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Meine Welt

Peter Sagan
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„Alles, was man als Radsport-Fan über ein Radsport-Idol wissen möchte.“ - Westdeutsche Allgemeine

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Meine Welt — Inhalt

Der dreimalige UCI-Weltmeister gibt persönliche Einblicke

Peter Sagan, „Kindskopf und Künstler im Sattel“ (FAZ), erzählt von seinem ganz eigenen Weg zum dreifachen UCI-WM-Titel. Freimütig beschreibt er seine Jugend in der Slowakei und die frühen Rennen, absurden Leistungsdruck, den Rückhalt durch Familie und Weggefährten und den Wechsel zum deutschen Team BORA - hansgrohe. Er berichtet von den heftigsten Bergetappen bei der Tour de France; vom halsbrecherischen Kopfsteinklassiker Paris-Roubaix. Von seiner Leidenschaft für schräge Wetten und originelle Tattoos. Von spannenden Sprints, nervenzehrenden Platten und verheerenden Stürzen. Und er schildert, wie unfassbar knapp Siege entschieden werden.

€ 16,00 [D], € 16,50 [A]
Erschienen am 02.03.2020
Mitautor: John Deering
Übersetzt von: Henning Dedekind, Werner Roller, Andreas Thomsen
320 Seiten, Klappenbroschur
EAN 978-3-492-40635-2
Download Cover
€ 13,99 [D], € 13,99 [A]
Erschienen am 02.11.2018
Mitautor: John Deering
Übersetzt von: Henning Dedekind, Werner Roller, Andreas Thomsen
320 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99274-9
Download Cover

Leseprobe zu „Meine Welt“

24. September 2017
Prolog
Zum zehnten Mal ragen zu unserer Rechten die Masten der großen Schiffe auf. Wie immer an dieser Stelle ändert sich der Duft, der mir in die Nase steigt. Von der feuchten Kühle eines skandinavischen Wochenendnachmittags zum Geruch des Hafens, durchtränkt von dem rauchigen Versprechen der Fast-Food-Grills, die alle nur erdenklichen Sorten Fisch oder Fleisch anbieten, die man zwischen zwei Brötchenhälften packen und an einen hungrigen Radsportfan verkaufen kann.
Es ist die lange, geschwungene Linkskurve, die das Ufer von den bunten [...]

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24. September 2017
Prolog
Zum zehnten Mal ragen zu unserer Rechten die Masten der großen Schiffe auf. Wie immer an dieser Stelle ändert sich der Duft, der mir in die Nase steigt. Von der feuchten Kühle eines skandinavischen Wochenendnachmittags zum Geruch des Hafens, durchtränkt von dem rauchigen Versprechen der Fast-Food-Grills, die alle nur erdenklichen Sorten Fisch oder Fleisch anbieten, die man zwischen zwei Brötchenhälften packen und an einen hungrigen Radsportfan verkaufen kann.
Es ist die lange, geschwungene Linkskurve, die das Ufer von den bunten Stadthäusern trennt, die diesen wunderschönen alten Hafen prägen. Als wir zum ersten Mal hier vorbeikamen, fuhren wir recht gemächlich, mit einer Geschwindigkeit von vielleicht 40 Stundenkilometern. Das muss kurz nach elf Uhr heute Morgen gewesen sein. Das nächste halbe Dutzend Mal etwa, wenn wir die schaukelnden Masten und klappernden Takelagen passierten, zog das Rennen so an, dass immer weniger Fahrer mithalten konnten. Heute Morgen waren wir noch etwa 200 gewesen; jetzt, nach den letzten zwei oder drei harten Runden auf diesem kleinen, hügeligen Rundkurs in Bergen, sieht es so aus, als wären nur noch etwa sechzig von uns übrig. Ein Vertreter der UCI beginnt wie wild mit einer Messingglocke zu läuten, um uns anzuzeigen, dass nur noch eine Runde zu fahren ist. Plötzlich wird mir siedend heiß bewusst, dass auf meinem Rücken die Nummer eins prangt. Es ist jetzt vier Uhr nachmittags, und mir bleibt vielleicht noch eine halbe Stunde als Weltmeister.

Das Rennen war sehr verwirrend. Es hatte langsam begonnen, was mir gut passte. Ich hatte ein paar Tage lang wenig gegessen und getrunken, da ich zur absoluten Unzeit – am Freitag – zu Hause in Monaco Magenprobleme bekommen hatte. Das war obendrein nach einer Woche Zwangspause gewesen, weil ich mir ein Grippevirus eingefangen hatte. Ich will nicht jammern, dass ich krank war, weil das nicht besonders häufig vorkommt, doch waren die letzten zwei Wochen nicht gerade das gewesen, was ich mir als Vorbereitung auf eines der wichtigsten Ereignisse im Rennkalender vorgestellt hatte. Ich war nun seit zwei Jahren Weltmeister, und alles sah danach aus, dass ich das Regenbogentrikot heute verlieren würde, selbst bei gesundheitlicher Topform. Die meisten Leute sagten voraus, die Strecke sei zu schwierig für einen Fahrer, den sie mehr als „Sprinter, der einen Hügel überwinden kann“ betrachteten denn als wahren Puncheur wie Julian Alaphilippe oder meine Vorgänger als Weltmeister, Philippe Gilbert und Michał Kwiato (eigentlich Kwiatkowski). Außerdem glaubten sie, dass ich kaum ein drittes Mal in Folge erfolgreich sein könne, da die größeren Teams sich sagten: „Diesmal lassen wir uns nicht mehr an der Nase herumführen.“ Die schlauen Investoren vermuteten derweil, dass eben jene größeren Teams unsere kleine slowakische Bruderschaft überrollen würden, wenn wir die Führung des Rennens zu übernehmen versuchten.
Schon früh hatte sich eine Ausreißergruppe abgesetzt. Das Rennen startete in einer nicht weit entfernt gelegenen Kleinstadt, bevor es in die unzähligen Kurven in der Innenstadt von Bergen ging, durchs Hafenviertel, am Meer entlang und den Salmon Hill hinauf. Viele Rennen sind zu Beginn ein heilloses Durcheinander, weil jeder in die Führungsgruppe gelangen will, die das Rennen den Tag lang bestimmt, schließlich aber doch von den stärksten Fahrern eingeholt wird. Zum Glück für meinen angeschlagenen Magen geschah dies jedoch nicht. Die Gruppe bildete sich. Sie setzte sich ab. Als sie zehn Minuten vor uns lag, begann der Rest von uns ein wenig in die Pedale zu treten, und endlich fühlte ich mich langsam wieder wie ein Radrennfahrer.
Ich hätte schon seit etwa zehn Tagen hier sein sollen. Ich hatte geplant, mich vor einer Woche hier mit meinen Kameraden vom Team BORA – hansgrohe zum Team Time Trial, dem Mannschaftszeitfahren, zu treffen. Das TTT ist ein relativ neues Element im Rahmen der UCI Road World Championships, und es ist ein bisschen seltsam, weil man weiterhin für sein Team fährt statt, wie bei jedem anderen Ereignis der „Worlds“, für sein Land. Die Gelegenheit, eine patriotische Flagge zu schwenken, anstatt die Baseballmütze einer Bank, eines Fahrradherstellers oder eines Kochfeldabzugsfabrikanten zu tragen, ist es ja gerade, was die Weltmeisterschaft zum Publikumsmagneten macht. Da das Rennen auf einem Rundkurs statt auf einer Strecke stattfindet, ist es außerdem viel zuschauerfreundlicher, sodass die Fans aus der ganzen Welt anreisen, rufen, jubeln, trinken und – hoffentlich – feiern. In all diesen Disziplinen sind die Slowaken sehr gut.
Das Team BORA – hansgrohe hatte während meiner Abwesenheit ein Top-Ten-Finish im Mannschaftszeitfahren verbucht, und meine slowakischen Teamkameraden erwarteten, auch das Straßenrennen ohne mich zu bestreiten. Ich hatte meinen armen, verschwitzten Hintern aus dem Bett gehievt und war gestern Morgen von Nizza aus hierher geflogen, wobei ich einen Großteil der 2500 Kilometer auf der Toilette verbracht hatte.
An der Startlinie war ich ziemlich still gewesen; froh und schlicht verblüfft darüber, dass ich überhaupt da war. Als wir den Bergen-Rundkurs erreichten und zum ersten Mal die Ziellinie überquerten, wandte ich mich an meinen Bruder Juraj, der neben mir fuhr. Wie ich trug er einen Ganzkörperanzug in den slowakischen Nationalfarben Weiß, Blau und Rot. „Schau’s dir gut an“, sagte ich zu ihm. „Ich glaube nicht, dass wir diese Linie noch mal zu Gesicht bekommen.“
Doch das stete Tempo war gut für mich, ebenso wie die milde Temperatur. Ein Jahr zuvor hatte ich den Titel in der sengenden Hitze Katars geholt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mein dehydrierter Körper damit noch einmal zurechtgekommen wäre; Norwegen war dagegen wesentlich angenehmer.
Ich vergrub mich in der großen Masse, die mit fortschreitender Renndauer zahlenmäßig abnahm. Aus mehreren Gründen hat die Weltmeisterschaft immer eine hohe Ausfallquote. Grund Nummer eins: Viele Länder schicken ihre Fahrer nur deshalb zum Rennen, um mit den vorhandenen Ressourcen einen Fuß in der Tür zu behalten und diese Positionen für künftige Jahre zu sichern. Zweitens: Viele Fahrer sind nur dort, um für ihre Teamführer in der ersten Hälfte des Rennens Ausreißergruppen zu bilden, zu verfolgen oder anzuführen. Ihre Aufgabe ist erfüllt, bevor das Ganze richtig losgeht. Drittens: Es ist ein ungemein langes Rennen – 2017 waren es 267 Kilometer – am Ende einer langen Saison, und man muss häufig an dem verlockenden, warmen, trockenen Versorgungsbereich vorbeifahren. Man spürt, wie sich der Lenker von selbst dorthin wendet, und die magnetische Anziehungskraft wird mit jeder Runde stärker. Bisweilen kann man unterwegs sogar sein Hotel sehen.
Das Rennen verlief ziemlich gleichmäßig, bis etwa noch fünf Runden zu fahren waren. Dann setzten sich die Holländer an die Spitze, und von einem Augenblick zum anderen wurde das Ganze ziemlich ungemütlich. Die Niederlande kommen immer mit einer scheinbar endlosen Zahl kräftiger Zugpferde zur Weltmeisterschaft. Wenn man im Hauptfeld fährt und plötzlich sieht, wie Dutzende 80 Kilo schwerer, über 1,80 Meter großer Muskelmänner in orangenen Trikots an einem vorbeiziehen, weiß man, dass es nun an der Zeit ist, tief durchzuatmen und die Zähne zusammenzubeißen. Im Kopf ertönt das „Fasten Seat Belts“-Signal. Man weiß, dass es jetzt zur Sache geht.
Paradoxerweise hat zu meinen Lebzeiten noch kein einziger Holländer dieses Rennen gewonnen. Sie mögen zwar seit langer Zeit keinen König mehr gestellt haben, doch besitzen sie die Fähigkeit zum Königsmacher, ob sie nun wollen oder nicht.
Ich hatte zu diesem Zeitpunkt bereits ein paar Prüfungen hinter mir, die ich im Geiste noch einmal durchging. Prüfung eins: nach Bergen gelangen. Erledigt. Prüfung zwei: Rennen beginnen. Erledigt. Prüfung drei: eine Stunde lang wie ein Radrennfahrer aussehen. Erledigt.
Dies war nun die vierte Prüfung: das plötzlich angezogene Tempo überleben. Na ja, ich bin nicht der Typ, der sich mit langem Nachdenken aufhält. Sieh lieber zu, dass du weiterkommst, Peter.

Rund hundert von uns waren übrig. Nach einem Rennen werde ich oft gebeten, seinen Verlauf zu erklären, besonders dann, wenn ich gewonnen habe, als wäre es ein von mir verfasster Roman, in dem ich die Hauptfiguren agieren lassen, den Plot ersonnen, ein paar Fallstricke ausgelegt und den Helden großer Gefahr ausgesetzt hätte. Diese Vorstellung ist verlockend, und ich kann verstehen, was man von mir erwartet, doch es ist schlicht nicht möglich. Es stimmt, es gibt etwas zu erzählen, aber das ist nur meine ganz persönliche Geschichte. Von den anderen hundert Jungs hat jeder seine eigene Version, die sich wiederum von allen anderen unterscheidet. Ich kann nur meine erzählen. Kennen Sie diese GoPro-Kameras? Toll, nicht? Bringt man eine vorn an einem Rad an, erhält man einen spannenden Einblick in die inneren Abläufe eines Rennens. Stellen wir uns nun aber vor, dies wäre der einzige Blick auf das Rennen. Die Straßen-Weltmeisterschaft in Bergen ohne das Bildmaterial von Hubschrauber-, Motorrad- oder Ziellinien-Kameras, ohne Kommentator, die ganzen sechseinhalb Stunden lang. Nun, das ist meine Geschichte, mein Film, meine eingeschränkte Sicht neben den hundert anderen Versionen, und ich bezweifle, dass man dafür viele geneigte Zuschauer fände.
Ich blieb dran. Konzentrierte mich auf das Hinterrad vor mir. Versteckte mich sogar. Ich bin es gewohnt, nahe der Spitze zu fahren, um zu sehen, was dort los ist, und es zeigte sich, dass 15 Radlängen weiter hinten alles ein wenig drunter und drüber ging. Aber ich dachte nicht ans Gewinnen. Ich dachte ans Überleben und an ein ehrenvolles Ende der zwei Jahre, in denen ich das legendäre Regenbogentrikot getragen hatte.
Der Lärm am Rand der Strecke ließ nicht eine Sekunde lang nach, und selbst als das Rennen rapide anzog, war es unmöglich, die große Anzahl slowakischer Fans zu übersehen, die den Trip nach Norwegen auf sich genommen hatten. Flaggen meines Heimatlandes ragten an riesigen Masten unglaublich hoch in den Himmel. Jedes Mal, wenn ich jemanden meinen Namen rufen hörte, fühlte ich mich ein bisschen stärker. Jeder slowakische Schrei vom Straßenrand erinnerte mich daran, dass zu Hause eine ganze Nation mit mir bangte und betete, dass das Unmögliche eintrat. Man sah Tausende von Wikingerhelmen in den norwegischen Farben Rot, Weiß und Blau, gewaltige Berge von Männern, die Leuchtfackeln, Hot Dogs oder Bierdosen schwenkten. Der Duft von Bratwürstchen oder Räucherfisch war allgegenwärtig und zog in Wolken an einem vorbei, wenn man von einer Fangruppe zur anderen fuhr. Die Schweizer läuteten überdimensionale Kuhglocken. Keine Kuh würde mit so einem Ding um den Hals eine Nacht auf dem Matterhorn überleben. Auch Union Jacks gab es zuhauf, da sich die fanatischen britischen Fans ein fantastisches Wochenende per Billigflieger nicht entgehen lassen konnten. Französische und italienische Anhänger kristallisierten sich zu kleineren Gruppen, die den einen oder anderen bestimmten Fahrer anfeuerten. Sie trugen passende T-Shirts, in denen sie Tony Gallopin, Warren Barguil, Gianni Moscon oder Sonny Colbrelli beschworen, das Regenbogentrikot für sie zu holen.
In den vergangenen 24 Monaten hatte ich mich daran gewöhnt, dieses Trikot zu tragen, und ich stellte fest, dass ich nun nicht mehr über die Kraft und die Energie verfügte, die es einem Fahrer beschert. Ich war ein in unbekannten Nationalfarben gekleideter Fahrer unter vielen im vorbeiziehenden Hauptfeld, weder Peter Sagan noch der UCI-Weltmeister, nur eine Feder im Flügelschlag des Adlers. Ich hörte nicht, wie mich die Menschen mit „Peter!“ oder „Sagan!“ anfeuerten, wie es beim Träger der Regenbogenstreifen üblich ist, schon gar nicht so weit von der Spitze des Rennens entfernt. Es war mir recht, anonym zu sein, doch wenn ich glaubte, dass mich auch meine Rivalen vergessen hätten, dann täuschte ich mich. Sie wussten, dass ich immer noch da war und mir nicht beim Boxenstopp oder einem schönen heißen Bad im Hotel die Zehen wärmte.
Es blieben noch zwei Anstiege auf den Salmon Hill. Als wir ihn zum vorletzten Mal in Angriff nahmen, beschleunigten die Holländer nochmals das Tempo, als Tom Dumoulin in echter niederländischer Zeitfahrermanier mit langen Hebeln noch einmal ordentlich Kitt gab. Der Pulk fuhr auf einmal in einer langen Linie und war nur noch halb so groß. Für viele war das die letzte Haltestelle auf der Strecke, und sie gaben auf. Für sie war das Rennen gelaufen. Entgegen meinen Erwartungen war ich aber immer noch da. Mit nur noch einer Runde vor mir.
Der Typ schwang also seine Glocke, um uns mitzuteilen, was wir längst wussten. Ich trage die Nummer eins, aber meine letzte halbe Stunde als Weltmeister war zum Greifen nah.

Vor dem Rennen war viel über Julian Alaphilippe gesprochen worden. Dieser junge Franzose hatte sich mit einigen waghalsigen Attacken und überraschenden Aktionen bereits einen Namen innerhalb des Sports gemacht und sich den Respekt seiner ruhmreicheren und erfahreneren Quick-Step-Teamkameraden verdient. Seinen Durchbruch hatte er in der Saison 2015, als er bei der Tour of California Zweiter hinter mir wurde und obendrein bei den Klassikern La Flèche Wallonne und (noch erstaunlicher) Lüttich–Bastogne–Lüttich den zweiten Platz belegte. Im Alter von nur 22 Jahren beinahe den Sieg bei einem Rennen einzufahren, das so lang und so schwierig ist wie das älteste Radrennen der Welt, war unglaublich. Auf den ersten Blick sah seine Karriere ein bisschen so aus wie meine, doch bei näherem Hinsehen zeigte sich, dass er ein noch besserer Kletterer war als ich und bergauf immer noch einen Zahn zulegen konnte.
Beim letzten Mal am Salmon Hill zeigte uns Alaphilippe ein Paar saubere Kohlefaser-Schuhsohlen. Die Franzosen drehten durch. Ich lag etwa zehn Radlängen zurück und versuchte herauszufinden, was los war. Ich konnte mehrere Favoriten erkennen, Philippe Gilbert zum Beispiel oder Niki Terpstra, der die Lücke zu schließen versuchte, aber ich war mir nicht sicher. Ich wusste auch nicht, ob wir sämtliche Ausreißergruppen eingeholt hatten. Es herrschte Verwirrung, und vor uns lagen nur noch zehn Kilometer.
Ich kann gar nicht sagen, wie schwierig es ist, nach 250 Kilometern auf einen Tempowechsel zu reagieren – etwa im Vergleich zu 150 Kilometern, was dem durchschnittlichen Beginn der Sprintphase bei einer Grand Tour näher kommt. Es ist wie eine andere Sportart. Ich blickte mich um, immer noch verblüfft, dass ich nicht zu denjenigen gehörte, die aus dem Bus gestiegen waren, und sah, dass noch etliche schnelle Jungs mit mir unterwegs waren. Matteo Trentin, Fernando Gaviria, Michael Matthews, Alexander Kristoff, Edvald Boasson Hagen, Ben Swift … alles echte Rennpferde für Massenankünfte. Das war nicht gut. In dieser Phase eines langen und harten Rennens hätte ich lieber eine Ausreißergruppe zum Einholen gehabt, da ich erwartet hatte, einer der schnellsten unter den verbliebenen Fahrern zu sein. Aber ich konnte beim besten Willen nicht sagen, ob ich besser als diese Jungs war, schon gar nicht, da ich nur wenige Stunden zuvor vor einer Hoteltoilette gekniet hatte. Sicher fühlte ich mich inzwischen überraschend okay, aber ich hatte null Ahnung, was passieren würde, wenn ich einen Sprint versuchte.
Ich testete meine Beine, indem ich zum ersten Mal seit dem Start vor sechs Stunden mein Gesicht an der Spitze des Verfolgerfelds zeigte. Eine enge Kurve fährt man lehrbuchmäßig so: Zuerst bremst man, überschneidet dann den Scheitelpunkt und beschleunigt. Freilich muss man es ausprobieren und seine Fehler machen – und ich habe einige gemacht –, doch ich wusste: Wenn man weit ansetzt, muss man nicht bremsen. Man erhält eine Art Steinschleuder-Effekt und kommt schneller aus der Kurve als die anderen. Als Ben Swift versuchte, die Lücke zu den Ausreißern (wie viele es auch immer sein mochten) zu schließen, wandte ich diese Technik an, um ihn einzuholen und zu versuchen, die Aufholjagd zu bestimmen. Ich gewann Einfluss auf das Rennen – was auch so blieb – und erinnerte mich sofort wieder daran, wie es war, Peter Sagan zu sein. Wollten sie diese Jungs nicht einholen? Es blieben noch etwa vier Kilometer zu fahren. Noch fünf Minuten als Weltmeister.
Ich schätze, es waren vielleicht 15 Fahrer in meiner Gruppe übrig. Später stellten wir fest, dass die Fernsehberichterstattung an diesem Punkt ausfiel, was am Ziel Verwirrung und Verzweiflung stiftete und bei Zuschauern wie Betreuungspersonal zur Vernichtung von Fingernägeln in epischem Ausmaß führte.
Ohne visuellen Beweis könnte ich an dieser Stelle wohl etwas Rennfahrergarn darüber spinnen, wie ich mühelos an dem Pulk vorbeizog und eine vernichtende Attacke fuhr, durch die ich alle anderen meilenweit zurückließ. An der vorletzten Ecke hielt ich an, trank ein Bier und ließ die anderen aufschließen, weil ich niemandem den Tag verderben wollte. Die Wahrheit war freilich, dass im Hauptfeld fast ebenso große Verwirrung herrschte wie vor den leeren Fernsehschirmen. Als die Ziellinie immer näher rückte, kamen wir an Vasil Kiryienka und meinem BORA – hansgrohe-Teamkameraden Lukas Pöstlberger vorbei, der für Österreich fuhr. War’s das? Nein. Ich hatte Alaphilippe nicht gesehen. Außerdem war ich sicher, dass ich mindestens einen Kolumbianer weiter vorn gesehen hatte, entweder Rigoberto Urán oder Fernando Gaviria oder sogar beide. Oh! Wer ist denn dieser Däne? Wer führt das Rennen eigentlich an? Und werden wir sie einholen?
Vergiss es einfach, Peter, sagte ich zu mir. Sprinte bis zum Ziel, dann kannst du dich später noch um deine Platzierung sorgen. Wir schossen nun am Hafen vorbei, noch einmal links, dann einmal rechts, dann eine Gerade von etwa 300 Metern bis zur Ziellinie. Das Herz schlug mir bis zum Hals, ich konnte förmlich Blut schmecken. Du bist ganz nah dran, Peter. Gib alles!
Alberto Bettiol lag vor uns, und es war klar, dass nun der Endspurt begann. Es gab nichts zu deuteln. Nach sechseinhalb Stunden waren alle an ihrem persönlichen Limit, und es war immer noch nicht klar, ob noch jemand ganz vorne lag. Die Hörmuschel, die mich mit Ján Valach im slowakischen Mannschaftswagen verband, war ebenfalls wenig hilfreich, da der Ausfall der TV-Berichterstattung die Männer dort ebenso ratlos gemacht hatte wie uns Rennfahrer. Es war völlig unmöglich, langsamer zu fahren, um meine Rivalen in Augenschein zu nehmen. Bettiol machte einen tollen Job für seinen schnellsten verbleibenden italienischen Teamkameraden, Matteo Trentin, aber es funktionierte für alle, die sprinten wollten. Verdammt, ich glaube nicht, dass ich nach 267 Kilometern auf dem Rad je so schnell war. Ohnehin bin ich in meinem Leben nur selten 267 Kilometer gefahren, geschweige denn mit sonderlich viel Lust auf einen Sprint zum Schluss.
Ich konnte mich nicht denken hören. Der Lärm war wahnsinnig. Hauptursache war der Mann, hinter dem ich mich direkt positioniert hatte: Alexander Kristoff. Dies könnte ein die Karriere entscheidender Moment für den Lokalmatador werden. Er war wirklich schnell – vor allem wenn er aus einiger Entfernung zu seinem kraftvollen Sprint ansetzte – und konnte seine Spitzengeschwindigkeit ausgezeichnet halten. Ich sah ihn, Trentin, Matthews und all die anderen an und befand, dass, hätte ich auf einen Gewinner setzen müssen, meine Wahl ganz sicher Kristoff gewesen wäre. Tatsächlich war er mein Favorit gewesen, seit das Ereignis zwei Jahre zuvor angekündigt worden war – jetzt, da nur noch 500 Meter vor uns lagen, änderte ich meine Meinung auch nicht mehr.
Wir schwenkten nach links. Das Anschwellen der Publikumsrufe, all diese Wikingerschreie, die über die Fahrbahn hallten, als Kristoff zu seiner langen Beschleunigung ansetzte, ließen für mich keinen Zweifel daran, dass die ganzen Ausreißer und Attacken jetzt vollkommen egal waren. Wir sprinteten um das Recht, ein ganzes Jahr lang das Regenbogentrikot tragen zu dürfen. Mein UCI-Regenbogentrikot. Ich kann dich gut leiden, Alexander, du gehörst zu den Guten, aber das ist mein Trikot.
Er schätzte den letzten 90-Grad-Rechtsschwenk perfekt ein und setzte bereits zum Endsprint an. Bettiol war am Ende. Die Wirkung meiner Steinschleuder-Kurventechnik wurde durch Kristoffs Geschwindigkeit wieder zunichte gemacht, doch ich konnte spüren, dass sich hinter mir eine Lücke zu Matthews, Trentin und den anderen auftat. Sie hatten erwartet, dass der Sprint nach der Kurve eröffnet würde, und Kristoffs kluge Beschleunigung hatte sie kalt erwischt. Es war nun eine Sache zwischen ihm und mir. Ich musste nur an diesem großen norwegischen Kerl vorbeikommen. Das war mir schon einmal gelungen. Aber auch er hatte mich schon einmal geschlagen.
300 Meter sind eine lange Strecke, wenn man sie mit aller Kraft fährt. Wäre Mark Cavendish in Führung gewesen, wäre ich zuversichtlich gewesen, das Rennen zu gewinnen, wenn ich während seiner initialen, explosiven Beschleunigung mit ihm hätte mithalten können. Hätten zwanzig Fahrer versucht, sich freizukämpfen, hätte ich mir gut vorstellen können, ein Loch zu finden, um meine Nase hindurchzustecken. Doch das hier war eine große, breite Straße, auf der nur wir beide mano a mano um Gold kämpften, und auf einer langen, geraden Straße gab es keinen Schnelleren als diesen Kerl.
Die Lautstärke konnte zwar nicht weiter anschwellen, wohl aber erhöhte sich die Stimmlage. Es schien, als kreischte die gesamte Nation in Kristoffs Ohren, um ihn über die Ziellinie zu tragen. Nachdem ich mich bis zur Belastungsgrenze getrieben hatte, um auf jenen ersten 100 Metern mit ihm mitzuhalten, versuchte ich nun, seinen Windschatten zu nutzen, um an ihm vorbeizuschießen. Oh, Jesus, er war einfach zu schnell. Unter Aufbietung meiner allerletzten Kräfte schaffte ich es neben ihn, doch der Pistolenschuss, der einen den letzten Gegner in einem Sprint überholen lässt, ertönte einfach nicht. Ich war neben ihm, doch der Windschatteneffekt war verbraucht, und er hatte immer noch die Nase vorn. Nur noch zwei Meter, also musste er Weltmeister werden.
Bei der Tour de France 2016 in Bern hatte ich Kristoff um eine Reifenbreite geschlagen, und zwar allein deshalb, weil es mir gelungen war, mein Rad im richtigen Augenblick über die Ziellinie zu schieben, während er sich noch auf seinen Sprint konzentrierte. Ich dachte an die Schweiz und warf mit aller Kraft die Arme nach vorn. Mein Hintern hing über den Sattel, meine Beine waren gestreckt, meine Arme waren gestreckt, Kristoff war ein Spiegelbild zu meiner Linken.
Ich wartete bis jenseits der Ziellinie, schnappte nach Luft und suchte nach irgendeinem Anzeichen für das Ergebnis. Hatte ich genug gegeben? Hatte ich zu spät das Richtige getan? Als ich mich hektisch nach Hinweisen auf eine Entscheidung umblickte, kam mir jede einzelne Sekunde unglaublich lang vor. Schließlich kam das Zielfoto, und es war eindeutig: Als wir die Ziellinie überquerten, lag sein Vorderrad eine Spur Renngummi hinter meinem.
Eine riesige Menge slowakischer Fans durchbrach die Sicherheitsabsperrung, rannte schreiend und jubelnd auf mich zu und umarmte mich. Sie freuten sich für mich und ich mich für sie. Wir hatten das Unmögliche geschafft, ich, Juraj, meine Kameraden aus dem Nationalteam, diese unglaublichen Fans und alle zu Hause an den Bildschirmen. Dreimal hintereinander Weltmeister. Ein Regenbogentrikot plus Goldmedaille in Amerika, eins im Nahen Osten, eins in Skandinavien. Das war vor mir noch niemandem gelungen. Und ich, das war ein angeblich verrückter, angeblich ungezähmter Typ aus einem Eishockey spielenden Land, das erst seit 25 Jahren unabhängig von seinem großen Bruder war. Wie zum Teufel war das nur geschehen?



Teil 1
Richmond


2015
Winter
Wenn am Start eines Rennens hundert Fahrer stehen, werden am Ende hundert Geschichten erzählt. Über hundert Karrieren könnte man hundert verschiedene Bücher schreiben. Alle sind bemerkenswert, aber niemand ist besonders.
Ich sage Ihnen dies am Anfang meiner Geschichte, weil es wichtig ist, sich daran zu erinnern, dass jeder eine Geschichte hat. Meine ist nicht wichtiger als alle anderen, nur eben anders. So wie sich alle anderen Geschichten von meiner und wiederum allen anderen Geschichten unterscheiden.
Meine Geschichte hat sich seit dem Beginn meiner Karriere verändert. Sie hat sich während der letzten drei Jahre verändert und wird sich auch im kommenden Jahr verändern. Sie wird sich verändern, noch bevor ich ans Ende dieses Buches gelange, und dasselbe gilt für auch Ihre Geschichte. Seien wir ehrlich: Manche unserer Geschichten ändern sich, während ich diesen Satz hier schreibe.
Was ich zu sagen versuche, ist, dass ich Ihnen nicht meine Lebensgeschichte erzählen kann, weil mein Leben gerade stattfindet und sich jeden Tag ändert, ebenso wie das Ihre, ebenso wie das Leben aller Menschen. Ich bin erst 28 Jahre alt, also hoffe ich, dass ich in einem großen Ledersessel sitze, eine stinkende Pfeife rauche und mir über den Rest meines dünnen weißen Haares streiche, wenn ich meine Lebensgeschichte erzähle.
Was ich Ihnen aber mit Bestimmtheit erzählen kann, ist, wie es war, drei Jahre lang UCI World Road Cycling Champion zu sein, und das ist etwas, das sie vermutlich auch nur von mir erfahren können. Niemand sonst war dreimal hintereinander Straßen-Weltmeister.

Das Leben kann sich mit einem Wimpernschlag ändern. Türen öffnen sich, Türen schließen sich. Man kann gewinnen oder eine Bruchlandung hinlegen. Man kann sich innerhalb eines Augenblicks verlieben oder einen nahestehenden Menschen verlieren.
Trotz dieser unleugbaren Wahrheit stand ich im Januar 2015 an einem wichtigen Scheideweg. Ich war 24 Jahre alt. Ich stamme aus Žilina in der Slowakei, lebte inzwischen jedoch in Monte-Carlo. Seit fünf Jahren war ich Profiradsportler, hatte in dieser Zeit 65 Rennen gewonnen, war fünfmal Meister in meinem Heimatland geworden und hatte dreimal das Grüne Trikot bei der Tour de France gewonnen. Nun aber wechselte ich zum ersten Mal in meiner Karriere das Team. Ich glaube, ich sollte hier etwas weiter ausholen, um zu erklären, wie es dazu kam. Also noch mal von vorne.

Als Kind fuhr ich gern Fahrrad und gewann gern Rennen. Die Menschen lieben die Geschichten über mich, wie ich mit von meiner Schwester geborgten oder für ein paar Koruna im Supermarkt erstandenen Rädern in Turnhose und T-Shirt bei Rennen auftauchte und alle anderen schlug. Ich will nicht sagen, dass diese ganzen Geschichten unwahr sind, aber so eine große Sache waren sie nun auch wieder nicht. Die Slowakei war ein aufstrebendes Land, das jahrzehntelang hinter dem Eisernen Vorhang geschlummert hatte und nun, dank der allgemein befürworteten „Samtenen Scheidung“, endlich erlöst von der misslichen Verbindung mit den Tschechen war und einen Boom erlebte.
Wir Kinder hatten Spaß und schrien herum, so laut wir konnten. Ich hatte zwei ältere Brüder, Milan und Juraj, und dann noch eine Schwester namens Daniella. Mein Vater fuhr mich überall hin zu Radrennen. Weit über Žilina und auch über die Slowakei hinaus: Polen, die Tschechische Republik, Österreich, Slowenien, Italien … wir fuhren einfach hin. Mountainbikes, Straßenräder, Cyclocross-Bikes – es spielte keine Rolle, ich wollte nur fahren. Weil ich gewann, und weil ich es liebte.
Ich gewann so viele Rennen, dass die professionellen Teams von mir Notiz nahmen. In meinem letzten Jahr als Nachwuchsfahrer ging ich zu einem Test bei Quick-Step an deren Akademie, aus der über die Jahre viele junge Talente hervorgegangen waren. Ich blieb in diesem anonymen Gebäude, das man leicht für eine Fabrik oder das unscheinbare Regionalbüro eines Unternehmens halten könnte, da ich wusste, dass auf den Gängen dieses Baus während der vergangenen rund zwanzig Jahre die jungen Stimmen vieler späterer Champions widergehallt hatten. Schließlich aber war es gerade diese große Zahl junger Fahrer, die mir für mein Fortkommen hinderlich wurde. In der Hoffnung, den nächsten Merckx, Kelly oder Indurain zu entdecken, schleusen sie Jahr für Jahr buchstäblich Hunderte junger Sportler durch ihre Akademie und behalten weitere Tausende von Nachwuchsfahrern weltweit im Auge. Weder meine Rennergebnisse noch die Zahlen, die ich bei ihren Tests erreichte, genügten, um mich von den anderen hoffnungsvollen Nachwuchsfahrern deutlich abzuheben. Sie sagten, ich solle die nächsten paar Saisons in der U23-Riege hart arbeiten, und sie wollten meinen Fortschritt weiter beobachten.
Das war nicht negativ gemeint, aber es kam mir so vor. Als das Team Liquigas kam und mir anbot, mich auf der Stelle an Bord zu nehmen, konnte ich es daher kaum erwarten, Ja zu sagen. Sie brauchten nicht auf mich zu warten, und ich wollte auf keinen Fall auf einen Anruf von Quick-Step warten, der womöglich nie kam.
In Italien gab es, was ausländische Fahrer betraf, für die U23-Teams eine Quotenregelung, also fuhr ich zunächst im slowakischen Nationalteam Mountainbike- und Straßenrennen in der Slowakei, in Italien, Deutschland, Kroatien. Vielleicht nahm ich nicht in einem Liquigas-Trikot an der Tour de France teil, aber ich war 19 und verdiente als Mitglied einer kontinentalen Profimannschaft 1000 Euro im Monat. Das war ziemlich cool.
Im Juli 2009 lud mich Liquigas bei der Polen-Rundfahrt zu einem Treffen mit der Kerntruppe ein. Neben dem Anführer Ivan Basso lernte ich ein paar Jungs kennen, zu denen ich über die Jahre engen Kontakt pflegen sollte, darunter Maciej Bodnar, Daniel Oss (die beide mittlerweile mit mir für das Team BORA – hansgrohe fahren) und vor allem natürlich Sylwester Szmyd, der seit vielen Jahren ein guter Freund von mir und inzwischen auch mein Trainer ist.
Diese Vorstellung war die Art, wie mir Liquigas mitteilte: „Du bist dabei.“ Obwohl ich erst 19 war, gab es nun keine U23-Rennen mehr für mich, kein Gestrampel durch Europa in einem slowakischen Trikot, keine Mountainbike-Rennen mehr. Ich war nun ein Vollzeit-Profi, der ProTour-Rennen fuhr.

Liquigas besorgte mir eine Wohnung in San Donà di Piave in der Nähe von Venedig. Sie war klein, aber mein. Mein Bruder Juraj kam dort zu Besuch, ebenso wie Maroš Hlad, mein Soigneur von zu Hause. Das war der Anfang von Team Peter, einer kleinen Einheit von Freunden, die sich in jeder Situation aufeinander verlassen konnten. Ich hatte jetzt auch einen Agenten: Giovanni Lombardi, einen erfahrenen Ex-Fahrer, der Erik Zabel zu vielen Siegen im Grünen Trikot geführt hatte. Giovanni – oder Lomba, wie wir ihn liebevoll nennen – war der Erste, der das Potenzial in Team Peter erkannte. Er hat mehr als jeder andere dafür getan, dass es Realität wurde. Die erste richtige Amtshandlung von Team Peter war, Juraj als Liquigas-Profi mit an Bord zu nehmen, und das verdanken wir Giovanni. Er wusste, dass mein Bruder gut genug war, um einen eigenen Profivertrag zu bekommen, aber er wusste auch, dass er wie ein Verrückter kämpfen würde, um mich auf dem Rad und auch abseits davon zu beschützen. Juraj, Maroš und ich wohnten zusammen in Venetien und zogen näher ans Gebirge, damit wir unser Training besser variieren konnten. Es war eine großartige Zeit. Wir blieben zwei Jahre dort, bis ich auf Giovannis Rat nach Monaco zog.
Mein erstes Rennen als Radprofi war die Tour Down Under 2010. Ich war zwar noch nie in Adelaide gewesen, doch Australien war mir nicht gänzlich fremd. Vier Monate zuvor hatte ich in der Hauptstadt Canberra an der 2009er UCI Mountain Bike Weltmeisterschaft teilgenommen, wo ich in der Sparte U23 Männer den vierten Platz belegt hatte. Ich liebte die Hitze, die in Adelaide im Januar herrschte, und fuhr jeden Tag in Shorts und einem Trikot, ohne mir über Armwärmer und dergleichen Sorgen machen zu müssen. Es ist ein ganz anderes Land mit einem ganz eigenen Geruch. Eukalyptus – oder gum trees, wie die Einheimischen sagen. Wenn ich irgendwo auf der Welt diesen Duft rieche, denke ich zurück an die sonnigen Tage in der südlichen Hemisphäre, an jene heißen Tage, an denen die Erde von der Hitze des Himmels plattgedrückt wird.
Außerdem ist es ein angenehmes Rennen, ganz abgesehen vom Wetter. Es gibt keine langen Transfers zwischen den Etappen, man muss nicht jeden Tag seine Sachen packen, und sämtliche Teilnehmer wohnen in einem hübschen Hotel. Wie in jedem Beruf gibt es auch im Profiradsport lästige Dinge, doch irgendwie treten diese Elemente bei der Tour Down Under in den Hintergrund. Mit zunehmender Lebenserfahrung habe ich das entspannte Wesen der Australier generell zu schätzen gelernt. Nichts ist wirklich ein Problem. Sie haben einen Blick, der zu sagen scheint: Wozu sich aufregen?
Freilich ging es down under bisweilen auch heftig zu. Ich fuhr, sprintete, stürzte, aber sagte mir insgeheim doch: Na ja, wenn ich gerade mal zwanzig bin und noch nie ein Profirennen bestritten habe und diese Jungs über dreißig sind und das Ganze schon seit Jahren machen, dann habe ich vielleicht die Chance, eines Tages ein paar solcher Rennen zu gewinnen.
Als wir wieder in Europa waren, rückte diese Chance in greifbare Nähe. Man fand zwar, dass ich für ein großes Rennen wie Paris–Nizza eigentlich noch nicht bereit sei, aber Bodnar war krank, und daher beschloss das Team, mich an seiner statt ins Rennen zu schicken, damit ich Erfahrungen sammeln könnte. Große Erwartungen hatte niemand. Im Herzen Frankreichs war es eiskalt, doch schon während der zweiten Etappe bis Limoges gab es 500 Meter vor der Ziellinie einen Crash, als die verschiedenen Sprintzüge einander in die Quere kamen. Wie immer sprintete ich allein und beobachtete die anderen Räder, als mir der Unfall plötzlich eine Lücke verschaffte. Ich fuhr direkt hindurch und auf die Ziellinie zu. Ich glaubte schon, zum ersten Mal auf dem Siegerpodest stehen zu dürfen, da bemerkte ich, dass ich zu früh losgelegt hatte: Der schnelle Franzose William Bonnet zog in Sichtnähe des Ziels an mir vorbei. Etwa zwei Minuten lang war ich enttäuscht, doch dann erkannte ich, dass ich beinahe mein erstes Rennen in Europa gewonnen hätte, und zwar ein großes Rennen. Die Siege würden sicher noch kommen.
Und das taten sie auch. Der erste kam am Tag darauf, als ich als Teil einer kleinen Gruppe gewann, nachdem wir durch unsere Attacken in hügeliger Landschaft das Hauptfeld dezimiert hatten. Es war wie damals in Žilina: ein fahlgrauer Himmel, der mit dem Horizont zu verschmelzen schien, und Schneegestöber, das bewirkte, dass der Etappenstart 50 Kilometer nach vorn verlegt werden musste.
Drei Tage später der nächste Sieg: Diesmal griff ich drei Kilometer vor dem Ziel an, als alle noch auf den Sprint warteten, und kam zwei Sekunden vor allen anderen in Aix-en-Provence an. An jenem Nachmittag stellte die Presse die Frage, die ich im Laufe meiner Profikarriere am häufigsten hören sollte: Bist du ein Sprinter oder nicht?
Das Rennen Paris–Nizza bescherte mir auch mein erstes Punktetrikot. Als ich auf dem Podest neben Alberto Contador stand, der die Gesamtwertung mit seiner üblichen Angriffslust gewonnen hatte, dachte ich: Daran könntest du dich gewöhnen, Peter.

Bei der Tour of California gewann ich ein weiteres Punktetrikot, und die Saison verging wie im Fluge. Im Jahr darauf schnappte ich mir erneut dieses kalifornische Grüne Trikot, dann gewann ich drei Etappen bei meiner ersten Grand Tour, der Vuelta, wo ich obendrein die gesamten drei Wochen im Rennen blieb. Im Jahre 2011 gewann ich insgesamt 15 Rennen, und 2012 noch 16 weitere.
Im Frühjahr 2012 gelang es mir, bei den Klassikern auf mich aufmerksam zu machen. Ich errang zwar keinen Sieg, lag aber bei Mailand–Sanremo, Gent–Wevelgem und der Flandern-Rundfahrt unter den ersten Zehn und schaffte es sogar, bei einem hügeligen Rennen wie dem Amstel Gold Race aufs Podest zu kommen. Man fragte mich, ob es nicht meinen Sprint schwächte, wenn ich ein Klassiker-Spezialist würde, doch das war einfach albern. Zum Etappensieg eines Rennens zu sprinten, bei dem die oberste Priorität der meisten Gegner darin besteht, bis zum nächsten Tag durchzuhalten, ist etwas vollkommen anderes als die Möglichkeit, ein Monument wie die Flandern-Rundfahrt oder Paris–Roubaix mit nach Hause zu nehmen. Dort heißt es einfach nur: „Hau rein oder verschwinde.“ Man siegt oder geht heim, es gibt keine zweite Chance am nächsten Tag, was bedeutet, dass man an diesem einen Tag einfach alles zu geben hat. Dazu kommt die Länge dieser Rennen. Mailand–Sanremo kann 300 Kilometer lang sein, und der Pulk jagt aus Mailand heraus und über den Turchino-Pass wie eine Meute wild gewordener Windhunde. Das Durchhaltevermögen, das man braucht, um nach sieben Stunden dieses Rennens noch Kraftreserven zu haben, ist nicht dasselbe, das ein Bahnradfahrer benötigt, um im olympischen Velodrom nach ein paar Runden an jemandem vorbeizurasen. „Sprinter“ ist dann auf einmal ein wesentlich komplexerer Begriff, als es anfänglich scheinen mag.
Schließlich braucht man für einen Erfolg bei den Klassikern noch ein weiteres Werkzeug im Schrank, nämlich Erfahrung. Die Klassiker haben eine lange Geschichte, und Männer wie Fabio Cancellara oder Tom Boonen, die sie jahrelang gewonnen haben, kennen jeden Berg, jede Kurve und jede gepflasterte Gerade wie die Straßen ihrer Heimat. Im Gegensatz dazu sind die meisten Etappenrennen variabel. Wenn man bei der Tour de France ein Ziel erreichen will, versucht man sich daran zu erinnern, wie die Strecke auf der Straßenkarte ausgesehen hat, die man am Morgen im Teambus zum ersten und zum letzten Mal studiert hat. War da eine Kurve? Ging es nach dieser Ecke dort nach rechts oder links? Wie weit noch bis zur Ziellinie? Ob es Gegenwind gibt? Alles in allem braucht man vorrangig eines: eine ganze Menge Glück.
Als ich im Juli 2012 zum ersten Mal an der Tour de France teilnahm, hatte ich Gelegenheit, der Welt zu zeigen, dass ich sprinten konnte. Eines Abends in Žilina war ich mal aus irgendeinem Grunde mit Milan und meinen alten Freunden ausgegangen (vermutlich war dieser Grund Bier), und wir hatten einen Hühnertanz veranstaltet: Mit nach außen gestellten Ellenbogen und Knien waren wir, gerade dem Teenageralter entwachsen, um die Bar herumgewatschelt. Wie Ihnen mein Road Manager Gabriele Uboldi gern erzählen wird (auch wenn er selbst so oft dabei verliert), motiviert mich eine Wette immer. Als die erste Etappe der Tour die Côte de Seraing erreichte, einen der steilen Anstiege von Lüttich–Bastogne–Lüttich, musste ich daran denken, dass ich, falls ich als Erster den Gipfel erreichen sollte, einen Hühnertanz über die Ziellinie vollführen musste, wie ich es den Jungs zu Hause versprochen hatte.
Fabian Cancellara setzte an den tieferen Hängen alles aufs Spiel, und mir traten schier die Augen aus den Höhlen, um ihm auf den Fersen zu bleiben. Er trug das Gelbe Trikot, weil er am Tag zuvor den Prolog gewonnen hatte, und war entschlossen, bei zwei von zwei Etappen zu siegen. Als ich an der steilsten Passage des Anstiegs zu ihm aufschloss, blickte ich zurück und sah, dass nur Edvald Boasson Hagen noch bei uns war. Der Rest des Feldes hing noch weiter unten fest. Als wir den Gipfel erreichten und nur noch wenige Hundert Meter blieben, versuchte Cancellara mit allen Kräften, mich zu einem Sprint zu bewegen, aber ich hielt den Kopf gesenkt und den Blick an sein Rad geheftet. Ich wusste, dass ich gute Chancen hatte, ihn zu überholen, wenn ich ihm bis fast zum Schluss die Spitze überließ. Genauso klebte Boasson Hagen an meinem Hinterrad, weil er vermutlich Ähnliches im Sinn hatte, und der Rest des Pulks holte auf. Als ich schon dachte, ich könnte die Nerven verlieren und angreifen, weil ich fürchtete, dass man uns 200 Meter vor dem Ziel einholte, eröffnete Cancellara glücklicherweise den Sprint.
Er tat das im perfekten Augenblick für mich, kurz bevor das Tempo anzog. Ich pfiff an ihm vorbei und fuhr meinen ersten Etappensieg bei einer Tour de France ein – mit genügend Spielraum, um den Hühnertanz über die Ziellinie zu vollführen. Cancellara war nicht gerade glücklich darüber, anfangs, weil er der Meinung war, ich wäre an seinem Rockzipfel zum Sieg gelangt – was stimmte, aber er war ein Superstar und ich ein Neuling. Dann bekam er meine etwas absonderliche Siegerpose in den falschen Hals, die er als persönliche Schmähung und Zeichen der Respektlosigkeit deutete.
Als wir Paris erreichten, hatte ich mein erstes Grünes Trikot bei einer Tour de France gewonnen und sowohl den „Incredible Hulk“ als auch den „Running Man“ zu meinen Darbietungen hinzugefügt. Ich hätte ja gern noch mehr Etappen gewonnen, aber mir gingen einfach die Siegerposen aus. Wenigstens wusste Cancellara nun, dass es nichts Persönliches war.
Mein bis dahin bestes Jahr war 2013, in dessen Verlauf ich auf allen möglichen Terrains 22 Siege einfuhr und damit zum erfolgreichsten WorldTour-Fahrer des Jahres wurde. Oder sollte ich sagen, der „gewinnendste“, wie sich die Amerikaner ausdrücken? Ein grässliches Wort, aber es trifft den Kern besser. Wer wollte sagen, dass 22 Rennsiege mehr bedeuten als ein Sieg bei der Tour de France und bei 17 weiteren Rennen, was Chris Froome in jenem Jahr gelang?
Anfangs hatte ich gedacht, es würde das Jahr der Zweitplatzierungen werden, als ich im März Zweiter beim Strade Bianche, bei Mailand–Sanremo, beim E3 Harelbeke und bei der Flandern-Rundfahrt wurde. Mitten in diesen Run fiel mein erster Klassiker-Sieg. Endlich! In Belgien war es bitterkalt, und offenbar wäre Gent–Wevelgem beinahe abgesagt worden, doch stattdessen kürzte man es um 50 Kilometer ab. Das kam mir gut gelegen, da ich bei den älteren Fahrern deren Durchhaltevermögen als größte Stärke betrachtete. Den ganzen Tag lang fuhr ich an vorderster Front des Rennens. Als nur noch vier Kilometer vor uns lagen und sich meine Ausreißer-Rivalen fragten, wie sie mich beim Sprint schlagen sollten, griff ich stattdessen an und gewann allein. Um die Menge aufzuheitern, die eine Unterkühlung riskiert hatte, um mich siegen zu sehen, fuhr ich sogar noch ein paarmal auf dem Hinterrad.

Rückblickend glaube ich, dass 2014 gar nicht so schlecht war. Ich verdiente mir ein drittes Grünes Trikot in Folge bei der Tour de France und holte sieben weitere Siege, doch in Wahrheit war es höllisch. Ich war realistisch genug, um zu wissen, dass meine bis zu diesem Punkt rasante Erfolgskurve nun eine ehrliche Bilanz erforderlich machte. Ich war bekannt und stand unter hohem Erfolgsdruck, wo immer ich fuhr, was meine Siegeszahlen ein wenig senkte. Ich konzentrierte mich zunehmend auf die großen Namen wie Flandern und Roubaix, die immer schwieriger zu gewinnen waren und bei denen man außerdem eine Portion Glück brauchte. Das war Sinn und Zweck der Übung. Ich würde sogar eine ganze Saison lang Wasser treten, wenn es notwendig wäre, um langfristig Fortschritte zu machen.
Das war jedoch alles andere als Wassertreten. Es war scheiße. Ich war Müll. Ich war die ganze Zeit erschöpft. Ich hatte abermals das Grüne Trikot der Tour gewonnen, aber 2014 hatte ich zum ersten Mal an der Tour de France teilgenommen, ohne einen Etappensieg zu erringen. Keine dummen Siegerposen. Scheiße, nicht einmal normale Siegerposen. Ich hatte das Gefühl, dass ich alle enttäuschte: meine Familie, meine Freunde, das Team Peter, meine Teamkameraden, Cannondale (wie Liquigas nun hieß), einfach alle.
Es war Zeit für eine Veränderung. Entweder das – oder zurück nach Žilina und aufgeben.
Über die Slowakei
Ich liebe die Slowakei. Es ist irgendwie aufregend, aus einem solch jungen und stolzen Land zu stammen, so, als würde man alles zum ersten Mal machen. Freilich ist es Blödsinn, so zu denken. Das slowakische Volk ist schon seit über 2000 Jahren hier, wir haben unsere eigene Sprache und unseren ureigenen Stil mittelalterlicher Architektur, den man sofort erkennt.
Im allgemeinen Gedächtnis sieht das jedoch etwas anders aus. Den größten Teil des 20. Jahrhunderts wurden wir zwischen den gegnerischen Mächten Deutschland und der Sowjetunion hin- und hergerissen, und mehr als einmal wurden wir mit unseren tschechischen Nachbarn zusammengeschlossen. Im Jahre 1993 trennten wir uns endlich von ihnen, wozu kaum mehr als ein Händedruck und ein Winken notwendig waren, ein Akt, der sich so frei von jeder Verbitterung vollzog, dass er als „Samtene Scheidung“ in die Geschichte einging. Wir teilen immer noch vieles mit den Tschechen. Schließlich machen sie das Bier, also ist absolut nichts gewonnen, wenn man sich mit ihnen zerstreitet. Ach ja, und wir sind auch in der EU. Ich freue mich schon darauf, wie mir einer meiner britischen Freunde erklären möchte, warum ein Austritt so eine tolle Idee ist. Ich warte schon eine ganze Weile.
Es gibt etwa fünf Millionen Slowaken, wodurch wir hinsichtlich der Bevölkerungszahl in derselben Liga wie Norwegen, Finnland oder Irland spielen – ja, auch ich kann Google und Wikipedia nutzen, danke. Doch bei uns herrscht ein Mangel an Nationalhelden, sei es in der Geschichte, in der Kunst oder im Sport, daher ist es sehr cool, wenn wir irgendwo einen Weltmeister haben. Ich verspüre deshalb eine gewisse Mischung aus Druck und Stolz. Das lässt sich nicht vermeiden – nicht wenn alle auf der Straße deine Hand schütteln und ein Selfie mit dir machen wollen –, und ich möchte keinesfalls ein Spielverderber sein. Ich würde selbst eins haben wollen. Und da es fünf Millionen von uns gibt, arbeite ich mich ziemlich systematisch durch alle durch, die eins haben wollen. Es ist weniger, dass ich superberühmt bin oder so etwas, es hat mehr damit zu tun, dass es bei uns nicht besonders viele Berühmtheiten gibt, wenn Sie verstehen, was ich meine. In der Regel machen wir um Promis in der Slowakei auch keinen so großen Wind. Es ist also nicht so, dass sich einem Leute zu Füßen werfen oder dergleichen. Wir sind alle nur Menschen, die ihr Leben leben.

Wäre ich der Fahrer, der ich heute bin, wenn ich nicht in der Slowakei aufgewachsen wäre? Das ist eine wahrhaft interessante Frage. Immer wieder werde ich nach meinen Mätzchen auf dem Fahrrad gefragt. Ich meine, mein Fahrstil, meine Kunststückchen, Hinterradtricks, Stunts, wie ich Stürze vermeide – solche Sachen eben. Normalerweise sagt man mir: „Peto, kein Wunder, dass du Wheelies machen kannst, du bist doch früher BMX gefahren. Hey, Peter, du kannst dein Rad auf einem Dachgepäckträger parken, weil du mal Mountainbiker warst.“
Diese Dinge sind in gewissem Maße zutreffend. Mountainbikes oder BMX-Räder zu fahren erfordert vollkommen andere Fähigkeiten. Ich verfügte jedoch bereits über viele dieser Fähigkeiten, noch bevor ich mit diesen Sachen begann. Die nützlichste Schule für spätere Profisportler, eigentlich egal in welcher Disziplin, ist meiner Meinung nach eine Kindheit im Freien – und ich hatte als Kind alle Freiheiten, die ländliche Idylle der Slowakei zu erkunden und dort zu spielen. Andere Familien dachten vermutlich, ich sei ein wildes Kind … ich kletterte auf Bäume, durchstreifte Wälder, schwamm in den Seen und baute im Sommer Hütten und Lager. Im Winter gingen wir dann zum Ski- oder Schlittenfahren und veranstalteten die größten Schneeballschlachten der Welt.
Während man sich selbst nur für einen kleinen Rabauken hält, der seinen Spaß hat, erwirbt man vielerlei Fähigkeiten und Fertigkeiten. Am offensichtlichsten gilt das für die Koordination, aber man gewinnt auch an Kraft, man erkennt die Möglichkeiten des eigenen Körpers, entdeckt seine Grenzen, die man dann zu erweitern versucht. Man trainiert also – ob man nun Fußballer, Eishockeyspieler oder Radfahrer werden will. Wenn ich einen Berg hinunterfahre oder in einem wilden Gruppensprint meine Nerven auf die Probe stelle, profitiere ich von Kindheitserlebnissen mit meinen großen Brüdern auf dem slowakischen Land.

Ich bin nicht der erste Radrennmeister der Slowakei. Dieser Ruhm gebührt Ján Valach. Er war ein Slowake, der bis 2010 in internationalen Teams und bei großen Rennen fuhr, und der Einzige, zu dem wir auf unserem eigenen Weg nach oben aufblicken konnten. Darüber hinaus besitzt Ján die Gabe, stets einen Blick über den Tellerrand richten zu können. Damit war er der perfekte Mann, den slowakischen Radsport am eigenen Schopf zu packen und aus dem nationalen Team etwas Ordentliches zu machen. Er saß bei jedem meiner Weltmeistersiege im Begleitwagen hinter dem Lenkrad, und nun habe ich das Glück, ihn auch im Team BORA – hansgrohe an unserer Seite zu wissen. Leider sind solche weitblickenden Vorbildfiguren nur eine Seite der Medaille. Die andere ist die traurige Geschichte meiner Slowakei, wie ich sie heute sehe.
Noch als aktiver Fahrer begann sich Ján in der Organisation des Radsports zu engagieren. Er erkannte, dass es dem slowakischen Radsport an Visionen mangelte und die bestehenden Strukturen denen eines Dorffestes ähnelten. International waren wir ein Witz. Juraj, ich und die anderen Fahrer konnten den Sport nur dank unserer aufopferungsvollen Eltern betreiben, die alles zusammenhielten und uns zu Rennen in ganz Mitteleuropa fuhren. Mein Zeitgenosse Michał Kwiato erinnert sich daran, wie er mit dem polnischen Team nebst identischen Fahrrädern, passender Ausrüstung und so weiter zu Nachwuchsrennen in, sagen wir, Kroatien fuhr, während ich hinten im Wagen meines Vaters saß, die abmontierten Räder unter meinen Füßen und meine Fahrradschuhe unter dem Beifahrersitz.
Ján war fest entschlossen, mit diesen Zuständen aufzuräumen, und forderte, das Geld, das vom Verband kam, in die sportliche Basis zu investieren. Man kann sich vorstellen, dass die Anzugträger, die über die Finanzen wachten, nicht besonders scharf darauf waren, Mittel von ihren eigenen kleinen Klubs und Rennen abzuzweigen. Es gab noch andere Skandale: Das nationale Velodrom wurde unter der Bedingung an einen Entwickler verkauft, dass der Erlös in eine neue, moderne Einrichtung fließen solle. Unnötig zu sagen, dass wir immer noch darauf warten. Irgendwann kann ein Mann nur soundsoviele Male mit dem Kopf gegen eine Backsteinwand rennen. Ján zog sich von der vordersten Front zurück und steckte seine gesamte Energie in seine Rolle als Teamchef des Nationalteams. In dieser Funktion kann er seither zwar für mich am meisten tun, doch seine Vision für den slowakischen Radsport insgesamt setzt Staub an.
Besonders stolz bin ich deshalb auf die „Peter Sagan Academy“. Ich gründete sie nach einem Gespräch mit Ján, bei dem ich erfuhr, wie rückständig das nationale Radsportprogramm sei, er jedoch an jeder Ecke auf Widerstand stoße.
Vor drei Jahren nahm ich das Nachwuchsteam unter meine Fittiche, in dem ich selbst groß geworden war, um Danke zu sagen und zu versuchen, den anderen aufstrebenden Kids eine Chance zu bieten. Wir nannten das Ganze Peter Sagan Academy, um der Sache ein wenig Gewicht zu verleihen, und ich investierte etwas Geld. Da mein Name darauf stand, hatten sie es leichter, noch weitere Sponsoren ins Boot zu holen. Der nationale Verband erwartete immer noch, dass die Eltern für die Rennen ihrer Kinder bezahlten oder ihre Kinder durch ganz Europa zu den Rennen kutschierten. Dank der entscheidenden finanziellen Unterstützung durch Robert Spinazzè, CEO der Spinazzè Group – sie produziert Betonpfeiler und vorgefertigte Bauteile, die zum Schutz von Weinbergen und Obstplantagen benötigt werden –, sind wir heute in der Lage, ein Programm zu unterhalten, das Jungs und Mädchen von 8 bis 18 Jahren zu denselben Rennen bringt, die auch die deutschen, italienischen und polnischen Verbände im Fokus haben. Robert hat eine große Leidenschaft für den Sport, und seine Unterstützung ist essenziell für den weiteren Aufbau künftiger Champions. Der Textilhersteller Sportful stellt sämtliche Kleidung, die wir für die Academy und das Team benötigen. Ohne dieses Engagement wäre unsere Arbeit kaum möglich.
Mittlerweile bieten wir auch eine U23-Mannschaft an, damit wir die Entwicklung der Fahrer weiter begleiten und die Teams zusammenhalten können. Oberste Ziele sind es, mehr slowakische Fahrer in die Profiriege zu bringen und eines Tages vielleicht ein eigenes slowakisches Profiteam zu gründen. Inzwischen fördern wir an der Akademie 85 Fahrer, und ich glaube, sie wird bald eine feste Größe werden, wenn die Topteams erst von den Talenten profitieren, die aus ihr hervorgehen.
Die großen Radsportteams stehen nicht unter demselben Druck, in den Nachwuchs zu investieren, wie etwa die Fußballklubs in ganz Europa. Es sind kurzlebige kommerzielle Unternehmungen mit Kurzzeitzielen. Ein Graswurzelprogramm wie dieses könnte tatsächlich etwas verändern. Die unterschiedlichsten Faktoren können bewirken, dass vielversprechende Nachwuchsfahrer ihrem Sport den Rücken kehren: die Notwendigkeit, Geld zu verdienen; ein Studium, das bessere Verdienstmöglichkeiten verspricht; andere Sportarten, die mehr und gezielter in den Nachwuchs investieren.
Dann gibt es noch die „Peter Sagan Kids Tour“, die offiziell seit 2014 läuft. Heute sind das prächtige Events, und jedes Mal, wenn ich dort anwesend sein kann, habe ich einen Mordsspaß. Die Tour leitet mein allererster Coach, Peter Zánický. Als ich gerade neun Jahre alt war, fuhr Peter mit mir und Juraj zu Veranstaltungen im ganzen Land. Es ist eine schöne Bestätigung, zu wissen, dass mein alter Coach heute fast 5000 begeisterte Kinder betreut, die gern Rennen fahren und mal einen tollen Tag woanders verbringen möchten. Heute besteht die Kids Tour aus insgesamt neun Veranstaltungen von März bis September, von denen jede in einer schönen slowakischen Stadt stattfindet. Es ist herzerwärmend, wenn man bei einer organisierten Veranstaltung wie dieser die Knirpse auf ihren Laufrädern herumdüsen sieht. Jede Veranstaltung besitzt Wettbewerbscharakter, doch der Hauptfokus liegt darauf, einen familienfreundlichen Ausflugstag zu bieten, an dem alle Spaß haben sollen! Mittlerweile haben Tausende von Kindern teilgenommen. Ich bin mir zwar ganz sicher, dass darunter auch ein paar zukünftige Stars sind, doch es ist das Lächeln auf ihren Gesichtern, das die ganze Unternehmung so lohnend macht.
Ich wünsche mir, dass jeder Slowake, der Profiradsportler werden will, es leichter hat als wir damals. Und wer weiß, vielleicht bin ich eines Tages der Typ im Auto, der den nächsten slowakischen Weltmeister anfeuert. Die Geschichte hat bekanntlich die lustige Angewohnheit, sich zu wiederholen.

Über Peter Sagan

Biografie

Peter Sagan, 1990 im slowakischen Žilina geboren, gewann die Straßenweltmeisterschaft 2015, 2016 und 2017 und ist damit der erste Radrennfahrer in der Geschichte des Radsports, dem dieser dreifache Erfolg in Folge gelang. Sagan siegte bei den Klassikern Paris-Roubaix, Gent-Wevelgem und der...

Pressestimmen
Westdeutsche Allgemeine

„Alles, was man als Radsport-Fan über ein Radsport-Idol wissen möchte.“

itstartedwithafight.de

„Einen besonderen Reiz gewinnt das Buch aus der Diskrepanz zwischen der oftmals etwas lapidaren Darstellung des Trainings und des Wettbewerbs einerseits und den daraus resultierenden herausragenden sportlichen Leistungen andererseits.“

kitziblog.de

„Das Buch ist wunderschön aufgemacht und die kurzweiligen Storys von seinen Anfangen im Radsport bis zur Gegenwart sind eine Freude zu lesen. (…) Es ist eine rundum gelungene Neuerscheinung.“

Tour - Europas Rennrad-Magazin Nr.1

„Lesenswert, weil detailreich, und ganz aus seinem Blickwinkel geschrieben, ist es vor allem für echte Fans des begabten Selbstvermarkters Sagan.“

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