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Bücher über Asperger und Autismus

Historischer Roman über den berühmten Kinderarzt Dr. Hans Asperger

Blick ins Buch
Aspergers SchülerAspergers Schüler

Roman

„Aspergers Schüler“ |Aufwühlender historischer Roman auf zwei Zeitebenen

Beruhend auf wahren Ereignissen, erzählt SPIEGEL-Bestseller-Autorin Laura Baldini von einem berühmten Kinderarzt, seinen kleinen Patienten und einer mutigen Krankenschwester, die alles für die Kinder riskiert.

Als die junge Psychologin Sarah 1986 zu Forschungszwecken nach Wien zieht, kommt sie der erschütternden Geschichte einer Klinik während der Nazi-Zeit auf die Spur:

Wien, 1926: Erich ist acht Jahre alt, als er in die Uniklinik zu Dr. Hans Asperger kommt. Erich sieht die Welt nicht wie andere Kinder. Er kann hochkomplexe mathematische Probleme lösen, aber es fällt ihm schwer, seine Gefühle zu zeigen. Nach schrecklichen Jahren in einer Pflegefamilie wird er hier ganz anders behandelt. Man hört ihm zu, man versteht ihn. Die Krankenschwester Viktorine schließt Aspergers kleinen Schüler ganz besonders ins Herz. Für sie bricht eine Welt zusammen, als die bahnbrechende Arbeit ihrer Abteilung vom NS-Regime vereinnahmt wird. Während Asperger sich mit den neuen Machthabern arrangiert, ist Viktorine entsetzt, als sie erfährt, was an der Klinik am Spiegelgrund vor sich geht. Für Erich wird es lebensgefährlich.

Bewegender Roman über den Arzt, der den Autismus entdeckte: Für alle Fans von Susanne Abels Gretchen-Romanen, Geschichten mit wahrem Hintergrund und Tatsachenromanen.

Genial, gefeiert, umstritten: Dr. Hans Asperger (1906-1980) war ein österreichischer Kinderarzt und ab 1932 Leiter der heilpädagogischen Abteilung der Uniklinik in Wien. Dort führte man die Behandlung von psychisch kranken Kindern in eine völlig neue Richtung und begegnete ihnen mit Respekt. Als Erster beschrieb Hans Asperger Autismus und das Asperger-Syndrom, das nach ihm benannt wurde. 1938 musste ein großer Teil seiner Mitarbeiter vor den Nazis fliehen. Asperger selbst blieb und spielte eine bis heute fragwürdige Rolle.

Entdecken Sie in diesem fesselnden historischen Roman die wahre Geschichte des weltberühmten Kinderarztes.

Die SPIEGEL-Bestseller-Autorin Laura Baldini alias Beate Maly begeisterte die Leserinnen bereits mit ihren Romanbiografien (u.a. „Lehrerin einer neuen Zeit“ über Maria Montessori). Neben der Schriftstellerei arbeitet sie mit Kindern, die das Asperger-Syndrom haben. Mit diesem Buch kehrt sie zu einem pädagogischen Thema zurück und erfüllt sich damit einen Herzenswunsch. Sie lebt mit ihren drei Kindern in Wien.

Heilpädagogische Abteilung der Universitätskinderklinik, Wien 1932

Erich

Der Stuhl steht in der Mitte des Raums. Sie können mich alle beobachten. Ich weiß nicht, wie viele es sind, denn ich kneife die Augen zusammen. Meine Muskeln sind steinhart und tun weh. Schon beginnt mein Bein zu wippen. Das tut es immer, wenn ich nervös bin, und ich presse die Hand aufs Knie, damit es aufhört, aber es nützt nichts.

Ich öffne die Augen ein ganz kleines bisschen und schaue heimlich in das Gesicht des Mannes, der vor mir sitzt. Er trägt einen weißen Kittel, also ist er ein Arzt. Sein Gesicht ist schmal, auf der Nase sitzt eine kleine Brille, und das kurze Haar kringelt sich an den Schläfen. Er wirkt angespannt, seine Muskeln sind ebenso hart wie meine. So etwas erkenne ich sofort. Es hilft mir, die Menschen besser einzuordnen. Er schaut mich an wie ein Bauer seine kranke Kuh. Da beginnt mein rechtes Auge zu zucken.

Wenn ich mich jetzt nicht konzentriere, verliere ich den Halt. Dann muss ich aufspringen, schreien und mit den Fäusten gegen meine Schläfen trommeln. Was dann passiert, weiß ich. Sie stürzen sich auf mich und greifen nach mir, zwängen mich in eine Jacke und binden die langen Ärmel am Rücken zusammen. Das letzte Mal haben sie mir dabei ein Stück von einem Schneidezahn ausgeschlagen. Dabei war mir der Zahn erst vor ein paar Monaten gewachsen. Seither fahre ich ständig mit der Zunge über die scharfe Kante – so lange, bis die Zunge blutet. Die Jacke ist eine unendliche Qual. Ich habe Angst, darin zu ersticken. Allein beim Gedanken daran bricht mir kalter Schweiß aus.

Ich atme flacher und beginne, in Gedanken Zahlenreihen zu bilden. Bei jeder ungeraden Zahl zähle ich drei dazu, und von jeder geraden Zahl ziehe ich eins ab. Woher ich das kann, weiß ich nicht. Es war einfach da. Ich habe immer schon alles gezählt. Wenn ich das tue, verschwindet manchmal die Angst, und ich kann die Fragen meines Gegenübers beantworten.

Doch heute klappt es mit dem Zählen nicht. Der Raum fühlt sich an wie eine Blase, in der ich haltlos hin und her schlittere. Die Stimmen der Menschen verschwimmen zu einem Brei. Keines ihrer Worte erreicht mich. Sie bleiben wie ungeordnete Silbenreihen in der Luft hängen.

Ich öffne die Augen. Das Licht ist viel zu grell. Es brennt auf meiner Haut wie Feuer. Ich will mich kratzen, weiß aber, dass ich das nicht darf. Die Stelle am Handgelenk ist vom letzten Mal noch blutig. Solange ich den Arzt anschaue, behalte ich die Kontrolle. Sein Gesicht ist ruhig. Er richtet seine Aufmerksamkeit auf mich, ohne mir dabei direkt in die Augen zu schauen. Weiß er, wie ich mich fühle? Seine Worte an mich sind sachlich. Keine gebrüllten Befehle oder Schimpftiraden, wie ich sie sonst oft zu hören bekomme.

„Wir nehmen den Jungen auf die Station auf.“

Redet er über mich? Irgendjemand antwortet ihm. Eine Frau? Oder doch ein Mann? Mein Herz rast. Es sind zu viele Fremde im Raum.

„Er ist ein autistischer Psychopath.“

Die Worte kommen mir vertraut vor. Ich habe sie schon mal gehört, kann mit ihnen aber nichts anfangen.

Auf einmal tritt jemand von der Seite auf mich zu und fasst mir an die Schulter. Viel zu schnell, viel zu nah. Schreiend springe ich auf. Alle Bemühungen waren umsonst. Die Farben um mich herum explodieren. Ein wildes Durcheinander. Keine Ordnung mehr. Die Worte verwandeln sich in sinnlose Fetzen, die an meinen Ohren vorbeirasen. Selbst die Äußerungen des Arztes, die ich eben noch verstanden habe, sind nur noch Lärm. Ich balle meine Hände zu Fäusten, will sie gegen die Schläfen schlagen, um den vertrauten Schmerz zu spüren. Um sicherzugehen, dass ich am Leben bin und mich nicht in der Leere auflöse.

Da fällt mein Blick auf die Jacke. Ich winde mich, will weglaufen. Ich beiße zu. Keine Ahnung, wen ich erwische. Jemand schlägt mir ins Gesicht. Dann spüre ich, wie meine Hände in die Jacke geschoben werden. Es ist zu spät. Es gibt kein Entkommen.


Wien 1986

Sarah

Dicke Regentropfen klatschten an das staubige Fenster des winzigen Büros und liefen an der Scheibe entlang. Sollte der Regen irgendwann aufhören, würden hässliche Schlieren zurückbleiben. Doch im Moment war kein Ende des nassen Wetters in Sicht.

Sarah war Regen gewöhnt, sie hatte die achtundzwanzig Jahre ihres bisherigen Lebens in Gloucester verbracht, und im Südwesten Englands standen oft heftige Schauer und Nieselregen auf der Tagesordnung. Sie hatte gehofft, dass das Wetter in Wien besser sein würde. In ihrem Reiseführer hatte gestanden, dass die durchschnittliche Anzahl von Regentagen im September acht betrug. Diese Zahl war längst überschritten.

Seit zwei Wochen war Sarah nun schon in der Stadt des Walzers und der Kaffeehäuser und hatte die Sonne nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Gerade als sie auf dem Turm des Stephansdoms gestanden und über die Stadt geschaut hatte, war es ein paar zaghaften Sonnenstrahlen gelungen, die graue Wolkendecke zu durchbrechen. Sofort hatten die nassgrünen Dächer zu leuchten begonnen und in Sarah eine Vorstellung davon geweckt, wie Wien an einem warmen Herbsttag aussehen könnte. Doch schon während sie die enge Wendeltreppe hinuntergeklettert war, hatte sich der Himmel wieder zugezogen. Als sie auf die Straße hinaustrat, wäre sie beinahe in einen jungen Mann hineingelaufen. Statt ungehalten zu sein, hatte er ihr ein warmes, gewinnendes Lächeln geschenkt. Zu gerne hätte sie ihn in ein Gespräch verwickelt, aber er war genauso rasch, wie sich die Sonne verflüchtigt hatte, wieder aus ihrem Blickfeld verschwunden.

Bei dem schlechten Wetter hätte Sarah sich ganz auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren können. Schließlich war ihr Aufenthalt in Wien kein Urlaub, sondern ein Forschungsaufenthalt. Von der Begeisterung, die sie beim Abschied von ihrer Mutter in Heathrow verspürt hatte, war nur wenig übrig geblieben.

„Warum ausgerechnet Wien?“, hatte ihre Mutter sie gefragt, als sie ihr das erste Mal von ihren Plänen erzählt hatte. „Du könntest doch nach Bremen oder Hamburg gehen. Dort haben wir Verwandte und Freunde. Meinetwegen auch nach Heidelberg, die Stadt hat eine hervorragende Universität.“

Sarahs Mutter stammte aus einer kleinen Ortschaft in der Nähe von Bremen, weshalb ihre Tochter akzentfrei Deutsch sprach. Emilia Winter war vor dreißig Jahren der Liebe wegen nach England gezogen, und nachdem die Ehe mit Colin Albright in die Brüche gegangen war, hatte sie sich entschieden, der Kinder wegen in Gloucester zu bleiben.

„Wie soll ich denn in Heidelberg oder Hamburg zu Hans Asperger forschen?“, hatte Sarah entgegnet. „Der Mann hat in Wien gearbeitet und dort auch seine Arbeiten veröffentlicht.“

Beim Abschied hatte ihre Mutter sie in den Arm genommen und so fest an sich gedrückt, als würde sie nach Papua-Neuguinea auswandern und nicht bloß für ein halbes Jahr nach Wien gehen. „Pass gut auf dich auf“, hatte sie geschnieft und dann all die guten Ratschläge wiederholt, die sie ihr schon in den letzten Wochen mitgegeben hatte. Sarah hatte alles geduldig über sich ergehen lassen.

„Sag Harry, dass ich ihm eine Postkarte aus dem Zoo in Schönbrunn schreiben werde. Ich suche nach einer Karte mit Pinguinen“, hatte Sarah gesagt. „Und wenn es keine gibt, werde ich ihm eine zeichnen.“ Dann hatte sie sich aus der Umarmung ihrer Mutter gelöst und war zum Gate geeilt.

„Träumst du mit offenen Augen?“

Sarah zuckte zusammen. Vor ihr im Büro stand Johannes, der Assistent, mit dem sie das Zimmer teilte und der sich während ihres Aufenthalts um sie kümmern sollte. Der Professor, der eigentlich dafür bezahlt wurde, hatte keine Zeit für ausländische Studenten, die an ihren Doktorarbeiten schrieben.

„Ich bin mit meinen Gedanken wohl etwas abgedriftet“, gab Sarah zu. Sie richtete sich auf und legte den Kopf in den Nacken, denn Johannes war mindestens zwei Meter groß. Auf der spitzen Nase saß eine runde Metallbrille. Heute trug er ein türkisfarbenes Hemd mit einem schicken Palmenmuster. „Kommst du mit in die Mensa?“, wollte er wissen.

Sarah schob die Bücher, die sie sich gestern in der Institutsbibliothek ausgeliehen hatte, zur Seite. „Gern.“

„Dann lass uns gehen“, meinte Johannes.

Über einen fensterlosen Gang liefen sie zum Treppenhaus. Der Aufzug, ein quietschender Paternoster, war ständig überfüllt. Sarah fuhr nicht gerne damit. Sie hatte ständig Angst, den Ausstieg zu verpassen und zu spät aus der Kabine zu springen. Und sie wäre keineswegs die Erste gewesen, die sich dabei verletzte. Erst letzte Woche war eine Studentin mit einem gebrochenen Knöchel und aufgeschlagenen Knien ins Krankenhaus gebracht worden.

Seit ihrem ersten Tag im NIG fragte sich Sarah, warum der Bau „Neues Institutsgebäude“ hieß, denn er war dreckig und heruntergekommen. Die Wände in den Fluren und im Treppenhaus waren mit Plakaten gepflastert: Werbung für Restaurants und Kaffeehäuser, Ankündigungen für Vorträge und Theateraufführungen, aber auch politische Botschaften. Johannes hatte ihr erklärt, dass die Parteien ihre Kandidaten für die bevorstehenden Nationalratswahlen bewarben.

„Das hängt aber schon länger hier“, meinte Sarah und deutete auf ein Plakat mit dem Slogan Jetzt erst recht und einem Hinweis auf eine Wahl am 8. Juni.

„Das sind ja auch die Reste der Bundespräsidentenwahl“, erklärte Johannes. „Nachdem die ganze Welt darüber entsetzt war, dass Kurt Waldheim Mitglied der SS war, fiel der Volkspartei kein besserer Slogan ein, um ihre Wähler davon zu überzeugen, jetzt erst recht für Waldheim zu stimmen.“

„Und das hat gewirkt?“, fragte Sarah ungläubig.

„Wie du siehst. Kurt Waldheim ist in der Stichwahl zum Präsidenten gewählt worden. Und jetzt hat Österreich einen Präsidenten, der nur noch von Diktatoren empfangen wird und in den USA auf der Watchlist steht.“

Johannes lief weiter die Treppe hinunter, und Sarah folgte ihm. Sie würde bei anderer Gelegenheit nachfragen, was es genau mit der Waldheim-Affäre auf sich hatte.

Die Mensa befand sich im Untergeschoss. Schon auf dem Gang duftete es verführerisch. So mitgenommen und schäbig das Gebäude auch sein mochte – das Essen in der Mensa war köstlich. Selbst in den teuren Innenstadtlokalen von Gloucester bekam man selten Gerichte von dieser Qualität.

„Ich beneide euch um diese Mensa“, meinte Sarah.

„Heute gibt es Buchteln, die sind ganz in Ordnung“, entgegnete Johannes. „Aber sonst ist das Essen ein Fraß. Bei jedem Würstlstand in der Stadt kriegt man etwas Besseres.“

Sarah wollte widersprechen, doch sie behielt ihre Bemerkung lieber für sich. Johannes machte sich gerne über sie lustig, und sie wollte auf keinen Fall die Vorurteile über die britische Küche weiter befeuern.

In einer Ecke des riesigen Saals fanden sie einen Vierertisch, der bloß von einem jungen Mann besetzt war. Johannes ging zielstrebig auf ihn zu.

„Ist hier noch frei?“

„Nur zu.“ Der Angesprochene blickte kurz von seinem Teller hoch und widmete sich dann wieder den Unterlagen, die neben ihm auf dem Tisch lagen. Er hatte struppiges, blondes Haar, das ihm unordentlich in die Stirn fiel, und trug ein dunkles Poloshirt. Eine abgewetzte Lederjacke hing über seiner Stuhllehne.

„Soll ich dir eine Portion Buchteln mitnehmen?“, fragte Johannes. „Dann kannst du die Plätze für uns besetzen.“

„Ja bitte“, sagte Sarah. „Und eine Packung Lattella.“

„Trinkst du eigentlich noch etwas anderes?“, fragte Johannes belustigt.

„Ich hätte nie gedacht, dass ein Abfallprodukt der Milchproduktion so gut schmecken kann“, sagte Sarah. Sie liebte das süße Molkegetränk, das es zu Hause nicht gab.

Kaum hatte Johannes sich auf den Weg zur Essensausgabe gemacht, warf ihr der Blonde einen neugierigen Blick zu.

„Kennen wir uns?“, fragte er.

Und plötzlich fiel Sarah ein, wo sie ihn schon einmal gesehen hatte.

„Ich hätte dich neulich am Stephansdom beinahe umgelaufen“, sagte sie.

„Ja, richtig! Ich erinnere mich.“ Da war wieder dieses gewinnende Lächeln. „Bist du aus Deutschland?“

„Nein, aus England, Gloucester.“

„Und warum redest du dann wie ein Piefke?“ Auf seiner rechten Wange bildete sich ein Grübchen. Er schien sich gerade über sie lustig zu machen.

„Ich habe keine Ahnung, was ein Piefke ist“, meinte Sarah irritiert. „Aber meine Mutter stammt aus Deutschland.“

„War das der Grund, warum du auf den Südturm geklettert bist? Sightseeing?“

„Ich muss gestehen, dass der Dom das einzige Wahrzeichen ist, das ich bis jetzt besichtigt habe.“

„Das kann nicht sein!“ Mit gespielter Empörung richtete er sich auf. „Das muss dringend geändert werden. Die Stadt hat viel mehr zu bieten.“

„Bestimmt. Leider hatte ich bisher keine Zeit.“

„Zeit nimmt man sich“, meinte er. „Was kann so wichtig sein, dass du keine Zeit hast, dich ein paar Stunden in der Stadt umzusehen?“

„Meine Doktorarbeit.“

„Welche Studienrichtung?“

„Psychologie.“

„Oje.“ Er verzog leidend den Mund. „Eine von denen, die glauben, den Menschen auf den Grund der Seele schauen zu können?“

„Nein“, sagte Sarah. „Wie kommst du auf die Idee?“

„Die meisten Psychologiestudenten, die ich kenne, haben dieses Fach gewählt, weil sie sich entweder selbst heilen wollen oder sich erhoffen, alle anderen Menschen entschlüsseln zu können. Aber das ist bestimmt ein Vorurteil. Bitte entschuldige.“

„Schon gut“, meinte Sarah. „Wir sind alle nicht gegen Vorurteile gefeit.“

„Welches Thema erforschst du?“, fragte er.

„Ich beschäftige mich mit Autismus. Genauer gesagt mit der Entdeckung des Autismus durch den Wiener Arzt Dr. Hans Asperger.“

„Das ist ja interessant. Ist das eine Krankheit?“

„Autismus ist eine Behinderung.“

„Wo ist der Unterschied?“

„Eine Krankheit ist im Idealfall heilbar, die Behinderung nur therapierbar.“

„Guter Gedanke“, meinte er. „Darüber habe ich noch nie nachgedacht.“

„Das tun die wenigsten Menschen“, sagte Sarah. „Und mit Autismus beschäftigt man sich wohl auch nur als Forscher oder als Betroffener. Was studierst du eigentlich?“

„Publizistik. Wobei ich hoffe, dass ich mich nicht bis zum Ende durchs Studium quälen muss, sondern vorher schon einen Job als Journalist bekomme.“ Er lachte. Es klang ansteckend und herzlich. Dabei schlug er das Heft, das vor ihm lag, zu. „Im Moment arbeite ich an einem Artikel über den Spiegelgrund.“

„Spiegelgrund? Was ist das?“

Er griff nach seiner Kaffeetasse und nahm den letzten Schluck. Etwas zu schwungvoll stellte er sie zurück auf die Untertasse, und der Löffel schlug klirrend gegen den Rand. „Eine ganz spezielle Kinderklinik.“

„Inwiefern speziell? Hat man dort zu bestimmten Themen geforscht?“

„Geforscht?“ Er zog erstaunt die Augenbrauen hoch, doch noch bevor er eine Erklärung abgeben konnte, kam Johannes zurück.

„Einmal Buchteln mit Vanillesoße und eine Packung Lattella.“

Er stellte das Tablett auf den Tisch und ließ sich selbst auf einen Stuhl plumpsen.

Der Publizistikstudent griff nach seinen Unterlagen und stopfte sie in eine speckige Ledertasche, die er vom Boden aufhob. Gleich mehrere bunte Sticker klebten darauf. Stoppt den Kraftwerksbau!, las Sarah. Auf anderen stand: Rettet die Au! und Hainburg.

„Ich würde mich gerne länger mit dir unterhalten“, sagte er. „Leider muss ich jetzt los. Bestimmt sieht man sich wieder. Die Uni ist klein.“ Er stand auf. „Ich heiße übrigens Stefan.“ Er streckte ihr die Hand entgegen.

Sarah ergriff sie. Seine Finger waren kräftig und warm. „Sarah.“

„Freut mich, bis bald.“ Er strich sich die blonden Strähnen aus der Stirn, dann ging er mit beschwingten Schritten zum Ausgang.

Johannes starrte ihm düster nach. „Was war das denn für ein eingebildeter Heini?“

„Stefan, ein Publizistikstudent“, sagte Sarah. Sie fand nicht, dass er eingebildet wirkte. Ganz im Gegenteil – er kam ihr sympathisch vor und war zudem ziemlich gut aussehend. Aber das wollte sie auf keinen Fall mit Johannes erörtern.

„Er schreibt über den Spiegelgrund“, sagte sie stattdessen. „Hast du davon schon mal gehört?“

„Neulich war ein Artikel in der Zeitung. Aber ich muss gestehen, dass ich ihn nur überflogen habe. Nach der ganzen Waldheim-Geschichte habe ich im Moment genug von der Vergangenheit. Es gibt ja auch noch andere Themen. Außerdem solltest du nicht alles glauben, was Typen wie dieser Stefan erzählen.“

„Wieso?“

„Sie bauschen winzige Dinge zu riesigen Themen auf. Blender, die große Worte schwingen. Aber außer heißer Luft steckt nicht viel dahinter. Der Typ ist in unserem Alter und hat anscheinend nicht einmal einen Magister in der Tasche.“

Sarah fand Johannes’ harsche Kritik nicht angebracht. Schließlich wussten weder er noch sie, wie lange Stefan schon studierte oder warum er womöglich länger für sein Studium gebraucht hatte. Sie zog den Teller näher zu sich, griff nach der bunten Lattellapackung und ertappte sich bei der Hoffnung, Stefan schon recht bald wieder über den Weg zu laufen.

 

Als sie abends das Universitätsgebäude verließ, lag eine Mappe voller Kopien in ihrer Umhängetasche. Den halben Nachmittag hatte sie am Kopierer verbracht und Abzüge von Fachliteratur gemacht. Es war spät geworden und dämmerte bereits. Langsam ratterte die Straßenbahn stadtauswärts, Richtung Neustift am Walde. An der Endhaltestelle stieg Sarah aus und lief eine schmale Straße entlang, die einen kleinen Hügel hinaufführte. Als sie an einer öffentlichen Telefonzelle vorbeikam, stellte sie schuldbewusst fest, dass sie wieder vergessen hatte, eine Telefonwertkarte zu kaufen. Mit den wenigen Schillingmünzen, die sie in ihrer Geldbörse hatte, würde sie gerade „Hallo“ und „Wie geht es dir?“ zu ihrer Mutter sagen können, ehe die Verbindung wieder abbräche. Die Telefonate nach England waren unverschämt teuer. Sie nahm sich vor, am nächsten Tag eine Karte zu erstehen, am besten mit einem Guthaben von mindestens fünfzig Schilling, damit sie ihrer Mutter von ihren ersten Tagen in Wien erzählen konnte.

Vielleicht würde sie hinterher auch Benedict anrufen. Doch schon im nächsten Moment verwarf sie den Gedanken wieder. Sie würde ohnehin nur zu seiner Sekretärin Mrs Summer durchkommen, die sie so lange in der Warteschleife hängen lassen würde, bis das Guthaben aufgebraucht war. Zu Hause durfte Sarah den Professor für englische Literatur nicht anrufen. Die Gefahr, dass seine Frau oder eines seiner pubertierenden Kinder ans Telefon ging, war zu groß.

Sarah versuchte, Benedict wieder aus ihren Gedanken zu verbannen. Die unglückliche Beziehung zu ihm war ein weiterer Grund dafür gewesen, nach Wien zu gehen. Sie brauchte Abstand, um in Ruhe nachzudenken, und zwar mit absoluter Benedict-Abstinenz.

Inzwischen hatte sie ihr Ziel erreicht. Vor ihr ragte die Jugendstilvilla auf, in der sie ein Zimmer gemietet hatte. Das Gebäude hatte schon bessere Tage gesehen. Überall blätterte der Putz von den Außenwänden, in den Ecken der hübschen Erker bildete sich Schimmel, und das Geländer des Balkons war ebenso verrostet wie das quietschende Gartentor, das Sarah jetzt öffnete. Bestimmt saß Fräulein Weichsel, Sarahs Vermieterin, in ihrem Wintergarten und beobachtete, wie sie durch den verwilderten Garten zur Haustür ging.

Gleich bei ihrer Ankunft hatte Sarah sich in diesen Ort verliebt. Seit Jahren schienen hier die Pflanzen wachsen zu dürfen, wie es ihnen gefiel. Nur der Rasen wurde von Zeit zu Zeit gemäht. Die knorrigen Äste der Apfelbäume bogen sich unter den reifen Früchten, und wilde Rosenbüsche rankten am Gartenschuppen empor. Manchmal hörte sie abends einen Igel in der dichten Hecke schnaufen, und es hätte sie nicht gewundert, wenn dort auch andere Wildtiere wohnten. Es war ein verwunschenes Paradies, das zum Spinnen fantastischer Geschichten einlud. Sarah war in einer winzigen Wohnung einer Sozialsiedlung am Rand von Gloucester aufgewachsen und hatte immer von so einem Garten geträumt.

Sie betrat das Haus durch den Vordereingang. Da ihre Vermieterin die Tür erst spätabends absperrte, bevor sie schlafen ging, musste Sarah keinen Schlüssel herauskramen.

Wie erwartet, hatte Fräulein Weichsel sie kommen sehen. „Guten Abend“, rief sie aus dem Wintergarten.

Sarah war ihre einzige Mieterin. Die alte Dame hatte sie auf Anhieb in ihr Herz geschlossen und umgekehrt. Sie bestand darauf, als Fräulein angesprochen zu werden, da sie nie verheiratet gewesen sei. „Das war mir leider nicht vergönnt“, hatte sie gleich am ersten Abend traurig gesagt und damit zugleich signalisiert, dass sie nicht mehr erzählen wollte. Sarah vermutete, dass ihr Liebster im Krieg gefallen war, denn im Esszimmer hing eine alte Sepiafotografie eines hübschen jungen Mannes. Dieses Zimmer war wie die meisten anderen im Haus ungenutzt. Fräulein Weichsel aß ausschließlich in der Küche und verbrachte den Großteil des Tages im Garten oder im Wintergarten.

„Haben Sie schon gegessen?“, erkundigte sich Fräulein Weichsel. Die Verpflegung war keineswegs Bestandteil des Mietvertrags, aber die alte Dame lud Sarah jeden Abend zum Essen ein. Sie war eine hervorragende Köchin und hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Sarah die österreichische Küche näherzubringen.

„Nein, noch nicht.“

„Ich habe Krautfleckerl gemacht. Kennen Sie die?“

Sarah verneinte. Aber dem Geruch nach zu urteilen würde es wie immer köstlich schmecken.

Sie hängte ihre Regenjacke auf und folgte Fräulein Weichsel in die Küche. Hier schien die Zeit stehen geblieben zu sein. In einer weißen Anrichte standen Teller, Tassen und Gläser, die so aussahen, als stammten sie aus dem vorigen Jahrhundert. Auf einer gemütlichen Eckbank lag eingerollt der Kater Moritz, der den ganzen Tag zu verschlafen pflegte. Als Sarah die Küche betrat, hob er träge den Kopf, nur um ihn wieder sinken zu lassen und weiterzuschlafen. Vor einem Herd, den man mit Holz befeuerte und der gleichzeitig den Raum beheizte, stand Fräulein Weichsel und rührte in einer schwarzen, gusseisernen Pfanne.

„Setzen Sie sich.“ Die alte Frau trug eine geblümte Schürze über einem braunen Kleid und hatte das graue Haar zu einem ordentlichen Knoten frisiert. Der einzige Schmuck, den sie angelegt hatte, war eine goldene Kette mit einem ovalen Anhänger, den man aufklappen konnte. Beim Kochen verstaute sie den Anhänger unter ihrer Bluse, damit er nicht im Weg war.

„Hatten Sie einen erfolgreichen Tag an der Universität?“

„Ich denke schon“, wich Sarah aus. Sie wusste nicht, ob das Kopieren von Fachliteratur wirklich als Erfolg zu verbuchen war.

Fräulein Weichsel nahm die Pfanne vom Herd und trug sie zum Tisch. Jetzt erst sah Sarah, dass bereits für zwei gedeckt war. Ihre Vermieterin hatte mit dem Essen auf sie gewartet. Sarah setzte sich auf die Bank neben Moritz, der laut schnurrte, sich aber keinen Millimeter bewegte.

Fräulein Weichsel stellte die dampfenden Krautfleckerl auf dem Tisch ab und nahm ebenfalls Platz, ehe sie das Essen auf die beiden Teller verteilte.

„Haben Sie neue Menschen kennengelernt?“, erkundigte sich Fräulein Weichsel wie jeden Abend.

„Ja, ich habe mich in der Mensa ein bisschen mit einem Studenten unterhalten.“

„Aha.“ Fräulein Weichsel hob neugierig den Kopf. „Es freut mich, dass Sie endlich soziale Kontakte knüpfen. Bis jetzt sind Sie ja bloß in Ihrem Zimmer gehockt, oder Sie haben gearbeitet.“

Sarah musste schmunzeln, dass Fräulein Weichsel sich wegen ihres Mangels an sozialen Kontakten sorgte, während sie selbst ihr Haus nur verließ, um einkaufen zu gehen. Die Vermutung ihrer Vermieterin, dass sie ständig am Schreibtisch saß, stellte Sarah lieber nicht richtig. In Wirklichkeit fiel es ihr schwer, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, seit sie in Wien angekommen war.

„Und welche Fachrichtung hat dieser Student belegt?“, wollte Fräulein Weichsel wissen.

„Er möchte Journalist werden und schreibt gerade an einem Artikel, von dem er mir erzählt hat.“

„Interessant. Worüber denn?“

Sarah musste nachdenken. Was hatte Stefan noch gesagt?

„Über eine Kinderklinik. Ich kann mich an den Namen aber nicht mehr erinnern.“

„Na, macht nichts. Sie werden schon wieder darauf kommen.“

„Bestimmt“, meinte Sarah. Ihr fiel ein, dass sie Fräulein Weichsel nach der Waldheim-Affäre fragen könnte. Sie hatte gar nicht mehr daran gedacht, Johannes in der Mensa noch einmal darauf anzusprechen.

„Was hat es eigentlich mit dieser Waldheim-Affäre auf sich?“, fragte sie. „Ich habe das von England aus nicht so genau verfolgt.“

„Ach, die ganzen Diskussionen über unseren Bundespräsidenten haben viel Staub aufgewirbelt“, sagte Fräulein Weichsel ungewohnt streng. „Die Zeitungen waren voll mit alten Nazigeschichten, die längst vergessen waren. Sobald man den Fernseher aufgedreht hat, wurde über den Krieg geredet. Ich will das alles nicht mehr hören. Ich habe genug davon. Das Thema muss irgendwann einmal abgeschlossen werden.“

„Denken Sie nicht, dass es wichtig ist, sich mit seiner eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen?“, fragte Sarah vorsichtig.

„Nein“, antwortete ihre Vermieterin ungehalten. „Der Krieg ist lange vorbei, Gott sei Dank.“ Sie stach energisch mit ihrer Gabel nach einem Krautfleckerl. Zum ersten Mal, seit Sarah in der Villa wohnte, verhielt sich die alte Dame ihr gegenüber abweisend. Sie hatte eindeutig signalisiert, dass das Thema für sie beendet war. Sarah fing ebenfalls zu essen an.

Eine Weile schwiegen beide. Sarah fragte sich, warum Fräulein Weichsel so harsch reagiert hatte, und um die Stimmung zu heben, bemerkte sie: „Die Krautfleckerl sind wirklich himmlisch.“

Fräulein Weichsel lächelte versöhnlich. „Ein Rezept meiner Mutter. Sie war Köchin in einem großen Haushalt auf der Ringstraße.“

„Und welchem Beruf ging Ihr Vater nach?“

„Er war Schuhmacher, starb aber im Ersten Weltkrieg.“

„Das tut mir leid“, sagte Sarah.

Sie fragte sich, wie es kam, dass die Tochter einer alleinerziehenden Köchin in einer Jugendstilvilla wohnte. Denn trotz seiner Baufälligkeit war das Haus mit Sicherheit ein kleines Vermögen wert.

Der Rest des Abendessens verlief unter Schweigen. Sarah gelang es nicht, das Gespräch erneut in Gang zu bringen.

Erst beim gemeinsamen Abwasch fingen sie wieder zu plaudern an. Fräulein Weichsel meinte, das Wetter in den nächsten Tagen solle besser werden, und sie könne dann endlich die Nüsse, Äpfel und Birnen im Garten ernten.

Als Sarah sich in ihr Zimmer zurückzog, war alles wieder friedlich, wie gewohnt.

 

Nach der lauwarmen Dusche wickelte sich Sarah zuerst in einen flauschigen Bademantel und dann zusätzlich in eine dicke Wolldecke. Auch der alte Boiler im Badezimmer bedurfte einer Sanierung. Beim Aufdrehen des Wasserhahns rumpelte und krachte er, als würde er jeden Moment explodieren. An die seltsamen Geräusche konnte Sarah sich gewöhnen, an die kühlen Wassertemperaturen nicht.

„Kaltes Wasser hält frisch und jugendlich“, hatte Fräulein Weichsel behauptet. Auf sie selbst schien das zuzutreffen. Ihre Haut hatte wenig Falten, und die alte Dame war körperlich noch so rüstig, dass sie problemlos auf hohe Leitern steigen konnte, um Obst zu ernten.

Sarah setzte sich an den Schreibtisch, ein wunderschönes, altes Möbelstück mit unzähligen Schubladen und Fächern. Gerne hätte sie so einen Tisch zu Hause in Gloucester gehabt. Aber zum einen waren Antiquitäten sündhaft teuer, zum anderen würde der Tisch in ihrem winzigen Wohnzimmer wie ein Eindringling aus einer anderen Welt aussehen. Sie musste sich wohl weiterhin mit dem kleinen Tisch der Billigmöbelkette aus Schweden begnügen.

Sarah zog die Decke enger um ihre Schultern und widmete sich den kopierten Unterlagen. Hoffentlich kam niemand im Institut dahinter, wie viele Seiten es waren. Gleich bei ihrer Vorstellung hatte der Institutsleiter sie darum gebeten, sparsam mit den Kopien umzugehen. „Die Wartung der Geräte kostet ein Vermögen. Gehen Sie in die Bibliothek, und leihen Sie sich dort die Bücher aus, die Sie benötigen.“

Sarah hatte in ihrem Leben schon so viele Stunden in verstaubten Bibliotheken verbracht, dass sie lieber auf Kopien zurückgriff.

Ganz oben auf dem Stapel lag ein Artikel über die Entstehung der Heilpädagogischen Abteilung an der Wiener Universitätskinderklinik in den Zwanzigerjahren. Es war die Abteilung, in der Asperger später gearbeitet und geforscht hatte. Bedeutende Namen der Psychotherapie stachen ihr ins Auge: Alfred Adler, Bruno Bettelheim, Erik Erikson, Anna Freud, Erich Fromm, Carl Gustav Jung und Melanie Klein. Sie alle waren in dem 1922 gegründeten Psychoanalytischen Ambulatorium tätig gewesen, einer Einrichtung für die ambulante Behandlung, die für die Patienten sogar kostenlos war. Offenbar hatte es eine enge Zusammenarbeit zwischen diesem Ambulatorium und der Heilpädagogischen Abteilung gegeben, deren Gründer und Leiter Dr. Erwin Lazar gewesen war.

Sie betrachtete ein schlecht kopiertes Gruppenfoto, auf dem der Mitarbeiterstab der Heilpädagogischen Abteilung im Jahr 1933 zu sehen war. Gleich viele Männer wie Frauen lächelten in die Kamera, sie alle trugen weiße Mäntel. In der sitzenden Reihe rechts vorne erkannte Sarah Dr. Hans Asperger. Sie verehrte diesen Arzt, der herausgefunden hatte, dass Menschen mit Autismus die Welt mit anderen Augen sahen und differenzierter wahrnahmen. Sie waren nicht minderintelligent und keineswegs „autistische Psychopathen“, wie sie bezeichnet worden waren, bevor Asperger seine Forschungen publiziert hatte. Ganz im Gegenteil – viele von ihnen verfügten über faszinierende Inselbegabungen, die sie zwar vom Rest der Bevölkerung unterschieden, sie aber mit ganz besonderen Fähigkeiten ausstatteten.

Der schlanke, groß gewachsene Mann mit dem schmalen Gesicht und der kleinen, runden Brille war Sarah im Zuge ihrer Forschungen vertraut geworden. Von der Frau, die hinter ihm stand, fiel ihr gerade nur der Vorname ein, Viktorine. Sarah blätterte in ihren Unterlagen. Wo steckte nur der kopierte Bericht des Bostoner Psychiaters Joseph Michaels? Darin befand sich eine Namensliste, da war sie sich ganz sicher. Er hatte 1936 im American Journal of Orthopsychiatry die Abläufe in der Heilpädagogischen Abteilung von der Morgentoilette bis zur Gymnastik im Detail beschrieben.

Sie wühlte sich durch einen Haufen aus Kopien, Mitschriften und Büchern. An ihrem Chaos hatte auch der wunderschöne Schreibtisch nichts geändert. Schließlich fand sie den Bericht ganz unten im Stapel und vertiefte sich darin.

Michaels war von der Klinik beeindruckt gewesen, was Sarah gut nachvollziehen konnte. Die hier angewandten Methoden waren bahnbrechend gewesen. Bis heute setzte man in vielen europäischen Kliniken Methoden ein, die nicht annähernd so human und modern waren wie damals in Wien. Besonders begeistert äußerte sich Michaels über die Beurteilungsverfahren im Ambulatorium, die sich von den strikten Diagnoseprotokollen in anderen Einrichtungen unterschieden. Wöchentlich wurden etwa sechzig bis siebzig Kinder und Jugendliche zur medizinischen Abklärung an die Klinik verwiesen. Für den stationären Aufenthalt standen fünfundzwanzig Betten zur Verfügung. Die Kinder sollten im Krankenhaus so leben, als wären sie zu Hause. Die Tage verliefen nach einem geregelten Zeitplan. Um keine Langeweile aufkommen zu lassen, erhielten die Kinder sogar Unterricht – eine Neuigkeit im Krankenhausalltag. Es gab montags Mathematik, dienstags Lesen, Orthografie und Textkomposition am Mittwoch, Geografie oder Geschichte am Donnerstag, Naturkunde am Freitag und samstags Handarbeiten oder Zeichnen. In der Regel blieben die Kinder vier bis sechs Wochen.

In dem Artikel kam zwar kein einziges Kind zu Wort, doch Michaels betonte, dass die Mitarbeiter um eine individualisierte Beurteilung aller Schützlinge bemüht seien. Er würdigte im Besonderen die Arbeit von Erwin Lazar, Georg Frankl und Anni Weiss. Asperger wurde nicht erwähnt, dabei hatte er doch später die Leitung der Abteilung übernommen. Wie hatte der Amerikaner ihn in seinem Bericht einfach übergehen können? Schließlich hatte Asperger die Diagnose Autismus erstmals mit wertschätzenden Worten beschrieben und die betroffenen Kinder aus der defizitorientierten Ecke herausgeholt.

Sarahs Blick fiel auf den Namen Viktorine Zak. Richtig, so hieß die Frau, die auf dem Foto hinter Asperger stand. Sie war jung und ausgesprochen hübsch. Dunkle Locken umspielten ihr Gesicht, das eine offene Freundlichkeit ausstrahlte.

Sarah lehnte sich seufzend zurück und starrte aus dem Fenster. Der Garten lag in völliger Dunkelheit da. Sarah dachte über ihr eigenes Aussehen nach. Sie war weder groß noch klein oder besonders hübsch. Alles an ihr war durchschnittlich – bis auf ihre rotblonden Locken. Als Kind hatte sie die Farbe gehasst, weil man sie in der Schule dafür verspottet hatte. Benedict hingegen liebte ihr Haar. Meistens band sie es zu einem praktischen Pferdeschwanz zusammen, nur bei besonderen Anlässen trug sie es offen. Wie bei den meisten Menschen mit rotem Haar überzogen ihre Haut unzählige Sommersprossen. Kaum kam die Sonne hinter den Wolken hervor, breiteten sich die Flecken auch auf ihren Schultern und Armen aus.

Die Sommersprossen und das rote Haar waren ein Erbe ihres Vaters, mit dem sie nur den allernötigsten Kontakt pflegte, der sich auf Geburtstage und Feiertage beschränkte. Die Treffen verliefen stets nach demselben Muster: Ihr Vater lud sie in eine billige, von einem Inder betriebene Pizzeria in Gloucester ein, wo die Pasta nach Curry und Suppenwürfel schmeckte. Sie nahmen an einem Fenstertisch Platz, von wo man auf die Straße schauen konnte, wenn das Gespräch stockte, was meist schon nach der ersten Frage der Fall war. Ihr Vater erkundigte sich nach ihrem Befinden, und sie antwortete mit stereotypen Floskeln. Dann folgte Schweigen. Früher hatte er ihr am Ende einen Umschlag überreicht. Das Geldgeschenk fiel stets sehr sparsam aus, obwohl er sich hätte ausrechnen können, dass Sarahs Mutter kein Geld übrig hatte, um Sarah auch nur kleine Extrawünsche zu erfüllen wie eine Schallplatte oder ein neues T-Shirt. Später im Bett hatte Sarah Tränen der Wut und der Enttäuschung geweint, doch am nächsten Tag hatte sie sich meistens wieder im Griff gehabt und so getan, als wäre alles bestens in ihrem Leben. Inzwischen hatte sie sich damit abgefunden, dass ihr Vater keinerlei echtes Interesse an ihr hatte.

Mit einem Schütteln versuchte Sarah, ihn aus ihrem Kopf zu verbannen. Während sie die Krankenschwester Viktorine Zak und Asperger betrachtete, kam es ihr so vor, als würde ihre Hand seine Schulter berühren und eine Vertrautheit zwischen ihnen bestehen, die über das Arbeitsverhältnis hinausging. Und schon waren Sarahs Gedanken wieder bei ihrer eigenen Geschichte. Wie würden sie und Benedict wohl auf einem Gruppenfoto aussehen? Würde man erkennen, dass sie sich heimlich trafen? Bis jetzt hatten sie ihre Affäre vor Freunden und Kollegen verheimlichen können. Nur Sarahs Mutter ahnte, dass sich ihre Tochter mit einem verheirateten Mann eingelassen hatte. Sie hatte sie einmal darauf angesprochen, doch Sarah hatte abgeblockt, und seither kamen bloß noch vorwurfsvolle Blicke, aber keine Fragen.

Sarah presste die Augen fest zusammen, bis sie nur noch helle Kreise sah. Als sie sie wieder öffnete, widmete sie sich endlich ihren Unterlagen und las konzentriert, ohne ein einziges Mal abzuschweifen.

„Originell, bezaubernd und absolut glaubwürdig“ Graeme Simsion

Der KaktusDer Kaktus

Wie Miss Green zu küssen lernte

Susan Green mag keine Überraschungen. Oder Emotionen. Oder Menschen. Was Susan Green hingegen mag, ist ihr Job als Versicherungsmathematikerin. Ihre Kakteensammlung. Und, die Kontrolle über ihr Leben zu haben. Susan Green kommt wunderbar alleine klar. Doch als gleich mehrere Schicksalsschläge Susans Routine durcheinanderwirbeln, muss sie mit Mitte vierzig lernen, dass nichts im Leben planbar ist. Und dass es nie zu spät ist, sein Herz zu öffnen.

„Originell, bezaubernd und absolut glaubwürdig.“ Graeme Simsion, Autor von Das Rosie-Projekt   

»Ich habe es geliebt!” Reese Witherspoon 

„Haywoods Debüt ist eine herzergreifende und charmante Geschichte über den Wandel einer Frau von einer einsamen, geordneten Existenz zu einem chaotischen Leben voller Liebe.“ Booklist   

„Urkomisch und liebenswert ... Der Roman ist durchweg unterhaltsam und geprägt von der großartigen Figur der Susan.“ Publisher’s Weekly       
    
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„Unterhaltung mit absoluter Lach- und Glücksgarantie!“ literaturmarkt.info     

„Ein wundervoll witziger und scharfsinniger Roman.“ Red Magazine        

August

Ich gehöre nicht zu den Frauen, die lange Groll hegen, sich über Meinungsverschiedenheiten groß den Kopf zermartern oder ständig die Motive anderer Leute hinterfragen. Genauso wenig, wie ich die Neigung habe, einen Streit um jeden Preis gewinnen zu müssen.

Selbstverständlich gibt es auch bei dieser Regel eine Ausnahme: Ich stehe nicht tatenlos daneben, wenn ein Mensch von einem anderen ausgenutzt wird, und das gilt eben auch, wenn ich diejenige bin, die ausgenutzt wird. Dann tue ich alles, was in meiner Macht steht, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. So ist es wenig überraschend, dass die Ereignisse dieses Monats mir keine andere Wahl gelassen haben, als unverzüglich und energisch zur Tat zu schreiten.

Mein Bruder Edward hatte mir die Nachricht vom Tod unserer Mutter übermittelt. Obwohl es halb sechs war, war ich schon wach. Ich hing gerade unschlüssig über der Kloschüssel und überlegte, ob ich mir den Finger in den Hals stecken oder die Übelkeit weiter aushalten sollte. Erbrechen verschafft einem ja ein paar Minuten der Erleichterung, aber dann fängt es doch wenig später wieder an. Also beschloss ich nach einer Kosten-Nutzen-Analyse, dass Aushalten die beste Option war. Als ich gerade mein gallegelbes Spiegelbild musterte, klingelte das Telefon in der Küche. Auf dem Festnetz rufen mich so wenige Leute an, dass mir sofort klar war, es musste sich um einen Notfall handeln, der mit meiner Mutter zu tun hatte. Auch wenn es, wie sich herausstellte, kein Notfall mehr war. Jedenfalls gab es keinen Grund, warum mein Bruder so früh hätte anrufen sollen, außer um mich unvorbereitet zu überraschen.

„Suze, ich bin’s, Ed. Es gibt Neuigkeiten – und leider keine guten. Vielleicht setzt du dich lieber hin.“

„Was ist passiert?“

„Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll, Suze. Ich befürchte …“

„Edward, reiß dich zusammen. Ist sie im Krankenhaus?“

„Suze, sie ist gegangen. Sie ist letzte Nacht verstorben. Ich bin erst um zwei nach Hause gekommen, ich war bei einem Freund ein paar Bierchen trinken. Ich hab gleich gesehen, was los war, weil sie so komisch zusammengesackt war. Unsere Hausärztin war schon hier, massiver Schlaganfall, hat sie gesagt. Ich kann es nicht glauben.“

Ich schluckte das Würgen, das in meiner Kehle aufstieg, herunter und setzte mich an den Küchentisch. Einen Augenblick war ich ganz damit beschäftigt, mit der Handkante ein paar verirrte Toastkrümel zu einem Häufchen zusammenzuschieben.

„Suze … Suze?“

„Sie war achtundsiebzig“, sagte ich schließlich, „und sie hatte schon zwei Schlaganfälle. Das kommt jetzt nicht völlig aus heiterem Himmel.“ Ich zögerte. Mir war klar, dass ich etwas Mitfühlendes sagen musste, aber das fiel mir nicht leicht, wenn ich mit meinem Bruder redete. „Aber ich kann mir vorstellen, dass es ganz schön unangenehm war, sie so zu finden“, fügte ich hinzu. „Du, es tut mir leid, ich hab keine Zeit mehr zu reden, ich muss mich jetzt für die Arbeit fertig machen. Ich ruf dich später an. Und … Edward?“

„Ja, Suze?“

„Bitte nenn mich nicht Suze.“

 

Ich hatte nicht damit gerechnet, mit fünfundvierzig zur Waise zu werden, in einem Alter, in dem die meisten Leute noch beide Elternteile haben. Doch meine Mutter und mein Vater waren schon Mitte dreißig, als ich auf die Welt kam, und mein Vater hatte eine gewisse Charakterschwäche, die sein Leben wesentlich verkürzte. Ich habe meine Mutter in ihren letzten Jahren nicht so oft gesehen, wie ich es hätte tun sollen. Ich bin im öffentlichen Dienst in der Projektabwicklung tätig (ich analysiere komplexe Daten und erstelle ausführliche Controlling-Berichte), und ich merke, wenn ich nicht stundenlang mit großen Zahlen und kleinen Buchstaben ringe, hab ich das Gefühl, überhaupt nichts zustande zu bringen.

Ein anderer Grund für die Seltenheit meiner Besuche war der, dass Edward wieder bei meiner Mutter wohnte, und er und ich betrachten das Leben auf sehr unterschiedliche Art – um es mal vorsichtig zu formulieren. Um ehrlich zu sein, wir tun alles, um uns aus dem Weg zu gehen. Mein Bruder ist nur zwei Jahre jünger als ich, aber was seine emotionale und psychologische Entwicklung angeht, sind es mindestens dreißig, was in seinem Fall bedeutet, dass er im Teenageralter stehen geblieben ist. Ich sollte hinzufügen, dass er keine diagnostizierbare geistige Störung hat, sondern einfach nur einen schwachen Willen und sich selbst alles erlaubt. Während ich hart gearbeitet habe, um mir eine sichere Karriere und einen stabilen Lebensstil zu erkämpfen, ist Edward von einem Scheißjob zur nächsten sinnlosen Beziehung in die nächste grindige Wohnung gezogen. Wenig überraschend, dass er am Ende zu meiner Mutter zurückgekrochen kam, als er die vierzig überschritten hatte.

 

Es ist ein Schock, wenn einem der Tod eines nahen Verwandten mitgeteilt wird, auch wenn derjenige alt und krank war. Ich merkte, dass ich ein paar Minuten ganz ruhig sitzen bleiben und meine Gedanken sammeln musste. Doch da ich in London war und meine tote Mutter in Birmingham, gab es wenig Praktisches für mich zu tun. Deswegen beschloss ich, in die Arbeit zu gehen und weiterzumachen, als wäre alles normal, oder zumindest so normal, wie ich es mit dieser ständigen Übelkeit vorspielen konnte. Ich würde niemandem im Büro vom Tod meiner Mutter erzählen. Ich konnte mir nur zu lebhaft vorstellen, was für eine Orgie des Jammerns und Seufzens ich damit ausgelöst hätte, feuchte Umarmungen und Beileidsbekundungen für den Verlust eines Menschen, den sie nie kennengelernt und von dessen Existenz sie nicht mal gewusst hatten. So was mag ich nicht so gern.

Als ich in der Nähe meines Bürogebäudes aus der U-Bahn stieg, traf mich die Hitze wie ein Keulenschlag. Sie hatte bereits einen Level erreicht, der ausreichte, um den frischen Asphalt vor dem Ausgang weich zu machen.

Der Lärm und die Abgase des schleichenden Verkehrs schienen um ein Vielfaches verstärkt, und die bohrende Intensität des Sonnenlichts stach mir auf der Netzhaut. Sobald ich die relative Geschütztheit meines Schreibtischs erreicht hatte – er steht in der ruhigsten Ecke eines Großraumbüros –, schaltete ich den Ventilator ein und richtete ihn auf mein Gesicht. Nachdem ich meine Lebensgeister wieder ein bisschen zurückgewonnen hatte, widmete ich wie jeden Morgen ein paar Minuten den Kakteen, die ich auf meinem Schreibtisch in einer Reihe aufgestellt habe. Ich überprüfte, ob irgendwo Fäule zu sehen war oder irgendwelche verwelkten oder trockenen Teile, ich wischte den Staub mit einem weichen Pinsel ab und vergewisserte mich, dass der Feuchtigkeitsgehalt in der Blumenerde korrekt war, und dann drehte ich sie so hin, dass sie gleichmäßig dem Tageslicht ausgesetzt waren. Nachdem das erledigt war, schlug ich eine Akte auf. Ich hoffte, dass die Arbeit an dem besonders kniffligen Bericht, den ich meinem Abteilungsleiter am Ende der nächsten Woche geben musste, mir helfen würde, die Geschehnisse des frühen Morgens in den Hintergrund zu drängen.

Für jemanden, der Jura studiert hat, ist mein Job vielleicht nicht der aufregendste, aber mir gefällt er. Die meisten Kommilitonen strebten eine Laufbahn als Staatsanwälte oder Strafverteidiger an, aber ich fühlte mich mehr zu der Sicherheit einer Beamtenkarriere hingezogen: das zwar nicht sonderlich großzügige, aber zuverlässige Gehalt, die annehmbare Rentenversorgung und der Umstand, dass ich nicht den Launen von Seniorpartnern oder Vorsitzenden irgendwelcher Anwaltskammern ausgesetzt war. Obwohl ich bei meiner Arbeit meinen Abschluss nicht nutzen kann und obwohl ich nicht die Erfahrung habe, die ich haben würde, wenn ich eine Berufsausbildung gemacht hätte, kommen mir meine breiten Kenntnisse der Gesetze und behördlichen Vorgänge sehr entgegen, wenn ich eine Beschwerde einreichen muss.

Wenn ich nicht Kollegen hätte, wäre das Büroleben direkt erträglich. An diesem Tag musste ich mich jedoch mit einer überdurchschnittlich langen Reihe von Ärgernissen auseinandersetzen. So war es zum Beispiel gerade mal halb elf, als der Geruch von den Resten eines chinesischen Take-away-Essens bis zu meinem Tisch herüberwaberte. Einer meiner untersetzteren Kollegen macht sich das gerne in der Mikrowelle unserer winzigen Kaffeeküche heiß und verzehrt es mitten am Vormittag. Mir stieg die Galle in die Kehle, und ich brauchte einen großen, kühlen Schluck zu trinken, wenn ich nicht ganz plötzlich auf die Toilette rennen wollte. Ich schaffte es zum Wasserspender, wo ich wenig erfreut war, Tom zu begegnen, dem energiegeladenen Verwaltungsassistenten, der erst kürzlich bei uns angefangen hatte. Er hatte immer noch die Reste seines Frühstücksbaguettes im Bart und schickte sich an, die nächste Quelle des Ärgernisses zu werden.

„Hey hey, Susan, du kommst gerade richtig. Du, ich wollte dir nur sagen, ich hab eine Facebook-Gruppe für unser Büro eingerichtet, auf der wir Stammtische organisieren und posten können, was sonst noch so los ist. Schick mir doch schnell eine Freundschaftsanfrage, dann nehm ich dich in die Gruppe auf.“

„Du bist noch nicht lange hier, stimmt’s?“, brachte ich heraus, während das Wasser gluckernd in mein Glas lief. „Jeder hier weiß, dass ich nicht auf Facebook bin.“

„Wow, echt? Wie kommst du denn dann mit den Leuten in Kontakt? Bist du auf Instagram oder WhatsApp? Da kann ich dich gerne auch in Gruppen reinbringen.“

„Ich bin auf überhaupt nichts. Ich finde, dass der Griff zum Telefonhörer oder eine kurze SMS normalerweise völlig ausreicht.“

„Na ja, das funktioniert vielleicht für, ich weiß nicht, für deine Mutter oder so, aber wie hältst du denn den Kontakt mit deinen alten Klassenkameraden oder Kommilitonen? Wie organisierst du dein Sozialleben?“

Für so was war ich jetzt nicht in der Stimmung. Aus irgendeinem Grund brannten meine Augen – vielleicht war es das grelle Deckenlicht. Ich erklärte ihm kurz angebunden, dass ich keinerlei Neigung hatte, den Kontakt zu Menschen aufrechtzuerhalten, mit denen ich vor Jahren mal flüchtig bekannt gewesen war, und dass ich mein Leben im Allgemeinen eher schlicht hielt. Wenn er den Drang verspüre, mich über Kollegenstammtische zu informieren oder wichtige Mitteilungen zur Lage im Büro zu machen, solle er mir einfach mailen. Ich hätte ihm auch vorschlagen können, dass er einfach die fünfzehn Schritte von seinem zu meinem Schreibtisch ging, aber solchen Aktionen muss ich nun auch nicht Tür und Tor öffnen.

Kurz nach ein Uhr, als ich das Weißbrot mit Butter in den Abfalleimer warf, von dem ich eigentlich gehofft hatte, ich würde es irgendwie herunterbringen, und mir Mühe gab, meine Gedanken zu bändigen, stellte ich mit einiger Gereiztheit fest, dass Lydia – eine Kollegin über dreißig, die seit Kurzem wieder Single war – um mein Büro herumstrich. Alle paar Minuten warf sie einen Blick auf ihr Armband. Ich wollte eigentlich gerade mit der Analyse einer Tabelle beginnen, die ich vor meiner kurzen Pause ausgedruckt hatte, aber es war mir unmöglich, solange meine Kollegin hier herumscharwenzelte.

„Lydia, willst du mir eigentlich absichtlich auf die Nerven gehen?“, schnauzte ich sie an, als sie zum vierten Mal an meinem Schreibtisch vorbeiparadierte.

Sie erklärte, sie habe einen Activity Tracker zum Geburtstag bekommen und absolviere jetzt ihre zehntausend Schritte am Tag. Sie müsse in Form kommen, jetzt, wo sie wieder „auf dem Markt“ sei – nicht unbedingt die Worte, die ich wählen würde, um unseren gemeinsamen Status als Singlefrauen zu beschreiben. Als sie das fünfte Mal zu mir kam, fragte ich sie, warum sie nicht draußen spazieren gehen könne wie jeder andere normale Mensch. Anscheinend war das nicht möglich, denn sie hatte ein Blind Date an diesem Abend, und da wollte sie nicht verschwitzt und staubig auftauchen, nur weil sie die ganze Zeit auf der Straße rumgerannt war. Als sie das sechste Mal vorbeikam, meinte sie, ich interessierte mich ja offenbar so sehr für das, was sie da tue, dass ich vielleicht mitmachen wolle? Ich lehnte ab. Bei Runde Nummer sieben hatte ich schon gute Lust, die Frau zu erwürgen. Ich brauchte ganz dringend meine Ruhe, damit ich mich konzentrieren und durch diesen grässlichen Tag lavieren konnte. Ich schlug vor, sie solle doch einfach die Treppen rauf- und runterlaufen – auf die Art könnte ihr Hinterteil die überflüssigen Pfunde doppelt so schnell verlieren.

„Hab schon verstanden, Susan“, schnaubte sie, änderte ihren Kurs und lief durch die Schwingtür hinaus. Ich war ganz bestimmt nicht die Einzige, die in dem Moment erleichtert aufatmete.

 

Es war mitten am Nachmittag, und Tom – der mit Lydia um den Titel des ärgerlichsten Kollegen des Tages konkurrierte – tauchte wieder an meinem Tisch auf. Ich versuchte, ihn zu ignorieren, aber er schien entschlossen, dort stehen zu bleiben und zu warten, bis ich seine Gegenwart zur Kenntnis nahm.

„Ich mach nächsten Monat eine Fundraising-Kneipentour zu einem wohltätigen Zweck und hab mir gedacht, vielleicht willst du mich sponsern?“, sagte er. „Ich kann dir den Fundraising-Link direkt mailen … da du ja vorläufig nicht vorhast, dich dem 21. Jahrhundert anzuschließen.“

„Was für ein wohltätiger Zweck ist es denn?“, fragte ich und warf meinen Stift auf den Tisch.

„Hab ich noch nicht entschieden. Ich weiß nur, dass ich mit meinem Leben irgendwas Sinnvolles anfangen will. Vielleicht mach ich es für Pandas – ich liebe Pandas – oder gegen die globale Erwärmung, denn das liegt mir im Moment echt am Herzen. Aber es gibt ja so viele gute Zwecke. Wo soll ein Mensch da anfangen?“ Er machte ein überzogen trauriges Gesicht.

„Ich hab gehört, dass die Gesellschaft für Schlaganfallpatienten sehr gute Arbeit leistet“, sagte ich. Ich weiß auch nicht, warum, aber meine Augen fingen wieder an zu brennen.

„Vielleicht. Aber besonders sexy ist das jetzt nicht. Überhaupt glaube ich, dass sich mein Kumpel letztes Jahr seinen Bart für Schlaganfallopfer abrasiert hat, deswegen möchte ich was anderes machen.“

„Na, dann komm doch einfach wieder, wenn du dich entschieden hast“, sagte ich und drehte mich auf meinem Bürostuhl von ihm weg.

Derzeit sammelt bei uns im Büro jeder Geld für einen guten Zweck. Früher war es ein- oder zweimal im Jahr, aber jetzt ist es ein konstanter Strom von Wohltätigkeitsverein hier, Sponsoren dort: Gehen, Laufen, Fahrradfahren, Schwimmen, Klettern, Bergsteigen, Trekking, Schlammwaten. Ich will mich gar nicht darüber beklagen, das möchte ich klarstellen. Ich finde es aufrichtig gut, wenn Menschen ihre Energien für das Wohl anderer einsetzen statt für sich selbst – wobei sie ja durchaus gesundheitlich davon profitieren und sich sehr tugendhaft fühlen dürfen. Aber abgesehen davon, scheinen sich die persönlichen Interaktionen, die zu solchen Veranstaltungen einfach dazugehören, auf die Produktivität im Büro auszuwirken. Ich beschloss, mit meiner Vorgesetzten Trudy ein paar Takte darüber zu reden, obwohl ich nicht wirklich Lust dazu hatte. Ich wünschte, ich hätte mir die Mühe gespart, denn wie sich herausstellte, war sie der Anlass für erneuten Frust.

Trudy hatte am gleichen Tag und auf dem gleichen Level in der Abteilung angefangen wie ich, vor so vielen Jahren, dass ich sie am liebsten gar nicht zählen mag. Zuerst nervte sie mich, ich solle mit ihr in der Mittagspause Kaffee trinken oder mich nach der Arbeit auf ein Glas mit ihr treffen, aber dann merkte sie bald, dass sie ihre Zeit verschwendete. Seitdem hat Trudy sich ihren Weg in die schwindelnden Höhen des Teammanagements gebahnt, mit vier Unterbrechungen durch Mutterschaftsurlaub. Fotos von den Endprodukten dieser Unterbrechungen waren unübersehbar auf ihrem Schreibtisch ausgestellt, in ihrer ganzen hasenzahnigen, sommersprossigen Glorie.

Während sie sich zurücklehnte und nachsichtig lächelte, erläuterte ich, wie sinnvoll es für die Effizienz am Arbeitsplatz wäre, eine bestimmte Zeit im Monat festzulegen, zu der die Kollegen ihre Wohltätigkeitsunternehmung vorstellen, Sponsoren werben und echtes Geld einsammeln könnten. Trudy, die wahrscheinlich witzig sein wollte, meinte, es wäre sinnvoller, wenn man eine bestimmte Zeit im Monat festlegen würde, zu der ich meine produktivitätssteigernden Vorschläge vorbringen könnte. Sie kicherte, ich nicht. Vielleicht spürte sie meinen Unmut ob ihrer Reaktion, denn ihre Miene wechselte von Heiterkeit zu Besorgnis. Sie fragte, ob es mir gut gehe oder ob mich möglicherweise die Sommergrippe erwischt habe, die gerade rumging. Als sie mir Taschentücher anbot, entschuldigte ich mich und verließ ihr Zimmer.

 

Halb sieben. Das einzige Geräusch war das entfernte Brummen eines Staubsaugers, das lauter wurde, als es sich dem jetzt leeren Büro näherte. Übermächtige Gedanken drängten sich wieder in meinen Kopf. Ich schaltete meinen Computer aus und schob das Telefon in die Tasche, als unsere rumänische Putzfrau, Constanta, die Tür aufstieß und hereingeschnauft kam. Ich machte mich auf unseren üblichen Wortwechsel gefasst.

„’n Abend, Susan. Wie geht’s dir heute?“

„Super“, log ich. „Dir?“

„Gut, gut, mir immer gut. Du Letzte im Büro?“

„Wie immer.“

„Aah, du harte Arbeiterin, Susan, wie ich. Nicht wie andere faule Pelze.“

Sie kam an meinen Tisch und beugte sich herab, um mir mit heißem Atem verschwörerisch ins Ohr zu flüstern: „Der da drüben. Der wirft schmutzige Taschentücher auf Boden. Taschentücher voll Rotz und Popel. Igitt. Und die da drüben. Lässt viele Tassen auf ihren Tisch stehen mit dicke, fettige Lippenstift drauf. Warum sie nicht in die Küche zurück? Sie hat halbe Schrank voll. Früher hab ich ihre Schreibtisch für sie aufgeräumt, jetzt mir egal. Bin nicht ihre Mama. Große Babys.“ Sie richtete sich wieder auf. „Und, Susan, du immer noch keine Mann?“

Wenn es jemand anders gewesen wäre, hätte ich der Person gesagt, sie solle sich um ihren eigenen Kram kümmern, aber sie und ich führen jeden Tag dasselbe Gespräch, und ich kenne meinen Text.

Ich erwiderte also, sie mache ja wohl Witze.

„Sehr vernünftige Dame. Männer! Wir wie Sklaven und verdienen Geld, dann nach Hause kommen und da weiter Sklavenarbeit. Und was machen sie, wenn ihr Arbeit aus? Füße hochlegen und denken, wir sind ihre Bedienungen. Oder sie verschwinden Gott weiß wohin mit ihre Lohn und kommen zurück mit leere Tasche. Meine eigene Mann, Gheorghe, er verschwunden, wie Rauch – puff. Hat mich mit vier Töchter sitzen lassen. Sie alle verheiratet jetzt, und ihre Mann auch alle Platzverschwendung. Ich hab drei Putzstellen, dass ich ihnen schicke Geld. Ich sage ihnen, versteck das unter dem Boden.“

„Sie können von Glück sagen, dass sie eine Mutter wie dich haben.“ Ich schaltete meinen Ventilator aus und wollte hinaustraben, doch noch während ich mich vergewisserte, dass ich meine Oyster-Card in der Tasche hatte, blieb ich stehen; die Worte fühlten sich heute anders an.

Constanta strahlte. „Wir die Gleiche, du und ich. Wir wissen, was wir von Leben wollen, und wir wissen, wie wir kriegen. Und ist egal, was die Leute denken. Du bist gute Mensch, Susan.“

Sie machte Anstalten, mich in die Wange zu kneifen, aber dann fiel ihr ein, dass ich solchen körperlichen Kontakten grundsätzlich ausweiche, und so ging sie zur Steckdose, um ihren Staubsauger einzustecken.

Als ich das Bürogebäude verließ und mir einmal mehr die Hitze von den Pflastersteinen entgegenschlug, war ich zufrieden, heute so gut die Fassade gewahrt zu haben, obwohl mir meine Kollegen konstant zugesetzt hatten. Niemand hätte jemals erraten, was an diesem Morgen passiert war. Andererseits fällt es mir nie schwer, meine Gefühle vor anderen zu verbergen. Sie werden es noch sehen: Dafür habe ich wirklich ein Talent.

 

Als ich zu Hause war, rief ich Edward an. Es war seltsam, zweimal an einem Tag mit ihm zu sprechen, und dann auch noch so höflich. Die Umstände verlangten, dass wir unsere beträchtlichen Differenzen beiseiteließen und zusammenarbeiteten, zumindest bis das Begräbnis gewesen und der Nachlass geklärt war. Er berichtete, die Bestatter seien bei ihm gewesen und er habe die Beerdigung vorerst für nächste Woche Freitag angesetzt. Eine Kremierung, sagte er. Ich hatte keine Einwände. Es ist mir unerklärlich, warum sich jemand wünschen sollte, dass der Körper eines Familienmitglieds in der schlammigen Erde verrottet, oder warum sie einen Schrein zum Besuchen haben wollen, als würde die Seele des Verstorbenen auf dem Grabstein hocken und drauf warten, dass jemand zum Plaudern vorbeikommt. Gut, da waren wir uns also schon mal einig.

„Ich gehe stark davon aus, dass sie kein Testament hinterlassen hat“, fuhr ich fort. „Sie hat nie irgendwas erwähnt. Es wird wahrscheinlich darauf hinauslaufen, dass das Haus verkauft wird und ihre Ersparnisse zwischen uns aufgeteilt werden. Ich werd mich drum kümmern.“

Es entstand eine kurze Pause. „Tatsächlich hat sie ein Testament verfasst, Suze. Vor ein paar Wochen. Sie hat in einer Radiosendung gehört, wie wichtig es ist, dass jeder eines gemacht haben sollte. Ich hab ihr gesagt, dass sie meiner Meinung nach keines braucht, aber du weißt ja, wie sie war.“ Ich erinnere mich noch, dass seine Stimme an dieser Stelle einen defensiven Unterton bekam, aber vielleicht bilde ich mir das rückblickend auch nur ein.

„Wirklich? Mir gegenüber hat sie so etwas nie erwähnt.“

Er hatte bereits Kontakt mit den Anwälten aufgenommen, um sie vom Tod unserer Mutter in Kenntnis zu setzen, was meines Erachtens von erstaunlicher praktischer Handlungsfähigkeit zeugte – und das bei meinem Bruder, dessen Handlungsfähigkeit sich ansonsten darin erschöpfte, eine Sammelwette zu platzieren oder eine Pizza zu bestellen.

„Die haben gemeint, sie werden das Testament raussuchen und sich bei uns melden. Ich überlass das alles denen, ich kenn mich mit solchen Sachen nicht aus.“

Ich hatte in dieser Woche enorm viel Arbeit, deswegen musste ich mich auf Edward verlassen, obwohl ich insgeheim wusste, dass das keine schlaue Entscheidung war. Ich gab ihm minutiöse Anweisungen, wie er den Todesfall melden musste, diktierte ihm eine Liste mit passenden Veranstaltungsorten für die Gedenkfeier und beschrieb ihm, wo er das Adressbuch unserer Mutter finden würde, damit er ihre Freunde benachrichtigen konnte. Er schnaubte, als ich ihn fragte, ob er sich zu alldem in der Lage fühle.

 

Es war neun Uhr, als ich das Gespräch mit Edward beendete. Ich hatte den ganzen Tag über nichts gegessen, abgesehen von zwei Keksen zum Frühstück, und mir war schon etwas schwindlig. Ich machte mir eine kleine Portion Reis ohne alles und setzte mich an den Küchentisch, um die aufsteigende Übelkeit in den Griff zu bekommen. Die Flügeltüren zu meinem kleinen Garten im Erdgeschoss waren halb offen, und von draußen drang das Schreien des Neugeborenen aus dem oberen Stockwerk und der Geruch vom Mülleimer meiner Nachbarn herein. Ich muss das kurz erläutern: Ich lebe in einer Wohnung – im Erdgeschoss eines umgebauten viktorianischen Reihenhauses – in Südlondon. Nachdem ich zehn Jahre lang zur Miete darin gewohnt hatte, fiel dem Eigentümer ein, sie verkaufen zu wollen. Zu dem Zeitpunkt hatte ich genug von meinem mageren Gehalt gespart, um eine Anzahlung leisten zu können. Jetzt bin ich also Besitzerin einer Wohnung oder, andersherum betrachtet, Besitzerin eines gigantischen Kredits.

Ich musste alle Willenskraft aufbieten, um die Gabel zum Mund heben zu können. Dabei beobachtete ich die Katze meines Nachbarn, Winston, einen gedrungenen roten Kater, der auf den Terrakottafliesen meiner Terrasse saß und sich übergründlich putzte. Normalerweise mag ich keine Katzen, es nervt mich, wie sie unter geparkte Autos huschen oder sich durch Geländer zwängen, wenn man sie freundlich anlocken will. Winston ist jedoch eine Ausnahme. Wenn man sich ihm nähert, bleibt er genau dort sitzen, wo er ist, und er lässt sich streicheln und kraulen, bis er genug hat. Dann gähnt er, streckt sich und trottet davon, wie es ihm gerade passt. Er lässt sich von niemandem einschüchtern und hat nicht das Bedürfnis, sich irgendwo einzuschmeicheln. Er erinnert an Kiplings Die Katze, die allein herumspazierte, eine meiner Lieblingsgeschichten aus Kindertagen. Ich weiß noch, wie mein Vater mich in einem seiner lichteren Momente auf den Schoß nahm und mir die Erzählung aus einer abgegriffenen Ausgabe der Genau-so Geschichten vorlas. Während ich Winston beobachtete, überlegte ich, wo das Buch jetzt wohl war. Wahrscheinlich in einer vergessenen Kiste in einer Ecke unseres Elternhauses, was mich wieder daran erinnerte, was für eine Riesenarbeit das sein würde, wenn wir es für den Verkauf ausräumen mussten. In meinem momentanen Gemütszustand zwang mich dieser Gedanke förmlich in die Knie.

 

Als ich Edward ein paar Tage später anrief, um nachzufragen, wie er mit meiner Liste vorangekommen war, ließ ich es außergewöhnlich lange klingeln. Ich wollte schon fast aufgeben, als sich plötzlich eine Stimme meldete, die nicht Edward gehörte: „H’loo?“ Ich zögerte, entschuldigte mich, ich hätte mich verwählt, und legte auf, bevor mir wieder einfiel, dass ich die Nummer meiner Mutter ja per Kurzwahltaste gewählt hatte. Also rief ich sofort noch einmal an. Wieder meldete sich dieselbe flapsige Stimme.

„Ich hab eben schon angerufen – bin ich da bei Green? Patricia Green – letzte Woche verstorben – und ihrem Sohn Edward?“

„Ja, genau.“

„Hier spricht Edwards Schwester, Susan. Ich würde gerne mit ihm sprechen.“

„Oh, Susan. Ja, stimmt, genau. Ich schau mal kurz, ob er in der Nähe ist.“

Ich hörte Gemurmel, dann ein unnatürlich fröhliches: „Hallo, Suze, wie geht’s, wie steht’s?“.

„Edward, was war das für ein Mann, und warum geht er an das Telefon unserer Mutter?“

„Ach, das ist bloß Rob. Ich hab ihm gesagt, er kann ein paar Wochen hier pennen, während er sich hier in England wieder einlebt. Er ist gerade von einer langen Reise zurückgekommen. Ein total toller Typ.“

„Es ist mir egal, wie toll er ist. Ich will nicht, dass Fremde im Haus unserer Mutter wohnen. Sag ihm, dass er gehen soll. Sie ist noch keine fünf Minuten tot, und das Haus ist voller Wertsachen.“

„Hör zu, Suze …“

„Susan.“

„Hör zu, ich kenn Rob seit dem College. Du hast ihn selbst mal kennengelernt vor ein paar Jahren. Er braucht im Moment ein bisschen Unterstützung. Er war für mich da, als es mir schlecht ging, und jetzt bin ich für ihn da. Ich werd ihn nicht rausschmeißen – er hat keinen Ort, an den er gehen könnte.“

Die Loyalität meines Bruders zu seinen Saufkumpanen ist wirklich rührend.

Ich beschloss, die Sache persönlich in die Hand zu nehmen, wenn ich nach Birmingham fuhr. Es würde nicht lange dauern, bis ich diesen Rob auf die Straße gesetzt hatte. Ich brachte das Gespräch also auf die vorläufig dringlichere Frage der Beerdigungsorganisation. Edward erklärte, es werde mich sicher freuen, zu hören, dass die Gedenkfeier organisiert sei. Er hatte das Nebenzimmer in einem Pub namens „The Bull’s Head“ gemietet.

„Wir dürfen unser eigenes Essen mitbringen, wenn wir wollen, und am Ausschank können wir einfach alles anschreiben lassen und am Ende zahlen“, erzählte er stolz.

Ich setzte ihm auseinander, dass das völlig unangemessen sei und er die Reservierung sofort stornieren müsse. „Mum war abstinent. Sie wäre entsetzt gewesen bei dem Gedanken, dass ihre Totenfeier in einem Pub stattfinden soll.“

„Blödsinn, die war nicht abstinent. Die mochte schon ab und zu mal ihr Gläschen Sherry oder ein Radler. Und sie würde wollen, dass die Leute sich amüsieren, und das werden sie im Bull’s Head. Porzellantassen und höfliche Konversation hätte sie nicht gewollt.“

„Das ist genau das, was sie gewollt hätte. Genau diese Art Mensch war sie. Sie war ganz sicher nicht die Frau, die gerne mal zwanglos einen bechern ging.“

„Tja, so wird es jetzt aber laufen, Suze, und alle werden sich amüsieren und sich lustige Geschichten von ihr erzählen und sich einen antrinken, wenn sie Lust haben. Und wenn dir das nicht passt, dann kannst du dich von mir aus verpissen.“

„Ich kann nicht schreiben, wenn es absolut still ist“


Sarah Haywood

„Ihr Buch ist ein Plädoyer an die Gesellschaft, die Talente und Fähigkeiten eines jeden einzelnen Menschen zu erkennen und wertzuschätzen,..."

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Mein wunderbares Leben mit Autismus und ADHS

Ein mutiges Plädoyer gegen Sozialdarwinismus und für Inklusion

Schwer zu sagen, wie viele der kuriosen und komischen Dinge, die ihr im Alltag widerfahren, im Zusammenhang mit ihrer Diagnose stehen - vermutlich viele. Warum Menschen auf sie anders reagieren, kann sich die Studentin und Journalistin erst erklären, als bei der damals 22-Jährigen Asperger diagnostiziert wird. Das Enttäuschendste: Sie kann keinen einzigen Rainman-Trick. Das Schönste: Fast alles andere. Außer den Vorurteilen, gegen die sie angeht. Sie startet ein Crowd-Funding-Projekt und bringt 2014 die Zeitschrift „N#MMER. Magazin für Autisten, AD(H)Sler und Astronauten“ heraus, die ein gewaltiges Echo erfährt. In ihrem Buch erzählt sie, wie es ist, sensorisch hochempfindlich durch die Welt zu gehen, und was es bedeutet, Freundschaften zu führen und zu lieben, wenn soziale Interaktionen wie Händeschütteln und das Halten von Blickkontakt Anstrengung kosten. Ihr Leben erscheint darin so reich, intensiv und vielschichtig, dass der Normalo zuweilen neidisch wird. Und begreift, warum sie sich ihre „Ticks“ nicht einfach wegtherapieren lassen will. Und dass es gut ist, wenn manche Menschen anders sind.

Denise Linke gibt den Menschen eine Stimme, denen man bislang nicht zutraute, eine zu haben.

Ein Baumhaus ohne Tür

Im Sommer 2011 hatte ich es mir in den Kopf gesetzt, nach Los Angeles zu fliegen und drei Monate dort zu bleiben. Drei Monate können eine verdammt lange und teure Zeit sein, besonders in einer Stadt, in der man für ein Loch achthundert Dollar Miete im Monat bezahlt. Und wenn ich „Loch“ sage, dann meine ich das ziemlich wörtlich. Mein Zuhause war eine Ecke, die mit Brettern notdürftig vom Rest des Zimmers abgetrennt wurde. Sie war ungefähr so groß wie die bettgestelllose Matratze, die ich von meinem Vorgänger übernahm. Es blieb bloß noch Platz für ein winziges Bücherregal und für eine Stange, an die man mit Glück zehn Kleidungsstücke hängen konnte, bevor sie herunter krachte. Außerdem durfte ich für diesen Spottpreis die Wohnküche benutzen, den Balkon und ein kleines Bad, das ich mir mit riesigen Spinnen teilen musste. Ich war abends angekommen. Ryan hatte mich abgeholt. Heiße Luft schlug mir entgegen, als ich den Bauch des Flugzeugs verließ. Alles sah nach Terrakotta oder Naturstein aus und fühlte sich auch so an, sogar die Luft. Sie lag schwer auf meinen Schultern und roch nach Staub. Durch eine große Glasfront erschlug mich die Schwärze der Nacht. Wir hielten Händchen. Ryan trug Ryan meine Taschen zum Auto, einem alten, klapprigen VW-Bus. Stolz zeigte Ryan mir das Innere des Wagens und auch die deutschen Kennzeichen, die er in Berlin von einem parkenden Auto geklaut hatte. Ich nickte und lächelte. Innerlich ärgerte ich mich maßlos über die Schilder. Ich hatte Ryan gebeten, so etwas nicht zu tun, hatte ihm erklärt, dass die armen beklauten Leute dann stundenlang beim Straßenverkehrsamt sitzen müssten und garantiert einen beschissenen Tag hätten. Aber so ist er eben, dachte ich dann. Einer von den coolen Menschen. Die sich nicht für Fremde und erst Recht nicht für Straßenverkehrsämter interessierten. Und es damit bestimmt leichter hatten als ich. Ich stieg ein und knallte die Tür zu. Als wir die Parkwächter passierten, bat Ryan mich um sieben Dollar. Er habe gerade kein Bargeld, sagte er und stülpte entschuldigend die Taschen seiner bunt gestreiften Boardshorts nach außen. Ich fischte ein paar Dollarnoten heraus und gab sie ihm. Die Scheine fühlten sich an wie Monopoly-Geld, so dick und klein. Und die Straßen sahen genauso unecht aus wie das grüne Papier, die Luft und der Terrakotta-Flughafen. Es war finster, hier und da malten Neonleuchtreklamen grelle Lichtkleckse auf die Straßen und die Schlaglöcher. Wir schwiegen die ganze Fahrt. Erst als wir anhielten, sprach Ryan wieder. „This is Treehouse“. Ich blickte ihn fragend an. „We call it Treehouse cause there’s a huge tree in the middle.“ Daher also der Name Baumhaus. Eine naheliegende Begründung. Ich schleppte mich erschöpft siebzehneinhalb Stufen nach oben und stand vor einer angelehnten Tür. „This is our apartment.“ Eine goldene, aber garantiert nicht aus Gold gefertigte „1“ hing schief auf dem blauen Grund einer Tür. Mir schien das Ganze nicht sehr verheißungsvoll. „Why ist the door open?“ Im Gegensatz zu mir wirkte Ryan überhaupt nicht ängstlich. Die derangierte Tür kümmerte ihn nicht. So lässig würde ich mich nie geben können. „We never close the doors. Everybody is welcome.“ Ich warf einen Blick die siebzehneinhalb Stufen hinunter. Er blieb im Müll am Treppenabsatz liegen. Jeder war willkommen? „Like ... everybody? As in ... everybody?“ Ich lauschte dem Straßenlärm. Ein paar Typen unterhielten sich, ein Mädchen lachte schrill auf, zwei oder drei Hunde bellten. Und ein Obdachloser raschelte. Er hing kopfüber und bis zur Hüfte in einer Mülltonne. Da sie neben dem VW-Bus stand, war es aller Vermutung nach unsere Mülltonne. „No, stupid, just the Treehouse people.“ Wer auch immer zu den Treehouse-Leuten gehörte. Um keinen Streit vom Zaun zu brechen, sagte ich nichts weiter. Das Fehlen einer vernünftigen Haustür bereitete mir Unbehagen, aber ich wollte jetzt wirklich nicht spießig sein. Nicht direkt nach meiner Ankunft. Am nächsten Morgen schälte ich mich bei Sonnenaufgang aus den Laken. Der Tesafilm, mit dem unsere Gardinen an die Glaswand geklebt waren, hatte sich an einigen Stellen gelöst und ließ Helligkeit und, deutlich schlimmer, große Hitze in unser Goldfischglas-Schlafzimmer. Noch müde sah ich mich das erste Mal richtig im Raum um. Er hatte drei Wände. Eine bestand aus einer großen, zugenagelten Tür, eine andere aus Fensterglas, und die dritte war aus losen Brettern gezimmert, zwischen denen eine Tür lehnte. Auf dem kleinen Stück Teppich zwischen Bett und Tür lagen verkrustete Teller und dreckige Wäschestücke. Es gab keine Lampe und auch keine anderen Möbel außer der Matratze, auf der ich geschlafen hatte. Aus dem Wohnzimmer drangen Geräusche durch die Bretterritzen. Ryan hatte mir erzählt, dass es eine ganze Meute Mitbewohner gab. So war das eben, wenn man in L.A. nur achthundert Dollar im Monat für die Miete aufbringen konnte. Mühsam richtete ich mich auf und bahnte mir, das dünne braune Laken eng um den Körper geschlungen, auf Zehenspitzen einen Weg zur Tür. Als ich sie öffnete, nahm ich den halben Rahmen mit. „Hey, you gotta be Denise“. Eine helle Gestalt. Als meine Augen sich an den Sonnenschein gewöhnt hatten, konnte ich einen braunen Lockenkopf ausmachen. Die Frau saß im Schneidersitz vor einem grotesk großen Glastisch auf dem Boden und trug etwas, das irgendwie nach Basketball-Trikot aussah. Zwischen Daumen und Zeigefinger drehte sie einen halben Strohhalm hin und her. „Morning, gorgeous“, sagte ein weiteres Mädchen mit breitem texanischem Akzent. Sie sah sauberer aus als die andere. Ihr kurviger Körper war in weite schwarze Kleider gehüllt, schwarze Locken fielen auf ihre braunen Schultern. Ihre Nase war groß, ihre Zahnlücke auch. Sie zwinkerte und lehnte sich dann nach vorne, um auf dem Glas mit einer Rasierklinge weißes Pulver zusammenzuschieben. „You’re up early“, sagte ich zu niemandem bestimmten und starrte auf das weiße Zeug. Das Mädchen mit der Zahnlücke verfolgte meinen Blick und fragte mich, ob ich auch eine Line wolle. Als Willkommensgeschenk. Ich lehnte ab. Das zweite Mädchen stand auf und ging auf mich zu. „I’m Cat“. „Jeez, why so formal?“. Die andere nahm mich in den Arm. „I’m Hannah. And we’re all family here.“ Noch immer etwas benebelt und an der Echtheit der Situation zweifelnd ging ich durch die offene Glasschiebetür auf den Balkon. Er war, wie auch das Wohnzimmer, mit abgewetzten Sofas, Sesseln, ungeputzten Bongs und Bierdosen vollgemüllt. Cat war mir gefolgt. Nun lehnte sie am gelben Geländer und zündete sich eine Mentholzigarette an. Ihre beringten Zehen gruben im Dreck, ihre Fußnägel kratzten über den Steinfußboden. „You gotta love the sunrise“, hauchte sie. Der Rauch legte sich vor den strahlend blauen Himmel. Da hatte sie wohl recht. Der Sonnenaufgang war schön. Ich nahm die glühende Zigarette so wortlos, wie Cat sie mir reichte. Ihre Finger waren schmutzig. Wie sie das angestellt hatte, wird mir für immer ein Rätsel bleiben. Los Angeles liegt nicht im Wald. Die Möglichkeiten, Erde unter die Fingernägel zu bekommen, sind, gelinde gesagt, begrenzt. Aber das war mir eigentlich auch egal. An Schmutz würde ich hier bestimmt nicht sterben. Eher würde jemand durch unsere immer offene Tür spazieren und mich im Schlaf erschießen. 10919 Strathmore Drive, Los Angeles. Das war meine neue Adresse. Und das waren die Menschen, die, wenigstens für die nächsten drei Monate, meine Freunde sein würden, wollte ich nicht ganz allein bleiben. Das Haus sah aus wie mehrstöckiges Eigelb. Es war 1949 vom amerikanischen Architekten John Lautner für die Künstlerin Helen Taylor Sheats gebaut worden, 1988 hatte es die Stadt Los Angeles zu einem historisch-kulturellen Monument erklärt. Das hörte sich alles sehr nett an, war aber wenig wert, weil das Gebäude schon seit Ewigkeiten von Studenten buchstäblich als Behausung genutzt wurde. Von wohnen konnte keine Rede sein. Es war so dreckig, dass selbst der Dreck schon Flecken hatte, und so marode, dass jeder Tag, an dem nichts umfiel oder zerbrach, ein guter Tag war. Mehrere runde Apartments waren im Kreis aufeinander geschichtet, in der freigebliebenen Mitte befanden sich ein Baum und ein kleiner Teich mit Wasserfall. Angeblich gab es dort Fische, ich sah jedoch nie welche. Wahrscheinlich versteckten sie sich immer, wenn ich hinguckte, in den herumtreibenden Bierdosen. Jedes Apartment besaß einen Balkon. Aus Mangel an Eignung wurden nur die wenigsten zum Anbau illegaler Arzneimittel verwendet. Dafür waren sie offensichtlich alle gut geeignet, um auf ihnen eben jene illegalen Arzneimittel zu konsumieren. Ich bin mir heute noch nicht sicher, wie viele Menschen in dem Haus tatsächlich gehaust haben. Vierzig waren es aber mindestens. Manche Wohnungen habe ich nie betreten. In Apartment #1 waren wir zu fünft. Sam lebte in einer Abstellkammer zwischen den beiden Räumen, die als Badezimmer bezeichnet wurden. Ich lernte schnell, das Licht im Bad ausgeschaltet zu lassen. Ich wollte die Spinnen nicht so genau sehen. Unglücklicherweise nahmen sie darauf aber kaum Rücksicht, und ich rutschte mindestens drei Mal beim Duschen in der Wanne aus, weil sich eine von ihnen direkt vor meinem Gesicht abseilte und auf Augenhöhe baumelte wie ein widerlicher, achtbeiniger Bungeejumper. Hinter einem Badezimmer wohnte Hannah. Bauchtänzerin, Fotografin und Zahnlückenträgerin. Sie studierte nicht mehr und blieb wohl tatsächlich wegen des Ambientes im Treehouse. Ich konnte das nicht verstehen. So high konnte man doch gar nicht sein. Obwohl ich nie begriffen habe, wie jemand freiwillig im Müll leben konnte, wurde Hannah meine engste L.A.-Freundin. Neben ihrem Zimmer befand sich das von Cat, die irgendetwas studierte, was definitiv nichts mit Hygiene zu tun hatte. Immer klaute sie unser Essen aus dem Kühlschrank, was schließlich dazu führte, dass Ryan und ich uns einen eigenen Kühlschrank samt Schloss zulegten, um nicht zu verhungern. Im Lauf der Zeit lernte ich, über meinen Schatten zu springen und mit Dreck umzugehen. Ich lernte auch, mit anderen Menschen zusammen zu leben, ohne den Verstand zu verlieren, obwohl nahezu jeden Tag eine Party über unserem Schlafzimmer stattfand. „Wann hast du deine Diagnose bekommen?“, fragte Sam eines Abends. Sam studierte Psychologie. Meine Diagnose? Langsam nahm ich die Hände von den Ohren. Draußen war ein Krankenwagen mit dröhnenden Sirenen vorbeigefahren, Sam und ich hatten als einzige im beachtlich vollen und von Lärm erfüllten Wohnzimmer die Finger auf die Ohren gepresst. Vielleicht hatte ich seine nur gedämpft zu mir dringenden Worte falsch verstanden. „Meine was?“ „Deine Diagnose.“ Sam strahlte mich an. „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst“. „Na, Asperger. Du hast doch auch Asperger.“ Sam klang, als würde er einem kleinen Kind zum tausendsten Mal erklären, dass man mit Scheren in der Hand nicht rennen darf. „Ich habe was?“ Ich konnte die Schere fast schon spüren. Ich war gerannt und hingefallen. Etwas unbeholfen, auf jeden Fall verwirrt sah ich an mir herunter, so, als würde die Schere irgendwo in meinem Bein stecken. „Das Asperger-Syndrom. Das musst du doch kennen. Autismus.“ Autismus verstand ich natürlich. Und auch an das Asperger-Syndrom konnte ich mich nun dunkel erinnern. In irgendeinem Artikel hatte mal ich mal gelesen, dass Sheldon aus The Big Bang Theory dieses Asperger habe. „Dann bin ich halt behindert“, dachte ich, während ich mich später am Abend im Spiegel anstarrte. Ob ich jetzt anders aussah? Sah ich autistisch aus? Ich fand meine Stirn schon immer anormal hoch. Ob alle Autisten eine hohe Stirn hatten? Sheldon hatte eine. Dustin Hoffman in Rain Man auch. Konnte also stimmen. Waren hohe Stirnen überhaupt attraktiv? Das war natürlich Unsinn. Ich hatte bloß dieselben klischeehaften Bilder von Autismus und Asperger im Kopf wie fast jeder andere auch, der sich noch nie richtig mit dem Thema befasst hatte. Obwohl ich weder zu Boden gefallene Streichhölzer noch die Karten beim Black Jack blitzschnell zählen konnte, es bei mir mit dem Auswendiglernen haperte, und ich bei lauten Geräuschen wie einem schrillenden Feuermelder nicht auch noch selbst loszuschreien pflegte. Autismus kann man nicht sehen. Und Kim Peek, das Vorbild für Dustin Hoffmans Rolle, war überhaupt kein Autist, sondern Savant. Er hatte das, was die Leute eine „Inselbegabung“ nennen, also unfassbare geistige Fähigkeiten auf einem kleinen, eng umgrenzten Gebiet. Aber das wusste ich damals alles nicht. Eigentlich wusste ich gar nichts. Ich wusste nur instinktiv, dass Sams Verdacht stimmte. Ich bin Autistin. Es erklärte einfach alles. Es erklärte, warum ich mich mein ganzes Leben fehl am Platz gefühlt hatte. Nicht weil ich dachte, anders zu sein als die anderen. Sondern weil die anderen mir zu verstehen gaben, dass ich es war. Noch bevor ich genau wusste, was Autismus bedeutete, war ich mir sicher, dass Sam recht hatte. Und dass dieses Wissen alles verändern würde.

„Ein sehr zu Herzen gehendes Buch!“ Westfalenpost

Blick ins Buch
Tagebuch eines jungen NaturforschersTagebuch eines jungen Naturforschers

„Ich war fünf, als bei mir das Asperger-Syndrom diagnostiziert wurde. Mit sieben wusste ich, dass ich anders bin als andere. Ich hatte mich daran gewöhnt, für mich zu sein und nicht in die Welt derer durchzudringen, die sich über Fußball oder Minecraft unterhielten. Dann begann die Phase des Mobbing. Und die Natur wurde für mich überlebenswichtig.“

Der junge Autor, Autist und Umweltschützer aus Nordirland Dara McAnulty erzählt von einem Jahr mit und in der Natur. Wenn Dara (irisch für „Eiche“) über Seeigel, Schmetterlinge, Eisvögel oder das Moos an den Bäumen schreibt, findet er eine ganz eigene, berührende Sprache. Das kraftvoll-poetische Tagebuch dieses ungewöhnlichen Teenagers wurde in England zum Lieblingsbuch der LeserInnen und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

Vorwort
Dieses Tagebuch hält fest, wie meine Welt sich verändert, von Frühling bis Winter, bei uns zu Hause, in der Wildnis, in meinem Kopf. Es begleitet mich vom County Fermanagh im nordirischen Westen ins County Down im Osten. Es zeigt die Entwurzelung durch den Umzug, den Wechsel von County und Landschaft und die zwischenzeitliche Heimatlosigkeit auch meiner Sinne und Gedanken. Mein Name ist Dara, im Irischen bedeutet das „Eiche“ und ist in meinem Fall ein Jungenname. Als Baby nannte Mum mich lon dubh, das heißt Amsel, was sie heute noch manchmal tut. Mein Herz ist das eines Naturforschers, mein Kopf der des Wissenschaftlers, der ich werden will, und meine Knochen sind alt und morsch und ächzen, wenn ich sehe, wie gleichgültig und grob wir mit der Natur umgehen. Der Fluss aus meiner Feder zeigt meine Verbundenheit mit Flora und Fauna, erklärt möglichst klar meine Sicht auf die Welt und erzählt, wie wir als Familie alle Stürme überstehen.
Ich begann mit dem Schreiben in einem sehr einfachen Bungalow, in einer Wohngegend mit vielen Familien, die ihre Kinder nie raus vor die Tür ließen, und älteren Leuten, deren Brut bereits ausgeflogen war, die ihren Garten und den Rasen mit einer Schere stutzten – ja, das habe ich tatsächlich gesehen. In dieser Umgebung bildeten sich langsam erste Sätze, dort rang auf dem Blatt die Verzückung mit dem Frust, und dort verwandelte sich in den Frühlings- und Sommermonaten unser Garten (anders als die anderen in unserem kleinen Straßenwinkel) in eine Wiese mit Wildblumen, Insekten und einem in den hohen Gräsern aufgestellten „Bee and Bee“-Schild für geflügelte Gäste, ein Ort, an dem unsere Familie stundenlang die Üppigkeit der Natur beobachtete, die anderen Gärten fehlte, ohne dass wir den Nachbarn, die hin und wieder mit hochgezogenen Brauen hinter ihren Vorhängen hervorschauten, irgendwelche Beachtung schenkten.
Seitdem sind wir umgezogen, haben das Land durchquert und haben uns – nicht zum ersten Mal – ein neues Zuhause eingerichtet. In meinem noch nicht so langen Leben waren wir Nomaden schon an vielen Orten zu Hause. Doch egal, wo wir uns niederlassen, unser Haus ist immer voll mit Büchern, Schädeln, Federn, Politik, heftigen Debatten, Tränen, Gelächter und Freude. Manche Menschen meinen, dass Wurzeln durch Steine und Mörtel entstehen, aber unsere wachsen wie unterirdische Pilzgeflechte in alle Richtungen, verbinden sich zu einem Grundstock gemeinsam gelebten Lebens, sodass wir, egal wohin wir gehen, immer verwurzelt bleiben.
Meine Eltern stammen beide aus dem Arbeitermilieu und waren in ihren Familien die erste Generation, die zur Uni ging und dort Abschlüsse machte, und sie folgen nach wie vor ihrem Ideal, diese Welt besser machen zu wollen. Das heißt, wir haben keinen materiellen Reichtum, aber sind, wie Mum sagt, „in anderer Hinsicht reich“. Dad ist – und war immer – ein Wissenschaftler (erst Meeresforschung, jetzt Naturschutz). Er hat das geheime Wissen der Wildnis für uns lebendig gemacht und uns die Rätsel der Natur erklärt. Mums berufliche Laufbahn ähnelt der Herangehensweise, wie man am besten einen Strom durchquert: nie gradlinig. Musikjournalismus, Freiwilligenarbeit, Uni – auch heute macht sie immer noch ein bisschen von alldem, während sie nebenbei meine neunjährige Schwester Bláthnaid zu Hause unterrichtet. Bláthnaids Name bedeutet „die Blühende“, und im Augenblick ist sie Expertin für Feen, kann aber auch viel zu Insekten sagen, hält sich Schnecken und repariert alle Elektrosachen im Haus (worüber Mum gewaltig staunt). Ich habe auch einen Bruder, Lorcan – „der wild Entschlossene“ –, der dreizehn ist. Lorcan hat sich selbst beigebracht, Musik zu machen, und erzeugt damit bei uns immer wieder große Verzückung und zugleich Verwirrung. Er ist außerdem ein Adrenalinjunkie – was bedeutet, er rennt Berge herunter, springt von Steilküsten ins Meer und geht überhaupt mit der Energie eines Neutronensterns durchs Leben. Dann ist da noch Rosie, eine vor dem Einschläfern gerettete Greyhound-Dame, die unter heftigen Blähungen leidet und die wir 2014 adoptiert haben. Ihr Fell ist gestreift, sie ist unsere Tigerhündin. Wir nennen sie auch „Kissen auf vier Beinen“, und sie ist eine großartige Gefährtin und Stresskillerin. Ich, nun ja, ich bin der Nachdenkliche, meine Hände sind immer schmutzig und meine Taschen vollgestopft mit toten Dingen und (manchmal) mit Tierkot.
Bevor ich mich hingesetzt und dieses Tagebuch verfasst habe, hatte ich bereits einen Blog im Internet geschrieben. Ein größeres Grüppchen Menschen mochte den und sagte mehr als einmal, ich sollte doch ein Buch schreiben. Was ziemlich erstaunlich ist, da ein Lehrer meinen Eltern einmal sagte, „Ihr Sohn wird Texte nie in ihrer Gänze verstehen, geschweige denn einen durchgehenden Absatz schreiben können.“ Und doch mache ich das jetzt. Meine Stimme brodelt und steigt auf, wie bei einem Vulkan, und all mein Frust und meine Leidenschaften können beim Schreiben ausbrechen – hinaus in die Welt.
Unsere Familie verbinden nicht nur Blutsbande, wir sind auch alle autistisch, alle bis auf Dad – er ist der Sonderling, und von ihm hängen wir ab, damit er uns nicht nur die Mysterien der Natur, sondern auch die des Menschen verrät. Zusammen sind wir ein verschrobener, chaotischer Haufen. Und sind wohl ganz schön beeindruckend. Dicht aneinandergeschmiegt wie die Otter ziehen wir zusammen hinaus in die Welt.


FRÜHLING
Mein Träumen in der Dunkelheit wird unterbrochen. Ich bin irgendwo zwischen Auftauchen und Atemschöpfen, als ein Flöten in mein Bewusstsein dringt. Die Wände meines Zimmers lösen sich auf. Der Raum zwischen Bett und Garten schrumpft, wird eins. Ich stehe auf, ohne mich zu rühren, gehalten von der Schwere des Schlafs. Die Töne rieseln weiterhin auf meine Brust. Jetzt sehe ich vor dem inneren Auge die Amsel: Ihre Reviersonaten schallen durch den frühen Morgen, die Testosteron-Pfeile schwirren. Eingetaucht in die Musik, rattern in meinem wachen, denkbereiten Hirn die Gedanken los.
Der Frühling ist von Raum zu Raum verschieden, aber für mich liegt der größte Zauber in allem Seh- und Hörbaren, das zwischen Himmel und Wurzeln meinen Alltag umgibt. Der Frühling ist die Froschfrau, die ganz zu Beginn unserer Zeit in diesem Haus unsere Pfade kreuzte – unsere erste Begegnung hatten wir mit einem Klecks rasch auf Asphalt gesetzten Laich, dessen unsichtbaren Weg die Moderne durchkreuzte. Besorgt schufen wir voller Hoffnung ein feuchtes Asyl: Wir setzten einen Eimer Wasser in die Erde und bestückten ihn zum Ein- und Ausstieg mit Tontopfscherben, Kieseln, Pflanzen und einigen Stöcken. Wir wussten nicht, ob es funktionieren würde. (Um tiefer zu graben, hätten wir für den Blocklehm, mit dem unser Vorortgarten in Enniskillen gesegnet war, einen Bagger gebraucht.) Im darauffolgenden Jahr kam es aber zu einer zweiten Begegnung, als nämlich unsere amphibische Freundin beschwingt durchs Gras tanzte, Gesellschaft von einem zweiten Frosch bekam und uns zum Geschenk eine Ladung Froschlaich im Asyl-Eimer hinterließ. Wir jubelten, und unsere Freude war bis an den Fuß des Hügels zu hören, wo sie einen Moment lang das Rauschen des Autoverkehrs nach Sligo oder Dublin übertönte und sogar das Rumpeln und Rattern des nahen Betonwerks.
Die Ebbe und Flut der Zeit bringt in vertrauter Folge alljährlich Wunder und Funde hervor wie zum allerersten Mal. Die prickelnde Erregung hört nie auf. Neues ist immer lieblich.
Hain-Veilchen kommen als Erste hervor, genau wenn die Sperlinge Moos aus den Regenrinnen herauswühlen und die Luft sich plustert wie die Brust eines Rotkehlchens. Löwenzahn und Butterblume scheinen auf wie Sonnenstrahlen, zeigen den Bienen, dass es nun sicher ist, endlich auch herauszukommen. Kommt der Frühling, will ich jedes Wiederaufleben sehen. Bláthnaid feiert ihn jeden Tag, indem sie die Gänseblümchen zählt, und wenn es ausreichend viele für einen Kranz sind, wird sie zur „Frühlingskönigin“ – und falls noch welche übrig sind, macht sie noch ein Armband und einen passenden Ring zur Vervollständigung der Dreifaltigkeit. Manchmal reichen, wie durch Zauberei, die Gänseblümchen für eine ganze Wochenproduktion an Schmuck und Amuletten, dann bedenkt sie, hier und dort, das ganze Haus mit ihren Gänseblümchengeschenken.
Mir wurde mehr als einmal erzählt, ich sei ein Aurorababy gewesen, das zum Tagesanbruch wach war. Ich kam im Frühling zur Welt, und meine ersten Morgen waren – dem wachsenden Körper und Geist zur Nahrung – begleitet von der Sonate der Amselmännchen. Vielleicht war ihr Gesang das erste Locken der Wildnis. Mein Ruf. Ich denke oft an den heiligen Kevin, Caoimhín, stelle mir vor, wie er dasteht, mit vorgestreckter Hand, und darin ein Amselnest hält, bis das eine Junge flügge ist. Caoimhín von Glendalough war ein Einsiedler, der Trost in der Natur suchte. Als ihn immer mehr Menschen aufsuchten, um sich bei ihm Rat zu holen und seine Lehre zu hören, bildete sich nach und nach eine Klostergemeinschaft.
Ich liebe die Geschichten von Caoimhín, vielleicht auch, weil Caoimhín der Heiligenname ist, den ich mir zur Konfirmation ausgesucht habe. Obwohl ich jetzt weiß, dass dies vor allem meinem Erwachsenwerden dienen sollte, ist mir der Name immer noch wichtig, umso mehr, da seine Geschichte zeigt, wie wir, auch wenn wir gar nicht wollen, die Wildnis stören und das Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur verändern. Das Gefühl hatte Caoimhín, als ihm immer mehr Menschen folgten, vielleicht auch.
Die Fülle der Töne. Ich höre sie auch aus dem vollsten Luftraum heraus. Sie sind der Beginn von allem, das Erwachen von so vielem. Das Lied trägt mich weiter in die Vergangenheit: Ich bin drei und lebe entweder in meinem Kopf oder unter den kriechenden, krabbelnden, flatternden Dingen der Wildnis. Sie alle sind mir verständlich, anders als die Menschen. Ich warte darauf, dass die Morgenröte ins Schlafzimmer meiner Eltern scheint.
Lorcan liegt zwischen Mum und Dad eingebettet. Ich lausche auf die Töne, und sie beginnen, sobald die erste Portion Licht auf den Vorhang trifft. Goldene Schatten enthüllen die Gestalt, auf die ich gewartet hatte: die horchende Amsel auf dem Küchenanbau, ein prächtiger Bote auf dem Dach der Schlafenden und Wachenden.
Als die Amsel kam, konnte ich erleichtert aufseufzen. Es hieß, der Tag hatte wie alle anderen begonnen. Es gab Gleichmäßigkeit. Alles ging seinen festen Gang. Und jeden Morgen lauschte ich, berührte die Schatten und wollte weder die Vorhänge aufziehen noch jemanden wecken. Nie wollte ich den Moment zerstören. Ich konnte den Rest der Welt mit seinem Gehetze und Gewühle, seinem Krach und Trubel nicht hereinbitten. Also lauschte ich und beobachtete – die winzigen Bewegungen von Schnabel und Rumpf, die langen Linien der Telefondrähte, die dreißigsekündigen Pausen zwischen den Strophen.
Ich wusste, dass „mein“ Vogel das Männchen war, denn einmal, nur einmal, schlich ich die Treppe hinunter und schaute durch die Verandatüren hinauf. Dort saß es, starr und grau, doch war es dort und war immer dort. Ich zählte jeden Takt und prägte ihn mir ein, dann schlich ich die Treppe wieder hinauf und beobachtete wieder das Schattenspiel auf dem Vorhang. Das Amselmännchen war der Dirigent meines Tages, jeden Tag, für eine scheinbar lange Zeit. Dann hörte es auf, und ich dachte, meine Welt zerbricht. Ich musste mir eine neue Aufwachbeschäftigung suchen, und ich begann lesen zu lernen. Zunächst Bücher über Vögel, dann über alle wild lebenden Tiere. Die Bücher mussten naturgetreue Bilder und viele Informationen haben. Die Bücher halfen mir, eine Brücke zum Amseltraum zu bauen. Sie verbanden mich physisch mit dem Vogel. Ich lernte, dass nur Amselmännchen mit so viel Hingabe singen und dass Vögel singen, wenn sie einen Grund dazu haben, etwa um ihr Revier zu verteidigen oder das andere Geschlecht anzuziehen. Sie sangen nicht für mich oder irgendjemanden sonst. Das Ausbleiben des Gesangs im Herbst und Winter war traumatisch, doch das Lesen lehrte mich, die Amsel würde zurückkehren.
Der Frühling bewirkt etwas in uns. Alles schwebt. Man kann nicht anders, als sich nach oben und nach vorn zu bewegen. Es gibt mehr Licht, mehr Zeit, mehr zu tun. Jeder vergangene Frühling verschmilzt zu einer Collage und birgt so viel Materie in sich, so viel Gewicht. Der erste erinnerbare Frühling brannte sich tief und lebhaft in mich ein: Er war der Beginn einer Faszination für die Welt außerhalb von Wänden und Fenstern. Alles in ihm drängte mit zarter Kraft, bettelte, ich solle lauschen und verstehen. Die Welt wurde mehrdimensional, und erstmalig verstand ich sie. Ich spürte jedes Teilchen und konnte in sie hineinwachsen, bis es keine Unterscheidung mehr zwischen mir und dem Raum um mich herum gab. Würde sie doch nur nicht durchbohrt von Flugzeugen, Autos, Stimmen, Anweisungen, Fragen, sich wandelnden Gesichtszügen und schnellem Geplapper, mit dem ich nicht Schritt halten konnte. Ich zog mich vor diesem Lärm zurück und vor der Menschenwelt, die ihn machte; ich öffnete mich in Gesellschaft von Bäumen, Vögeln und an kleinen abgelegenen Orten, die meine Mum instinktiv in Parks, Wäldern und an Stränden regelmäßig für mich fand. An diesen Orten kam ich offensichtlich aus mir heraus: den Kopf konzentriert zur Seite geneigt, mit sehr ernstem Gesichtsausdruck sog ich ein, was ich sah, hörte.
Ich blende mich plötzlich aus und ein, merke, es liegt am Licht draußen, der morgendliche Chor ist verstummt. Der Zauber gebrochen. Es ist Zeit für die Schule. Heute fühlt es sich an, als würden die Dinge sich ändern. Bald werde ich mein vierzehntes Lebensjahr vollenden, und das Amselmännchen, der Dirigent meines Tages, ist genauso wichtig wie damals, als ich drei war. Ich bin immer noch versessen auf Gleichmäßigkeit. Alles muss seinen festen Gang gehen. Die einzige Veränderung ist eine andere Art des Erwachens: mein Bedürfnis, über die Tage zu schreiben, was ich sehe, wie ich mich fühle. Zum Ansturm des Lebens, zu den Prüfungen und Erwartungen (wobei die höchstens meine eigenen sind), kommt der Fluss aus meiner Feder hinzu, und der wird für mich zum verbindenden Zahnrad zwischen Wachheit und Schlaf und der sich drehenden Welt.

Mittwoch, 21. März
Wenn es März wird, kommen eigentlich Farben und Wärme, aber heute stehe ich bei uns im Garten wie eingeschlossen in eine Schneekugel. Die eisigen Flocken beißen, schnappen die gestrige Helligkeit fort. Die plötzliche Kälte bedeutet eine schwere Zeit für unsere Gartenvögel. Sie gehören für uns zum erweiterten Familienkreis, also laufe ich schnell zum Gartencenter die Straße runter, kaufe einen Nachschub an Mehlwürmern und fülle die Futterhäuschen vor dem Küchenfenster ganz auf; die Futterhäuschen hängen gute dreieinhalb Meter vom Haus entfernt, um eine klare Grenze zwischen nachbarschaftlicher Privatheit und Invasion zu ziehen. Nur wenige Tage zuvor haben unsere Blaumeisen die Nistkästen inspiziert, ihr Gezwitscher im Garten ist ein Konzert der Vorfreude gewesen. Und jetzt das. Vögel sind widerstandsfähig, aber dieser Temperaturabfall bereitet uns allen Sorgen.
Es ist schwer zu glauben, dass wir noch letzte Woche das Flüstern wärmerer Tage gespürt haben, als wir in den Ästen einer alten Eiche im Castle Archdale Country Park saßen, unweit von Dads Büro. Viele Menschen führen meine Liebe zur Natur auf ihn zurück. Er hat bestimmt viel zu meinem Wissen und meiner Achtung vor der Natur beigetragen, aber mein Gefühl sagt mir, dass die Verbindung bereits entstand, als ich noch in Mums Bauch war und die Nabelschnur mich nährte. Natur und Nahrung – es muss eine Mischung von beidem sein. Vielleicht ist Naturliebe angeboren, und ich kam damit zur Welt, aber ohne die Ermutigung durch Eltern und Lehrer und den Zugang zu etwas Wildnis gelangt sie nicht dauerhaft in den Alltag.
Mein Name, Dara, bedeutet im Irischen wie gesagt „Eiche“, und oben in den Ästen des majestätischen Baums spürte ich den Puls eines Lebens, das seit fast fünfhundert Jahren im Boden von Castle Archdale gewachsen ist, und klammerte mich an einen Zweig meiner Kindheit.
Bei uns im Garten beobachte ich einen Buchfinken mit Konfetti-Sprenkeln auf seiner silbernen Kappe. Er sitzt auf einem Ast unserer Zypresse, einem immergrünen, jetzt schneeweiß bepuderten Gewächs. Die pfirsichrote Brust des Buchfinken wölbt sich vor, als sich ein Girlitzpaar zu ihm gesellt – der eine zitrusgelb und schwarz, der andere fein getupft mit zierlich zinngelben Flecken. Das Rotkehlchen beherrscht die Szene, wie immer, stolziert prahlerisch herum, um alle Eindringlinge auf Distanz zu halten. Zuvor hatte es ein Geraufe zwischen vier Männchen und einem Weibchen gegeben, bei dem die Federn flogen und Köpfe gepickt wurden – Rotkehlchen sind so aggressiv, dass sie ihre Gegner angeblich am Genick verletzen, doch frage ich mich, ob sie das auch in Gärten tun, in denen es Samen, Nüsse und wunderbare Mehlwurmhäppchen in großer Menge gibt. Reichlich für alle.
Eine Singdrossel spielt Himmel und Hölle im Schnee, hüpft herum, holt sich die von uns verstreuten Samen. Das helle Rot halb gegessener Äpfel wird entdeckt: Die Drossel pickt, Saft kommt heraus, ich lächle. Die Zeiten im Jahr, zu denen die Drossel da ist, sind seltsam und in einer Weise unvorhersehbar, die mich in der Vergangenheit frustriert und gequält hätte. Doch jetzt habe ich gelernt, die unverlässliche Drossel zu rationalisieren und alle Begegnungen zu schätzen, ohne Bindung und Erwartungen. Na ja, so ungefähr.
Am Abend feiern wir Dads Geburtstag, als wäre es ein Wassailing, ein Wintersingen: Wir singen und tanzen und spielen (schlecht) auf unseren Tin Whistles, machen schrille Töne, erbitten das Ende der dunklen Tage und wünschen uns Licht. Mum hat für ihn gebacken – Victoria Sponge, seinen Lieblingskuchen.

Sonntag, 25. März
Ich finde den letzten Teil des Winters frustrierend, und die Warterei, bis wir durch das Tor hindurch in Farbe und Wärme reisen, kehrt meine schlimmste Eigenschaft hervor: Ungeduld! Heute aber können die Wärme der Luft und das Summen und Surren überall meine Unruhe lindern. Endlich scheint der Frühling den weichenden Schatten des Winters zu entkommen.
An diesem Morgen sind wir alle unterwegs zu einem unserer liebsten Orte: zum Big Dog Forest, einer Sitkafichten-Schonung nahe der irischen Grenze, etwa eine halbe Stunde von unserem Zuhause, oben in den Hügeln, mit Inseln von Weide, Erle, Lärche und im Mittsommer Sträuchern voller Heidelbeeren. Von den beiden Sandsteinhügeln – Little Dog und Big Dog – heißt es, sie wären durch einen Zauber aus Bran und Sceolan entstanden, den beiden riesigen Jagdhunden des legendären Fionn Mac Cumhaill, des Jäger-Kriegers und letzten Anführers der mythischen Fianna. Laut der Sage haben Fionns Hunde bei der Jagd die Fährte der bösen Hexe Mallacht aufgenommen und jagten ihr nach. Die Hexe floh und verwandelte sich in einen Hirsch, um schnell voranzukommen, doch das Bellen kam immer näher, weshalb Mallacht die beiden Hunde mit einem mächtigen Zauber in Little Dog und Big Dog verwandelte, die Hügel, die wir heute hier sehen.
Ich mag sehr, wie Namen Geschichten über das Land erzählen und wie durch alte Geschichten Vergangenheit lebendig bleibt. Genauso faszinieren mich wissenschaftliche Erklärungen, mit denen Geologen solche Mythen sprengen: Der Sandstein der Hügel ist härter als der umgebende Kalkstein, und als der Kalk durch Gletschererosion abgetragen wurde, blieb nur der Sandstein übrig und überragt jetzt das verbliebene Geschiebe der Eiszeit.
Ich entdecke Huflattich, Sonnenexplosionen im aufgewühlten Boden. Weißschwänzige Hummeln trinken und sammeln begierig. Löwenzahn, Gänseblümchen und ihre Verwandten aus dem Clan der Korbblütler sind oft die ersten Blütenpflanzen, die sich im Frühling zeigen, und sind für die Artenvielfalt unglaublich wichtig. Ich beknie jeden, den ich treffe, ein Fleckchen für diese Pflanzen im Garten brach zu lassen – das kostet nicht viel, und jeder kann es tun. Da die Natur an den Rand unserer zugebauten Welt gedrängt wird, sind kleine Inseln Wildnis eine gute Gegenaktion.
Manchmal scheinen Gedanken und Worte in meiner Brust festzusitzen – doch selbst wenn sie gehört und gelesen werden, wird das irgendetwas ändern? Die Vorstellung schmerzt mich und gesellt sich zu den anderen Gedanken, die immer in meinem Gehirn herumkämpfen und die Freude am Moment zerstören.
Das Klackern eines Schwarzkehlchens bringt mich dahin zurück, wo ich sein sollte, nämlich im Wald, und es sieht so aus, als ließe der Vogel winzige Schottersteinchen auf den Weg fallen. Ich starre auf den Weg, über den das Licht hinwegfährt, und merke, dass alles sich irgendwie regt. Sogar ein steiniger Pfad kann sich bewegen und durch den Lichteinfall und die Schatten vorbeifliegender Vögel verändern. Jeder Moment ist ein Bild, das es nie wieder genauso geben wird. Ich schaue, fasziniert, ohne mich darum zu kümmern, was Betrachter denken könnten, da wir üblicherweise den Ort hier für uns allein haben. Ich kann hier ich selbst sein. Wenn ich möchte, kann ich mich hinlegen und auf den Boden starren. Und während ich so starre, kommt mir zwangsläufig irgendein Lebewesen vor die Nase: Diesmal ist es eine Assel, die von nirgendwo nach irgendwo spaziert. Ich biete ihr die Spitze meines Fingers an, und sie kitzelt mich. Ich mag das Gefühl, ein Lebewesen in der Hand zu halten. Dabei geht es mir nicht um die Verbindung, die ich spüre, sondern um die Neugierde, die ich stillen kann. Sobald ich genau hinschaue, saugt der Augenblick mich ein – wieder und wieder ist es ein perfekter Moment. Aller Lärm verschwindet aus der Umgebung. Ich gehe zum Gras und senke behutsam meinen Finger in die Halme: Die Assel verschwindet im Gestrüpp.
Bláthnaid und Lorcan eilen voraus zur Kuppe des Hügels, der dahinter zum Lough Nabrickboy abfällt, während Dad, Mum und ich dahinspazieren, darüber plaudern, wie es wäre, an diesem besonderen Ort die Sitkafichten durch einheimische Bäume zu ersetzen. Letztes Jahr zur fast gleichen Zeit haben wir von der Hügelspitze den wunderschönen Anblick von vier Singschwänen gehabt – den einzigen wirklich wilden Schwänen. Die sanftmütigen, melancholischen Gestalten wippten anmutig mit hoch erhobenen Hälsen auf dem Wasser. Sie hätten die Kinder von Lír sein können: Aodh, Fionnuala, Fiachra und Conn, die von ihrer grausamen Stiefmutter Aoife dazu verflucht wurden, dreihundert Jahre auf Lough Derravaragh, dreihundert Jahre auf dem Nordkanal zwischen Irland und Schottland und dreihundert Jahre auf der Insel Inishglora zu verbringen.
Langsam und leise näherten wir uns dem Picknicktisch im Schatten der Weiden am See, und sie blieben bei uns, als wir uns in stiller Ehrfurcht und Verehrung hinsetzten. Wir fühlten uns sehr privilegiert. Mein Herz schlug schneller, mein Atem schien in meiner Brust gefangen. Die Vögel glitten geruhsam dahin, bis plötzlich das Schreien und Trompeten begann. Verdeckt von den nackten Zweigen einer Weide pirschte ich mich an, um sie besser zu sehen. Ich war still wie die Luft, beobachtete die sich ausweitenden Wellen der zum Fliegen sich aufschwingenden Vögel: Mit ausgebreiteten Flügeln, tief gehaltenen Häuptern, wild rotierenden Beinen stiegen sie auf, während die plumpen Paddelfüße sie schoben und hoben. Fort flogen sie, bliesen das Horn wie ein königlicher Konvoi. Sie verschwanden in nordwestlicher Richtung, vielleicht nach Island.
Auf eine Wiederholung dieser Begegnung auch nur zu hoffen, wäre unerhört, und als ich hinunter über den See schaue, erkenne ich, dass heute keine Singschwäne da sind. Er ist leer.
Ich bin etwas schwermütig, als wir hinunter zum Picknicktisch gehen. Ich finde einen günstigen Ort und warte auf die Kornweihen, reglos, bis das Licht schwindet. Als es Zeit wird zu gehen, schauen meine Eltern sich wissend an – und vermuten ganz richtig: Ich bin schlecht gelaunt für den Rest des Tages, schleiche, sobald wir zu Hause sind, in mein Zimmer, schreibe, suhle mich in Selbstmitleid. Keine Singschwäne heute. Keine Kornweihen.

Samstag, 31. März
Im Licht des späten Nachmittags, bei auflandigem Wind, fahren wir von Ballycastle an der nordöstlichen Küste mit der Fähre die wenigen Seemeilen nach Rathlin Island. Lummen und Möwen zerwühlen die Luft mit Schnattern und Kreischen. Ich bin heftig aufgeregt.
Heute ist mein Geburtstag, und ich lag heute Morgen bis zu meiner genauen Geburtszeit (11:20 Uhr) einige Stunden noch wach im Bett und lauschte einem schreienden Fuchs in der Ferne. Schon die ganze Woche war ich so heftig aufgeregt, nervös, aus Gründen, die ich nie richtig verstehen werde. Vielleicht weil ich neue Orte liebe und gleichzeitig hasse. Die Gerüche, die Geräusche. Dinge, die sonst niemand bemerkt. Auch die Menschen. Welche Dinge in Ordnung sind und welche nicht. Kleine Dinge, zum Beispiel, wie wir uns für die Fähre anstellten, was von mir auf Rathlin bei unserer Ankunft erwartet würde. Obwohl ich nach jeder Reise in meinem Kopf immer die übliche Aufräumaktion mache, zurückschaue und normalerweise denke, wie albern das alles war, strömen dennoch die Ängste herein. Mum beteuert, dass wir die Zeit auf Rathlin entweder draußen oder allein mit der Familie verbringen werden. „Alles wird gut“, sagt sie.
Bei unserer Ankunft versammeln sich Eiderenten im Hafen, und als wir uns zu der Hütte begeben, in der wir die nächsten paar Tage wohnen werden, mildert sich meine übliche Ablehnung neuer Umgebungen. Der Ort ist ein besonderer. Es fühlt sich hier so ruhig an. Die Luft ist frisch, die Landschaft in ihrem Überschwang außerirdisch. Kiebitze kreisen zu unserer Rechten, ein Bussard zu unserer Linken. Die Autofenster sind heruntergelassen, und die Geräusche durchziehen unsere Gliedmaßen, die von der dreistündigen Auto- und Fährfahrt ganz steif sind. Wir entspannen uns und strahlen, als in großer Zahl Hasen auftauchen und über uns Gänse schreien. Das Auto klettert über dem Meeresspiegel in den Westen der Insel hinauf.
Als wir unseren Schlafplatz erreichen, sieht er auf die Entfernung perfekt aus. Ein traditioneller Steinbau und meilenweit keine anderen Behausungen, und sobald wir da sind, springe ich aus dem Wagen, laufe herum und schaue mich um. Bald entdecke ich einen See mit Graugänsen und Reiherenten. Beim Umhergehen tauchen überall Hasen auf, meine Augen haben Mühe, mit all der Bewegung mitzukommen, und vor lauter Sinneseindrücken schwirrt mir das Gehirn.
Ich höre die Schreie der Seevögel in der Ferne. Tölpel fliegen am Horizont, das Kieksen von Klippenmöwen wird lauter. Ich bleibe stehen, schaue auf das Meer, wo sanft die Wellen strudeln, und durch den abendlich dämmernden Himmel fliegt eine Schar Blässgänse in Keilformation. Obwohl wir gerade erst hier angekommen sind und nur für ein paar Tage bleiben, mache ich mir schon Gedanken, wie leer ich mich fühlen werde, wenn es Zeit sein wird zu gehen. Ich spüre Panik.
Meine Kindheit, auch wenn sie wunderbar war, ist immer noch voller Fesseln. Ich bin nicht frei. Das tägliche Leben besteht aus vollen Straßen und Menschenmassen. Fahrplänen, Erwartungen, Stress. Ja, es gibt auch unbändige Freude, aber gerade jetzt und hier, an diesem außergewöhnlichen und schönen Ort, so voller Leben, wächst in meiner Brust eine schreckliche Angst. In Trance kehre ich zur Hütte zurück, sehe in goldenen Feldern Schatten huschen.
Nach dem Abendessen bricht aus allen Himmelsrichtungen Gesang hervor, wir halten im Halbdunkel inne und horchen. Sobald ich jede Melodie für sich heraushöre, fühle ich mich plötzlich verwurzelt. Spiralen der Feldlerche. Harmonien der Amsel. Sprudeln des Wiesenpiepers. Das Worfeln der Schnepfenflügel. Und immer dabei die Seevögelschreie. Wir sind in einer anderen Welt. Keine Autos. Keine Menschen. Nur wilde Tiere und die Großartigkeit der Natur.
Mein bester Geburtstag.
Und der Vollmond strahlt hinter den Wolken hervor, als wir über entfernten Häusern Venus beobachten, und ich stehe da mit tauben Händen und tauber Nase, aber loderndem Herzen. An solchen Orten kann ich glücklich sein. Ich wickle meinen Mantel eng um meine Brust, sauge das alles in mich ein, möchte noch nicht ins Bett, lagere diesen Moment in meinem Geheimversteck bei all den anderen Erinnerungen ein. Wenn die Armee der Ängste dann angestampft kommt und mich überfällt, bin ich bereit zum Kampf, bewaffnet mit den wilden Schreien von Rathlin Island.

Sonntag, 1. April
Nach einem Abend mit gutem Essen, Musik und Vogelgesang, der mir immer noch im Kopf schwirrt, erwache ich bei vielversprechendem Wetter: Zwischen den Wolken bricht es blau hervor. Die Morgensee ist glatt und blendend. Es ist Ostersonntag, und wir wollen heute zum RSPB Rathlin West Light Seabird Centre gehen, einem Vogelbeobachtungszentrum am Sitz der größten Seevogelkolonie in Nordirland – und zudem nicht weit von unserer Hütte entfernt.
Vor dem Frühstück renne ich mit Bláthnaid und Lorcan herum und suche die Schokoeier, die Mum und Dad in den Ritzen und Spalten einer Trockenmauer, unter Steinen und hinter Grasbüscheln versteckt haben. Hier ist es so anders als in unserem kleinen Vorstadtgarten, wo die Eier sich zu einfach finden lassen. Wir kreischen und rennen voll zügelloser Begeisterung. Hier müssen wir uns nicht kontrollieren: Niemand ist sonst da, meilenweit!
Wir wandern los nach Westen, Feldlerchen sind unser Sonntagschor, die Landschaft wie immer unser Andachtsort. Es ist böig, aber heiter. Ich entdecke zwei Graugänse, die am abgelegenen Ufer des Sees Gras rupfen und die, als wir dort entlangkommen, bereits zu acht sind und ganz in unserer Nähe herumwatscheln. Sie zeigen keine Scheu.
Bei unserer Ankunft am Vogelbeobachtungszentrum merken wir, dass wir eine halbe Stunde zu früh sind, so eilig haben wir es gehabt herzukommen. Wir treffen auf Hazel und Ric – die seit einem Jahr auf der Insel leben, unglaublich viel Wissen über die wilden Tiere haben, es mit Begeisterung teilen und sehr warmherzig und freundlich sind. Ich sage nicht viel, aber das ist bei mir nicht ungewöhnlich. Dafür lächle ich und nicke immer, außer wenn es um Vögel geht. Doch sogar dann, obwohl ich äußerlich entspannt wirke, bin ich es nicht. Ich fühle mich mittendrin eingeklemmt. Ich versuche, Gesprächen zu folgen, Nuancen zu beachten, Gesichtsausdrücke, Tonlagen. Das wird mir oft zu viel, dann drifte ich ab. Mein Herz schlägt zu schnell. Manchmal gehe ich von Leuten weg, ohne es zu merken. Das kann alles ganz schön peinlich sein.
Hazel und Ric gehen mit uns zu den Steinstufen, die zur Vogelkolonie hinunterführen. Mum und Dad lassen sich zu ausführlichem Erwachsenengeplauder mit Hazel und Ric hinreißen – alles unnötige Formeln und Hülsen, wie ich finde. Ich gehe ein Stück voraus, beginne mit den vierundneunzig sich schlängelnden Stufen, die langsam die Sicht auf eine zerklüftete Felswand freigeben, an der es von Klippenmöwen und kreisenden Eissturmvögeln wimmelt, die sich drehen, umherwerfen lassen und in der Luft tanzen. Der Anblick macht mich innerlich zappelig. In einem plötzlichen Anfall von Begeisterung renne ich die restlichen Stufen hinunter und hinüber zur Aussichtsplattform. Ich kann Unmengen von Lummen sehen! Die Schreie aufgeregter Vögel explodieren in meiner Brust. Mit zittrigen Händen leihe ich mir ein Stativ von Ric, setze mein Fernrohr auf und schaue angestrengt aufs Meer.
Nach nur wenigen Suchmomenten bekomme ich die schwarz-weiße Tracht eines Tordalks in den Fokus. Er wackelt auf den Wellen und bleibt erstaunlicherweise trotz der aufgewühlten See mit den anderen Vögeln seiner Gruppe in fester Formation. Diese Vögel sehen so klug aus, sogar wenn sie im Meer schwanken. Ich entdecke einen stromlinienförmigen Basstölpel (unseren größten Meeresvogel) am Himmel, der elegant herumschwenkt – er kann erstaunliche hundert Stundenkilometer schnell werden, wenn er sich auf der Jagd nach Nahrung ins Wasser stürzen lässt, aber dieses Schauspiel habe ich noch nie gesehen. Basstölpel sind schöne Vögel, haben bemerkenswerte Augen, jugendstilartige Linien und knapp zwei Meter Spannweite. Einen bekomme ich mit dem Fernrohr zu sehen, so halb. Überall erschallt das Kichern und Knarren der Eissturmvögel, als würden Hexen die Klippen und alles Getier darauf verfluchen. Sie sind ziemlich lustige Vögel, die ein widerliches, leuchtend gelbes Öl ausspeien, um Nesträuber abzuhalten. Mir erscheinen sie seltsam zart, und ich schaue ihnen gerne zu, wenn sie landen. Eine solche Landung ist faszinierend, hypnotisch. Der gekreischte Soundtrack passt perfekt dazu. Es gibt keine Papageientaucher, aber die hätte ich auch noch nicht erwartet.
Heute ist es unglaublich warm, und ich bin so froh, so in Frieden. Bláthnaid und Lorcan werden allerdings ein bisschen unruhig – nicht jeder hat für die Vogelbeobachtung Geduld. Ich bekomme die Möglichkeit, länger zu bleiben, aber gehe mit dem Rest der Familie zu einem Mittagspicknick. Es fällt mir so schwer wegzugehen, aber wir vereinbaren, dass wir noch mal zurückkommen, bevor wir die Insel verlassen.
Am Nachmittag wandern wir zum schönen Kebble Cliff. Pfotenabdrücke von Hasen im Schlamm zeigen ihre leicht- und tieffüßigen Kapriolen. Sie sind wieder überall. Geheimnisvoll tauchen sie hinter Grasbüscheln auf, sitzen eine Weile da, als nähmen sie uns in Augenschein, dann verschwinden sie. Bussarde und Raben kommen, zeitweise, suchen, kreisen, zu verschiedenen Tageszeiten, und ein Wanderfalke taucht auf, saust herab, ist nicht mehr zu sehen. Wir scheuchen beim Gehen Schnepfe und Waldschnepfe auf, ihr verängstigtes Fliehen überrascht und beglückt uns. Feldlerchen und Wiesenpieper schrauben sich weiter in die Lüfte, steigen auf, ihr Gesang reicht bis in jeden Teil meines Wesens, schlängelt sich empor. Alles, was jetzt noch fehlt, ist das Flattern von Schmetterlingen, das Vorbeischießen von Libellen. Das Summen des Frühlings. Ich bleibe still stehen, stelle mir vor, wie es klingen könnte. Ich gelobe zurückzukommen, wenn es wirklich so weit ist, im Mai. Was für ein Tag!
Müde vom Wandern und Erkunden fahren wir zum Pub, essen zu Abend und spielen Billard. Ich fange an, jeden Moment in meinem Kopf zu speichern, damit ich in einer Woche oder in einem Monat, zu irgendeinem unbekannten Zeitpunkt in der Zukunft, wenn ich das gute Gefühl mal wirklich brauche, mir die Details in Erinnerung rufen kann. Die fast nixenschwanzförmige Insel hat mich in ihren Sirenenbann geschlagen. Ich bin vollkommen bezaubert. Sie ist nur zehn Kilometer lang und anderthalb Kilometer breit, bietet aber so viel – und wir haben davon nur einen Bruchteil gesehen.
Mum und ich legen die letzten ein, zwei Kilometer vom Pub zur Hütte zu Fuß zurück, um nach dem seltenen Pyramiden-Günsel Ausschau zu halten, vergebens. Als ich unsere Hütte sehe und wie perfekt sie aussieht, tut mir das Herz weh. Morgen ist unser letzter ganzer Tag.

Montag, 2. April
Erholsamer Nachtschlaf ist für mich nichts Gewöhnliches. Mir fällt es schwer, so viel von unserer überwältigenden Welt zu verarbeiten und auszublenden. Die Farben auf Rathlin sind größtenteils natürlich und im Licht des Vorfrühlings noch gedeckt, also Farbtöne, die ich gut vertrage. Grelle Farben rufen eine Art Schmerz bei mir hervor, greifen meine Sinne körperlich an. Lärm kann unerträglich sein. Natürliche Geräusche sind leichter zu verarbeiten, und auf Rathlin gibt es nur solche. Mein Körper und mein Geist sind hier in einer Art Gleichgewicht. Das spüre ich sonst nicht so oft. Das heißt, ich kann mit mir und meiner Familie wieder in Kontakt kommen, was normalerweise schwierig ist, weil das Leben anstrengend und hektisch werden kann. Hier gehe ich gemächlich. Schaue mir stundenlang Vögel an, ganz ungestört. Ich kann gehen, wohin ich will. Kann forschen. Es gibt hier auch keinen Müll, nichts Unappetitliches – es sei denn, man findet Tierkacke ganz schlimm. Meine Neugierde zieht mich an Orte wie diesen, wo ich die Eierschalen geschlüpfter Lummen und Tordalke sammeln kann (die Beute des letzten Jahres wurde von den Raben gestohlen), Rocheneier, Muscheln und Knochen. Zu Hause haben wir die sogenannte „Fermanagh-Zeit“, in der das Leben langsamer zu sein scheint als an den meisten anderen Orten. Aber die Fermanagh-Zeit ist nichts im Vergleich zur Rathlin-Zeit, die noch angenehmer ist und noch freier fließt.
Der Wind und der graue Himmel, die uns am Morgen begrüßen, hindern Lorcan, Bláthnaid und mich nicht daran, doch hinauszurennen. Der Wind schlägt uns in die ungeschützten Gesichter, unsere Augen und Münder füllen sich mit Salz und Frische. Sogar der schwarz-graue Himmel enthält hier unheimlich viel Licht und Raum und Farbe. Er hat nicht die Schwere eines Vorstadthimmels, vielleicht einfach, weil er so viel Platz hat. Wir nehmen noch einmal genau den See unter die Lupe, an dem gestern die Graugänse waren. Wir rennen und rennen. Heute Morgen sehen wir keine Hasen. Sie hocken wahrscheinlich im Verborgenen, sitzen den Sturm aus. Der See bebt vor lauter Wind, ist aber frei von Vögeln.
Geknickt und atemlos kommen wir zurück zur Hütte und bekommen von Mum gesagt, dass keine Fähre fährt. Freude! Ich hoffe, das Wetter wird niemals besser werden, und träume davon, auf Rathlin gestrandet zu sein. Beim Frühstück erinnere ich alle an die Abmachung, noch einmal zum Vogelbeobachtungszentrum zurückzukehren, bevor wir die Insel verlassen, aber statt durch die Regenschauer zu laufen, sind wir uns einig, die kurze Strecke zu fahren.
Heute sind dort weniger Vögel: Eine kleine Gruppe Tordalke wackelt auf der turbulenten See, ein Paar Mantelmöwen. Trotz des schlechten Wetters hebe ich den Kopf zum Himmel und atme die kleinsten Einzelheiten ein. Ein einsamer Basstölpel senst durch den Himmel, und seine kanternden Schreie synchronisieren sich mit meinem Herzschlag – Orkadier (die Bewohner*innen der Orkneyinseln) nennen sie auch Sonnengans –, und auch im fallenden Regen spüre ich die Wärme seiner klagenden Rufe. Allzu bald legt sich Mums Hand auf meine Schulter – ich habe nicht gemerkt, wie viel Zeit vergangen ist.
Wir steigen zurück hinauf zum Vogelbeobachtungszentrum für einen heißen Kakao, und meine Haut wird knallrot und prickelt durch die Wärme drinnen. Während Mum und Dad mit Hazel und Ric sprechen, huschen meine Gedanken aus der Zeit und wieder hinein. Langsam entspannen sich meine Finger, ich fühle mich weniger taub, da erfahre ich aus dem Gespräch, dem ich gerade zu folgen anfange, dass es zurück hinaus in Wind und Regen geht, offenbar um nach Robben zu schauen. Die Fahrt zum Hafen dauert viel länger, als wir alle dachten. Bis wir da sind, fällt der Regen gemächlicher, statt aus Eimern nur aus Bechern, aber ich bin dankbar für den Regenmantel, als wir zu dem kleinen Strand vor McCuaig’s Bar gehen. Die Robben sind nicht schwer zu finden: Sechs von ihnen liegen in den anrollenden Wellen. Wir beobachten auch Eiderenten, wie sie dahintreiben. Anders als beim bescheiden geschmückten Weibchen wirkt das hervorstechende Gefieder des Männchens ziemlich außerirdisch. Während weiter draußen noch mehr Robbenköpfe wippen, picken Austernfischer, Rotschenkel und ein einzelner Sanderling im Seetang herum, tanzen lange, spindeldürre Beine durch die Brandungslinien. Eine Robbe hat eine seltsam hervorstehende Stelle im Fell: eine Wunde, verursacht durch ein unbekanntes Plastikobjekt, die zwar abgeheilt ist, bei der das Objekt aber immer noch drinsteckt. Der Anblick löst in mir eine Sonneneruption von Wut aus. Wie können wir mit den Tieren so umgehen?
Um uns alle etwas aufzuheitern, führen Mum und Dad uns in ein gemütliches Café, wo wir Crêpes verputzen, und erinnern uns daran, dass wir bald zur McFaul-Farm aufbrechen werden, wo wir eingeladen sind, später am Nachmittag die Lämmer zu füttern. Neben seiner Tätigkeit als Bauer ist Liam McFaul auch der Leiter des Vogelbeobachtungszentrums auf Rathlin Island und arbeitet mit vollem Einsatz daran, die Wiesenralle wieder anzusiedeln, eine überall in Irland stark gefährdete Spezies. Letztes Jahr rief ein Männchen, bekam aber keine Antwort. Liams Nesselbeete könnten dieses Jahr helfen, wie ich hoffe. Die Gedanken zur Wiesenralle und die Ansicht der verletzten Robbe erinnern mich daran, dass sogar dieser Ort hier, mitten in der Wildnis, nicht vor dem Einfluss des Menschen verschont bleibt. Überall gibt es Verluste. Lebensraum geht verloren, Arten und Lebensweisen gehen verloren. Obwohl hier und an vielen anderen Orten etwas dagegen getan wird, bleibt es eine sehr komplizierte Angelegenheit. Ich fühle mich nicht qualifiziert, die Situation zu verstehen oder zu bewerten. Ich weiß aber, dass sie mich verunsichert. Das Gleichgewicht stimmt nirgendwo mehr so richtig.
Diese Gedanken beschäftigen mich bis in den Abend, beim Füttern der Lämmer auf der McFaul-Farm. Es fühlt sich gut an, sie zu füttern. Wir sind keine Bauern, aber wir alle lieben Tiere, und Bláthnaid spricht jetzt davon, dass sie später Tierärztin werden will.
Zurück bei der Hütte, lesen wir bei Kerzenschein. Als Erster liest Dad aus Dara Ó Conaolas Night Ructions („Krach in der Nacht“) vor, danach folgt Mum mit einigen Gedichten, bis wir nach und nach alle davonschlummern, geschützt vor den krachenden Wellen und dem Getöse draußen.

Mittwoch, 4. April
Still dämmert der Morgen. Der Wind hat sich gelegt, was bedeutet, dass wir abreisen. Das Aufräumen und Packen hält meine Gedanken beschäftigt, aber in meinem Inneren springt ein Gefühl wild im Kreis. Wir fahren eilig zur Fähre, sind spät dran. Schweren Herzens geht es hinaus aufs Meer. Kein Kichern, kein Deuten auf Dinge hinter den Wellen. Verhaltenes Schweigen. Im Irischen heißt dieses Gefühl uaigneas. Ein tiefes, tiefes Fühlen, ein Zustand von Einsamkeit.
Wir haben etwas gefunden und verloren, so schnell wieder. Vielleicht verliere ich auch einen Teil meiner Kindheit. In mir ist Raum für eine nixenschwanzförmige Rathlin-Insel, der wieder gefüllt werden muss.

Samstag, 7. April
An diesem Morgen und den ganzen Tag über lastet Bedrückung auf mir, schließt mich ein. Obwohl so viele gute Dinge passieren, draußen, in einem Garten voller Gesang und Leben, hängen meine Gedanken fest zwischen Schwermut und herzrasender Angst. Ich fühle mich in der Vorstadt gefangen. Wind und Rauschen, wie es sie in der Wildnis gibt, wirbeln durch meine Tagträume und meine nimmermüden Nachtgedanken. Die Armee der Ängste marschiert, und meine Verteidigung hat versagt. Ich taste herum im Nebel meines Gehirns, versuche verzweifelt eine Erinnerung zu finden, ein Bild, um Tränen, Verwirrung und Frust loszuwerden. Um alles zu ersticken, ziehe ich mir die Decke über den Kopf und falle wieder in unruhigen Schlaf.

Sonntag, 8. April
Ich hieve mich wieder in die Welt, widerwillig. Sogar die Verlockung des Claddagh-Naturreservats beruhigt nicht meine innere Angst. Und ich merke, dass meine Trübsal berechtigt war, da wir bei unserer Ankunft sehen, dass zwischen dem Fluss und dem dichten Bärlauchteppich, dort, wo normalerweise Anemonen blühen, ein Streifen aus Steinen und Schlamm den Boden bedeckt. Ich tobe innerlich. Ein Bagger, der verräterisch in einem nahe gelegenen Gebäude steht, liefert das noch fehlende Puzzleteil.
Wir gehen verärgert weiter, und obwohl ich Knospen an den Zweigen sehe und goldenes Milzkraut die hohen Hänge bedeckt, ist das nur ein schwacher Trost. Auch die Zilpzalpe zwitschern, aber ich ignoriere ihren Gesang.
Als es wärmer wird, beschließen wir, zum Gortmaconnell-Felsen zu gehen, einem wilden Ort, der zum Marble Arch Caves Global Geopark gehört. Dies ist einer der Flecken, die anscheinend nie jemand besucht, zumindest nicht, wenn wir da sind. Es gibt einige Orte in Fermanagh, die wir als unsere „Tummelplätze“ beanspruchen, und dieser gehört dazu. Ich erspähe meinen ersten Schmetterling des Jahres, ein ziemlich erschöpftes Tagpfauenauge. Aufregung tobt in meiner Brust, löst den Spannungsknoten. Ich kann wieder einfacher ein- und ausatmen. Ich renne von ganz unten bis ganz hinauf auf den Gortmaconnell-Gipfel und spüre den Wind meine Auflehnung brechen. Sie wogt davon in die Landschaft, und ich liege flach auf dem Boden und schaue in die Wolken. Ich schließe die Augen und spüre, eine Hand auf der Brust, einen regelmäßigeren Puls. Ich schlafe für eine Weile, alle lassen mich in Ruhe. Diese Viertelstunde ist erholsamer als all die zerstückelten Stunden Schlaf dieser Woche.

Mittwoch, 18. April
Das vierte Zwischenzeugnis dieses Jahr verhindert, dass meine Füße Boden und Gras berühren, und sperrt mich in eine Prüfungsphase ohne Freiheiten, wie sich zeigt. In der Schule sind die Klassenzimmer beengend. Durch die abgestandene Luft bombardieren mich Herumgerutsche, Geseufze, Gezappel und Rascheln laut wie Donner. Die Räume sind hell, so hell, dass alles Rot und Gelb sich in meine Netzhaut bohren. Neonlicht ertränkt Tageslicht. Ich kann nicht nach draußen sehen. Ich fühle mich eingepfercht, wie ein wildes Wesen im Käfig.
Obwohl ich den Spanischunterricht sehr mag, ist der Raum abscheulich und macht es unmöglich, sich zu konzentrieren. Fast in jeder Stunde muss ich rausgehen und mich draußen hinsetzen. Dort sitze ich still, atme ein und aus, verschwinde in einem Mahlstrom. Gott sei Dank gibt es den „Rückzugsraum“ – der ist für Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen und für andere, die einen ruhigen Ort brauchen. Manche Leute glauben, ich bin da drin isoliert, das stimmt nicht. Ich bin in Sicherheit. Mein Gehirn kann sich ausdehnen und alles ausspucken, was ihm zu viel wurde.
Ich mag die Schule, will wirklich etwas lernen. Aber das Lernen ist so lahm und wenig inspirierend. Was wir lernen, ist so aufregend wie ein tropfender Wasserhahn, während sich die Welt draußen so viel einfacher erfassen und verstehen lässt. Man kann sich auf eine Sache fokussieren: eine Blume, einen Vogel, ein Geräusch, ein Insekt. Schule ist das Gegenteil. Ich kann nie klar denken. Mein Gehirn wird von Farbe und Lärm verworren und von dem Gedanken, sich organisieren zu müssen. Punkte von den Hirnlisten abhaken. Ständig die innere Unruhe im Zaum halten. Mich zusammenhalten.

Freitag, 20. April
Heute Morgen war ich nicht in der Schule, weil ich eingeladen wurde, im Rahmen vom Eco-Schools-Programm auf einer Lehrerkonferenz zu sprechen. Ich liebe diese Art von Arbeit. Sie passt zu meinem Anliegen, die Welt besser machen zu wollen. Ich muss es von allen Dächern rufen, wie wir mehr für unseren Planeten tun können, für unsere Flora und Fauna, wie wir etwas verändern können. Oft habe ich das Gefühl, mit meinem Kopf gegen eine Wand zu rennen.
Heute sind alle freundlich, aufmunternd und ernsthaft aufgeregt, hier dabei zu sein, um zu feiern, was viele Schulen mit so wenig Budget schaffen. Doch auf meinem Weg durch die gepflegten Gärten, hin zu dem Gebäude, in dem die Veranstaltung stattfinden wird, steigt mir ein Güllegeruch in die Nase. Ich bin hier, um über Artenvielfalt zu sprechen, und genau die fehlt; weder der Geruch noch die aufgeräumten Gärten passen dazu.
Mein Herz beginnt zu pochen, als man mich bittet, aufzustehen und zu sprechen. Ich kann den hinteren Teil des Raums nicht sehen – aber der Blickkontakt mit einer weit entfernten leeren Wand ist für mich ein wichtiges Hilfsmittel, um mich öffentlich äußern zu können. Hier ist das Podium jedoch zu hoch. Ich fühle mich klein, versuche mich zu erheben. Der Raum beginnt sich aufzublähen. Ich fühle mich wie untergetaucht, unter Wasser. Während ich laut lese, ribbelt sich die Schnur, die mich hält, langsam auf. Ich drohe herunterzufallen. Ich lese weiter. Lächle. Posiere für Fotografen. Rede, so viel ich im Kreis von Unbekannten kann. Dann merke ich, dass ich immer noch meine Fleecejacke trage, was erklärt, warum mir der Schweiß den Hals runterläuft. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich mich so gefühlt habe. Und als ich diese Schicht endlich ausziehe, werde ich auf mich selbst sauer, da ich mein liebstes Undertones-T-Shirt trage. Warum habe ich das nicht früher gemacht? Meine Unfähigkeit, mich zu organisieren und grundlegende Dinge zu tun – wie in einem warmen Raum meine Fleecejacke ausziehen –, geht mir echt auf die Nerven. Ich kann so was nicht einplanen. Offenbar komme ich nicht allein klar, ohne dass mir jemand alles souffliert (meistens Mum oder Dad). Andererseits ist das Soufflieren selbst noch viel nerviger.
Ich fahre mit Dad nach Hause zurück, und wir hören meine Lieblingsmusik. The Clash, The Buzzcocks und so weiter. Wir reden ein wenig, aber was ich eigentlich will, ist einschlafen, einfach den Tag wegsperren. Die Musik legt den Sinnesschalter um, die Klänge ziehen in mich hinein und lösen die innere Spannung.
Durch Musik fühle ich mich immer besser, und als wir zu Hause ankommen, bei Mums Fragen und ihrem Lächeln, ist meine zwingende Zusammenfassung des Tages schon fröhlicher. Danach fliehe ich mit meinem Fotoapparat in den Garten. Ich fotografiere nicht. Stattdessen döse ich ein. Kein Wunder, dass ich nachts nicht schlafen kann.

Donnerstag, 26. April
Als ich bei mir im Zimmer sitze und Hausaufgaben mache, spüre ich ein Kribbeln. Ich ziehe die Vorhänge und schiebe meine Türen auf. Ich lebe am Rand, am Rand unseres Hauses, weg von allen anderen, in der umgebauten Garage. Mum und Dad machen sich immer Sorgen, dass ich nachts nicht in ihrer Nähe bin, aber ich bin kein Baby, und ich finde es meistens gut. Ich stehe draußen, schaue mit schief gelegtem Kopf in den Himmel, und da ist es. Ein Kreischen. Ein Mauersegler-Weibchen! Erster Tag seines hunderttägigen Aufenthalts. Sie sind da! Den ganzen Weg von Afrika. Die muntersten und schwungvollsten unserer Sommergäste, schon höre ich ihre schrillen Rufe über unserem Haus.
Einer der wichtigsten Momente im Leben von Mauerseglern ist es, einen Nistplatz zu finden. Aber Leute wie meine Nachbarn machen ihre Gärten steril und bauen Vogelabwehrspitzen aus Plastik oder Metall an ihre Dachtraufen. Diese Haltung findet sich überall. Es ist die Norm, Wildvögel und andere Wildtiere davon abzuhalten, in den Ritzen und Winkeln unserer Wohn- und Bürohäuser zu leben. Und die ganze Kotgeschichte ist lächerlich! Das ist die Standardbeschwerde: Man sagt, wie schmutzig Vögel sind, und rechtfertigt damit den Verlust von Lebensraum direkt vor unserer Haustür.
Aber zunächst einmal wirbelt das einzelne Mauersegler-Weibchen jubilierend herum – eine Späherin, vielleicht auf der Suche nach Futter, noch unvergeben, auf Partnersuche, in Erwartung ihrer kreischenden Artgenossen, die um die Reviere raufen und rangeln werden. Es ist schwer zu glauben, dass viele Mauersegler-Babys einfach aus dem Nest fliegen und ihre gewaltige Reise ganz allein antreten. Erstaunlich ist das. Ich grüble darüber nach, wie sehr wir Menschen, um zu überleben, aufeinander angewiesen sind, und wie wilde Arten, um zu überleben, von unserer Gnade abhängen. Ich fröstele in der Kühle des Abends. Das Mauersegler-Weibchen ist weitergezogen, hinterlässt einen leeren Himmel, in dem sich die Nacht herabsenkt.
Bevor ich ins Bett gehe, entdecke ich einen zaghaften grünen Stängel, schüchtern neben dem forschen Löwenzahn, winzige rosa Knospen, die erste Kuckucksblume, das erste Wiesenschaumkraut. Früher waren ganze Felder damit bedeckt, und nach wie vor legen Aurorafalter ihre Eier bevorzugt am Wiesenschaumkraut ab. Winzige orangefarbene Pünktchen. Ich werde später im Jahr alle unsere grünen Stängel danach absuchen, aber bisher habe ich über Jahre hinweg noch keine gefunden. Vielleicht liegt es an dem neongüllegrünen Feld nebenan, das wir aus unserem Küchenfenster sehen.

Donnerstag, 10. Mai
Ich nehme meinen Fotoapparat mit in den Garten, um einen Löwenzahn zu verewigen, mit seinen auf links gedrehten Pusteblumen, die aussehen wie umgestülpte Schirme im Sturm. Sie waren mir aufgefallen, weil ich Löwenzahn liebe, mich an ihm erfreue wie an Sonnenschein. Mit etwas Geduld sieht man auf den geöffneten Blüten immer irgendein Wesen sitzen. Er ist eine unverzichtbare Lebensquelle für alle frisch hervorkommenden Bestäuber, und sein explodierendes Gelb erhellt mir auch die grauesten Tage. Hoch und stolz steht er da, anders als die windschwankenden anderen Frühblüher. Der Sonderling.
Auch Wiesenschaumkraut gibt es jetzt reichlich, und das erste Knabenkraut ist aus dem Boden gebrochen. Ich frage mich, ob es dieses Jahr mehr als die dreizehn wunderbaren Orchideen vom letzten Jahr werden. Mit einem Mal fällt Regen aus den wenigen Wolken über uns, und dicke Tropfen klatschen auf all die Pusteblumen. Die einzige Pflanze, die unversehrt davonkommt, ist die eine, die mir aufgefallen war.
Pusteblumen ähneln ein bisschen mir, wie ich mich von anderen abschirme, entweder weil so viel auf der Welt zu schmerzhaft ist, wenn man es sieht oder spürt, oder weil, wenn ich mich Leuten öffne, der Spott kommt. Das Mobbing. Fiese Beleidigungen wegen der großen Freude, die ich empfinde, wegen meiner Begeisterung, meiner Leidenschaft. Viele Jahre habe ich das für mich behalten, aber jetzt leaken diese Worte in die Welt.
Ich strecke mein Gesicht in den Regen, lasse mir Wolkenpartikel auf die Zunge fallen.

Freitag, 11. Mai
Das überall sprießende Leben – im Garten, auf dem Schulgelände, sogar auf den Straßen rund ums Haus – hebt meine Stimmung. Mein Herz wummert weniger gegen meine Brust. Ich fühle mich im Einklang mit der Natur, tauche jeden Moment wieder darin ein, lasse mich von jeder Welle treffen, versinke.
Nach den Pfadfindern beschließen wir, einen Spätabendspaziergang zu machen, in einem kleinen Park in Lisnaskea, einem Örtchen keine fünfundzwanzig Kilometer von Enniskillen entfernt. Es ist ein milder Abend, und das Licht ist vor lauter Gnitzen, die für uns ärgerlicherweise überall herumschwärmen, ganz verschwommen. Plötzlich hebt sich mit Wucht von den anderen Gesängen über Schilf und Bäumen einer ab, ein Schilfrohrsänger. Er durchdringt den Luftraum. Ich bleibe stehen und lausche. Einen Moment später beginnt ein Gespräch zwischen einem Schilfrohrsänger auf einem Stacheldrahtzaun und einem auf einem Weidenast. Einer sitzt im Schatten, der andere hat das Licht gewählt, die Musik ihres Zirpens beinhaltet all das taumelige Staunen, das ich spüre. Manchmal frage ich mich, wie andere Menschen auf diese Begegnungen reagieren. Fühlen sie sich ähnlich privilegiert, den Gesang eines Vogels wie dem Schilfrohrsänger zu hören? Nach einem ununterbrochenen Flug aus der Sahara landet er direkt hier, um unseren Sommer mit seiner knarrenden Ausgelassenheit zu verschönern.
Edward Thomas, der ein ganzes Dichterleben in zwei Jahre hineinpresste, bevor er in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs starb, hat diese Vögel perfekt beschrieben:
Ihr Gesang hat keine Worte, keine Melodie.
Doch für fast jede Süße hatte ich mehr Sympathie
Als für süße Stimmlein, die lieblich süße Worte singen.
Die kleinen braunen Vögel – brachten den Mai zum Klingen.
Denn wissend endlos wiederholen sie
Was niemand lernt, nicht in noch außerhalb der Schule.

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