Mile High Love – Glück jenseits des Ozeans (Mile High-Reihe 3)
Roman
— Spicy Second-Chance-Romance in SpanienMile High Love – Glück jenseits des Ozeans (Mile High-Reihe 3) — Inhalt
Spicy Second-Chance Romance in San Diego und Spanien mit einer starken Protagonisten. Für alle Fans von Emma Scott und Brittainy Cherry
„Warum bist du hier, Ella?“ Seine Frage ist nicht mehr als ein Flüstern und trotzdem scheinen seine Silben laut und stark durch die Nacht zu hallen. „Was hat dafür gesorgt, dass du unzählige Meilen von zuhause weg bist?“ „Das Leben“, sage ich und merke, wie so viel mehr hinter diesen zwei Wörtern steckt. „Das Leben und das, was ich nicht habe kommen sehen.“
Eine Maske zu tragen ist leicht. Niemand kann hinter sie blicken, sie bietet einem Schutz. Doch wie schnell diese zerbrechen kann, merkt Zoella, als sie nicht nur ihren Ehemann, sondern auch ihr ungeborenes Kind verliert. In einer Nacht und Nebelaktion flüchtet sie in den Süden Spaniens, wo sie versucht zu sich selbst zurückzufinden. Zu der Frau, die sie war, bevor der Druck nach Perfektion sie zu etwas anderem formte. Dass sie dabei auf mehrere Arten mit ihrer Vergangenheit konfrontiert wird, ist alles andere als geplant – genauso wenig wie die Entscheidung, was ihr Herz wirklich will …
Leseprobe zu „Mile High Love – Glück jenseits des Ozeans (Mile High-Reihe 3)“
Prolog
Jemanden zu lieben, dessen Herz einer anderen gehört, kann so verflucht wehtun.
Noch schlimmer ist es, wenn der Mann, der sich für einen entschieden hat – mit dem man sich ein verdammtes Leben aufgebaut hat –, es nicht mal bei der eigenen Hochzeit schafft, die Finger dort zu lassen, wo sie hingehören.
Ich glaube aber, dass mein Herz erst in dem Moment wirklich bricht, als ich ihn mit all seinen Sachen vor unserer Haustür sehe. In diesem Augenblick kann ich mich trotz des gewaltigen Bauchs, in dem ich unser Kind trage, nicht mehr der Realität [...]
Prolog
Jemanden zu lieben, dessen Herz einer anderen gehört, kann so verflucht wehtun.
Noch schlimmer ist es, wenn der Mann, der sich für einen entschieden hat – mit dem man sich ein verdammtes Leben aufgebaut hat –, es nicht mal bei der eigenen Hochzeit schafft, die Finger dort zu lassen, wo sie hingehören.
Ich glaube aber, dass mein Herz erst in dem Moment wirklich bricht, als ich ihn mit all seinen Sachen vor unserer Haustür sehe. In diesem Augenblick kann ich mich trotz des gewaltigen Bauchs, in dem ich unser Kind trage, nicht mehr der Realität entziehen. Wir hatten nie eine richtige Chance – nicht, wenn der Platz in seiner Brust schon immer einer anderen gegolten hat.
„Das war’s also?“
Ich versuche, nicht vor ihm zu zerfallen, ihm nicht zu zeigen, wie sehr mich seine Entscheidung trifft. Niemals würde ich zulassen, dass jemand einen meiner schwachen Momente mitbekommt, wenn ich es verhindern kann.
„Du weißt, dass es so nicht weitergehen kann, Zoella.“
Das kann es wirklich nicht.
„Und einfach abzuhauen, erscheint dir als der richtige Weg?!“, gifte ich drauflos, lege gleichzeitig die Hände auf meinen Bauch und streichle beruhigend drüber. Unser Kleines spürt jedes Mal, wenn meine Gefühle drohen überhandzunehmen, weshalb ich beim Sprechen nicht aufhöre, meine Handflächen darüberstreichen zu lassen.
„Ich hätte dich für vieles gehalten, aber nicht für jemanden, der seine schwangere Ehefrau für eine Affäre im Stich lässt und verschwindet.“
„Wir wissen beide, dass Mikayla immer mehr war als das.“ Die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme, diese plötzliche Kälte … noch nie habe ich ihn so mit mir sprechen hören. Und nicht zum ersten Mal frage ich mich, ob ich meinen Ehemann jemals wirklich gekannt habe.
„Außerdem“, fährt er fort und wirft einen Blick auf meinen Bauch, bei dem seine Gesichtszüge sanfter werden, „lasse ich dich nicht im Stich. Ich werde für unser Kind da sein, immer.“ Die folgenden Worte triefen vor Schmerz. „Ich werde der Vater sein, den es verdient. Doch das kann ich nicht, wenn wir weiter diese Farce aufrechterhalten.“
„Nennst du unsere Ehe ernsthaft eine Farce?!“
„Seien wir ehrlich, Zoella. Du kannst mich nicht wirklich lieben, wenn du diese Affäre all die Monate toleriert hast.“ Mit jedem seiner Worte kommt er näher auf mich zu, bis wir uns mitten in unserem Hausflur gegenüberstehen und nur mein Bauch Abstand zwischen uns schafft. „Wenn du mich wirklich so lieben würdest, wie du behauptest, hättest du das niemals zugelassen. Du hättest alles in deiner Macht Stehende getan, um den Mann, dem dein Herz gehört, nicht zu verlieren.“
„Habe ich das nicht, indem ich dich deine Triebe habe ausleben lassen?!“, knalle ich ihm entgegen, er jedoch schüttelt nur den Kopf.
„Es gibt einen Unterschied zwischen Besitzen und Lieben. Du wolltest mich besitzen und so Mikayla wehtun, weil du ganz genau wusstest, was wir schon damals füreinander empfunden haben. Es muss für dich ein Wink des Schicksals gewesen sein, als mein Vater mir die Pistole an die Brust gesetzt hat. Weil es das ist, was du am besten kannst – das bekommen, was du willst. Egal, was für Konsequenzen sich für andere daraus ergeben, solange du am Ende gewinnst!“
„Raus.“ Das Wort ist zu Beginn nicht mehr als ein Hauch, der über meine Lippen kommt. Doch einmal angefangen, kann ich kaum aufhören, es immer lauter zu wiederholen. Meine geballten Fäuste knallen gegen seine Brust und ich dränge ihn weiter und weiter Richtung Haustür, bis ich mit Mühe und Not seine Koffer über die Türschwelle schubse.
Sean lässt all das kommentarlos über sich ergehen, selbst als ich ihn letztendlich durch den Türbogen stoße, wonach ich mich schwer atmend am Rahmen abstützen muss.
„Verschwinde und wage es bloß nicht, wiederzukommen!“
Erst meine Hände, dann mein gesamter Körper fangen an zu zittern, immer stärker, immer unkontrollierter. Auch er scheint es zu merken und will auf mich zukommen, doch ich weiche zurück und schmeiße die Tür mit einem lauten Krachen ins Schloss. Ich werfe ihn aus unserem gemeinsamen Zuhause, das sich schon so lange nicht mehr danach angefühlt hat. Wie auch, wenn die Menschen, die dort wohnen, niemals ein Zuhause füreinander waren?
Schritt für Schritt weiche ich zurück und behalte die Tür im Auge. Öffnen tut sie sich jedoch nicht mehr, obwohl Sean eben noch die Schlüssel in der Hand hatte. Stattdessen höre ich wenige Minuten später, wie ein Motor gestartet wird und sich Reifen über den Kies bewegen. Er ist weg.
Der Kloß in meinem Hals wird immer größer, ohne dass ich etwas dagegen tun kann. Auch die Tränen lassen nicht lange auf sich warten. „Verdammte Scheiße“, fluche ich leise und wische sie mit den Fäusten weg.
Ich hasse es, zu weinen.
Ich hasse es, schwach zu sein. Vor allem einem Mann gegenüber, der meine Tränen nicht wert ist.
Trotz der Tatsache, dass nicht all seine Worte gelogen waren, spüre ich den Schmerz in meiner Brust zu deutlich. Denn ich liebe ihn – habe ihn geliebt – auf meine eigene Art und Weise. Sie hat ihm nur nicht ausgereicht.
Das Treten in meinem Bauch wird immer stärker, bis ich mich auf den Boden sinken lasse und beginne, eine sanfte Melodie zu summen, wie Mom es früher immer getan hat.
Umgeben von der Stille des Hauses fällt es mir immer leichter, das Kleine zu beruhigen, genauso wie mich selbst. Doch mit der Stille folgen die Gedanken. Die Fragen, die Szenarien, die bittere Pille der Wahrheit.
Mein Mann hat mich verlassen. Egal, was seine Worte mir vermitteln wollten. Und ich werde den Teufel tun und mich davon unterkriegen lassen.
Denn trotz meines Nachnamens bin ich im Blut noch immer eine Maddox – und wir Maddox lassen uns von nichts unterkriegen. Wir finden immer eine Lösung.
Stunden später stehe ich mit den Autoschlüsseln vor meinem Wagen, in der Hoffnung, der kurzzeitige Abstand zu diesem Ort würde helfen. Ich weiß zwar, dass ich laut Dr. Santrose bis zur Geburt nicht mehr Auto fahren sollte. Allerdings wäre ich beim Warten auf ein Taxi durchgedreht. Und wie man merkt, sieht man ja, was man davon hat, wenn man sich auf andere statt auf sich selbst verlässt.
Doch heute hätte ich auf sie hören sollen. Ein einziges Mal wäre es besser gewesen, meinen Stolz runterzuschlucken und vernünftig zu sein.
Nur lernt man erst aus seinen Fehlern, wenn sie bereits geschehen sind – und der Preis für meinen ist ein Teil meines Herzens.
Kapitel 1
Ich höre sie.
Ihre besorgten Stimmen, die geflüsterten Worte, die sie untereinander austauschen, in der Vermutung, ich würde sie nicht verstehen. Doch das tue ich.
Jedes. Einzelne. Wort.
Ob sie deshalb mehr wehtun, weil sie es nicht mal schaffen, sie mir ins Gesicht zu sagen, oder weil sie glauben, sie würden mir damit helfen, weiterzumachen, weiß ich nicht. Alles, was ich fühle, ist diese unendliche Leere, die mich seit dem Moment fest in ihrem Griff hat, als ich in diesem weißen sterilen Zimmer aufgewacht bin.
So kalt, so leer, so … allein. Denn ich wusste, das bin ich, auch ohne meine Hände zu meinem Bauch wandern zu lassen. Er ist genauso leer wie mein Herz, meine Gefühle, meine Seele.
„Wir müssen doch was tun können“, höre ich ausgerechnet die Stimme meines Ehemanns – ich korrigiere, Ex-Manns – und presse die Lider aufeinander. In der Hoffnung, dass das einsetzende Rauschen in meinen Ohren seine Stimme verschluckt.
„Solange sie keine Hilfe will, können wir nichts tun.“ Eine kurzweilige Stille tritt ein, bis Moms einfühlsame Stimme mir näher kommt, gefolgt von ihrer Hand, die mein Haar streichelt. „Ein Kind zu verlieren, ist eines der schlimmsten Dinge, die einer Mutter passieren können. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es sich anfühlen muss, sein Kind nicht ein Mal in den Armen zu halten, es kein einziges Mal wirklich sehen zu können.“
Meine Lippen bleiben verschlossen, dennoch schmecke ich kurz darauf das Salz meiner Tränen, die sich ihren Weg durch sie hindurch suchen.
Immer wieder daran erinnert zu werden, dass ich nicht imstande gewesen bin, mein eigenes Kind zu beschützen, zerfetzt jedes Mal aufs Neue das, was von meinem Herz, was von mir noch übrig geblieben ist. Als stecke ein Dolch in meinem Rücken, so tief, dass er sich bei jeder einzelnen Bewegung immer weiter in mich hineinbohrt. Ich habe keinerlei Chance, ihn zu erreichen. Ein unendlicher Schmerz, dazu bestimmt, nie zu vergehen.
Wenn ich mich bewegen könnte, würde ich mich ihren Fingern entziehen, die durch meine Strähnen gleiten. Wäre es mir möglich, würde ich sie alle von mir stoßen, schreien, sie sollen mich in Ruhe lassen.
Doch ich kann es nicht. Weil ich einzig dazu imstande bin, in den tröstenden Erinnerungen an mein Baby zu ertrinken und zu beten, sie würden mich einfach mit sich nehmen.
„Mir ist bewusst, dass sie nicht die Einzige ist, die ihr Kind verloren hat. Ich denke dennoch, dass es besser wäre, wenn du jetzt gehst, Sean“, durchbricht Moms Stimme irgendwann meine Gedanken und ich kann ihr nur zustimmen. Immerhin habe ich in kürzester Zeit nicht bloß unser Kind, sondern auch meinen Mann verloren.
„Aber –“
„Geh.“ Ich zucke zusammen, sobald ich verstehe, dass es meine eigene kratzige Stimme ist, die ihn unterbricht. Doch einmal angefangen, schaffe ich es nicht, mich zu bremsen. Wieder und wieder stoße ich dieses eine Wort aus, wie an jenem Tag, an dem ich ihn rausgeschmissen habe, bis ich endlich höre, wie er das Zimmer verlässt. Selbst dann schaffe ich es nicht aufzuhören, fange an zu weinen vor Überforderung. Wegen der Tatsache, dass ich mich das erste Mal in meinem Leben so verloren fühle. So gebrochen.
„Zoella, Schatz.“ Moms bebender Ton schafft es nicht, mir aus dieser Spirale hinauszuhelfen. Nicht einmal ihre Umarmung, die mich an eine Zeit erinnert, als das Leben noch leicht und kontrollierbar war. Einfach.
Geh.
Geh.
Geh.
Eine Ewigkeit lang schlüpft nur dieses eine verfluchte Wort aus meiner Kehle. Das einzige Wort, das alles beschreibt, was jetzt gerade in meinem Leben passiert.
Alles geht und verschwindet, ohne dass ich die Chance habe, daran festzuhalten. Ich warte nur noch auf den Moment, in dem auch ich selbst fort bin.
Das nächste Mal werde ich mitten in der Nacht wach. Nur die Strahlen des Mondes erhellen mein altes Jugendzimmer, in dem ich gewohnt habe, bis ich mit Sean …
Sofort schicke ich meine Gedanken auf einen anderen Pfad und drehe mich auf die Seite, wobei sich ein stechender Schmerz durch mich hindurchzieht. Mit zusammengebissenen Zähnen schaffe ich es, mich aufzusetzen und dabei nicht den Arm zu belasten, der noch immer in einer Schlinge steckt. Selbst dieses winzige Detail erinnert mich an das, was passiert ist.
Die unzähligen Glassplitter.
All das Blut.
Und ich mittendrin, mit dem Gefühl, mein Leben sei vorbei.
Nur im Nebel kann ich mich an die Worte des Arztes erinnern, der mich nach dem Unfall behandelt hat. Die Sätze, die er gesagt hat, liegen wie ein unvollendetes Puzzle vor meinem inneren Auge, doch die wichtigsten leuchten wie Neonschilder in der Nacht.
„Ihr Baby …“
„… Ihr Verlust …“
„Sie hatten Glück …“
Die letzten Wortfetzen sind es letztendlich, die dafür sorgen, dass ich lachen, schreien, weinen – dass ich all das auf einmal tun will.
Glück. Er hat von verdammtem Glück gesprochen, dass ich mit ein paar Prellungen und einem angebrochenen Arm davongekommen bin. Dabei ist so viel mehr in mir kaputt gegangen. Es ist so viel in mir durch den Unfall zerbrochen, zerstört worden, als sich dieser Besserwisser von Arzt nur vorstellen konnte. Das ist auch der einzige Grund, wieso ich froh war, dass Mom und Dad alles Mögliche getan haben, mich so schnell wie möglich aus dem Krankenhaus nach Hause zu bringen. Und nur deswegen lasse ich all die Beileidsbekundungen, die Blicke über mich ergehen. Lieber höre ich all diese Worte, statt an dem Ort zu sein, wo mich Ärzte behandeln, die nicht die geringste Ahnung zu haben scheinen, wie sie mit mir umzugehen haben.
Alles ist besser als das. Alles ist besser, als im selben Gebäude wie der leblose Körper meines Babys zu liegen.
Meine Kehle schnürt sich zu, das Atmen fällt mir immer schwerer. So schnell wie in meinem Zustand möglich stehe ich auf, gehe auf die Fenster zu und reiße sie auf. Die kühle Luft dringt in meine Lungen, füllt sie mit lebenserhaltendem Sauerstoff. Trotzdem fühlt es sich eher so an, als stünde ich gerade auf der Schwelle.
Das unerwartete Vibrieren neben mir erinnert mich daran, dass Mom und Sean nicht die Einzigen waren, die in den letzten Wochen wieder und wieder versucht haben, an mich heranzukommen. Ohne auf das zersprungene Display meines iPhones schauen zu müssen, bin ich mir absolut sicher, von wem die Nachricht ist. Allerdings habe ich weder auf ihre Nachrichten noch auf ihre sonstigen Versuche reagiert, mich zu erreichen. Denn wenn ich meiner Schwester in die Augen sähe, würde ich auch an sie denken. Mein Kopf würde einem Weg folgen, an dessen Ende ich zu dem Tag kommen, an dem Sean mich für sie verlassen hat. Und dieser würde mich zu dem Moment auf der überfüllten Kreuzung führen, wo …
Ich will meine Arme um meinen Bauch schlingen, doch noch ehe ich den weichen Stoff des Nachthemds berühre, in das Mom mich gesteckt hat, reiße ich sie wieder nach unten und heiße den Schmerz meines angeknacksten Armes willkommen. Es ist wie ein Schutzmechanismus, dass ich nicht einmal mir selbst erlaube, diesem Bereich meines Körpers nahe zu kommen. Dabei weiß ich, dass es dort nichts mehr gibt, was ich beschützen kann.
Aber etwas zu wissen, ist eine andere Sache, als etwas auch zu akzeptieren. Mein Kopf kann noch weitere Wochen lang wissen und zu verarbeiten versuchen, dass ich mein Kind verloren habe, während mein Herz nicht bereit sein wird, diese Tatsache zu verstehen. Und solange das nicht passiert, wird es für mich so sein, als wären das kleine Wesen in mir und meine Aufgabe, es mit allem, was ich habe, vor allem Übel der Welt zu bewahren, noch da.
Es braucht noch einen Moment, ehe ich mir erlaube, Abstand von dem geöffneten Fenster zu nehmen und mich das erste Mal, seitdem ich das Krankenhaus verlassen habe, wirklich umzusehen. Alles ist wie immer sauber, ordentlich, in Reih und Glied. Mein Jugendzimmer spiegelt wider, wie ich mein Leben bisher gelebt habe. Bis auf die rosa Hortensien, die sich in einer großen Vase auf meiner Kommode befinden und allmählich ihre Köpfchen hängen lassen. Langsamen Schrittes gehe ich auf sie zu, umfasse sie sanft und hebe sie aus einem unerfindlichen Grund an. Vielleicht, weil sich ein Teil in mir erhofft, dass sie ihre Stärke zurückerlangen, ihren eisernen Willen. Dass sie sich dem, was sie niederzuringen scheint, widersetzen. So, wie ich es sonst immer getan hätte.
Aber noch ehe ich sie gänzlich loslasse, neigen sie sich gen Boden, ergeben sich ihrem Schicksal, gegen das sie nichts tun können. Außer wenn sie das bekommen, was sie dafür brauchen.
Es ist total schwachsinnig, dass ich mich ausgerechnet mit Blumen vergleiche. Aber ich merke, wie es hilft. Wie meine Finger, wenn auch etwas umständlich durch die Schlinge, nach der Vase greifen und mich meine Füße in mein Badezimmer tragen. Dort ersetze ich das alte Wasser gegen neues, frisches und platziere die Blumenstiele sorgsam an Ort und Stelle. Mein Kopf scheint immer mehr zu arbeiten, während ich mich gleichzeitig wieder auf den Rückweg mache, die Vase auf ihrem vorherigen Platz abstelle und erwartungsvoll auf die gesenkten Blumen starre. Natürlich weiß ich, dass sie nicht von der einen auf die andere Sekunde wieder stark und mächtig aufrecht stehen, mein Verstand bildet sich jedoch ein, wie das erste Fünkchen an Lebensenergie bereits in sie zu fließen beginnt. Einfach nur, weil man ihnen etwas gegeben hat, das ihnen hilft.
Ich wende mich ab, schweife mit meinem Blick durch das Zimmer, bis ich das gefunden habe, was ich suche. Erst dann begebe ich mich in Richtung meines Kleiderschranks. Kurz nachdem ich ihn geöffnet habe, stoße ich einen erleichterten Seufzer aus. Mit meiner freien Hand umschließe ich den Griff des Koffers, ziehe ihn mit mir und hebe ihn nach mehreren Versuchen erfolgreich auf das Bett. Meine Mundwinkel schaffen es, sich wenige Millimeter zu heben, und es fühlt sich gut an. Zum ersten Mal in den letzten Wochen habe ich das Gefühl, dass das, was ich tue, das Richtige ist. Dieser Ansporn lässt mich energischer werden, in meinem alten Kleiderschrank nach allem möglichen an Kleidung – dick und dünn, lang und kurz – zu greifen und sie in den geöffneten Kofferhälften zu verstauen.
Hätten Mom und Dad nicht so vehement darauf bestanden, mich auf keinen Fall in meinem Haus allein zu lassen und mich stattdessen hier einzuquartieren, wäre mir keine Wahl geblieben, als dorthin zu fahren. Ich wäre mit etwas konfrontiert worden, zu dem ich mich absolut nicht imstande gefühlt habe. Zumindest nicht mehr, als ich es eh schon wurde, und man merkt, wie gut ich damit klarkomme.
Es ist mitten in der Nacht und ich bin einfach dabei, meine Sachen zu packen. Zu … gehen. Aber nicht auf die Weise, wie ich vor wenigen Stunden noch dachte. Dieses Gehen fühlt sich nicht niederschmetternd oder endgültig an, ganz im Gegenteil. Es ist eher wie ein Startschuss für etwas, das längst überfällig gewesen ist.
Meine Finger und Füße lassen sich nicht stoppen, wandern von Kleidung zu Kosmetik zu Drogerieprodukten, bis ich glaube, der Koffer würde platzen, wenn ich ihm noch mehr zumute. Ihn zu schließen, ist wiederum ein Kraftakt, der mit Schmerzen einhergeht, weshalb ich froh bin, sobald er zu ist und bereit steht. Nur ich bin es noch nicht, was ich bemerke, sobald ich einen Blick in den Spiegel werfe. Mein rotes Haar ist völlig zerzaust, mein Körper wird noch immer nur von dem cremefarbenen Nachthemd bedeckt und auch mein Gesicht ist so nackt ohne die schützende Rüstung, die ich Tag für Tag aufgetragen habe. Zu meinem Glück sind die blauen Flecken an meinem Körper zum größten Teil verschwunden und nur die schwarze Schlinge um meine Schulter erinnert Außenstehende daran, was passiert ist.
Du lässt dich nicht von so was abhalten, spricht mir meine selbstbewusste Stimme, die ich das letzte Mal vor jenem Tag gehört habe, gut zu. Ich nicke meinem Spiegelbild zu.
Ich. Schaffe. Das.
Ein letzter langer Atemzug, dann wende ich mich ab und gehe aus meinem Badezimmer, wobei ich beinahe in jemanden hineinlaufe. Die Person hält mich gerade so an den Schultern zurück, dennoch durchzuckt mich zusammen mit dem Schrecken ein stechender Schmerz. Es dauert nur Millisekunden, bis ich Joe, den Verlobten meiner Mom, durch das wenige Licht erkenne und einen Schritt zurückweiche.
Sofort lässt er mich los und hebt seine Hände abwehrend. „Ich wollte dich nicht erschrecken, ich habe nur Geräusche von hier gehört und wollte vorsichtshalber nachschauen.“
Da ich nicht antworte, mustert er erst mein Gesicht, bevor seine braunen Augen ihren Weg zu dem geschlossenen Koffer auf meinem Bett finden und er die Stirn runzelt.
Noch ehe sich sein Mund öffnen kann, komme ich ihm zuvor. „Bitte sag es niemanden.“
Erschrocken über meinen flehenden Unterton, spannen sich meine Muskeln an, allerdings scheint meine Bitte ihre Wirkung nicht zu verfehlen. Ich erkenne genau, wie sich auf Joes Mund ein kleines, mitfühlendes, wenn auch unsicheres Lächeln bildet, und er nickt. „Brauchst du Hilfe? Kann ich irgendwas tun?“ Um seine Worte zu unterstreichen, deutet er mit einem Nicken zu meinem Arm, der meinen Plan nicht unbedingt leichter macht.
Einen Wimpernschlag lang zögere ich, überlege, ob ich Joe wirklich mit hineinziehen will, wenn ich sang- und klanglos mein Elternhaus verlasse, gehe dann jedoch an ihm vorbei und bleibe neben dem Koffer stehen. Auch ohne Worte versteht er und hebt ihn auf den Boden. „Ich bringe den schon mal runter.“ Er gerät ins Stocken, als er mir ins Gesicht sieht. „Soll ich dich fahren oder dir ein Taxi rufen?“
Unsicher beiße ich mir auf die Unterlippe, gleichzeitig denke ich darüber nach, wie lange es dauern würde, bis ein Taxi hier wäre. Wie hoch die Wahrscheinlichkeit wäre, dass Mom oder Dad wach werden. Denn nicht nur ich habe die letzten Wochen hier verbracht, sondern auch Mom, die nicht von meiner Seite weichen wollte – und so sehr ich es zu schätzen weiß, ist mir auch schnell bewusst, dass ich weder ihr noch Dad in diesem Moment in die Augen sehen könnte.
„Wenn es dir keine Umstände macht, jetzt noch zu fahren“, antworte ich also und versuche, meine Mundwinkel ein wenig zu heben.
Joe nimmt wortlos den Koffer und lässt mich allein. Ich nutze die Zeit, um mich umzuziehen, was leichter gesagt ist als getan. Das Nachthemd weicht einem lockeren Pullover und einer Leggings – casual und nicht zu schlabberig. Meine Haare bürste ich lediglich durch, sodass sie in roten Wellen über meine Schulter fallen. Mittlerweile sind sie mir eigentlich zu lang, doch ein Haarschnitt ist gerade das Letzte, wofür ich Zeit und Gedanken habe.
Erst, als ich mich soweit imstande fühle, das Haus zu verlassen, gehe ich die Treppen nach unten. Auf der Mitte der Stufen bleibe ich kurz stehen und betrachte Moms Verlobten, der mit nachdenklichem Ausdruck an der Haustür wartet. Es erleichtert mich zu wissen, dass sie in Joe einen Mann gefunden hat, der den Boden unter ihren Füßen anbetet. Nicht, dass Dad sie nicht genauso geliebt hätte, doch wenn ich so darüber nachdenke, erkenne ich erst jetzt, wie verschieden Liebe sein kann. Dieses Terrain zu betreten, ist für mich jedoch ganz dünnes Eis, weshalb ich die restlichen Treppenstufen hinter mich bringe und so seinen Blick auf mich lenke.
Sein Blick wandert kurz hinter mich, ehe Joe an der Garderobe nach meinem dünnen Übergangsmantel greift und mir so gut wie möglich hineinhilft. Die Schuhe angezogen – ein Paar schlichte Ballerinas –, fehlt nur noch meine Handtasche. Ich werfe einen Blick hinein und entdecke mein Handy, das vorhin noch auf meinem Nachttischchen gelegen hat. Ein Seitenblick zu Joe genügt, um zu wissen, dass er es von oben mitgenommen hat.
Ich folge ihm aus dem Haus und ziehe hinter mir die Tür ins Schloss. Wir gehen auf Dads Firmenwagen zu, auf dessen Rücksitz er meinen Koffer verstaut, während ich mich auf den Beifahrersitz fallen lasse. Kurz darauf sitzt Joe neben mir, startet den Motor und fährt aus der großen Ausfahrt. Lediglich durch den Seitenspiegel erhasche ich einen Blick auf die Kontur des weißen Hauses, in dem ich aufgewachsen bin. In dem ich Momente erlebt habe, die mein Leben prägten. Augenblicke, so schön und so schmerzhaft, dass ich mein Gesicht letztendlich abwende.
„Wo soll ich dich hinfahren?“, durchbricht Joe die Stille.
Ich zögere – wenn auch nur kurz –, ehe ich sage: „Nach Hause.“ Dabei ist es das schon lange nicht mehr. Nicht für mich. „Und ich muss dich um noch einen Gefallen bitten.“
Kapitel 2
Obwohl es eine kurze Autofahrt sein sollte, habe ich das Gefühl, dass die Sekunden sich so lang wie nur möglich ziehen. Dass sie versuchen, mich auf den Anblick vorzubereiten, der dort auf mich warten wird. Mir die Chance geben, mich emotional so zu wappnen, dass ich diese unüberwindbare Hürde meistern werde.
Ich glaube, ich war noch nie so froh, jemanden zu haben, der diese Last freiwillig von mir nimmt und mir die Möglichkeit gibt, mich ihr zu entziehen. Diesem Schmerz, der sich allein bei der Vorstellung, das Haus vor mir zu betreten, in meinem Herzen ausbreitet.
„Bist du sicher, dass du reingehen willst? Du kannst mir sonst auch sagen, was du brauchst, und ich hole dir alles.“ Joes aufmunternder und tröstender Ton ist es, der es mir ermöglicht, die Starre, in die all meine Muskeln verfallen sind, zu durchbrechen und langsam den Kopf zu schütteln.
„Nein, es geht schneller, wenn ich mitkomme. Aber …“ Das Engegefühl in meiner Brust erlaubt mir kaum, zu Atem zu kommen. „Bleib einfach bei mir, bitte.“
„Ich lasse dich keinen Moment allein, wenn du das nicht willst.“
Zusammen steigen wir aus dem Auto. Die Scheinwerfer erleuchten den Eingang, vor dem ich mit schwitzigen Händen nach meinem Schlüssel krame. Joe hilft mir, indem er mir die Tasche abnimmt. Kurz darauf ertönt das klirrende Geräusch, gefolgt von dem Klicken des Schlosses. Vom einen auf den anderen Moment wird die Dunkelheit des Flures durch die kalten Lichter der Lampen erhellt und gibt damit den Blick auf meine Vergangenheit frei.
Auf mein Leben vor dem Unfall.
Ein Leben, in dem ich vielleicht schon mein Baby in den Armen hätte halten können, wenn auch ohne einen Mann an meiner Seite.
Ich hätte damit leben können. Nicht ohne Grund wussten meine Eltern immer, dass sie sich um mich weniger Sorgen machen müssen als um Angelina. Ich bin eine Überlebenskünstlerin, eine Planerin. Eine Perfektionistin.
Wie ironisch, dass ausgerechnet ich diejenige bin, die letztendlich in einem Chaos versunken ist, aus dem sie keinen anderen Ausweg findet als die Flucht.
„Was brauchst du?“, hakt Joe nach und ich zähle ihm alles auf, was mir noch fehlt, ehe er mich wie gebeten zum Flughafen fahren wird.
Meinen Pass, ein paar Sachen, die mir Mom nicht eingepackt hat, und …
Mit dem Ausstoßen meines Atems schüttle ich den Gedanken ab. Zielstrebig gehe ich voraus in Richtung meines Schlafzimmers, wo ich es nicht wage, mich umzusehen, sondern geradewegs meinen begehbaren Kleiderschrank ansteuere und die wenigen Teile einpacke, die mir fehlen.
Als ich nach meinem Lieblingscardigan greifen will, segelt weißer Stoff vor meine Füße. Reflexartig schaffe ich es, einen Zipfel dessen zu umfassen. Doch sobald meine grünen Augen erkennen, was ich nun festhalte, wünschte ich, es wäre gnadenlos auf dem Boden gelandet.
Baby Wright – Est. 2021
„Verdammt, Angelina.“ Ausgerechnet das Geschenk meiner Schwester ist es, das dafür sorgt, dass meine Sicht verschwimmt. Dass dieser unkontrollierbare Stich durch meine Brust fährt, immer stärker wird und mir keine Wahl lässt, als die wenigen Meter zu meinem Bett zu überbrücken, um mich darauf fallen zu lassen. Alle zehn meiner Finger krallen sich in den Strampler. Wie in einen Talisman, einen Glücksbringer. Die Zerrissenheit in mir, ihn zu verbrennen und gleichzeitig an mich pressen zu wollen, trotz meiner Einschränkung, macht es umso schlimmer.
Erst die Hand, die behutsam über meinen Rücken streicht, zieht mich in die Realität zurück und damit auch in das Wissen, dass ich nicht allein bin.
„Entschuldige“, murmle ich leise und räuspere mich. Joe hingegen lächelt nur und deutet mit dem Kopf auf das winzige Stück Stoff zwischen meinen Händen. „Es ist völlig okay zu trauern. Zu weinen. Dafür musst du dich nicht schämen.“
„Das tue ich auch nicht. Ich …“
Ich überlege und überlege, doch die richtigen Worte wollen einfach nicht folgen. Meine Zunge ist wie verschluckt, nicht erreichbar. Doch es scheint nicht notwendig zu sein, da er bloß nickt und ein leises „Ich weiß“ antwortet. Zwar bezweifle ich, dass er das tut, doch ich lasse es unkommentiert.
Ganz langsam löse ich Finger für Finger von dem weichen Stoff, bis ich ihn nur noch zwischen Daumen und Zeigefinger halte. Aber ich schaffe es nicht, ganz loszulassen, egal wie sehr der Anblick mein Herz zerreißt. Ihn letztendlich auf meinem Bett zurückzulassen, fühlt sich so an, als würde ein Teil von mir hier zurückbleiben.
Joe folgt meiner Bewegung, sobald ich von dem Bett aufstehe, und hilft mir, die restlichen Sachen, die ich dort gesammelt habe, nach unten zu meinem Koffer und der Tasche im Auto zu tragen. Es ist ein surreales Gefühl, all das hinter mir zu lassen – aber tue ich das wirklich? Ich habe nicht die geringste Ahnung, wo ich hinsoll. Ich weiß nur, dass ich wegmuss. Egal wohin, Hauptsache fort von diesem Ort, dieser Stadt. Weg von allem, was mich an mein jetziges Leben erinnert.
Sobald die restlichen Dinge verstaut sind und Joe auf die Fahrerseite zugeht, werfe ich einen allerletzten Blick auf das Haus, von dem ich dachte, ich würde darin meine eigene Familie gründen. Mit einem Mann, der mich liebt. Mit unserem gemeinsamen Kind, das ich all die Liebe schenken würde, die ich zu geben habe.
Doch jetzt … jetzt erkenne ich hier nur einen Ort, der mein Leben Stück für Stück zerstört hat, ohne dass ich mir dessen bewusst gewesen bin.
Ich lasse mich auf den Sitz fallen, ignoriere den Schmerz, der meinen Arm entlang strahlt, und die Schlüssel fallen klirrend zwischen uns in die Vertiefung. Dann ziehe ich die Autotür zu und der Motor heult auf. In einvernehmlicher Stille entfernen wir uns mehr und mehr von meiner Familie, von meinem alten Leben, und steuern die Straßen außerhalb der Innenstadt an. Ich bin Joe dankbar dafür, dass er mich mitten in der Nacht quer durch San Diego fährt und dabei den Weg zu meinem Unfallort meidet, und das, obwohl ich nicht einmal seine eigene Tochter bin.
Sobald ich eines der Schilder für die Ausfahrt zum Flughafen entdecke, bitte ich ihn einzulenken. Auch ohne meine direkten Anweisungen scheint er nun zu wissen, welcher Flughafen genau mein Ziel ist, behält seine Gedanken aber für sich. Die komplette halbe Stunde, die wir zum San Diego International Airport brauchen, verbringen wir mit Schweigen, und ich rechne ihm hoch an, dass er mir weder zusprechen noch mich davon abhalten will, was ich im Begriff bin zu tun.
Vielleicht finde ich eines Tages meinen eigenen Joe.
Der große Flughafenparkplatz kommt in Sichtweite und so langsam spüre ich eine Mischung aus Vorfreude und Angst in mir aufkeimen. Sonst bin ich kein impulsiver Mensch. Ich liebe Ordnung, einen Plan, den Überblick über alles zu haben. Das hier ist das Gegenteil von mir, und doch … fühlt es sich gut an.
Sobald der Wagen steht und die Motorgeräusche verstummen, steige ich aus und warte, bis Joe mit einem Gepäckwagen zurückkommt und meine Sachen darauf lädt. Zusammen gehen wir auf den Eingang zu, wo sich die automatischen Türen öffnen und der warme Luftzug von innen die Herbstkälte von mir spült. Mitten in der Halle bleiben wir stehen. Ich betrachte die riesigen Anzeigetafeln, auf denen ein Flug nach dem anderen aufgelistet ist. Den Inlandsflügen widme ich keinen zweiten Blick, denn wenn ich mir mit einer Sache sicher bin, dann dass es nicht genügen wird, ans andere Ende der Staaten zu reisen. Vor allem nicht, weil ich weiß, dass sich dort diejenige befindet, die nun das Leben führen wird, das doch eigentlich meines sein sollte …
Meine Lider schließen sich, während ich tief durchatme, und erst dann wage ich es, mich Joe zuzuwenden. Er übergibt mir den Gepäckwagen und bleibt unschlüssig vor mir stehen. Im nächsten Moment finde ich mich in einer Umarmung wieder, die so sanft ist, dass er meinen verletzten Arm nicht berührt, und dennoch zeigt, dass ihm diese Situation alles andere als leichtfällt.
„Versprich mir, dass du dich bei deiner Mutter melden wirst. Und sei es nur, um ihr zu versichern, dass es dir gut geht.“
Das Brennen in meinen Augen ist unaufhaltsam und ich versuche zu sprechen, woran ich kläglich scheitere. Daher nicke ich an seinem Hals, ehe er mich aus seinem Griff entlässt und nur noch eine Hand auf meiner gesunden Schulter ruht. Der Ausdruck in seinen Augen ist es, der dafür sorgt, dass sich meine Lippen doch noch teilen, wenn auch nur für ein einziges Wort. „Danke.“
„Nicht dafür. Ich hoffe, dass du das finden wirst, was du suchst. Egal wo und wie lange es dauert.“ Und dann lässt er mich zurück, ohne zu wissen, wo ich hingehen werde. Nur mit einem losen Versprechen, das ich ihm gegeben habe. Eines, von dem ich nicht weiß, wann ich dazu imstande sein werde, es einzulösen.
Meine Aufmerksamkeit wird wieder von den verschiedenen Reisezielen angezogen, doch keines von ihnen scheint mich wirklich zu überzeugen. Nachdem ich einen freien Sitzplatz gefunden habe, atme ich durch und grabe in den Tiefen meiner Gedanken. In jenen, die mit den Jahren immer mehr in den Hintergrund gerückt sind, während die Firma, mein Job, meine Rolle in unserer Familie den Vordergrund eingenommen haben und meine anderen Träume und Wünsche nach und nach in Vergessenheit geraten sind. Jetzt erlaube ich mir, sie wiederzufinden, sie einen nach dem anderen zu betrachten – stelle fest, wieso ich mich nicht entscheiden kann. Und dabei bemerke ich, dass ich, obwohl ich stets dachte, Angelina und mich würde nichts miteinander verbinden, eine Sache verdrängt habe.
Auch ich wollte reisen. Wollte Teile der Welt sehen. Doch das Fernweh der einst jungen Frau wurde durch andere Ziele ersetzt. Vielleicht hat es aber auch nur auf den richtigen Zeitpunkt gewartet. Und dieser scheint jetzt zu sein.
„Ist Ihr Flug auch verschoben worden?“
Überrascht werfe ich einen Blick neben mich und schaue in das Gesicht einer älteren Dame. Falten ziehen sich durch ihr Gesicht, doch ihrer Schönheit tun sie keinen Abbruch, ganz im Gegenteil. Auch ohne sie zu kennen, sagt mir mein Gefühl, dass ihr Leben ganz sicher erfüllter gewesen ist als mein bisheriges.
Ihre Frage gelangt endlich in meinen Verstand und mit einem kleinen Lächeln verneine ich. „Tatsächlich bin ich noch am überlegen, wo es für mich hingehen soll.“
„Eine mutige Entscheidung, Liebes.“
„Eher eine überfällige, befürchte ich.“
Ihr warmer Blick gleitet einmal über meine Erscheinung – die sich so sehr von meinem sonstigen Äußeren unterscheidet, dass ich mir unsicher bin, ob es mir gefällt oder nicht. Ich fühle mich verwundbarer, ohne perfekt sitzendes Make-up, ohne den Schutz meines abgestimmten Business-Outfits. Es ist, als würde etwas von mir fehlen. Oder aber ich habe mich zu sehr an diese Maske gewöhnt, als dass ich die Wahrheit dahinter wiedererkennen könnte.
„Jedenfalls“, fahre ich fort und ziehe meine Unterlippe zwischen die Zähne, „hat mir mein Bauchgefühl noch nicht gesagt, welchen Flug ich nehmen soll.“
„Interessant, ich hätte Sie eher für einen Kopfmenschen gehalten.“
Das tun sie alle. Und wenn mich dieser nicht in meine jetzige Situation manövriert hätte, würde ich mich weiterhin auf ihn verlassen. Daher tue ich nun genau das Gegenteil von dem, was die Stimme der Vernunft in mir sagen würde.
„Es wurde Zeit für etwas Neues“, antworte ich ihr und zucke mit den Schultern. Allerdings habe ich bei unserem Gespräch die Schlinge und meinen angebrochenen Arm völlig vergessen, sodass sich meine Gesichtszüge schlagartig verziehen und ich die Zähne aufeinanderbeiße. „Wobei der Zeitpunkt vielleicht etwas unüberlegt ist.“
Aufmerksam werde ich von ihren mokkafarbenen Augen gemustert, ehe sich eine weitere Person zu uns gesellt. Der ältere Mann reicht ihr einen braunen Pappbecher mit dem Logo von Peet’s Coffee und beugt sich zu ihr, um ihre Wange zu küssen. Ein Anblick, so süß und schmerzhaft zur selben Zeit.
»¿Has hecho otro nuevo conocido, querida?«
„Du kennst mich doch, Ramiro, ich unterhalte mich gerne mit Menschen“, antwortet sie mit einem Lächeln, das sich über ihr gesamtes Gesicht ausbreitet. „Außerdem hat mir …“ Sie schaut fragend zu mir, bis ich ihr meinen Namen verrate, „Zoella ein wenig Gesellschaft geleistet, bis du wieder bei mir bist.“ Sie tätschelt mit ihrer freien Hand sein Bein, sobald er sich neben sie gesetzt hat. „Das ist übrigens mein Mann Ramiro und ich heiße Adriana.“
„Hola, Zoella. Ich hoffe, meine Frau hat Sie nicht zu sehr eingenommen.“ Wie Adriana strahlt Ramiros Erscheinung pure Freundlichkeit aus, sodass man sich sofort wohl in seiner Gegenwart fühlt.
„Also bitte. Wenn, dann helfe ich ihr, ein passendes Ziel für ihre spontane Reise zu finden.“
Ihr entrüstetes Schnauben bringt mich zum Schmunzeln, bis ich mir ihrer Worte bewusst werde und die Stirn runzle. „Gegen einen Ratschlag habe ich gewiss nichts.“
Es dauert einen Moment, in dem Adriana einen Schluck aus ihrem Becher trinkt. Ihr Grinsen kann sie dadurch jedoch nicht verdecken. „Zunächst denke ich, dass das Sie überflüssig ist, oder? Und ich habe mich gefragt …“
Mir entgeht nicht, wie sie und ihr Mann Blicke austauschen, bevor sie sich wieder mir zuwendet und mich mit ihren folgenden Worten aus der Bahn wirft.
„Was hältst du von einem Urlaub in den Bergen?“
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