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Pferdefuß (Allgäu-Krimis 4)Pferdefuß (Allgäu-Krimis 4)

Pferdefuß (Allgäu-Krimis 4)

Jürgen Seibold
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Ein Allgäu-Krimi

„Ein unterhaltsamer und spannender Krimi aus dem Allgäu.“ - Bayern im Buch

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Pferdefuß (Allgäu-Krimis 4) — Inhalt

„Unterhaltsame Krimi-Kost mit viel Lokalkolorit.“ Allgäuer Zeitung

Außerhalb der Ferienzeit ist es ruhig auf dem Campingplatz am Oberrieder Weiher. Deshalb ist der Betreiber heilfroh, dass wenigstens dieser seltsame Schriftsteller eine der Trekkinghütten bezogen hat. An einem Roman soll er schreiben, aber man sieht ihn immer nur um das alte Kieswerk herumstreifen – bis er eines Nachts verschwindet. Als kurz darauf eine verkohlte Leiche in einem ausgebrannten Pferdestall gefunden wird, hat Kommissar Hansen einen schrecklichen Verdacht, und schon bald stößt er auf ein tödliches Geheimnis, das sich um das stillgelegte Kieswerk rankt.

€ 11,00 [D], € 11,40 [A]
Erschienen am 01.02.2016
304 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-30543-3
Download Cover
€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 01.02.2016
336 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97175-1
Download Cover

Leseprobe zu „Pferdefuß (Allgäu-Krimis 4)“

„ Du hast Neuigkeiten über Lilo ? “
Anna Kalkar hatte ihrem Mann den Hörer aus der Hand genommen und stand nun stocksteif im Flur. Sie hielt das alt­modische Gerät so fest umklammert, dass ihre Knöchel weiß
hervortraten. Das leichte Zittern ihrer Hand setzte sich an dem geringelten Kabel fort, das den Hörer mit dem Telefon ver-
band.
„ Und warum kommst du nicht kurz zu uns rüber ? Hast du sonst nicht schon Feierabend um diese Uhrzeit ? “
» Tut mir leid, Frau Kalkar, ich habe gleich eine Besprechung mit den Kollegen, das wird vermutlich eine ganze Weile [...]

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„ Du hast Neuigkeiten über Lilo ? “
Anna Kalkar hatte ihrem Mann den Hörer aus der Hand genommen und stand nun stocksteif im Flur. Sie hielt das alt­modische Gerät so fest umklammert, dass ihre Knöchel weiß
hervortraten. Das leichte Zittern ihrer Hand setzte sich an dem geringelten Kabel fort, das den Hörer mit dem Telefon ver-
band.
„ Und warum kommst du nicht kurz zu uns rüber ? Hast du sonst nicht schon Feierabend um diese Uhrzeit ? “
„ Tut mir leid, Frau Kalkar, ich habe gleich eine Besprechung mit den Kollegen, das wird vermutlich eine ganze Weile dauern. Aber gerade habe ich gehört, worum es in der Besprechung gehen soll. Natürlich komme ich etwas später am Abend gern noch bei Ihnen vorbei, aber ich wollte nicht, dass Sie das von jemand anderem erfahren – deshalb rufe ich jetzt kurz an. Aber ich komme nachher noch vorbei, versprochen. “
„ Und … und was ist nun ? “
Am anderen Ende der Leitung entstand eine Pause. Der Anrufer räusperte sich.
„ Jetzt red schon ! “, flehte Anna Kalkar. „ Bitte ! “
„ Die Ermittlungsgruppe “, setzte er an, unterbrach sich aber noch für einen Moment, bevor er weiterreden konnte. „ Die Ermittlungsgruppe wird aufgelöst. “
„ Aber warum ? Lilo ist noch immer spurlos verschwunden, da könnt ihr doch nicht einfach … “ Sie wurde bleich und unterbrach sich. „ Oder hat man … sie … “
Der Anrufer schwieg.
„ Hat man sie gefunden ? “
„ Nein, wir haben nach wie vor keine richtige Spur von ihr. “
„ Aber dann dürft ihr doch nicht einfach aufgeben. Ich meine, was sollen wir denn machen, mein Mann und ich ? “
„ Meine Vorgesetzten glauben nicht mehr, dass Lilo das Opfer eines Verbrechens geworden ist. “
„ Wieso ? “
„ Das fragen Sie mich wirklich, Frau Kalkar ? “
Auf ihrer Miene mischten sich Empörung und Scham.
„ Sie haben gelogen, und das nicht nur einmal. “
„ Aber es geht um das Leben meiner Tochter ! Da habe ich vielleicht das eine oder andere … “
„ Schon gut, Frau Kalkar. Mir müssen Sie das nicht erklären. Aber Ihre Schwindeleien und die Anschuldigungen, die sich als falsch erwiesen haben – das alles hat keinen guten Eindruck gemacht. “
„ Das tut mir inzwischen ja auch leid, aber … “
„ Inzwischen gibt es weitere Hinweise darauf, dass Ihre Tochter freiwillig von zu Hause weggegangen ist. Und dass sie das tut, was man ihr seit ihrem achtzehnten Geburtstag schlecht verbieten kann : mit dem Mann zusammen zu sein, den sie offenbar wirklich liebt. “
„ Pah – den sie liebt ! “, brauste sie auf. „ Dieser alte Kerl könnte ja ihr Vater sein ! Der hat garantiert … “
„ Bitte, Frau Kalkar, lassen Sie es gut sein. Wenn ich darüber zu entscheiden hätte, würde die Ermittlungsgruppe weiterhin nach Lilo suchen, aber ich kann es nicht ändern. Vielleicht … vielleicht lässt sich doch noch etwas erreichen. Ich werde natürlich in der Besprechung alles versuchen, aber allzu viel Hoffnung kann ich Ihnen nicht machen. Tut mir leid. Ich komme nachher noch bei Ihnen vorbei, dann können wir gern in Ruhe über alles reden. “
Anna Kalkar zitterte nun am ganzen Körper wie Espenlaub. Ihr Gesicht war kreideweiß. Ihr Mann Gert, der das Telefongespräch über die Lautsprecherfunktion mit angehört hatte, trat nun direkt neben sie, um sie im Notfall stützen zu können. Auch er war erschüttert, machte aber einen leidlich gefassten Eindruck.
„ Frau Kalkar ? Es bleibt doch dabei ? Wir reden nachher ? “
Anna Kalkar legte auf. Minutenlang stand sie vor dem Telefon und starrte auf den Hörer. Dann sah sie ihren Mann traurig an und fuhr ihm mit den Fingerspitzen über die Falten um seinen Mund, die sie so mochte. Er ließ es gerne geschehen und sah sie forschend an.
„ Und jetzt ? “, fragte er nach einer Weile.
„ Jetzt werden wir unsere Lilo wohl nie mehr zu Gesicht bekommen. Nicht lebend und nicht tot. “
„ Ach, du wirst schon sehen : Die steht eines Tages putzmunter vor unserer Tür. Braun gebrannt von der langen Zeit im Süden. Und inzwischen ist es mir egal, wenn sie diesen alten Deppen mitbringt. Meinetwegen soll er sogar auf einen Kaffee oder ein Bier mit hereinkommen. Hauptsache, wir haben dann unsere Lilo wieder, findest du nicht auch ? “
Ein trauriges Lächeln spielte um ihren Mund.
„ Ja, Gert, so wird das sein. “
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Lippen. Er sah sie an, nicht ganz sicher, wie er ihre Miene einschätzen sollte.
„ Kommst du klar, Anna ? Sollen wir spazieren gehen ? Soll ich uns was kochen, oder fahren wir raus zum See ? “
Um ihre Mundwinkel zuckte es ein wenig, und ihre Augen schimmerten.
„ Du bist süß, Gert. Ja, koch uns was Schönes. Haben wir nicht noch das Fleisch für dein wunderbares Gulasch im Kühlschrank ? “
„ Schon, aber es dauert eine Stunde, bis ich das fertig habe. “
„ Lass dir Zeit, Gert, ich hab eh noch keinen Hunger. Ich geh solange in Lilos Zimmer, ja ? “
„ Oder setz dich doch zu mir in die Küche, und wir reden nebenher ein bisschen. Ich schenk dir ein Bier ein oder mach dir einen Tee. “
„ Lieb von dir, Gert, aber ich möchte jetzt ein bisschen allein sein. Ist das für dich in Ordnung ? “
Er zögerte, dann nickte er.
„ Und du machst uns ein schönes Gulasch “, sagte sie und schenkte ihm noch ein wehmütiges Lächeln.
Er sah ihr hinterher, wie sie den Flur entlangging, wie sie einen Moment zögerte, bevor sie die Tür zu Lilos Zimmer öffnete, wie sie ihm noch einen liebevollen Blick zuwarf und wie sie schließlich ganz leise in das Zimmer … ja, schwebte, so kam es ihm vor.
Und so beschrieb er es allen, denen er später von diesem Moment erzählte. Dem Notarzt. Der Polizei. Dem Psychologen. Dem einzigen Interessenten, der das Haus in der Hildesheimer Straße in Laatzen trotz der dramatischen Ereignisse dieses Spätnachmittags kaufen wollte.
Das Gulasch gelang ihm wie immer ausgezeichnet, aber an diesem Tag brachte Gert Kalkar keinen Bissen mehr herunter.



Samstag, 30. April
Jörg Burghamer hörte den alten Frieder schon kommen, noch bevor er ihn sehen konnte. Zwar hatte er ihm gestern gesagt, er solle endlich seinen rostigen Drahtesel in Ordnung bringen und vor allem die quietschenden Pedale ölen, aber so schlecht, wie Frieder inzwischen hörte, störte ihn der Geräuschpegel vermutlich nicht mehr allzu sehr. Also drückte Burghamer seinem Campinggast die letzte Broschüre in die Hand, die er für seinen morgigen Tagesausflug brauchte, und ging nach draußen. Unterwegs griff er sich das Ölfläschchen, das er für solche Fälle im Regal stehen hatte, und winkte dem he­ran­rum­peln­den Frieder zu.
„ Hallo, Jörg ! “, rief der Alte mit schwerer Zunge, und der Gast, der in diesem Moment ebenfalls aus der Rezeption des Campingplatzes trat, sah erschrocken zu ihnen hinüber, weil Frieder so laut gerufen hatte. „ Na, ausgeschlafen ? “
Burghamer grinste gutmütig und hob das Ölfläschchen hoch. Frieder stoppte sein dreirädriges Vehikel und verzog sein faltiges Gesicht zu einer zerknirschten Miene.
„ Oh, die Pedale ? “, lallte er. „ Hab ich ganz vergessen, entschuldige. “
Burghamer winkte ab und ging vor Frieders Gefährt in die Knie. Frieder hob erst das eine und dann das andere Bein an und sah dem Betreiber des Campingplatzes dabei zu, wie er den Pedalen mit ein paar Tropfen Öl das Quietschen austrieb.
„ Danke, Jörg “, krähte Frieder schließlich. „ Ich muss dann auch wieder, es ist sechs, und du weißt ja : Da mach ich meine Runde ! “
Der Alte tippte mit dem Zeigefinger kurz an seine Hutkrempe, trat in die Pedale und brachte sein rostiges Dreirad wieder in Fahrt. Gemächlich rumpelte er ein paar Meter weit in den Campingplatz hinein und dann über die Zeltwiese zum Seeufer. Auf der Ladefläche des Lastenrads schepperten ein Blecheimer, eine Sichel und einige andere Utensilien. Eine Sense war notdürftig befestigt, deren langer hölzerner Griff hinten herausragte und mit jedem Rumpler des Rades mal in die eine, mal in die andere Richtung schwankte.
Burghamer holte eine Limo aus dem Kühlschrank in der Rezeption und setzte sich in seinen kleinen Biergarten. Hier hatte er einen schönen Blick auf den Platz und auf den See, und nach Hause konnte er auch in einer Stunde noch fahren. Der Campingplatz war sein Leben, sein Garten, sein Beruf und sein Hobby zugleich, während der Hauptsaison auch sein Wohnsitz. Deshalb wussten die meisten Gäste auch, dass das Schild mit den Öffnungszeiten der Rezeption nicht ganz ernst gemeint war. „ Täglich von 9.00 bis 13.00 und von 15.00 bis 18.00 Uhr “, stand dort – aber außerhalb dieser Zeiten war sie immer offen, wenn Burghamer ohnehin gerade da war.
Bob und Werner, die gemächlich näher schlurften, jeder mit drei Flaschen Bier in der Hand, wollten aber nichts Geschäftliches von ihm. Burghamer stand auf und holte ihnen zwei Weißbiergläser. Werner setzte sich zu ihm, während Bob ein drittes Glas holte und es vor dem Campingplatzbetreiber abstellte.
„ Feierabend, Jörg “, knurrte er mit seinem gutmütig dröhnenden Bass. „ Jetzt kommt dieses Zuckerwasser weg, wir trinken ein Weißbier miteinander. “
Frieder radelte am Biergarten vorbei und winkte den Männern, dann wurde das Gerumpel und Geschepper seines vollbeladenen Gefährts auch schon wieder leiser und verklang in Richtung der Trekkinghütten.
Bob, Werner und Burghamer lachten über alte Geschichten, die sie sich schon dutzendfach erzählt hatten, und als aus einiger Entfernung metallisches Klopfen zu hören war, prosteten sich die drei Männer zu.
„ Auf den alten Frieder “, deklamierte Werner. „ Und darauf, dass er noch lange fit genug ist, um seine Sense zu dengeln ! “
Es war wirklich ein Glück, dass Frieder eine Aufgabe ge­­funden hatte, und Burghamer ließ ihn dafür gerne auf sei­nem Campingplatz werkeln. Früher war er ein geschickter Schreiner gewesen, selbstständig mit einer kleinen Werkstatt drüben im Dorf, am Ortsrand von Oberried, in demselben windschiefen Häuschen, in dem Frieder noch heute wohnte. Dann erlitt er daheim einen Schlaganfall, wurde erst recht spät von einer Nachbarin auf dem Boden liegend entdeckt – und als er endlich wieder aus dem Krankenhaus entlassen wurde, konnte er nicht mehr arbeiten. Doch anstatt aus lauter Verzweiflung das Saufen anzufangen, kämpfte Frieder tapfer gegen die Folgen des Schlaganfalls an und war irgendwann wieder so weit, dass er sich mit gelegentlichen Aufträgen ein paar Euro dazuverdienen konnte. Stühle und Tische bekam er zwar nicht mehr hin und seine Arbeiten fielen recht grob aus, aber jeder im Dorf, der etwas brauchte, was nicht allzu elegant werden musste, ging damit zu Frieder.
Als der Campingplatz seinerzeit eröffnet wurde, hatte Frieder alle Schreinerarbeiten erledigt. Er hatte auch die Trekkinghütten gebaut, die mit ihren bunt lackierten Holzwänden neben der Rezeption wie ein winziges skandinavisches Dorf beisammenstanden. Heute reparierte er beschädigte Bretter an den beliebten Unterkünften, so gut es ging, und Burghamer übertrug ihm auch andere Arbeiten, selbst wenn er manchmal danach noch einmal selbst Hand anlegen musste – natürlich ohne dass es Frieder mitbekam.
Zu Fuß war der Alte seit dem Schlaganfall nicht mehr besonders gut unterwegs, er humpelte stark, aber auf seinem Dreirad kam er ordentlich voran. Obendrein hatte seine Aussprache sehr gelitten, oft gelang ihm nur noch ein manchmal schwer verständliches Lallen, und viele, die ihn nicht kannten, hielten ihn deshalb für betrunken – dabei rührte Frieder fast nie Alkohol an. Am schlimmsten war es mit seinen Ohren : Schon vor dem Schlaganfall hatte er schlecht gehört, inzwischen aber war er beinahe taub.
Für die Arbeiten, die für ihn auf dem Campingplatz anfielen, spielte das nur selten eine Rolle. Schwieriger waren da schon seine Marotten zu ertragen. Seine Wachgänse zum Beispiel, die er vor zwei Jahren angeschleppt hatte : Frieder hatte sie Burghamer angepriesen, weil sie ihm doch einen Wachhund ersparten, wenn man sie nachts draußen ließ. Da hatte er zwar recht, aber die Gänse regten sich leicht auf – und nicht jeder Gast fand es witzig, wenn ihn mitten in der Nacht wildes Geschnatter aus dem Urlaubsschlaf schreckte. Deshalb durfte Frieder die Viecher nur außerhalb der Hauptsaison am Westrand der Campingwiese halten, wenn nur Dauercamper wie Bob und Werner hier waren. In der Ferienzeit musste er seine Wachgänse rüber auf sein Grundstück am Dorfrand bringen, wo sie in einen Verschlag mit angrenzender Wiese kamen.
Anton hingegen durfte das ganze Jahr über am See bleiben. Er war zu seinen besten Zeiten der fleißigste Deckhengst eines Pferdezüchters drüben in Deisenhausen gewesen, und als er nicht mehr gut genug seinen Mann stand, wollte ihn sein Besitzer an den Pferdemetzger verkaufen. Frieder, der dem Züchter seit Jahren die Zäune und Ställe gerichtet hatte, überredete ihn, ihm den Gaul zu überlassen. Zum Ausgleich arbeitete er einige Stunden unentgeltlich für den Pferdebesitzer – der sparte dadurch vermutlich mehr Geld, als ihm der Metzger bezahlt hätte, und Anton landete erst auf Frieders Grundstück am Ortsrand und später in einem kleinen „ Offenstall “, einem umzäunten Stück Weide, für dessen Bau Burghamer dem Alten nicht weit von den Trekkinghütten entfernt eine Ecke seines Platzes überlassen hatte.
So hatten alle Beteiligten etwas davon : Der frühere Besitzer machte keinen Verlust, Frieder hatte einen schönen Flecken für sein Pferd, Burghamer kam kostenlos zu einer Attraktion für die Kinder, und Anton hatte einen schönen Platz mit Blick auf den See – und in Frieder einen treuen Freund, der mehrmals täglich nach ihm schaute und sich ausgiebig mit ihm unterhielt.
Dann kam der Schlaganfall.
Anton war völlig durch den Wind, als Frieder ihn von einem Tag auf den anderen nicht mehr besuchte. Immer wieder riss er aus seinem Gehege aus und suchte nach Frieder, anfangs nur auf dem Campingplatz, später auch drüben in Oberried. Burghamer kümmerte sich natürlich um den Gaul, und die Kinder auf dem Platz – Frieder hatte es mitten in der Hauptsaison umgehauen – balgten sich beinahe darum, ihm dabei helfen zu dürfen. Anton war trotzdem kaum zu beruhigen, ständig stellte er die Ohren auf und schaute auf den Weg, über den Frieder immer zu ihm gekommen war. Er schnaubte und wieherte, immer häufiger auch nachts, und es klang, als wollte er seinen alten Freund zu sich rufen.
Burghamer musste sich einige Beschwerden anhören, aber er brachte es nicht übers Herz, den Gaul hinter Frieders Rücken zu entsorgen. Bald darauf war er froh, dass er ausgehalten hatte. Anton wirkte zwar anfangs etwas ungehalten, als die Therapeutin den weitgehend gelähmten Frieder im Rollstuhl zu seinem Gatter rollte. Aber als das Pferd nach kurzem Zögern seine schwarzen Nüstern gegen den Oberkörper des Alten rieb und wie der mit viel Mühe seine weniger gelähmte Hand hob und sie dem Gaul auf die Schnauze legte – da wandte sich Burghamer schnell ab, um sich die Tränen unbeobachtet in der geschlossenen Rezeption abtupfen zu können.
Ohnehin hätte Burghamer gewettet, dass es die Freundschaft zu Anton war, die Frieder die nötige Kraft verlieh, seine Therapien, seine Übungen und all die Untersuchungen und Behandlungen durchzustehen. Während sich Burghamer und seine beiden Gäste wieder auf ihr Gespräch und ihr Bier konzentrierten, stand Anton dicht am Holzzaun, der seine kleine Weide umgab, und äugte zu seinem Besitzer hinüber, der sich in ruhigen Sensenschnitten und kleinen Schritten auf der Wie­se zwischen dem Zaun und den Trekkinghütten voran­arbeitete. Die Nüstern des Gauls bebten, als genieße er den Geruch des frisch gemähten Grases und die Vorfreude auf den bevorstehenden Leckerbissen. Denn ganz sicher hatte er schon den Apfel entdeckt, der bei jedem Schritt aus Frieders linker Hosen­tasche lugte.
Hansen ging im Wohnzimmer auf und ab. Das Bier, mit dem er sich etwas Mut antrinken wollte, war schon zur Hälfte geleert.
Den Samstagvormittag hatte er in der Füssener Innenstadt verbracht, und weil er kein Gespür dafür hatte, welcher Schmuck schön und stilvoll und welcher fad oder protzig wirkte, hatte er den Juwelier fast in den Wahnsinn getrieben mit seinem ewigen Hin und Her, mit seinem Zögern und Bemerkungen wie : „ Könnte ich die ersten noch einmal sehen ? “ Als er sich endlich entschieden hatte, schob ihm der Juwelier das Kästchen mit den Verlobungsringen sehr erleichtert über den Tresen.
Nun war es später Nachmittag, und Hansen wartete auf Resi Meyer, die als Rechtsmedizinerin in München arbeitete und mal dort, mal bei ihren Eltern in Roßhaupten und immer häufiger auch bei ihm übernachtete. Dass er sie zur Freundin hatte, war das Angenehmste, was ihm seine Stelle als Leiter des Kemptener Kriminalkommissariats 1 bisher beschert hatte – das untere Ende der Skala markierte der Kater Ignaz, mit dem er sich das gemietete Bauernhaus am Ufer des Forggensees teilen musste.
Er hörte Frauenstimmen, und als er sah, dass Resi nicht allein aufs Haus zulief, war er für einen Augenblick enttäuscht. Er tastete nach dem Schmuckkästchen in seiner Tasche, das nun leider nicht zum Einsatz kommen konnte, dann gab er sich einen Ruck und ging zur Tür, um die beiden Ankömmlinge zu begrüßen.
„ Hallo, Chef ! “, rief ihm Hanna Fischer strahlend zu. Sie und Willy Haffmeyer waren seine liebsten Mitarbeiter, und seit seinem Dienstantritt in Kempten vor knapp drei Jahren waren sie auch privat ein gutes Gespann geworden.
Hansen bat die beiden Frauen herein. Unterwegs flüsterte er Resi zu : „ Wolltest du nicht allein kommen und Hanna später abholen ? “
Sie zuckte nur mit den Schultern. „ Hanna hat mich auf dem Handy angerufen, und wir haben beschlossen, dass wir uns etwas mehr Zeit zum Umziehen nehmen. “
Die beiden hatten einen großen Rollkoffer ins Haus geschafft, aus dem Hanna nun ein Kostüm nach dem anderen hervorzog. Offenbar besaß Hansens füllige Mitarbeiterin einen großen Fundus an Kleidung, die sich für eine zünftige Party in der Walpurgisnacht eignete. Für Resi waren die meisten Sachen zu kurz und alle viel zu weit, aber die beiden hatten einen Heidenspaß, und Hanna führte ihnen fröhlich vor, was ihr neuerdings wieder alles passte.
Sie hatte ihrem Freund Thomas zuliebe fünf Kilo abgenommen, was ihr außer ihm allerdings niemand ansah. Hansen hatte sie zwar artig gelobt, als sie ihn auf den Erfolg ihrer Diät hinwies, aber jedes Wort war gelogen : Ihre Figur war so üppig, dass es auf fünf Kilo mehr oder weniger nicht ankam. Nur ihrem Thomas, einem Polizeikollegen von der Inspektion Memmingen, war es wirklich aufgefallen – und er hatte sich prompt bei ihr beschwert, weil er wohl fürchtete, sie würde nach einer noch länger andauernden Hungerkur einen Teil ihrer Rundungen verlieren, die er so an ihr liebte. Wobei Hungerkur nicht ganz das richtige Wort war : Hanna aß noch immer mit Genuss Sahnetorte und fetten Braten, aber wenn sie satt war, hörte sie auf und ließ sich nicht wie bisher einen weiteren vollen Teller reichen.
Während die Frauen Kleider probierten, saß Ignaz auf der Kommode, aufrecht wie eine Statue und mit gespitzten Ohren. Er ließ weder die beiden Frauen noch seinen zweibeinigen Mit­bewohner Hansen aus den Augen.
Nach gut einer Stunde hatte sich Resi für ein Outfit entschieden. Mit Maske, schwarzem Umhang, weitem Rock und spitzen Stiefeln machte sie einiges her als alte Hexe – mächtige Hakennase, fette Warze und ein umgeschnalltes Kissen als Wampe inklusive. Als sie Hanna zeigte, was sie alles unter den Gürtel stopfen musste, bis ihr die Kostümierung nur halbwegs passte, prustete diese lauthals los.
Hanna hatte sich als Otfried Preußlers kleine Hexe ausstaffiert. Irgendwo hatte sie eine Maske aufgestöbert, die tatsächlich an das Gesicht der Kinderbuchfigur erinnerte. Auch der spitze Hut passte, das rote Kostüm war allerdings einige Nummern größer als das des Originals, doch Hanna gefiel sich, als sie sich vor dem großen Spiegel im Flur ein paar Mal um sich selbst drehte.
Kichernd hakten sich die beiden Frauen unter, Hanna schnappte sich den Reisigbesen, den sie mitgebracht hatte, und Resi bedankte sich bei Hansen mit einem kurzen Kuss dafür, dass er ihr ein Fluggerät aus dem Schuppen beschafft hatte. Sie eilten den Flur entlang, aufmerksam verfolgt von den Blicken des Katers. Dann waren sie auf dem Weg zur großen Frauenfete am Riedener Ufer des Forggensees. Als die Tür ins Schloss fiel, musterte Ignaz seinen zweibeinigen Mitbewohner, fand aber offenbar nichts Interessantes an ihm und sprang schließlich von der Kommode, um in der Küche nach etwas Essbarem zu fahnden.
Hansen sah ihm grinsend hinterher und schenkte sich im Wohnzimmer etwas Bier nach. Dann fiel ihm ein, was er fürs Abendessen vorbereitet hatte. Er flitzte in die Küche und konnte den Leckerbissen gerade noch vor dem ständig hungrigen Kater in Sicherheit bringen. Der Fisch war noch nicht ganz aufgetaut, aber Ignaz machte nicht den Anschein, als würde ihn das abschrecken.



Sonntag, 1. Mai
„ Kruzifix ! “, schimpfte Frieder, als der Schlüssel kurz vor zwei Uhr in der Nacht nicht gleich ins Schloss passen wollte. Doch dann klappte es endlich, und er ließ das Eingangstor zum Campingplatz weit genug aufschwingen, damit er mit seinem sperrigen Lastenrad aufs Gelände konnte. Erst hatte er überlegt, ob er sein Gefährt der Nachtruhe wegen nicht lieber draußen stehen lassen sollte – aber dann war ihm eingefallen, dass Jörg Burghamer ihm doch erst vor ein paar Stunden die Pedale geölt hatte. Also sollte das Dreirad nun leise genug sein, um nicht alle aus dem Schlaf zu schrecken.
Langsam rollte er den Weg entlang. Nirgendwo brannte mehr ein Licht. Natürlich nicht. Wer sollte auf dem Campingplatz um diese Uhrzeit auch noch wach sein ? Frieder hatte früher auch gern und gut geschlafen, aber mehr als drei oder vier Stunden am Stück schaffte er nicht mehr. Dann radelte er auf den Feldwegen rund um Oberried herum oder auch mal hinüber zum Günzstausee. Nach der Bewegung an der frischen Luft konnte er in der Regel noch einmal für einige Stunden einschlafen, bevor er sich gegen halb sieben den ersten Kaffee kochte.
Doch am liebsten drehte er nachts seine Runde über den Campingplatz, sah nach Anton und nach den Gänsen. Da sie sich schon an ihn gewöhnt hatten, schnatterten sie nicht, wenn er zu ihnen auf das umzäunte Wiesenstück kam. Auch diesmal machte er es wie immer : Erst streute er kleine Kartoffelstückchen vor den Gänsen aus, dann wollte er mit Anton reden und ihn mit einem Kanten Brot fürs Zuhören belohnen.
Anton war unruhig, und er ließ die Ohren sogar aufgestellt, als der Alte ihm zuwinkte. Frieder radelte zu den Gänsen hi­nü­ber : Er konnte ihr Schnattern zwar kaum hören, aber er sah, dass sie ganz aus dem Häuschen waren. Drüben war wohl jemand aus seinem Wohnwagen geklettert – das Gefährt selbst war von Frieders Position aus nicht zu sehen, weil es ein Stück entfernt stand und vom Sanitärgebäude verdeckt war. Doch den Mann, der da auf dem Weg stand und gähnend zu ihm herüberschaute, konnte er auch auf diese Entfernung und im schwachen Mondlicht als einen der Dauercamper ausmachen. Als er Frieder sah, winkte er ihm müde zu und trollte sich wieder in seine Unterkunft. Die Gänse machten ganz sicher nicht seinetwegen so einen Radau.
Frieder wandte sich in die Gegenrichtung, wo Anton noch immer mit hochgestellten Ohren auf der Weide stand und mal zu den Trekkinghütten, dann zur Straße hinschaute, die um den Campingplatz herum verlief. Der Alte rumpelte mit dem Lastenrad vom Gänsegatter weg und an der Rezeption vorbei, dann fiel ihm ein dunkler Schatten außerhalb des Campingplatzes auf. Er brauchte einen Moment, dann erkannte er, dass dort in der Dunkelheit ein dunkel lackierter Kombi stand. Jemand drückte gerade den Kofferraum des Wagens zu, huschte am Fahrzeug entlang und schlüpfte auf den Fahrersitz.
Frieder trat fester in die Pedale. Die Ecke vor ihm war die einzige Stelle, an der der Campingplatz nicht von einem Drahtzaun, sondern nur von einem Erdwall begrenzt wurde, der mit Büschen, Brennnesseln und allerlei Unkraut bewachsen war. Vor dem Wall kletterte er von seinem Rad und ging zu Fuß weiter. Jemand hatte eine Schneise in das Dickicht geschlagen, dahinter war noch immer der dunkle Wagen zu sehen. Der Alte ignorierte den Schmerz, der ihm in Hüfte, Oberschenkel und Knie schoss, und arbeitete sich, so schnell es ging, den Wall hinauf. Der Kombi setzte sich plötzlich in Bewegung, fuhr erst mit ausgeschalteten Scheinwerfern an ihm vorbei, dann flammten die beiden Lichtkegel auf und leuchteten die Straße in Richtung Breitenthal aus. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte Frieder, das Kennzeichen zu erkennen. Als er gerade aufgeben wollte, bremste der Fahrer stark ab. Frieder sah im grellen Scheinwerferlicht eine Katze davonhetzen – und hatte zumindest einen Teil des Kennzeichens entziffert : LI für Lindau.
Bis Frieder endlich die Stelle erreichte, wo das Auto gestanden hatte, war der Wagen längst über alle Berge, und der Campingplatz lag wieder im dämmrigen Licht des fahlen Mondes. Frieder bückte sich. Am Boden vor ihm war das Gras niedergetreten. Er kramte seine kleine Taschenlampe aus der Hosentasche : Schleifspuren waren zu erkennen, aber einzelne Schuhabdrücke konnte er nicht unterscheiden.
War ein Einbrecher hier gewesen ? Aber wozu ? In der Rezeption gab es nichts zu holen, und die Wohnwagen der Dauercamper waren vermutlich zu eng, als dass jemand nachts hineinkonnte, ohne dass die Bewohner etwas davon mitbekamen.
Ganz in der Nähe war ein dünner Ast abgebrochen, und als sich Frieder noch einmal bückte und auf den Boden leuchtete, entdeckte er das kleine Holzstück : An seinem Ende hatte sich ein Stück Stoff verfangen. Frieder hatte schon genug Fernsehkrimis gesehen, um zu wissen, dass man solche Fundstücke nicht einfach mit der Hand anfasste. Also zog er ein Stofftaschentuch hervor, legte es sich über die Fingerspitzen und zupfte so lange an dem Fetzen herum, bis er ihn endlich von dem abgebrochenen Ast gelöst hatte.
Es schien ein kleines Stück von einem Holzfällerhemd zu sein. Frieder überlegte, ob er in den vergangenen Tagen jemanden in einem solchen Kleidungsstück auf dem Campingplatz gesehen hatte. Er wusste natürlich nicht, was die Dauercamper alles in ihrem Gepäck hatten, aber meistens trugen die Männer T-Shirts und einfarbige Polohemden, die Frauen eher Blusen aus dünnem Stoff, und später am Abend legten sie sich wollene Jäckchen oder Blousons aus einer dieser neumodischen Kunstfasern um.
Holzfällerhemden … Hatte nicht der Mann in der einen Trekkinghütte so etwas ab und zu getragen ? Dieser Schriftsteller oder was immer er wirklich war ?
Frieder humpelte zu der Hütte hinüber, in der sich der Fremde vor gut einer Woche einquartiert hatte. Auf der Terrasse waren die Gartenstühle ordentlich gegen den weißen Kunststofftisch gelehnt. Die Tür des kleinen Gebäudes stand offen, und von außen schien sie leer zu sein. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe hinein : Nichts.
„ Hallo ? “, rief er und hoffte, dass es ihm diesmal leiser gelungen war als sonst. Er wollte nicht schon wieder die anderen Gäste aufwecken.
Es kam keine Antwort aus der Hütte. Schritt für Schritt näherte er sich dem Holzgebäude, stand schließlich auf der Schwelle und ließ seinen Blick durch den Innenraum schweifen. Hier war niemand, es lagen auch kein Gepäck und keine Kleider herum. Die Hütte wirkte wie frisch gereinigt. Frieder humpelte in den Raum hinein. Das Doppelbett in der rechten Ecke war leer und ordentlich bezogen. Er leuchtete die steile Treppe hinauf, aber auch oben in der Schlafkoje schien niemand zu liegen.
Mit schlimmen Vorahnungen tappte er auf die Toilettentür zu, doch auch dahinter verbarg sich niemand. Alles war leer geräumt und so bereit für den nächsten Gast, wie es sich Jörg Burghamer nur wünschen konnte.
Diese verdammten Gänse hatten ihn wirklich erschreckt. Erst war alles gut gegangen. Er war über den Erdwall recht bequem auf den Campingplatz gelangt und anschließend die paar Meter zur Trekkinghütte geschlichen. Wie ein Schatten war er in die Hütte eingedrungen. Noch bevor sein Opfer wusste, wie ihm geschah, hatte er ihm auch schon die Nase zuge­halten und ihm die Atemmaske mit der angeklebten Plastiktüte über den Mund gestülpt. Wenige Atemzüge später hatte das Opfer tief und fest geschlafen.
Durch das Fenster überprüfte der Hagere, ob noch immer niemand auf ihn aufmerksam geworden war. Als er den ganzen Platz verlassen vor sich sah, versuchte er sich den Bewusstlosen über die Schulter zu werfen. Doch der Mann war schwerer als erwartet, weshalb er ihn unter den Achseln packte und zum Erdwall schleifte. Hier lud er ihn sich doch noch auf den Rücken, so gut es ging, und schleppte seine Last ein Stück den Wall hinauf. Als es fast geschafft war, blieb der bewusstlose Mann an einem kleinen Ast hängen, und er musste zwei-, dreimal fest ziehen, bevor er ihn wieder losgezerrt hatte.
In diesem Moment begannen die Gänse zu zetern. Und während die blöden Vögel wenigstens ein gutes Stück von ihm entfernt waren, schnaubte ganz in seiner Nähe ein Pferd. Er ließ sein Opfer auf der Außenseite des Erdwalls auf den Boden gleiten, kauerte sich in den Schatten der Büsche und suchte den Platz mit den Augen ab. Niemand war zu sehen, aber vom Einfahrtstor des Campingplatzes her war das Fluchen eines älteren Mannes zu hören.
Der Alte schien den Krach der Gänse nicht zu bemerken. Jedenfalls schloss er in aller Seelenruhe das Tor auf und schob ein dreirädriges Gefährt aufs Gelände, bevor er das Tor hinter sich wieder schloss. Der Hagere öffnete die Heckklappe seines Wagens und strich noch einmal die Plastikfolie glatt, die er im Kofferraum ausgebreitet hatte.
Der Alte radelte nun ganz langsam den Hauptweg des Cam­pingplatzes entlang und bog gleich hinter dem kleinen Rezeptionsgebäude nach rechts ab, dorthin, wo dem Krach nach zu urteilen das lästige Viehzeug untergebracht war. Der Hagere nutzte die Gelegenheit, zerrte den Bewusstlosen zum Auto und schaffte ihn mit einem heftigen Ruck auf die Folie. Als sich der Mann ein wenig bewegte, stülpte er ihm eine zweite Atemmaske über, die er wie die erste mit einer Plastiktüte versehen hatte. Dann drückte er ganz leise die Heckklappe zu, huschte zur Fahrertür und schlüpfte hinters Steuer.
Ihm war es, als hätte er Rufe gehört und Schritte und natürlich immer noch diese verdammten Gänse. Aber jetzt war es beinahe geschafft, also gab er Gas und fuhr zügig davon. Weil er das Licht erst nach ein paar Metern einschaltete, sah er die Katze, die vor ihm die Straße querte, erst sehr spät. Aus einem Reflex heraus trat er auf die Bremse, bevor ihm die Unsinnigkeit bewusst wurde. Da bremste er für eine Katze, und der Mann im Kofferraum würde in ein paar Minuten sein Leben lassen.
Er lachte rau und gab wieder Gas. Nach einer guten Viertel­stunde begann er den Straßenrand nach einer geeigneten Stelle für den nächsten Schritt abzusuchen.
„ Sag mal, Frieder, weißt du eigentlich, wie spät es ist ? “
Jörg Burghamer hatte schön geträumt, bis ihn das Klingeln seines Telefons aus dem Schlaf gerissen hatte. Schnell war er in den Flur gegangen, um abzuheben, damit wenigstens seine Frau weiterschlafen konnte.
„ Wir haben es jetzt zehn nach zwei am Sonntag ! “ Frieder war ganz aufgeregt, was sein Lallen noch schwerer verständlich machte.
„ Jetzt beruhige dich doch erst mal. Ganz langsam, okay ? “
Die Schlafzimmertür schwang auf, und Jenny Burghamer tappte heraus. Sie sah ihren Mann fragend an, doch der zuckte nur mit den Schultern und flüsterte ihr zu, dass sie sich wieder hinlegen solle.
„ Frieder ! “, raunte er dann noch und deutete auf den Telefonhörer.
Sie schüttelte den Kopf, rieb sich die Augen und wandte sich zur Toilette.
„ Wo bist du denn gerade ? “, fragte Jörg Burghamer.
„ Auf dem Platz “, antwortete Frieder. Inzwischen hatte er sich wieder so weit im Griff, dass man ihn mit etwas Übung durchaus verstehen konnte. „ Ich ruf dich aus der Rezeption an. “
„ Und was, um Himmels willen, machst du da um diese Zeit ? “
Der Alte war ihm in der letzten Zeit etwas wunderlicher erschienen als sonst, und nun dachte Burghamer ernsthaft darüber nach, ob er ihm die Schlüssel zum Campingplatz abnehmen musste. Das würde ihn zwar hart treffen, aber bevor er dort noch irgendeinen Blödsinn anstellte …
„ Der Mann in der Trekkinghütte ist weg “, erklärte Frieder.
„ Was meinst du damit ? “
„ Der ist nicht mehr da. Und die Hütte ist komplett leer geräumt. “
Burghamer erschrak.
„ Da hat einer die Möbel und alles geklaut ? “
„ Nein, alles noch da. Aber das Gepäck von diesem … diesem … wie hieß der noch ? “
„ Rockford, Hans Rockford. “
So früh in der Saison war noch nicht viel los auf dem Platz. Und von den Trekkinghütten war im Moment nur diese eine vermietet.
„ Genau der. Spurlos verschwunden. Ich habe vorhin nur noch einen dunklen Kombi gesehen, der davongefahren ist. “
„ Komisch “, dachte Burghamer laut. „ Ist der nicht mit dem Taxi gekommen ? “
„ Das Auto stand auch nicht auf dem Platz, sondern draußen auf der Straße. Gleich hinter dem Erdwall, ganz in der Nähe der Hütte, die dieser Rockford gemietet hat. “
„ Ja, klar, so spät am Abend kommt er ja nicht mehr durchs verschlossene Tor. Du hast ihn ja nicht rausgelassen, oder ? “
„ Nein, natürlich nicht. Um zehn am Abend ist zu, da gibt’s nichts, keine Angst, Jörg. “
„ Schon recht. “
Burghamer dachte nach.
„ Kommt dir das nicht komisch vor, Jörg ? “, meldete sich Frieder, als ihm die Pause zu lang wurde.
„ Ach, die Leute machen die seltsamsten Sachen. Du zum Beispiel geisterst mitten in der Nacht auf meinem Campingplatz herum. “
„ Vielleicht wirst du darüber jetzt sogar ganz froh sein. “
„ Aha, und warum ? “
„ Na, weil sonst keiner mitbekommen hätte, dass da mitten in der Nacht einer der Gäste spurlos verschwindet. “
„ Na ja, spurlos verschwindet – wie sich das anhört. Der ist halt überraschend abgereist. “
„ Und das geheimnisvolle Auto ? “
„ Was soll daran geheimnisvoll sein ? Ihn wird ein Freund abgeholt haben. Ich hab dir ja schon gesagt, dass er mit dem Taxi gekommen ist – selbst hatte er also kein Auto dabei. “
„ Sag mal, Jörg, willst du gar nichts unternehmen ? “
„ Unternehmen ? Was soll ich denn deiner Meinung nach tun ? Die Polizei anrufen, oder was ? “
Frieder hielt einen Moment inne. „ Ja “, brummte er dann, aber es klang verunsichert.
„ Und was sag ich denen ? Heute Nacht ist ein Gast abgereist und hat sein Gepäck mitgenommen ? Da werden die wohl kaum mit dem Sonderkommando anrücken ! Oder ist irgendetwas kaputt an der Hütte ? “
„ Nein, alles aufgeräumt, alles sauber. Sieht so aus, als wäre alles in schönster Ordnung. “
„ Gut. Das wird’s dann ja auch sein. Und jetzt geh schlafen, Frieder, und mach mir meine Gäste nicht verrückt. “
„ Aber … “
„ Es ist doch keiner aufgewacht von dem Radau, den du gemacht hast, oder ? Du warst doch sicher nicht gerade leise. Und deine Gänse ? “
„ Haben ein … kleines bisschen geschnattert, aber das kann nicht sehr laut gewesen sein. “
Das schlechte Gewissen war dem Alten deutlich anzu­hören.
„ Jetzt mach, dass du nach Hause kommst. “
„ Aber der verschwundene … “
„ Frieder ! Es reicht ! “
Damit legte Burghamer auf und ging kopfschüttelnd zurück ins Bett.
Alles lief perfekt. Der Feldweg irgendwo draußen in der Pampa war von der Straße aus nicht einzusehen, obendrein war um diese Uhrzeit niemand unterwegs, und die nächsten Ortschaften waren weit genug entfernt. Er hielt an, öffnete die Heckklappe, zog zwei Plastikhandschuhe über und nahm aus einem Plastikbeutel im Kofferraum ein langes Küchenmesser. Der andere schlief noch, bewegte sich aber schon wieder ein wenig.
Bedächtig knöpfte der Hagere das Hemd des anderen auf, hob das Messer an und setzte die Spitze in Höhe des Herzens auf die Haut des Mannes. Dann ertastete er die Stelle, an der er zwischen die Rippen hindurch das Herz treffen würde. Schließlich packte er den Griff des Messers, legte die andere Hand oben auf das Griffende, drückte einmal fest zu und ließ die Klinge genau so weit in den Körper des Bewusstlosen gleiten, dass das Herz durchstoßen wurde, sich aber die Klingenspitze noch innerhalb des Körpers befand. Das Messer ließ er stecken, damit es die tödliche Wunde einstweilen gut genug verschloss, dass es im Wagen nicht zu einer starken Blutung kommen konnte. Er wartete, bis auch die letzte Zuckung aufgehört hatte, dann deckte er den Toten mit einer schwarzen Plastikfolie zu, schloss die Heckklappe wieder und fuhr nach Hause.
Auf der Bundesstraße war nicht viel los, auf der Autobahn auch nicht, und er kam zügig voran. Nicht immer hatte er alle Tempolimits im Blick, weil er nachdachte – aber auf der ganzen Strecke kannte er zwei, drei Stellen, an denen mit Radarfallen zu rechnen war, und tatsächlich schreckte ihn bis nach Hause kein greller Blitz aus seinen Gedanken. Er stellte fest, dass es sich diesmal anders angefühlt hatte. Dabei schien es eine Rolle zu spielen, warum man jemanden tötete. Er fuhr sich mal von der einen, mal von der anderen Seite her durch die Haare, schloss einmal sogar kurz die Augen und schnupperte – aber natürlich war jetzt noch nichts zu riechen. Der Mann lag dort hinten, nicht weit von ihm entfernt und mit der Folie vor allen neugierigen Blicken verborgen.
Der grelle Scheinwerfer eines Lastwagens auf der Gegenspur strich über ihn hinweg, und für einen Moment war er unsicher, ob die Folie auch richtig lag. Die Autobahn vor ihm war leer, kein Hindernis und kein anderes Fahrzeug waren zu sehen, also wandte er sich im Fahrersitz halb um und tauchte ein wenig ab, um mit der freien Hand ein wenig an einem Ende der Folie zu ziehen. Das beruhigte ihn, aber es war auch vorher schon alles so gewesen, wie es sein sollte. Langsam richtete er seine Frisur wieder und drückte sie zum Schluss ein wenig glatt. Dann war er auch schon da.
Der kleine Weg zu seinem Anwesen, der von hinten um das Dorf herum und ein langes Stück durch den Wald führte, schließlich am Waldrand entlang und selbst noch auf dem letzten Abschnitt quer über die Wiese von Büschen gedeckt war, kam ihm für sein Vorhaben gerade recht. Er hatte sogar eigens eine befahrbare Holzbrücke über das mickrige Rinnsal bauen lassen, dem dieser Flecken seinen Namen verdankte.
Auf diesem Weg konnte ihn keiner sehen, wenn er mitten in der Nacht nach Hause kam. Und es konnte auch keiner beobachten, dass er mit der Schubkarre eine schwere Last in seine Scheuer schaffte und dass er anschließend einen Blecheimer aus dem Haus nach hinten schleppte und eine ganze Weile in dem Holzbau beschäftigt war. Das diffuse Licht der kleinen Campinglampe war ausreichend und würde nicht nach draußen dringen – zumal er sie ganz hinten in der Scheuer zwischen mehreren Kisten auf den Boden gestellt hatte.
Am Ende war er zufrieden mit seiner Arbeit. So sollte es bis zum Vormittag gehen, und wenn er alle paar Stunden wiederkam, müsste er alles im Griff haben. Das Gesicht des Toten wirkte im Halbdunkel wie aus einem alten Gruselfilm. Ein böses Lächeln spielte um den Mund des Hageren, dann bedeckte er auch den Kopf des Leichnams, nahm den Blech­eimer mit und ging zurück ins Haus.
Er würde noch zwei, drei Stunden schlafen und dann am Morgen wie immer zum Metzger gehen. Er würde auch alles andere so machen wie jeden Tag.
Das war das Wichtigste.
Hansen hatte nicht mitbekommen, wann Resi nach Hause gekommen war. Als er kurz vor fünf aufwachte, weil er zur Toilette musste, lag sie neben ihm, die Decke bis unter die Nasenspitze hochgezogen. Ihr leises Schnarchen mischte sich in das Röcheln, das der neben ihr ausgestreckte Kater von sich gab. Als Hansen sich zu ihr hinüberbeugte, um die Decke so zurechtzuzupfen, dass es auch ihr hervorlugender Zeh warm hatte, blitzte ihn das Tier kurz aus seinen zu Schlitzen geöffneten Augen an. Dass er sich nur zu dieser halbherzigen Drohgebärde aufraffte, zeigte Hansen wieder einmal, dass der Kater ihn als ernstzunehmenden Widersacher längst abgeschrieben hatte.
Hansen stand auf. Resi hatte das leichte Knarren des Gestells und die Bewegung der Bettfedern offenbar mitbekommen. Sie bewegte sich ein wenig, und als ihre Hand dabei das Fell von Ignaz berührte, fuhr sie ihm mit den Fingerspitzen durchs Fell. Ignaz schloss genießerisch die Augen, drückte sich behutsam gegen Resis Hand und rollte sich dabei halb auf den Rücken.
Dabei streckte er die Beine weit auseinander und hielt die Vorderpfoten leicht angewinkelt vor sich. Hansen wusste aus leidvoller Erfahrung, dass dies keineswegs eine Einladung des Katers bedeutete, ihm den Bauch zu kraulen. Die Kratzer und Bisse, die ihm die blitzschnelle Reaktion des Viehs eingebracht hatte, musste er über Tage behandeln, bevor alle Entzündungen wieder abgeklungen waren.
Durch das geöffnete Toilettenfenster drang würzige Morgenluft herein. Hansen blickte auf die große Wiese hinter dem Haus. Am hinteren Ende des Grundstücks befand sich die Zielscheibe, im weiten Halbkreis drum herum lagen die Pfeile verteilt. Direkt dahinter sah man den Forggensee, Waltenhofen und Schwangau und auf seinem Bergsporn das majestätisch wirkende Schloss Neuschwanstein.
Vielleicht lag es an dem atemberaubenden Blick, den er von seinem Garten aus hatte, dass er nicht richtig auf die Zielscheibe achtete und sich als Bogenschütze nach wie vor ziemlich jämmerlich anstellte. Aber letztlich war ihm das egal : Er liebte die Ruhe, die Konzentration, die Anspannung vor dem Schuss ohnehin mehr als das Treffen. Zum Glück, denn sonst hätte er bisher nicht viel Spaß an seinem Hobby gehabt.
Burghamer hatte sich gleich nach seiner Ankunft auf dem Campingplatz die verlassene Trekkinghütte angesehen, war aber zu demselben Schluss gekommen wie der Alte : alles sauber, alles in Ordnung, nichts gestohlen. Er wunderte sich zwar, warum der Gast extra eine Schneise ins Unkraut auf dem Erdwall geschlagen hatte, wo er doch einfach durch das Fußgängertor hätte hinausspazieren können – aber egal. Danach sprach er mit den verbliebenen Gästen. Der eine, dem er gestern die Broschüren für seine Tagestour gegeben hatte, war schon aufgebrochen, bevor Burghamer an den See gekommen war – die anderen hatten nichts bemerkt.
Allerdings zögerte der Dauercamper Bob Wencke kurz, bevor er behauptete, die Gänse in der Nacht nicht gehört zu haben – und zwinkerte dabei dem alten Frieder verschwörerisch zu. Also hatte er die Gänse wohl doch gehört, seine Frau Edit vielleicht auch. Burghamer vergewisserte sich deshalb noch einmal, ob ihm in der vergangenen Nacht auch wirklich nichts Ungewöhnliches aufgefallen sei – doch nachdem er ganz entschieden verneint hatte, ließ es Burghamer dabei bewenden. Wenn Bob jemanden nachts über den Platz hätte schleichen sehen, hätte er es bestimmt zugegeben. Sollte er die Ruhestörung durch die Gänse doch für sich behalten, wenn er glaubte, dass er damit dem Alten Ärger ersparen konnte.
Frieder wirkte völlig übernächtigt und zugleich furchtbar aufgeregt und gab seit dem frühen Morgen keine Ruhe. Er war davon überzeugt, dass dem Gast in der Trekkinghütte etwas Schlimmes widerfahren sei. Außerdem habe er ein Stück Hemdstoff auf dem Boden gefunden und gesichert. So drückte er sich wirklich aus, und als sich Burghamer dazu ein spöt­tisches Grinsen gestattete, wirkte Frieder ein wenig eingeschnappt.
Gegen halb zehn gab sich Jörg Burghamer geschlagen. Er versprach, die Polizei anzurufen. Und als er die Nummer der Kriminalpolizeiinspektion gewählt hatte, ließ er sich zu Polizeihauptkommissar Jan Bogner durchstellen, einem Bekannten und Nachbarn, der in seiner Freizeit ab und zu auf ein Weißbier zum Campingplatz radelte – und der zum Glück am heutigen Maifeiertag Dienst hatte.
» Und was genau sollen wir deiner Meinung nach jetzt unter­neh­men ? «, fragte Bogner, als ihm Burghamer alles geschildert hatte – mit etwas erhobener Stimme übrigens, damit Frieder, der neben ihm stand, wenigstens einen Teil des Gesprächs mitbekam. Jetzt nickte er dem Alten aufmunternd zu und sprach etwas leiser weiter.
„ Nichts, vermute ich, das hab ich dem Frieder auch schon gesagt. Aber er hat halt keine Ruhe gegeben, bis ich endlich die Polizei angerufen habe. Deshalb wollte ich ja auch unbedingt mit dir reden. Ich meine : Da ist am Morgen ein Gast weniger da, und vielleicht ist er einfach nur überraschend früher abgereist – ich finde nicht, dass das ein Fall für euch ist, aber … “
Frieder sah ihn fragend an, Burghamer zuckte mit den Schultern und wartete auf die Antwort seines Nachbarn.
„ Und dir wurde nichts gestohlen, und beschädigt ist auch nichts ? “
„ Nein. Frieder will ein Stück Hemdstoff gefunden haben, aber … na ja … “
„ Okay “, sagte Bogner. „ Eins noch : Hat der Gast schon im Voraus bezahlt ? “
Burghamer stutzte, dann hörte er Bogners Lachen.
„ Ja, und die Hütte war noch bis Ende nächster Woche gebucht. “
„ Ach, dann wird er vermutlich in ein, zwei Tagen wieder auftauchen. Vielleicht hat er einen Kumpel in der Gegend, und mit dem zieht er heute los und macht einen drauf. Du weißt ja : 1. Mai, Bier, Bollerwagen. “ Bogner seufzte. „ Ich freu mich schon auf den Nachmittag, wenn den Ersten die Lichter ausgehen. Jedes Jahr dasselbe. Und am Donnerstag ist Vatertag, da geht’s grad so weiter. “
„ Und dann nerv ich dich auch noch mit Frieders Wahnvorstellungen. Sorry, Jan. Vergiss es einfach, ich werd’s dem Alten schon irgendwie beibringen, dass ihr da nichts machen könnt. War mir eh klar. “
„ Grüß mir den Frieder “, antwortete Bogner. „ Und sag ihm, wir hören uns um wegen des verschwundenen Gasts. Ich nehm das mal in unseren Bericht mit auf, und wenn wir wieder mal einen Besoffenen aus dem Straßengraben ziehen, behalten wir den Namen deines Touristen im Hinterkopf. Wie heißt er denn ? “
„ Hans Rockford. “
„ Rockford ? Ist nicht dein Ernst, oder ? “
„ So hat er sich bei mir eingetragen. Jedenfalls habe ich das so gelesen – der hat eine richtige Sauklaue. Da fällt mir gerade ein : Den Ausweis wollte er mir noch zeigen, aber na ja … jetzt ist er weg, das wird wohl nichts mehr. “
„ Aber Rockford, also ehrlich ! “
„ Wieso ? “
„ Na, hast du früher kein Fernsehen geschaut ? James Rockford, dieser Privatdetektiv, der in seinem Wohnwagen haust ? “
Burghamer dachte nach, dann beschloss er, dass ihm das wurscht war.
„ Meinetwegen soll er heißen, wie er will. Bezahlt hat er, wie gesagt, im Voraus. Wegen des Ausweises, den er mir immer zeigen wollte, was er dann aber doch jedes Mal vergessen hat, wird mir hoffentlich keiner an den Karren fahren. “
„ Will doch auch keiner, Jörg. Du hast das jetzt gemeldet, ich geb’s weiter, und falls ich irgendetwas zu diesem … “ Er kicherte. „ … zu diesem Rockford höre, geb ich dir sofort Bescheid. In Ordnung ? “
Die beiden verabschiedeten sich voneinander. Als Burg­hamer aufgelegt hatte, sah ihn Frieder erwartungsvoll an.
„ Und, was passiert jetzt ? “
„ Die Krumbacher Polizei hat sich die Meldung notiert. Sie halten Augen und Ohren offen und geben uns Bescheid, sobald sie etwas über unseren abgereisten Gast wissen. “
„ Wie jetzt ? Kommt keine Spurensicherung, Hunde, was weiß ich ? “
Jörg Burghamer starrte Frieder an, dann schüttelte er den Kopf. „ Frieder, du spinnst “, brummte er und trat auf den Platz hinaus.
Solche Träume hasste er. Und er genoss sie zugleich.
Der Mann, der noch warm, aber schon betäubt und wehrlos vor ihm liegt. Die Klinge, die sich langsam den Weg tief ins Fleisch bahnt. Die Augenlider, unter denen es erst zuckt wie in einem wirren Traum und dann ganz still wird. Die
Leiche, vor ihm ausgebreitet in aller Friedlichkeit und Un­­schuld.
In seinen Träumen mischten sich hart aneinandergereihte Bilder, wild durcheinandergewürfelte Sequenzen, aus jedem zeitlichen Zusammenhang gerissen. Und immer wieder : der tote, vom Leben befreite Körper, das Gesicht, in völliger Entspannung und Ruhe, der stechende Geruch der austretenden Körperflüssigkeiten, der erst zunimmt und später wie ein langsam verwehender Geist immer schwächer wird. Dann das warme Gefühl der Zufriedenheit, weil das lange Planen so klar und logisch zum Erfolg geführt hat.
Und schließlich das Gesicht. Kühler werdende Haut, ein regloser Körper, nur noch Fleisch und Knochen. Kein Wort, kein Blick, kein Widerstand. Das Gesicht. Der Körper. Die Gesichter. Die Körper.
Sein Atem ging schneller und flacher, und am Ende wachte er auf, schreckte hoch und stützte sich auf seine Ellbogen, während er blinzelte und sich im abgedunkelten Zimmer orien­tier­te. Der Wecker zeigte sechs Uhr, noch hatte er nicht geklingelt. Der Hagere schwang die Beine über die Bettkante, zog den Rollladen hoch und sah an sich hinunter.
Er dachte mit einem wehmütigen Lächeln daran, dass seine Träume früher mehr mit ihm gemacht hatten.
„ So, dann gehen S’ heut wieder allein auf die Maiwanderung ? “
Die propere Verkäuferin plapperte in einem fort, und er gab sich wie immer Mühe, ihr atemloses Geschwätz stoisch und mit einem verbindlichen Lächeln zu ertragen. Manchmal, wenn sie es übertrieb, stellte er sie sich tot vor. So tot wie die Schweinehälften, die hinter der gekachelten Rückwand des Verkaufsraums in der Kühlzelle hingen. Dann malte er sich aus, wie das rosige Rot aus ihren feisten Wangen wich und die Lippen sich für immer schlossen. Würde sie jemals erfahren, was sich in seinem Kopf abspielte, würde sie wohl der Schlag treffen. Aber wie sollte sie es erfahren ? Oder jemand anders hier in seinem Ort ? Er hatte stets darauf geachtet, sein Geheimnis für sich zu behalten.
„ So “, sagte sie und ließ noch einmal ihren Blick prüfend über die vor ihr aufgereihten Waren gleiten. „ Ripperl, Wammerl, Bockwurst – schaut alles lecker aus, ich würd’s am liebsten gleich selber essen. “
Sie strahlte über ihren lahmen Scherz, und ihr Kunde sah kurz auf ihre straff gespannte Schürze.
„ Ja mei “, sagte sie leichthin, als sie seinen Blick bemerkte, und lachte. „ Wenn’s halt schmeckt … Brauchen S’ noch was ? “
Er räusperte sich, verscheuchte die Fantasie ihres wäch­ser­nen Gesichts aus seinen Gedanken und deutete auf einen bräunlichen Ring in der Auslage.
„ Ein Stück Leberwurst würd ich noch nehmen. “
Das Wammerl und eine der beiden Bockwürste aß er während der Fahrt, auch die Leberwurst packte er aus und legte das aufgeschlagene Papier auf den Beifahrersitz. Er fuhr gern flott, am liebsten auf Autobahnen. Doch heute ging es nicht über die Autobahn, und heute fuhr er höchstens zügig, aber nicht zu schnell.
Als er das Ortsschild von Krumbach vor sich auftauchen sah, lächelte er. Niemand würde je von dem Scherz erfahren, den er sich durch die Verbindung von Krumbach in Schwaben und Krumbach in Vorarlberg erlaubte – aber er war es gewohnt, allein zu genießen und niemanden an seinen Gedanken und Erlebnissen teilhaben zu lassen. Mit der linken Hand fuhr er sich ein paar Mal durch die Haare und rubbelte hin und her, bis sie in alle Richtungen abstanden. Dann spreizte er die Finger, kämmte damit seine Strähnen wieder zurück und glättete sie am Ende mit der flachen Hand.
Vor ihm tauchte das Hinweisschild zum Staudamm Bol­genach auf. An der Abzweigung befand sich eine Bushaltestelle, doch weder dort noch vor den Firmengebäuden, die er nach dem Linksabbiegen passierte, war jemand zu sehen.
Den Wagen stellte er auf dem geräumigen Parkplatz ab, nach dem das kleine Sträßchen für den Verkehr gesperrt war. Er stieg aus, setzte den Schlapphut auf, schulterte den Rucksack und wanderte das letzte Stück bis zum Staudamm hi­­nunter.
Auch hier war er allein. Er kraxelte am Rand des Damms entlang bis zum Wasser hinunter und ging in die Hocke. Aufmerksam sah er sich nach allen Seiten um : Der See lag still und einsam vor ihm.
Einige Male atmete er ein und aus, bis sein Puls wieder ruhiger ging. Dann musterte er noch einmal das gegenüberliegende Ufer, die Metalltreppe ein Stück links von ihm, die imposanten Aufbauten der Schleusentore weiter hinten. Er schaute nach links und rechts. Er horchte. Und als er sicher sein konnte, dass sich niemand in seiner Nähe aufhielt, griff er mit einer Hand in den Rucksack und zog das Küchen­messer hervor. Natürlich hatte er es inzwischen mit Küchenkrepp abgewischt und das Papier im Herd verbrannt. Nun schleuderte er das Messer im hohen Bogen nach vorne. Es klatschte ins Wasser und ging auf der Stelle unter.
Er schloss die Augen und schnupperte den Aromen nach, die der leichte Wind vom See und den bewaldeten Uferhängen zu ihm herüberwehte. Dann stand er auf und ging ein paar Schritte. Vor ihm trieb Totholz im Wasser. Er fischte sich zwei Stücke aus dem See, auf der einen Seite ausgebleicht von der Sonne, auf der anderen ganz weich und dunkel vor Nässe. Er schnupperte, aber der Geruch nach Verfall, auf den er gehofft hatte, war nur ganz schwach wahrzunehmen. Immerhin. Er schnupperte noch einmal, dann lächelte er.

Jürgen Seibold

Über Jürgen Seibold

Biografie

Jürgen Seibold, geboren 1960 in Stuttgart, arbeitete als Redakteur und freier Journalist. 1989 veröffentlichte der SPIEGEL-Bestsellerautor seine erste Musikerbiografie. Es folgten weitere Sachbücher, Theaterstücke, Thriller, Komödien und Kriminalromane. Mit seiner Familie lebt Jürgen Seibold im...

Pressestimmen
Bayern im Buch

„Ein unterhaltsamer und spannender Krimi aus dem Allgäu.“

Kommentare zum Buch
Die vermisste Lilo und der Tote vom Campingplatz
claudi-1963 am 19.02.2016

Außerhalb der Saison ist auf dem Campingplatz Oberrieder Weiher ist wenig los und so man freut sich über jeden Gast. Eines Tages mietet sich ein Mann Namens Rockford ein, der Betreiber denkt sich nichts böses, auch wenn dieser auf dem Gelände herum-schnüffelt.Doch in einer Nacht bemerkt der alte Frieder, der nicht schlafen kann und nach seinen Gänsen schaut, das jemand etwas in sein Auto packt und wegfährt. Frieder findet nur einen Stoffetzen und die leere Trekkinghütte von Hr. Rockford vor, er ist überzeugt da gab es ein Verbrechen. Ein paar Tage darauf kommt es zu einem Brand in einer Scheune, bei dem man auch eine Leiche findet. Die DNA Spuren geben Hinweise auf einen ehemaligen Kripobeamten. Was wollte dieser, der sich unter einem falschen Namen ausgegebene Beamte? Hatte es was mit seinem damaligen Fall zu tun den er bearbeitet hatte, das Verschwinden um Lilo Kalkar ? Die Kemptner Polizei unter Kommissar Hansen ermittelt in der Kemptener Gegend, aber auch in seiner alten Heimat nahe Hannover. Dabei sollte Frieders gefundener Stofffetzen auch noch eine Rolle spielen.Und bei Resi und Hansen tut sich in Punkto Beziehung auch noch was neues.   Meine Meinung: Ich kenne ja schon einige Krimis von Jürgen Seibold, aber die Allgäu-Reihe kannte ich bisher noch nicht. Aber nach diesem beeindruckenden 4 Teil muss ich mir die anderen Bücher doch noch besorgen. Beeindruckend mit viel Liebe zum Detail erlebe ich hier einen Krimi wie er tatsächlich hätte passiert sein können. Das Buch und die Ermittler haben mich so ergriffen, das ich es kaum mehr weglegen konnte. Man merkt das der Autor mit ganzer Leidenschaft dabei ist wenn er so ein Buch schreibt. Für mich noch lesenswerter als die Kluftinger Reihe. Ein Regionalkrimi ganz nach meinem Geschmack den man meiner Ansicht nach nicht verpassen sollte. Ein wunderbarer 4. Teil des Allgäu Krimis unter Kommissar Eike Hansen. Das Cover ebenfalls sehr schön und passend zu dem Inhalt des Krimis gestaltet. Von mir 5 von 5 Sternen für diese gelungene Werk.

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