selbst gebautes Bambusfloß, das mit natürlichen Materialien zusammengehalten wird. Diese traditionelle Art des Warentransports gilt als wichtiger kultureller Teil der Identität von Tan-Awan. Es ist kaum zu glauben, dass die Menschen jeden Freitag auf den wackeligen Flößen die gefährlichen Stromschnellen des Flusses aus den Bergen hinunter bis zum Dorf Tan-Awan kommen, um dort ihre Produkte mit den Käufern aus der Umgebung zu tauschen. Immer mehr Balsas legen am Flussufer an. Neben den hiesigen Nutzpflanzen wie Süßkartoffeln, Reis, Obst und Gemüse erkenne ich auch vereinzelt Hühner, Schweine und Ziegen auf den schwankenden Gefährten.
Die Sonne ist mittlerweile ganz aufgegangen und taucht das Geschehen in goldenes Licht. Die Pferde mit den Holzsatteln grasen am Flussufer, ein Hahn plustert sich zwischen den Bananenstauden auf, und Kinder flitzen zwischen den Karren umher.
Ein Feld etwas abseits des Ufers wurde zum Marktplatz umfunktioniert, und es herrscht bereits reges Treiben, als wir ihn betreten. An einzelnen Ständen wird Native Coffee angeboten – und Sticky Rice, ein köstlich-klebriger, mit Zuckerrohr gesüßter Reis, der in Bananenblättern verpackt ist. Ein sehr alter Mann, anscheinend der Medizinmann des Dorfes, wird von Lilibeth zum Barter Trading befragt.
„Seit ich alt genug war, um die Dinge zu verstehen, war der Tauschhandel in Tan-Awan bereits eine Tradition, die zu einem wichtigen Bestandteil unseres Lebens geworden ist. Es treffen sich Markthändler, Käufer und Bauern, um Produkte zu tauschen. Dazu gesellen sich Händler aus dem Tiefland mit ihren urbanen Gütern. Diese wirtschaftliche Aktivität macht den Markttag lebendig und spannend. Und: Die Kakofonie des Feilschens begeistert die Bewohner heute noch.“
Er hat recht. Ich tauche in einen lauten Wirrwarr aus Stimmen und Marktgeschrei ein. Die Händler überbieten sich gegenseitig, und das Angebot ist riesig: Neben dem lokalen Obst und Gemüse entdecke ich getrockneten Fisch, Kleidung, Schrauben, Seife, selbst geschnitzte Holzinstrumente und Medikamente. Früher wurden die Güter nur getauscht, doch heute ist der Einsatz von Geld auch hier üblicher.
Ein fröhlicher Mann mit blau-weiß karierter Baseballcap hält mir begeistert seinen Einkauf vor die Kamera und erzählt: „Unsere Vorfahren übten den Barter Trade aus und tauschten Ware gegen Ware. Doch aufgrund der zunehmenden Alphabetisierung und Bildung unserer Stammesmitglieder und des zunehmenden Einflusses der nahe gelegenen Städte ist Geld mittlerweile das wichtigste Tauschmittel geworden. In der Vergangenheit wurden die Waren nicht nach ihrem Preis verkauft, sondern jeder tauschte lediglich gegen eben die Waren, die er gerade benötigte.“
Am Rande des Marktes sind kleine Eaterys aufgebaut, an denen die Dorfbewohnerinnen Essen anbieten: Reis, Chicken Adobo (ein traditioneller Hühnereintopf), scharfes Gemüse und Kokoswein. Dazu wird lauthals Karaoke gesungen, was bis zum Fluss hinunterschallt. Vor Mittag kehren die Balsa-Händler zu Fuß oder auf ihren Lastzügen in die Berge zurück, beladen mit den Produkten, die sie gekauft oder eingetauscht haben. Die Balsa-Aktivitäten bestehen seit Jahrhunderten, und die Menschen aus den Bergen brachten nicht nur ihre Waren, sondern auch ihre Kultur und Traditionen mit. Umgekehrt trugen sie bei ihrer Rückkehr die Kultur des Tieflandes mit sich in ihre Heimatdörfer. Dieser dynamische Kulturzyklus dauert bis heute an.
Zur Feier des Barter Trade findet einmal im Jahr das Balsahanay Festival statt. Zu diesem Anlass kommen alle Bewohner der umliegenden Dörfer und aus den Bergen nach Tan-Awan. Die Festlichkeiten gehen über drei Tage. Es beginnt freitags mit dem wöchentlichen Markt, viele Reden werden gehalten, und abends gibt es einen Schönheitswettbewerb für die jungen Mädchen, bei dem die „Miss Tan-Awan“ gewählt wird. Am Samstag finden Spiele und Wettkämpfe für alle Altersklassen statt. Ich nehme zum Beispiel an einem Kochwettbewerb mit den Frauen des Dorfes teil. Dafür sollen lokale Gerichte gekocht und in Szene gesetzt werden, die von einer Jury der Uni bewertet werden. Es macht großen Spaß, zusammen mit den Bewohnerinnen über dem Feuer zu kochen, Besol (Jamswurzel) auszuhöhlen oder die Cassava (Maniok) zu raspeln. Die Frauen geben sich viel Mühe und zaubern sagenhafte Kuchen, Reisgerichte, Suppen und Salate, die sie der Jury in Bananenblättern, Kokosnüssen und selbst gefertigten Behältern vorsetzen. Ich darf die Rezepte dokumentieren und werde in sämtliche Zutaten und Gerichte eingeweiht.
Am Sonntag gibt es zum krönenden Abschluss eine feierliche Zeremonie am Flussufer mit Musik und Tänzen. Viele Familien kommen auf ihren festlich geschmückten Balsas den Fluss entlang. Anschließend zieht eine Prozession zu der Kirche des Dorfes, und es wird gemeinsam ein Gottesdienst gefeiert. Am Nachmittag findet eine Parade durch die Straßen statt, die bis auf den großen öffentlichen Platz führt. Dort ist eine Musikanlage aufgebaut, zu deren Klängen die Schulkinder von Tan-Awan ihre Tänze präsentieren. Mit farbenprächtigen, selbst gestalteten traditionellen Kostümen stellen die Kinder den Tauschhandel am Flussufer dar. Im Tanz säen sie, ernten, beladen ihre Flöße und tauschen mit Händlern. Am Abend werden „Prince and Princess of Balsahanay Festival“ gekrönt – ein spektakuläres Fest und einmaliges Erlebnis.

Banaue. Mein treuster Begleiter in diesem Auslandsjahr ist der Reis (Oryza sativa Linnaeus). Die Reispflanze ist das wichtigste Getreide und Lebensmittel Asiens, sie sättigt, ist ertragreich und gut an die klimatischen Bedingungen angepasst. Ich esse hier dreimal täglich Reis, was mir erstaunlicherweise überhaupt nichts ausmacht. Ich werde nie vergessen, wie meine philippinische Freundin Ritzy bei einem Abendbrot in Deutschland ungläubig den Tisch beäugte und mich verwundert fragte: „Und wo ist der Reis?“
Sogar zu Spaghetti oder Kartoffeln wird hier selbstverständlich Reis serviert. Der philippinische Ausdruck für „Essen“ ist gleichzeitig Synonym für „Reis essen“ (Kanin). Das führt dazu, dass ausschließlich mit Löffel und Gabel gegessen wird. Oder auch gern einfach mit den Händen. Ein Messer gehört zu den Utensilien, die kaum jemand braucht und die in diesem südostasiatischen Land schwer zu kriegen sind.
Im Norden der Philippinen besuche ich die Hochebenen von Luzon mit ihren immens großen und beeindruckenden Reisterrassen. Von den Stämmen der Ifugao, den Indigenen dieser Bergregionen, jahrhundertelang in Handarbeit erbaut und mit eigenem Bewässerungssystem ausgestattet, erstrecken sich die Felder über Täler und Berge. Stolz nennen die Einheimischen sie die „Stufen zum Himmel“.
Die Reisproduktion ist ein aufwendiger Prozess, der mehrere Monate präziser, sorgfältiger Arbeit erfordert. Als ich die Einheimischen beeindruckt frage, ob die Reisbauern hier an ihren Feldern gut verdienen, schütteln sie energisch die Köpfe. Es könne nur zweimal im Jahr gesät werden. Und die Ernte reiche kaum für den Eigenbedarf aus. Auf die Frage, ob ich denn hier im Dorf den heimischen Reis essen könne, folgt ein erneutes Kopfschütteln: „In unseren Restaurants oder auf den Märkten gibt es nur noch den kommerziellen Reis zu kaufen. Alles andere wäre viel zu teuer.“
Schon komisch, da bin ich umgeben von Reisfeldern, ernähre mich fast ausschließlich von dem Getreide und komme trotzdem nicht in den Genuss, den regionalen Reis zu probieren. Das extreme Wachstum der Weltbevölkerung im 20. Jahrhundert führte auch auf den Philippinen zu einer nahezu ausschließlich kommerziellen Reisproduktion mithilfe von moderner Wissenschaft und Technik. Konsequenzen sind die sinkende Bedeutung kultureller Werte sowie ein sinkender Glaube an Reis, Ackerbau und Landwirtschaft. Ein Phänomen, das sich bis in diese abgeschiedenen ländlichen Bergregionen auswirkt.
Ich finde es interessant, Reis und die Reis-Landwirtschaft in Kontext mit Biodiversität und dem Klimawandel zu setzen: Nur noch zwei von ursprünglich über zwanzig verschiedenen Oryza-Arten werden heute kommerziell angebaut. Der Verlust der genetischen Vielfalt innerhalb der Reissorten ist ein großes Problem. Diese Vielfalt könnte nämlich zu einer Anpassung an die sich doch extrem verändernde Umwelt beitragen. Ohne diese Vielfalt führen plötzliche Wechsel von Trocken- und Regenzeit, extreme Wetterbedingungen sowie Pflanzenschädlinge oder Pilze zu verringerten Erträgen. Dieses Phänomen findet leider weltweit statt: Seit Beginn der Landwirtschaft wurden circa siebentausend Pflanzenarten von Menschen angebaut. Heute nutzen wir gerade einmal dreißig dieser Arten, um die Weltbevölkerung zu ernähren. Knapp 60 Prozent der Energie, die wir aufnehmen, stammen sogar von nur drei unterschiedlichen Pflanzenarten – Reis, Weizen und Mais.
Im Ökolandbau wird darauf geachtet, landwirtschaftlich nutzbare, aber bedrohte Sorten und Rassen zu erhalten und gefährdete Pflanzenarten wieder anzubauen. Durch den Kauf und die Verarbeitung von ökologischen und regionalen Nahrungsmitteln lässt sich also auch gegen den Verlust der genetischen Vielfalt handeln. Darauf möchte ich in Zukunft beim Einkaufen von Brot-, Getreide- oder Apfelsorten achten.

Während meiner zwölf Monate auf den Philippinen komme ich häufig an meine Grenzen: Sei es, dass ich ausgeraubt werde, weil meine Hautfarbe Reichtum suggeriert. Dass ich wegen einer Motorpanne stundenlang auf einsamen Straßen auf den Ersatzbus warten muss. Sei es ein frustrierendes Arbeitsprojekt, bei dem es aufgrund fehlender Materialien oder Motivation wieder nicht weitergeht. Oder dass ich in Tan-Awan mit einer Magenverstimmung und ohne Badezimmer viele Tage lang krank auf dem Boden liege, nachdem ich von einer Blutsuppe kostete, die extra für uns zubereitet wurde. Letztendlich heilt mich der Medizinmann des Dorfes. All diese Erfahrungen, gepaart mit einer Sehnsucht nach Heimat und Gewohnheit, machen mir das Leben in der Fremde manchmal furchtbar schwer. Umso wichtiger ist es, mir Auszeiten zu nehmen, das merke ich zum ersten Mal auf der Insel Palawan. Wie die Natur dort mich immer wieder durchatmen und Kraft schöpfen lässt: Sie wird mein Lieblingsort auf den Philippinen.

Insel Palawan. Das türkise, glasklare Wasser. Die zahlreichen kleinen, einsamen und naturbelassenen Buchten. Traumhafte weiße Sandstrände mit Kokosnusspalmen. Mangrovenwälder. Farbenprächtige Korallenriffe. Und Kalksteinklippen, die aus dem Meer herausragen. Während ich im Jeepney über die Insel Richtung Norden fahre, gleiten die verschiedensten Landschaften an mir vorbei: Ein kleines ländliches Dorf mit Häusern, die aus Nipapalmblättern gebaut sind, die Hühner scharren im sandigen Boden, eine große Sau suhlt sich im Schlamm, und mit einem Wasserbüffel wird das Feld hinter dem Haus gepflügt. Dann tiefgrüner Dschungel, aus dem eine beeindruckende Geräuschkulisse tönt. Die Bäume ragen hoch in den Himmel, und ich erkenne Vögel, die zwischen den Ästen sitzen. Angrenzend vereinzelt Zuckerrohrplantagen. Kokosnüsse, Bananen, Ananas, Papayas, Mangos – alles scheint hier in Fülle zu wachsen. In der Ferne ist ein großer Vulkan erkennbar, die Spitze verschwindet in dunstigen Wolken. Und das türkise Meer, das von überall auf der schmalen Insel schnell erreichbar ist. Obwohl „schnell“ relativ ist – bei den schlecht ausgebauten, holprigen, häufig einspurigen Straßen mit unzähligen Schlaglöchern ist das Fahren nicht mit dem Zurücklegen einer Strecke in Europa zu vergleichen.
Meinen größten Wildlife-Moment erlebe ich unter Wasser: Das Schnorcheln fühlt sich ein wenig so an, als wäre ich im Wartezimmer meines Zahnarztes und würde meinen Kopf in das bunt schillernde Aquarium stecken. Nur eben viel größer und aufregender. Ich entdecke große bunte Fische, knallblaue Seesterne und schillernde Korallenriffe. Alles ist in Bewegung. Interessante zigarrenförmige Fische verschwinden schnell in den Löchern und Fugen der Felsen, sobald ich mich nähere. Die großen Fische fressen seelenruhig weiter am Riff, ihre Gesichtszeichnung erinnert mich an die eines Pandas. Plötzlich finde ich mich inmitten eines großen Schwarms aus winzig kleinen Fischen wieder. Seegras und Algen schwingen im Einklang. Manchmal wird das Meer so flach, dass ich Sorge habe, die Pflanzen und Korallen zu berühren. Dann bleibe ich ganz still, lasse mich von der Wasseroberfläche tragen und beobachte das bunte Getümmel unter mir.

Nach stundenlangem Schnorcheln – die Taucherbrille drückt, und der Salzgeschmack wird immer penetranter – taucht plötzlich eine über einen Meter große Schildkröte neben mir auf. Seelenruhig schwimmt sie unter mir durch, bewegt sich gelassen, gleichmäßig und langsam fort. Ich bin völlig aus dem Häuschen und folge dem schillernden Riesen durch die Fluten. Es handelt sich um eine Grüne Meeresschildkröte (Chelonia mydas), die weltweit unter Schutz steht. Sie scheint sich überhaupt nicht an mir zu stören und beginnt in aller Ruhe, auf dem flachen Grund zu grasen. So erinnert mich die schöne Schildkröte ein wenig an eine grasende Kuh im Sauerland, bemerke ich grinsend. Zwei große Putzerfische saugen unablässig an ihrem Panzer und säubern ihn von überschüssigen Hautschuppen, Pilzen und Parasiten. Auf diese Weise verschaffen sie sich gleichzeitig Nahrung – ein perfektes Zusammenspiel. Zwischendurch taucht die Meeresschildkröte wieder neben mir auf, streckt den Kopf aus dem Wasser und holt tief Luft. Ich könnte ihr stundenlang zuschauen.
Genau solche Momente haben mein Auslandsjahr auf den Philippinen so einzigartig gemacht. Es war nicht immer leicht, noch sehr jung und für lange Zeit in einer völlig fremden Welt zu leben. Doch auch die schwierigen Zeiten haben mich im Nachhinein nur stärker gemacht und auf das vorbereitet, was mein Leben noch mit sich bringen würde.

Blick ins Buch
Dem Dschungel entkommen

Überlebenskampf im Urwald Boliviens

Mit einem Vorwort von Daniel Radcliffe

Buch zum Film: „Jungle“ - Yossi Ghinsburgs packender Überlebenskampf mit Daniel Radcliff in der Hauptrolle
Auf seiner Reise durch Bolivien trifft der Anfang zwanzigjährige Yossi Ghinsberg auf Marcus und Kevin, die wie er als Backpacker unterwegs sind. Alle drei suchen das wahre Abenteuer und entschließen sich zu einer Expedition in den Dschungel am bolivianischen Oberlauf des Amazonas. In Karl, der seit längerer Zeit im Land lebt, finden sie anscheinend den idealen Guide. Doch dessen Künste als Dschungelführer erweisen sich bald als gefährlich lückenhaft. Kevin und Yossi beschließen, alleine auf dem Rio Tuichi in die Zivilisation zurückzukehren. Durch einen furchtbaren Unfall werden auch sie getrennt. Ohne Messer und Feuerzeug, mit spärlichem, halb verfaultem Proviant beginnt Yossis verzweifelte dreiwöchige Odyssee durch die grüne Hölle.

„Wenn mich etwas an Yossi beeindruckt hat, dann seine Überzeugung, dass dieser Überlebenswille und die Kraft, die er im Regenwald abrufen konnte, in jedem von uns stecken.“ Daniel Radcliffe

1. Kapitel
Im selben Boot


Wäre ich nicht zufällig in Puno über Marcus gestolpert, hätte ich vielleicht niemals Kevin kennengelernt und wäre auch Karl nie über den Weg gelaufen. Wenn ich Karl an jenem Morgen in La Paz nicht begegnet wäre, hätte Kevin vielleicht Weihnachten mit seiner Familie verbringen können, und der arme alte Marcus würde immer noch mit seiner Freundin Südamerika bereisen. Aber so sind die Dinge nun einmal nicht gelaufen.
Als ich in der peruanischen Stadt Puno ankam, schmerzte mein Knie ziemlich stark. Jeder Schritt tat schrecklich weh. Ein französischer Rucksacktourist, ein Muchilero, wie sie hier genannt werden, bot mir Kokablätter zum Kauen an.
„Nimm ein paar“, sagte er. „Dann fühlst du dich besser.“ Ich steckte ein paar Blätter in den Mund und zerkaute sie auf dem eigenartigen kleinen Stein, einem weiteren Geschenk des Franzosen. Der Stein fermentiert die Blätter im Mund. Ohne den Stein gibt es keine Fermentation, keinen Effekt, keinen Rausch. Alles was es bei mir bewirkte, war, dass meine Zunge und mein Gaumen taub wurden.
Am nächsten Morgen stand ich früh auf und fühlte mich tatsächlich besser. Das Boot zur Insel Taquile sollte um acht Uhr ablegen. Ich hätte zwar direkt nach Cuzco fahren können, von wo aus alle Muchileros ihre Ausflüge zur legendären Stadt Machu Picchu, der einstigen Inkastadt, begannen, aber ich zog es vor, einen kleinen Umweg zu machen und die sagenumwobene Insel zu besuchen.
Taquile erhebt sich aus dem Titicacasee, dem höchstgelegenen schiffbaren See der Welt. Die Ufer des Sees waren zwar schmutzig, doch wenn man seinen Blick auf den Horizont richtete, schaute man über das glänzende Wasser. Bergige Inseln ragten aus dem Dunst, der über dem See lag. Es war ein wundervoller Anblick.
Ich hatte keine Schwierigkeiten, die Fähre zu finden. Das heißt, eigentlich fand sie mich.
„Taquile oder Los Uros?“, fragte mich ein kleiner Junge.
„Taquile“, antwortete ich.
Er führte mich zu einem Boot, auf dem bereits mehrere Leute warteten. Es waren einige junge Deutsche und eine Gruppe französischer Jugendlicher, die im selben Hotel wohnten wie ich. Ich suchte mir einen Platz dicht am Heck und schlug ein Buch auf.
Es wurde schnell Zeit, abzulegen. Der Bootsführer, ein Indianer, streckte einen langen Stab hinaus, den er sowohl als Steuerruder als auch als Ruder benutzte, und winkte dem Jungen zu, das Seil loszumachen, das den Bug des Schiffes sicherte, und uns vom Kai abzustoßen.
„Espera, espera“, rief ein vom Laufen atemloser Muchilero und kletterte in das Boot. „Fast hätte ich es verpasst“, sagte er auf Spanisch zu dem Indio. „Gracias.“
Er setzte sich neben mich, und als ich zur Seite rückte, um ihm Platz zu machen, lächelte er mich an. „Du bist Israeli“, meinte er auf Englisch.
Ich schaute auf das Buch, das ich gerade las. Es war Albert Camus’ Ein glücklicher Tod in einer englischen Übersetzung. Ich war erstaunt. „Wie hast du das erraten?“
„Ich wusste es sofort. Ihr Israelis seid in Scharen unterwegs.“
„Ich heiße Yossi“, sagte ich.
„Freut mich, dich kennenzulernen. Ich bin Marcus. Ich bin direkt vom Bahnhof hierhergekommen. Ein Glück, dass ich das Boot noch erwischt habe. Ich hätte sonst einen ganzen Tag auf das nächste warten müssen.“
Marcus redete weiter, als wären wir alte Freunde. „Die Zugfahrt war schrecklich. Ich habe Juliaca heute früh verlassen. Es ist unmöglich, im Zug etwas zu essen zu bekommen. Ich habe keinen einzigen Bissen zu mir genommen. Hoffentlich kommen wir schnell zu der Insel. Ich sterbe vor Hunger.“
Ich holte ein Brötchen, etwas Käse und eine Apfelsine aus meinem Rucksack und bot sie ihm an.
„Danke“, sagte Marcus. „Mir ist aufgefallen, dass Israelis alles teilen, was sie haben. Ich weiß das zu schätzen.“
Er bereitete sich aus dem Brötchen und dem Käse ein Sandwich zu und aß es heißhungrig. Die Orange war sein Nachtisch.
„Ich werde es wiedergutmachen, wenn wir die Insel erreicht haben.“
„Vergiss es“, sagte ich ihm. „Ich habe gehört, dass Taquile sehr teuer sein soll. Wenn du einverstanden bist, können wir heute Abend zusammenbleiben und unser Essen teilen.“
„Abgemacht.“
Marcus wandte sich an die Deutschen und unterhielt sich lebhaft mit ihnen in ihrer Sprache. Dann redete er mit den Franzosen, auf Französisch. Er hatte ein einnehmendes Wesen, und im Nu waren wir alle miteinander bekannt, sprachen miteinander und scherzten wie er.
„Bist du ein Deutscher?“, fragte ich.
„Schweizer“, gab er zurück.
Wir hatten die Insel fast erreicht, als das Boot eine Panne hatte. Der Motor starb einfach ab. Der Bootsführer hatte die Ursache des Problems schnell herausgefunden, und in kürzester Zeit bekam er den Motor wieder zum Laufen. Marcus bemerkte jedoch, dass der Mann sich während der Reparatur den Finger verletzt hatte, und holte ein Erste-Hilfe-Set aus seinem Rucksack. Er desinfizierte den Finger des Indios und bat mich, einen Streifen Pflaster abzuschneiden. Doch nein, meine Bemühungen waren nicht präzise genug. Er nahm die Rolle selbst und schnitt einen genaueren Streifen ab – einfach so – und legte dann den Verband weiter an. Der Bootsführer dankte es ihm mit einem breiten Lächeln.
Kurze Zeit später legten wir in Taquile an. Vom Kai stiegen wir einen steilen Weg zum Dorf hinauf, der in den harten Felsen hineingeschlagen war. Je höher wir kamen, desto mehr rang ich nach Luft. Ich machte zwei Schritte und blieb stehen. Ging weiter und blieb stehen.
„Immer mit der Ruhe“, meinte Marcus aufmunternd. „Wir haben keine Eile.“
„Und was ist mit dir?“, wollte ich wissen.
„Ach, die Schweizer Alpen“, erwiderte er lächelnd. „Ich habe dort meinen Dienst abgeleistet.“
In dem Dorf suchten wir uns ein Zimmer. Es hatte Lehmwände und eine hölzerne Plattform als Bett. Wir breiteten unsere Schlafsäcke aus und bereiteten uns eine Mahlzeit zu. Marcus machte auf einem kleinen Kerosinbrenner, den er bei sich trug, Kaffee; ich teilte die Brötchen und belegte sie sorgfältig mit Käse, Zwiebeln und Tomaten. Obwohl wir uns gerade erst kennengelernt hatten und trotz der Tatsache, dass ich eigene Pläne hatte, begann Marcus eine Reise zu planen, die wir zusammen machen könnten.
„Ich habe Machu Picchu noch nicht gesehen“, erklärte ich ihm. „Ich werde deshalb nach Cuzco zurückfahren.“
„Nein, nein, komm mit mir nach La Paz“, meinte er drängend.
„Machu Picchu“, wiederholte ich, „und dann will ich durch Brasilien reisen. Ich habe vor, von Puerto Maldonado aus hinüberzufahren, das ist nicht weit von Cuzco entfernt, über den Río Madre de Dios. Er fließt durch Peru und Bolivien und mündet in den Amazonas.“
Von da aus sah mein Plan vor, dem Amazonas zu seiner Mündung nahe Belém an der Atlantikküste zu folgen. Ich zeigte ihm die Route auf der Landkarte. „Es gibt dort viele interessante Dörfer auf dem Weg, und außerdem liebe ich den Dschungel. Warum kommst du nicht mit?“
„Danke für das Angebot. Der Plan klingt großartig, nach einem richtigen Abenteuer, aber ich bin am Ende meiner Reise. Ich werde noch ein bisschen in La Paz bleiben, vielleicht ein paar kleinere Abstecher machen und möglicherweise ein paar handgemachte Jacken kaufen, die ich mit zurück in die Schweiz nehmen kann. So etwas Anspruchsvolles will ich nicht mehr unternehmen.“
Taquile war für uns anders als andere peruanische Dörfer, und es war sehr leicht, einen taquilanischen Inselbewohner von einem peruanischen Indio zu unterscheiden. Die Insulaner wirkten vornehmer, sauberer, attraktiver und gesünder. Sie kleideten sich auch anders. Sie trugen alle denselben Hut, dieselbe bestickte Weste, eine Chaleco, und weite Hosen mit einem bestickten Gürtel. Die Stickereien von Taquile sind wegen ihrer Schönheit und ihrer guten Qualität in ganz Lateinamerika berühmt und werden ausschließlich von den Männern hergestellt. Die Frauen spinnen die Wolle und färben sie.
Die Insel ist eine Art Gemeinde, besteht aus ungefähr fünfzig Familien und wird von einem Gemeinderat verwaltet. Das Leben ist ruhig. Die Männer sitzen da, sticken und tratschen, während die Frauen die Felder bestellen. Der Boden ist felsig und schwer zu bebauen, und es wächst kaum etwas außer Kartoffeln. In dem Dorf selbst gibt es einen kleinen Lebensmittelladen und zwei, drei Restaurants. In einem davon trafen Marcus und ich die Gruppe französischer Jugendlicher von dem Boot.
Sie waren zu fünft. Drei Mädchen, Dede, Annick und Jacqueline, und zwei Jungen, Jacques und Michel. Wir tranken den örtlichen Mate, einen Kräutertee, von dem es in ganz Lateinamerika zahlreiche Variationen gibt, und plauderten. Sie zogen es vor, französisch zu sprechen, und ich verstand kein Wort, aber Dede lächelte mich an, und ich lächelte zurück. Sie war ein bisschen mollig, mit einem hübschen Gesicht und kurzem Haar, das ihr ein schelmisches Aussehen verlieh. Sie lächelte wieder, und ich bat sie, sich neben mich zu setzen, und begann, auf Englisch mit ihr zu reden.
Das Abendessen war köstlich. Es gab grobkörniges Brot, für jeden zwei Eier, gebratene Kartoffeln und Yucca. Zum Nachtisch gab es noch eine Tasse Mate. Die Einheimischen glauben, dass er die Wirkung der großen Höhe lindert. Dann gingen wir nach Hause. Ein Muchilero schläft zwar beinahe jede Nacht in einem anderen Bett, aber jeder Ort, an dem er haltmacht, ist sein Zuhause.
Marcus und ich gingen zurück in unser Zimmer. Er packte seine Churango aus und stimmte sie. Die Churango ist ein kleines Musikinstrument, das einer Mandoline ähnelt, aber es wird aus dem Panzer eines Gürteltiers und Holz gemacht. Marcus spielte hervorragend, und ich hörte verzaubert zu.
„Und jetzt hör dir dieses Stück an, Yossi“, meinte er. „Ich habe es für ein Mädchen geschrieben, das ich geliebt habe. Sie hieß Monica. Sie war neun Jahre lang mit mir zusammen, und nun hat sie mich verlassen.“
„Weit, weit weg von meinem Herzen …“, begann er traurig zu singen.
Ich hatte Marcus erst vor Kurzem kennengelernt, und schon teilte er die intimsten Geheimnisse mit mir. Monica war die Liebe seines Lebens gewesen. Als sie sich kennengelernt hatten, war sie vierzehn gewesen und er fünf Jahre älter. Seitdem waren fast zehn Jahre vergangen. Marcus war Lehrer geworden, und Monica hatte studiert. Sie fand, dass er einen zu engen Horizont hatte, und hatte ihn aufgefordert, ihn zu erweitern, zum Beispiel durch Reisen. Deshalb war er nach Südamerika gereist. Aber … aus den Augen, aus dem Sinn. Als Marcus weg war, hatte sie sich in einen anderen verliebt. Das Lied war so trübselig und wurde aus einem so gebrochenen Herzen vorgetragen, dass ich selbst ganz traurig wurde.

Wir verbrachten den nächsten Tag auf Taquile mit den Franzosen. Ich mit der lächelnden Dede, Marcus mit Annick. Dann nahmen wir alle das Boot zurück nach Puno.
Der Titicacasee war stürmisch, und wir mussten Schutz in den Uros suchen. Das sind schwimmende Inseln aus Tatora-Schilf. (Thor Heyerdahl hatte sein Schiff „Ra“ aus solchem Schilf gebaut.) Schließlich schafften wir es bis nach Puno. Wir waren zwar völlig durchnässt, aber bester Laune.
In Puno ging ich wieder in mein altes Hotel, und Marcus zog bei mir ein. Erneut kochte er Tee auf seinem Kerosinbrenner.
„Also, was meinst du, Yossi? Willst du morgen wirklich nach Cuzco reisen?“, fragte er.
„Ja“, antwortete ich. „Ich habe mir schon die Abfahrtszeiten für den Morgenzug geben lassen.“
„Ich verstehe dich nicht“, wandte er ein. „Warum kommst du nicht mit nach La Paz, nur für eine Woche? Du kannst dann doch immer noch nach Peru zurückfahren.“
„Ich würde gern mitkommen, wirklich“, sagte ich. „Aber ich kann meine Pläne nicht ändern. Ich will Machu Picchu nicht verpassen, und ich habe nicht genug Geld, um mir beides anzusehen.“
Marcus wollte nicht aufgeben. „Sieh mal, Yossi. Du hast dein Essen mit mir geteilt, ohne mich überhaupt zu kennen. Jetzt möchte ich dir einen Besuch in La Paz spendieren.“ Er steckte zwei Finger in den Saum seines Hosenbeins und förderte ein paar Geldscheine zutage. Er hielt mir dreißig Dollar hin. „Bitte, nimm das Geld, Yossi. Es bedeutet mir nichts. Es ist nur dann etwas wert, wenn du es benutzt, um mitzukommen.“
„Ich kann das nicht annehmen, Marcus“, antwortete ich verlegen. „Ich weiß das zu schätzen. Ehrlich. Aber du besitzt nichts weiter als deinen Rucksack auf dem Rücken, genau wie ich, und es gibt nicht den geringsten Grund, warum ich dein Geld nehmen sollte.“
Marcus begann ein Gedicht aufzusagen. Ich erinnere mich nicht an den Namen des Dichters, aber ich werde niemals den Inhalt noch die Art vergessen, wie er es rezitierte. Es handelte von einem Mann, der von keinem etwas annehmen wollte und deshalb nie lernte, wie man schenkte.
Am nächsten Morgen saßen wir alle im Bus nach La Paz. Marcus, ich und die fünf französischen Muchileros.

Als ich vom Himmel fielAls ich vom Himmel fiel

Wie mir der Dschungel mein Leben zurückgab

„Für mich war der Dschungel nie eine grüne Hölle, sondern ein Ort, der mich am Leben hielt.“ Die Geschichte der Juliane Koepcke, die als 17-Jährige nach einem Flugzeugabsturz elf Tage lang allein im Dschungel überlebte  

In „Als ich vom Himmel fiel“ schildert Juliane Koepcke ihren beeindruckenden Überlebenskampf im peruanischen Regenwald und erzählt, wieso sie der „Grünen Hölle“ ihr Leben verdankt.  

Was Juliane Koepcke passierte, als sie gerade einmal 17 Jahre alt war, grenzt an ein Wunder: Bei einem Flugzeugabsturz über dem peruanischen Regenwald fiel sie 3000 Meter in die Tiefe. Das dichte Blätterdach des Dschungels federte den Sturz ab. Sie war die einzige Überlebende des Crashs – das Flugzeug riss 91 Menschen in den Tod, unter ihnen auch Juliane Koepckes Mutter. 

Doch damit begann ein Überlebenskampf, der elf Tage dauern sollte – fernab jeglicher Zivilisation und ohne Versorgung, ganz allein mitten im tropischen Dschungel. Am Ende, sagt Koepcke, war es trotz allem der Regenwald, der ihr das Leben rettete. 

Viel ist über die beeindruckende junge Frau seit dem Flugzeugabsturz im Jahr 1971 bisher berichtet worden. In ihrem Buch erzählt Juliane Koepcke Jahrzehnte später selbst die unfassbare Geschichte ihres Unfalls, wie die Autorin den Absturz nennt, und ihres Kampfs zurück ins Leben. Denn erst nach ihrer Rückkehr konnte sie anfangen, den Verlust ihrer Mutter zu verarbeiten.  

Medienstar wider Willen: Jetzt erzählt Juliane Koepcke ihre Lebensgeschichte selbst  

In den ersten Jahren rissen sich die Medien um die junge Frau, die als einzige den furchtbaren Absturz überlebte und sich elf Tage lang allein in der Wildnis durchschlug. Gemeinsam mit Koepcke verfilmte der prämierte Regisseur Werner Herzog die Geschichte unter dem Titel „Julianes Sturz in den Dschungel“ (1998).  

Flammendes Plädoyer für die Bewahrung des Regenwaldes  

Man könnte meinen, nach ihrem Überlebenskampf hätte Juliane Koepcke dem unwirtlichen Dschungel für immer den Rücken gekehrt. Doch ganz im Gegenteil: Die Tochter zweier Biologen studierte selbst Biologie und wurde später stellvertretende Direktorin der Zoologischen Staatssammlung München und engagierte Umweltschützerin. „Als ich vom Himmel fiel“ ist eine berührende Liebeserklärung an die Lebenskraft der Urwälder. 

Mein neu geschenktes Leben


Viele Menschen wundern sich, wie ich es schaffe, noch immer in Flugzeuge zu steigen. Denn ich gehöre zu den wenigen, die einen Flugzeugabsturz aus großer Höhe überlebt haben. Eine Katastrophe, die sich 3000 Meter über dem peruanischen Regenwald ereignete. Doch damit nicht genug: Danach schlug ich mich elf Tage lang auf mich allein gestellt durch den Dschungel. Damals, als ich vom Himmel fiel, war ich gerade mal 17 Jahre alt.
Heute bin ich 56. Ein gutes Alter, um sich zu erinnern. Ein guter Zeitpunkt, um sich alten, nie verheilten Wunden zu stellen und die Erinnerungen, die nach all den Jahren genauso frisch und lebendig sind, mit anderen Menschen zu teilen. Der Absturz, den ich als Einzige überlebte, hat mein weiteres Leben geprägt, ihm eine neue Richtung gewiesen und mich dahin geführt, wo ich heute bin. Damals waren die Zeitungen in aller Welt voll mit meiner Geschichte. Darunter waren aber auch viele Halbwahrheiten und Berichte, die mit den tatsächlichen Begebenheiten wenig zu tun hatten. Sie sorgten dafür, dass mich auch heute noch ständig Menschen auf den Absturz ansprechen. Jeder scheint meine Geschichte zu kennen, und doch hat kaum jemand eine echte Vorstellung davon, was damals wirklich geschah.
Natürlich ist es nicht so einfach zu verstehen, dass ich nach elf Tagen Überlebenskampf in der „Grünen Hölle des Dschungels“ den Regenwald immer noch liebe. Die Wahrheit ist: Für mich war er niemals eine „Grüne Hölle“. Damals, als ich aus so großer Höhe auf die Erde stürzte, rettete mir der Wald das Leben. Ohne die abmildernde Wirkung der Blätter von Bäumen und Büschen hätte ich den Aufprall auf den Boden niemals überleben können. Während meiner Ohnmacht hat er mich vor der tropischen Sonne beschirmt. Und später half er mir, aus der unberührten Wildnis meinen Weg zurück in die Zivilisation zu finden.
Wäre ich ein reines Stadtkind gewesen, die Rückkehr ins Leben wäre mir nicht gelungen. Mein Glück war es, dass ich bereits einige Jahre meines jungen Lebens im Urwald verbracht hatte. Meine Eltern hatten 1968 ihren Traum in die Tat umgesetzt und mitten im peruanischen Regenwald eine biologische Forschungsstation gegründet. Damals war ich 14 Jahre alt und nicht sonderlich begeistert davon, meine Freundinnen in Lima zurückzulassen und mit Eltern, Sack und Pack und Hund und Wellensittich in die „Einöde“ zu ziehen. Jedenfalls stellte ich es mir damals so vor, obwohl mich meine Eltern schon von Kindesbeinen an auf ihre Expeditionen mitgenommen hatten.
Der Umzug in den Urwald war ein echtes Abenteuer. Dort angekommen, verliebte ich mich sofort in dieses Leben, so einfach und bescheiden es auch sein mochte. Fast zwei Jahre lang lebte ich in Panguana, wie meine Eltern die Forschungsstation nach einem einheimischen Vogel getauft hatten. Ich wurde von ihnen unterrichtet und ging ansonsten in die Schule des Urwalds. Dort lernte ich seine Regeln, seine Gesetze und Bewohner kennen. Ich machte mich mit der Pflanzenwelt vertraut, erschloss mir die Welt der Tiere. Nicht umsonst war ich die Tochter zweier bekannter Zoologen: Meine Mutter, Maria Koepcke, war die führende Ornithologin Perus. Und mein Vater, Hans-Wilhelm Koepcke, ist der Verfasser eines wichtigen Gesamtwerks über die Lebensformen der Tier- und Pflanzenwelt. In Panguana wurde der Urwald zu meinem Zuhause, und dort lernte ich, welche Gefahren in ihm drohen und welche nicht. Ich war vertraut mit den Verhaltensregeln, mit denen ein Mensch in dieser extremen Umgebung überleben kann. Bereits als kleines Kind wurden meine Sinne geschärft für die unglaublichen Wunder, die dieser Lebensraum in sich birgt, der im Hinblick auf die biologische Vielfalt, die Biodiversität, weltweit eine Spitzenposition einnimmt. Ja, schon damals lernte ich, den Urwald zu lieben.


Jene elf Tage fernab von Siedlungen mitten im Tropischen Regenwald, elf Tage, während deren ich keine menschliche Stimme hörte und nicht wusste, wo ich mich befand, jene ganz besonderen Tage haben meine Verbundenheit noch vertieft. Damals bildete sich ein Band zwischen mir und dem Urwald, das mein späteres Leben entscheidend beeinflusst hat und es auch heute noch tut. Früh lernte ich, dass man nur vor Dingen Angst hat, die man nicht kennt. Der Mensch hat die Tendenz, alles zu vernichten, wovor er sich fürchtet, selbst wenn er dessen Wert noch gar nicht ermessen kann. Während meines einsamen Wegs zurück in die Zivilisation habe ich mich oft gefürchtet, aber niemals vor dem Urwald. Er konnte nichts dafür, dass ich in ihm gelandet war. Die Natur ist immer gleich, ob wir da sind oder nicht, es kümmert sie nicht. Wir aber – auch das habe ich während jener elf Tage am eigenen Leib erfahren – können ohne sie nicht überleben.
Das alles ist für mich Grund genug, die Erhaltung dieses einzigartigen Ökosystems zu meiner zentralen Lebensaufgabe zu machen. Meine Eltern hinterließen mir mit Panguana ein Erbe, das ich aus ganzem Herzen angenommen habe. Und heute führe ich dort ihr Werk in eine entscheidende Phase: Panguana, größer denn je, soll zum Naturschutzgebiet erklärt werden. Damit erfüllt sich nicht nur der Lebenstraum meines Vaters, für den er jahrzehntelang gekämpft hat, sondern wir leisten so auch einen wertvollen Beitrag zur Erhaltung des Amazonas-Regenwalds, nicht zuletzt, um der globalen Klimakatastrophe entgegenzuwirken. Der Regenwald steckt nicht nur voller Wunder, von denen wir die meisten noch nicht einmal kennen. Seine Erhaltung als grüne Lunge der Erde ist auch entscheidend für den Fortbestand einer äußerst jungen Spezies auf diesem Planeten: des Menschen.
2011 jährt sich die Flugzeugkatastrophe von 1971 zum vierzigsten Mal. In all diesen Jahren wurde viel über meinen „Unfall“, wie ich den Absturz nenne, geschrieben. Unzählige Zeitungsseiten wurden mit dem gefüllt, was die Menschen für „Julianes Geschichte“ halten. Darunter waren mitunter gute Beiträge, aber leider auch viele, die wenig mit der Wahrheit zu tun hatten. Es gab eine Zeit, als mich die Aufmerksamkeit der Medien fast erdrückte. Um mich zu schützen, habe ich jahrelang geschwiegen, habe ich jedes Interview abgelehnt und mich ganz zurückgezogen. Nun aber ist es an der Zeit, mein Schweigen zu brechen und zu erzählen, wie es wirklich war. Deshalb sitze ich jetzt am Flughafen München auf gepackten Koffern, um eine Reise anzutreten, die für mich aus zwei Gründen wichtig sein wird: um das Ziel zu erreichen, das Naturschutzgebiet Panguana zu errichten. Und um mich meiner Vergangenheit zu stellen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden so sinnvoll zusammengeführt. Das, was mir damals zustieß, und die Frage, warum ausgerechnet ich als Einzige die Katastrophe der LANSA überleben durfte – all das erhält nun endlich eine tiefere Bedeutung.


Und dann sitze ich im Flugzeug. Ja, die Menschen wundern sich sehr, wie ich es schaffe, immer wieder in Flugzeuge zu steigen. Ich schaffe es durch Willenskraft und Disziplin. Ich schaffe es, weil ich es schaffen muss, will ich in den Dschungel zurückkehren. Doch es ist schwer. Das Flugzeug rollt an, wir heben ab, wir steigen auf, wir tauchen tief ein in die dichte Wolkendecke am Himmel über München. Ich sehe aus dem Fenster, und auf einmal sehe ich …


Eine Kindheit unter Tieren

… diese schwarzen, undurchdringlichen Wolken und zuckende Blitze. Wir sind in ein schweres Gewitter geraten, und der Pilot fliegt geradewegs in diesen Hexenkessel hinein. Das Flugzeug wird zum Spielball des Orkans. Aus Ablagen fallen Gepäckstücke und weihnachtlich verpackte Geschenke auf uns herab, Blumen und Spielsachen. Das Flugzeug stürzt unvermittelt in tiefe Luftlöcher und steigt dann rasant wieder an. Die Menschen kreischen vor Angst. Und plötzlich ist da dieser grelle Blitz über dem rechten Flugzeugflügel …


Ich atme tief durch. Über mir erlischt das Zeichen, ich kann meinen Gurt lösen. Wir sind kurz hinter München, und unser Flugzeug hat seine reguläre Flughöhe erreicht. Nach einer Zwischenlandung in Madrid werden mein Mann und ich die Maschine nach Lima besteigen. Zwölf Stunden liegen dann noch vor mir, zwölf Stunden höchster Anspannung rund zehn Kilometer über der Erde. Über Portugal werden wir dann das Festland hinter uns lassen und den Atlantik überqueren.
Will ich zurück in das Land, in dem ich geboren wurde, bleibt mir keine andere Wahl. Auch im Zeitalter des Billigflugs ist eine Reise um den halben Globus kein Kinderspiel. Ich wechsle nicht nur den Kontinent, ich wechsle auch die Zeitzone, das Klima und die Jahreszeit. Ist bei uns Frühling, bricht in Peru der Herbst an. Und selbst innerhalb Perus erlebe ich zwei verschiedene Klimazonen: die gemäßigte in Lima und die tropische im Regenwald. Vor allem aber ist es jedes Mal für mich eine Reise in die Vergangenheit, denn in Peru kam ich zur Welt, in Peru wuchs ich auf, und in Peru geschah jenes Ereignis, das mein Leben von Grund auf ändern sollte: Ich stürzte mit einem Flugzeug ab, überlebte wie durch ein Wunder sogar noch viele Tage ganz allein auf mich gestellt inmitten des Dschungels und fand den Weg zurück zu den Menschen. Damals wurde mir mein Leben ein zweites Mal geschenkt, es war wie eine zweite Geburt. Nur dass diesmal meine Mutter ihr Leben verlor.
Meine Mutter erzählte mir oft, wie glücklich sie war, damals, als sie mit mir schwanger wurde. Meine Eltern betrieben ihre intensiven Forschungen gemeinsam und liebten ihre Arbeit über alles. Sie hatten sich in Kiel während des Studiums kennengelernt, und da es im Nachkriegsdeutschland für promovierte und leidenschaftliche Biologen schwierig war, eine angemessene Stelle zu finden, hatte mein Vater sich dazu entschlossen, in ein Land mit einer hohen, noch nicht erforschten Biodiversität auszuwandern. Seine damalige Verlobte, Maria von Mikulicz-Radecki, war begeistert von dem Plan und kam nach ihrer Promotion nach, was damals ein unerhörtes Unterfangen für eine unverheiratete junge Dame war. Meinem Großvater war es gar nicht recht, dass meine Mutter die weite Reise ganz allein antrat. Doch wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann konnte man es ihr nicht mehr ausreden. Mein Mann behauptet übrigens, das hätte ich von ihr geerbt.
In der Kathedrale des Stadtteils Miraflores in Lima heirateten sie bald nach ihrer Ankunft in der Neuen Welt. Enttäuscht war meine Mutter darüber, dass sie als Katholikin meinem Vater, der evangelisch war, nicht am Hauptaltar, sondern in einer kleinen Nebenkapelle angetraut wurde. Damals waren ökumenische Heiraten in der Minderzahl, und der katholische Pfarrer versuchte in der Folge, sehr auf meine Mutter einzuwirken, dass sie meinen Vater „zum rechten Glauben führen möge“. Dieses Insistieren verärgerte meine Mutter derart, dass sie aufhörte, den katholischen Gottesdienst zu besuchen, und sich nach meiner Geburt auch entschloss, mich nicht katholisch, sondern evangelisch taufen zu lassen.
Damals, als meine Eltern getraut wurden, sprach meine Mutter noch kein Spanisch, und darum konnte sie der Trauungszeremonie nicht folgen. Irgendwann wurde es seltsam still in der Kirche, und dann sagte der Priester: „Señora, Sie müssen jetzt sí sagen.“
Und „Sí“ – also „Ja“ – haben beide aus vollem Herzen gesagt. Nicht nur zueinander, sondern auch zu der Art von Leben, das sie gemeinsam führen wollten. Aus ihrer kleinen Wohnung zogen sie bald in ein größeres Haus, das Freunden gehörte, und hier kam ich zur Welt. Später gründeten sie ein paar Straßen weiter das damals in Forscherkreisen bekannte „Humboldt-Haus“, in dem sie Zimmer an durchreisende Wissenschaftler aus aller Welt untervermieteten. Ihren privaten Teil trennten sie einfach mit Vorhängen ab. Das „Humboldt-Haus“ in Miraflores sollte als Treffpunkt und Basisstation namhafter Wissenschaftler in die Geschichte eingehen.
Obwohl also beide mit Leib und Seele an ihrer Arbeit hingen, war ich ein absolutes Wunschkind. Mein Vater freute sich auf ein Mädchen, und als ich an einem Sonntag im Jahr 1954 abends um sieben in der Clínica Delgado im Stadtteil Miraflores von Lima zur Welt kam, ging sein Wunsch in Erfüllung. Ich war ein Achtmonatskind, kam viel zu früh und musste erst in den Brutkasten. Vielleicht war es ein gutes Omen, dass meine Eltern beschlossen, mir den Namen Juliane zu geben. Es bedeutet „die Heitere“ – ich finde, der Name passt gut zu mir.
Zu jener Zeit lebten auch die Mutter meines Vaters und seine Schwester Cordula bei uns in Peru. Meine Großmutter wollte einige Jahre in jenem Land verbringen, in das zwei ihrer Söhne ausgewandert waren. Denn nachdem mein Vater hier Fuß gefasst hatte, entschied sich auch sein jüngerer Bruder Joachim im Jahr 1951 dafür, sich hier eine Existenz aufzubauen. Er arbeitete als Verwalter auf verschiedenen großen Haciendas im Norden des Landes, eine war sogar so groß wie ganz Belgien. Meine Eltern besuchten Onkel Joachim mehrere Male dort in Taulís, das für sie als Zoologen ein ungemein interessantes Gebiet war. Da nämlich hier die Anden mit 2000 Metern Höhe relativ niedrig sind, findet ein ungewöhnlicher Floren- und Faunen-Austausch zwischen der Ost- und Westseite dieses Gebirges statt, und meine Eltern entdeckten dort einige neue Tierarten. Doch völlig unerwartet und während der Abreiseplanungen meiner Großmutter und Tante in Deutschland verunglückte mein Onkel Joachim in Taulís tödlich. Eben noch kerngesund, verstarb er innerhalb von weniger als zwei Stunden unter Krämpfen, und bis heute ist nicht geklärt, ob er an Tetanus erkrankte oder möglicherweise einer Vergiftung durch Schlafmohnbauern, denen er auf die Schliche gekommen war, zum Opfer fiel.
Mutter und Schwester hatten aber zuhause bereits alles aufgelöst und beschlossen nun, trotzdem zu kommen. So hatte ich das Glück, in den ersten Jahren meiner Kindheit nicht nur Vater und Mutter, sondern auch Großmutter und Tante um mich zu haben. Die beiden blieben sechs Jahre in Peru, meine Tante arbeitete zeitweise als Chefredakteurin der „Peruanischen Post“, einer deutschen Zeitung in Lima. Dann kehrten sie wieder in ihre Heimat zurück, meine Tante wegen besserer beruflicher Möglichkeiten und meine Großmutter aus gesundheitlichen Gründen und wohl auch, weil sie Heimweh nach Deutschland hatte.
Ich wuchs mit beiden Sprachen auf, mit Spanisch und Deutsch. Letzteres sprach man zuhause, und meine Eltern legten großen Wert darauf, dass ich ihre Muttersprache perfekt lernte. Das war gar nicht selbstverständlich, einige meiner deutschstämmigen Schulfreundinnen beherrschten die Sprache ihrer Vorväter nur fehlerhaft. Spanisch sprach ich mit meinen peruanischen Freundinnen, mit unserem Hausmädchen und später auch in der Schule. Meine Eltern hatten diese Sprache erst richtig in Peru gelernt, und obwohl sie geschickt damit umgingen, schlichen sich immer wieder ein paar Fehler ein. Doch die Peruaner sind höfliche Menschen. Als meine Mutter einmal erzählen wollte, wie ein Auto „mit Karacho um die Ecke bog“, und es ziemlich wörtlich übersetzte, da wurde sie sanft darauf hingewiesen: „Natürlich können Sie das so sagen, Señora, aber vielleicht sollten Sie es nicht“, denn „carajo“ ist im Spanischen ein ziemlich vulgärer Ausdruck, den eine Dame eigentlich nicht in den Mund nehmen darf. Eines Tages, da war ich schon fast erwachsen, fiel mir auf, dass mich mein Vater auf Spanisch siezte. Da sagte ich zu ihm: „Das kannst du doch nicht machen, ich bin doch deine Tochter!“ Er aber wurde ganz verlegen und gestand mir, dass er die „Du-Form“ nie richtig gelernt habe. Er war ein sehr förmlicher Mensch, hatte wenige Duzfreunde und gebrauchte daher ausnahmslos die Höflichkeitsform.

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