
Im Tal
Roman
Im Tal — Inhalt
Von einem einfachen Mann, der um sein Leben kämpft und doch nicht gewinnen kann.
Im Sommer 1897 erblickt Anton Rosser auf einem abgelegenen Hof in der Fränkischen Schweiz das Licht der Welt – ein dunkles Licht mit schwarzen Schatten, die ihn sein Leben lang begleiten. Er lebt allein, bis ihn im Winter 1968 ein Wanderer auffindet, vornübergesunken an seinem Küchentisch, erfroren. Der Arzt bescheinigt einen natürlichen Tod, und doch bleiben Fragen.
„Im Tal“ erzählt die Geschichte eines Mannes, der zeit seines Lebens um sein Leben kämpft, doch nicht gewinnen kann.
„Eine Wucht, der man nicht entkommt.“ SZ
Leseprobe zu „Im Tal“
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Toni Rosser stirbt im Februar neunzehnhundertachtundsechzig mit einundsiebzig Jahren. Die Umstände seines Todes scheinen klar, im Totenschein vermerkt der Arzt „Herzstillstand“, zu den Umstehenden sagt er „Altersschwäche, Unterernährung, Verwahrlosungszustand “ und zuckt dazu mit den Schultern. Ihm geht es kaum anders als den Übrigen: Im Grunde ist man froh, dass man ihn endlich los ist, es sagt nur keiner. Er war – na ja.
Im Ort aber halten sich bis heute hartnäckig Gerüchte, ob es tatsächlich ein natürlicher Tod war, doch man stellt lieber [...]
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Toni Rosser stirbt im Februar neunzehnhundertachtundsechzig mit einundsiebzig Jahren. Die Umstände seines Todes scheinen klar, im Totenschein vermerkt der Arzt „Herzstillstand“, zu den Umstehenden sagt er „Altersschwäche, Unterernährung, Verwahrlosungszustand “ und zuckt dazu mit den Schultern. Ihm geht es kaum anders als den Übrigen: Im Grunde ist man froh, dass man ihn endlich los ist, es sagt nur keiner. Er war – na ja.
Im Ort aber halten sich bis heute hartnäckig Gerüchte, ob es tatsächlich ein natürlicher Tod war, doch man stellt lieber keine Fragen.
1
Kaum mehr als ein Steinwurf liegt zwischen den zwei Gehöften. Sie stehen am Rand einer letzten von Wald umgebenen Wiese. Mischwald. Buchen, Birken, Fichten, vereinzelt Tannen, Lärchen. Im Winter herrscht hier über Wochen kalter Schatten, die Sonne schafft es kaum über die Baumwipfel der umliegenden Höhen, lediglich nach Norden hin ist das Tal offen. Im Tal nennt man den kleinen Weiler hier, doch eigentlich besitzt er keinen eigenen Namen. Die Höfe gehören zur Gemeinde Urspring ein paar Kilometer talwärts, jenseits des Waldes. „Im Tal droben“, sagt man widersinnigerweise, wenn man in den unteren Dörfern über den Flecken und seine Bewohner spricht.
Wohnhaus und Stall des oberen Hofes befinden sich unter einem Dach. Der Stallpart ist komplett aus Sandstein gefügt, den man hier überall findet, der Wohnpart – Wohnküche, Schlafraum, Kammer – ist eine landstrichübliche Fachwerkkonstruktion, ruhend auf einem Sandsteinsockel. Die Rückseite des Gebäudes gräbt sich in den Hang, ihre zwei Fenster schauen ebenerdig hinaus. Entlang der Bodenkante ist der Stein längst dick bemoost vom aufspritzenden Traufwasser. An den Stall lehnt sich ein hölzerner Heuschober, daran ein kleiner Schuppen fürs Gerät mit Hasenstall und Holzlege, schließlich der Abtritt. Der Hofraum, ungepflastert, ist nach jedem Regen von schlammigen Pfützen übersät, in denen der Odel schillert, der aus der Miste direkt vorm Stall sickert. Auf der Wiese hinterm Haus krumm ein paar Obstbäume,
oberhalb beginnt schon der Wald. Dunkel zieht er sich den Hang hinauf.
Der untere Hof liegt fast am Waldrand, mit einer Wand direkt am Bach. Eigentlich ist er nur ein kleines, auf Sandsteinquader gestelltes Fachwerkhaus mit Holzschuppen und Stall für Hühner und Gänse. Die Menschen im Tal sind seit jeher arm. In diesem kaltdunklen Loch will niemand leben. Hier oben endet auch die schmale Karrenspur, die vom Dorf herauf den Bach entlang durch Waldstücke und kleine Lichtungen führt. Weiter hinauf schlängelt sich nur noch ein Fußpfad durch die Wiese und verschwindet im Schatten der Bäume. Nur selten kommt hier jemand vorbei, und so fällt es auch niemandem auf, dass trotz der klirrenden Kälte seit Tagen kein Rauch mehr aus dem Kamin des oberen Hofes aufsteigt, zumal das untere Gehöft schon seit Jahrzehnten leer steht. Es ist längst eine Ruine. Das Dach ist teilweise eingestürzt, an manchen Stellen der Hausfront ist der Lehm aus den Fachungen gebrochen oder geschlagen worden, das Gebälk vereinzelt nur noch nassschwarz-fauliges Holz. Leere Fensterhöhlen reißen ihre Mäuler auf, und ein winterkahles Birkengerippe stakt durch die Reste des Daches. Erst als ein einsamer Winterwanderer, von Morschreuth herunterkommend, sich den Bachlauf entlang seinen Weg durch den Schnee spurt und in das Tal kommt, findet er Toni Rosser dort. Schon vom Waldrand aus fällt ihm die offen stehende Tür auf. Als er schließlich das Haus erreicht und durch die Türhöhlung ins Dunkle späht, sieht er den alten Bauern vornübergekippt mit dem Oberkörper auf dem Tisch liegen. In der Feuerstelle mitten im Raum liegt schwarz ein verkohlter Wurzelstock, seit Tagen erloschen, es riecht nach kaltem Rauch. Als der Wanderer über die Türschwelle tritt, gackern verschreckt zwei Hühner auf und flattern hinaus, und eine dicke Ratte huscht ins Eck. Im Stall stehen schon seit Jahren keine Tiere mehr.
Ganz deutlich hat er noch Tage später die schwielig aufgerissenen Hände des Alten vor Augen und die zwei blind verschmierten Gläser auf dem Tisch. Eines davon hat auf der Seite gelegen. Er hat die Gläser nicht angerührt, sich aber gewundert, warum es zwei waren. Der Alte brauchte ja nur eins. Auch, dass da keine Flasche oder Karaffe war, aus der der Alte die Gläser hätte füllen können, ist ihm aufgefallen. Dass die Tür offen gestanden hat, hat ihn erst später irritiert.
Der Arzt, der schließlich – der Wanderer hat im Wirtshaus drunten die Bauern informiert und ihn angerufen – von Pretzfeld heraufkommt und den Tod Rossers feststellt, schenkt den Gläsern keine Beachtung. Auch nicht der fehlenden Flasche.
2
Der Besucher, der, noch bevor es in jenem Februar zu schneien beginnt, in Richtung des Tales aufbricht, fällt niemandem auf. Angeblich. Doch kursieren bis heute Gerüchte. Dass einer am frühen Vormittag mit seinem Rucksack drunten im Dorf losgezogen sei wie ein wochentäglicher Wanderer, und erst zur späten Dämmerung wieder zurückgekehrt. Und dass er seinen Wagen in Urspring abgestellt habe, im Schatten der Scheune vor dem Thosbach gleich links.
Hinter vorgehaltener Hand wird man bisweilen sogar noch genauer: Der sei schon etwas älter gewesen, aber „noch gut beieinander“ und rüstig. Und der Wagen habe ein Nummernschild gehabt wie in Frankreich oder Holland, das hintere auf jeden Fall gelb. Und es sei ein französisches Auto gewesen, so ein komisch flaches. Solcherart Gerüchte können einem in der Gegend zu Ohren kommen, wenn man im Wirtshaus bei den Bauern sitzt. Aber bezeugen? Offiziell hat keiner etwas gesehen. Und gemeldet schon gleich gar nicht. Man ist froh, dass endlich Ruhe ist droben im Tal. Toni Rosser war den Leuten längst unheimlich. Der Bunklers Hans aus Urspring aber, inzwischen auch schon weit über sechzig, sagt noch heute, dass ein Citroën DS 21, tiefdunkelblau, einmal dort geparkt habe. Als Bub habe er den dort stehen sehen und sogar angefasst. Ein Auto wie ein Ufo, so was vergisst man nicht. Ob das jedoch genau in diesen Tagen war oder überhaupt im Jahr neunzehnhundertachtundsechzig, dazu sagt er nur „keine Ahnung“. Aber: „Den hat ein alter Mann gefahren.“
„Du kannst dich“, sagt er aber auch und grinst, „auf deine Erinnerung nicht verlassen. Denn die macht dir die Dinge so, wie du sie willst, nicht wie sie waren – und was für mich sechsjährigen Bub damals ein alter Mann war ... ab dreißig waren die alle alt. Obwohl, ein wenig älter war er schon.“
3
Der Wanderer, der Toni neunzehnhundertachtundsechzig findet, ist nicht zum ersten Mal im Tal. In den Jahren zuvor hat er schon öfter diesen Flecken besucht. Er hat ihn durch Zufall einst auf einer seiner
Wanderungen entdeckt. Das erste Mal an einem späten Nachmittag im Sommer. Als er damals, den steilen Weg von Wichsenstein herunterkommend, aus dem Wald heraus auf die Lichtung des Tales tritt, muss er unwillkürlich innehalten. Andächtig, fast wie verzaubert. Eine knapp zwei Fußballfelder große, leicht abfallende Wiese, komplett von Wald umgeben, liegt vor ihm, ein Bach schlängelt sich hindurch. Am unteren Waldrand fast malerisch die Ruine eines kleinen Hofes, auf der anderen Seite des Baches oberhalb ein kleines Gehöft, genauso malerisch verwahrlost. Weißbläulicher Rauch steigt dünn aus dem Kamin und legt sich ein paar Meter höher als hauchzarte Schicht übers Tal. Auf der Bank vorm Haus sitzt ein kräftiger alter Mann, vornübergebeugt und auf die Knie gestützt, wohl müde von der Arbeit. Es ist der Hausherr, der Bauer. Toni Rosser, wie der Wanderer später erfährt. Die erkennbar selbst geschnittenen, strubbeligen weißen Haare leuchten hell herauf.
Was für ein schöner Platz zum Übernachten, ist der erste Gedanke des Wanderers, als er dort oben steht. Er nächtigt auf seinen Wanderungen gern und oft im Freien. Nach kurzem Verweilen begibt er sich langsam den schmalen Pfad hinunter zum Hof. „Grüß Gott“, grüßt er ortsüblich.
Der Alte reagiert nicht, schaut nur weiter bewegungslos vor sich hin.
„Grüß Gott“, wiederholt der Wanderer lauter. Ein paar Hühner scharren im Hof und auf dem Mist, eine Kuhkette klirrt im Stall, aber es riecht nach Schwein.
„Was?“, brummelt der Alte endlich, missmutig. „Was willstn?“
„Entschuldigen Sie ... Ich wollte fragen ... also ich ... ich würde gerne ...“ Er stockt. Der Alte schüchtert ihn ein.
Der hebt nur leicht den Kopf und sieht ihn unter seinen buschigen Augenbrauen hervor an. Wie von weit weg, gleichzeitig abweisend, auch eine Spur herausfordernd. Aber nicht feindlich. Der Fremde, das ist unmissverständlich, ist ihm lästig. „Hä?“
Trotzdem fasst sich der Wanderer ein Herz: „Ich würde gern dort oben am Waldrand mein Zelt aufstellen und übernachten.“
Nichts.
„Nur eine Nacht“, schiebt er fast schon beschwichtigend hinterher, „und ich wollte fragen, ob Sie mir das gestatten.“
Vom Alten kaum mehr als ein Brummeln. „Dort droben? Warum?“
Eine Kuh muht drüben im Stall, dann grunzt ein Schwein. „Weil es bald Abend wird. Und weil das dort ein schöner Platz ist.“
Hat der Alte gerade den Kopf geschüttelt? Der Wanderer kann es nicht sagen. Eine Fliege läuft dem Alten übers Gesicht. „In zwanzig Minuten bist im Dorf im Wirtshaus, in einer Stund’ drunten in Pretzfeld. Da geht der Zug.“
Das ist ein klares „Nein“ und eigentlich auch ein „Hau ab!“, der Wanderer kennt die Sprachgewohnheiten hier. Er aber bleibt hartnäckig, zu verlockend ist ihm die Vorstellung, am Waldrand die Nacht zu verbringen. „Ich störe auch nicht, mache kein Feuer, nichts. Nur bis morgen früh. Nur etwas Wasser bräuchte ich, bitte.“
Mit einer leichten Kopfbewegung deutet der Alte erst in Richtung Brunnen neben dem Eingang und dann zum Bach. Er scheint kein Mann der Worte. Immerhin: Das ist doch schon fast eine Erlaubnis.
„Kann man das trinken?“
„Schon.“
„Kein Wasserhahn?“
„Nein.“
„Das heißt, Sie erlauben es mir?“
Mit einer Handbewegung in Richtung Waldrand, eher einem Wedeln, mit dem man eine Fliege verscheucht, kommt von ihm nur noch ein „Schon gut“, dann nichts mehr.
So spielte sich die erste Begegnung der beiden ab. Sie liegt schon Jahre zurück. Also steigt der Wanderer hinauf und stellt sein kleines Zelt am Waldrand auf.
In der Nacht weckt ihn ein Stöhnen, ein lang gezogenes und gequältes, schmerzerfülltes Ächzen. Kein Tier macht solche Laute. Es kommt von unten herauf, vom Hof und eindeutig vom Alten. Dann erstirbt das fast unheimliche Geräusch, verebbt im Wald, und Ruhe legt sich wieder aufs Idyll. Stockdunkel liegt das Tal, vom Hof her nicht das geringste Licht.
Im Rahmen der Eisfelder Sommerkonzerte.
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