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Welch schöne Tiere wir sind

Welch schöne Tiere wir sind

Lawrence Osborne
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Roman

„Lawrence Osborne holt die Geschichte von Odysseus und Nausikaa in die Gegenwart.“ - Süddeutsche Zeitung

Alle Pressestimmen (13)

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Welch schöne Tiere wir sind — Inhalt

Eine brillante Studie über Schuld und Gier

Fesselnd, dicht und abgründig – ein literarisches Meisterwerk


Die Luft scheint stillzustehen an diesem heißen Sommertag auf der griechischen Insel Hydra. Dort verbringt Naomi die Ferien in der Residenz ihres Vaters, einem englischen Kunstsammler. Gemeinsam mit der jüngeren Sam entdeckt sie bei einem Küstenspaziergang etwas Ungeheuerliches: Ein bärtiger, ungepflegter Mann liegt auf den Steinen, ein Geflüchteter aus Syrien, Faoud. Für Naomi die perfekte Gelegenheit, es ihrem Vater heimzuzahlen – für seinen obszönen Reichtum, seine hohlen Allüren, seine unerträgliche neue Frau. Doch als sie Faoud dazu anstiftet, bei ihrem Vater einzubrechen, hat das fatale Folgen.

€ 11,99 [D], € 11,99 [A]
Erschienen am 19.03.2019
Übersetzt von: Stephan Kleiner
352 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99342-5
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„Ein Roman unserer Zeit.“
Münchner Merkur
„Abgründig.“
Hörzu
„Der gewiefte Stilist Osborne - man vergleicht ihn mit Paul Bowles und Graham Greene - ... beschreibt die Rituale und Riten der Reichen, die sich (in Hydra) neben den Einheimischen tummeln. So intensiv und kenntnisreich, dass man beim Lesen nicht einmal Leonard Cohens Songs zur Untermalung abspielen muss.“
Die Welt
„Osbornes ›Welch schöne Tiere wir sind‹ trifft ins Herz der aktuellen Debatte.“
Madame

Leseprobe zu „Welch schöne Tiere wir sind“

EINS

Hoch oben am Berghang über dem Hafen verschliefen die Codringtons die trockenen Junimorgen in ihrer von Zypressen und über den Türen hängenden Markisen verdunkelten Villa. In pyjamagewandeter Pracht lagen sie inmitten ihrer byzantinischen Ikonen, umgeben von Gemälden hydriotischer Kapitäne, und wussten nicht, dass ihre Tochter begonnen hatte, frühmorgens schwimmen zu gehen, dass sie sich eine Stunde vor Sonnenaufgang in der Kühle ihres Zimmers ankleidete, halb gespiegelt in einem antiken Kippspiegel. Sie zog ein Batisthemd mit Umschlagmanschetten [...]

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EINS

Hoch oben am Berghang über dem Hafen verschliefen die Codringtons die trockenen Junimorgen in ihrer von Zypressen und über den Türen hängenden Markisen verdunkelten Villa. In pyjamagewandeter Pracht lagen sie inmitten ihrer byzantinischen Ikonen, umgeben von Gemälden hydriotischer Kapitäne, und wussten nicht, dass ihre Tochter begonnen hatte, frühmorgens schwimmen zu gehen, dass sie sich eine Stunde vor Sonnenaufgang in der Kühle ihres Zimmers ankleidete, halb gespiegelt in einem antiken Kippspiegel. Sie zog ein Batisthemd mit Umschlagmanschetten an, legte eine dünne Lederhalskette um, warf sich eine kleine Strandtasche aus Jeansstoff über die Schulter und ging dann die gekalkten Stufen hinunter, die unterhalb des Hauses ihres Vaters verliefen. Eine enge Spirale führte sie über Treppenabsätze mit eisernen Gittern und unvermitteltem Ausblick aufs Meer, wo die steinernen Bögen die nächtliche Kühle speicherten, zum Hafen hinab; die verwilderten Grundstücke mit den Poleitai-Schildern und den Doppelschlafzimmern waren jetzt dem Himmel preisgegeben und von reglosen Schmetterlingen bevölkert.

Unten im Ort ging Naomi am Hotel Miranda vorbei, vor dem ein Anker an seiner Kette aufgehängt war und eine Tür zu einem geheimen, in blauem Bleiwurzschimmer versunkenen Garten führte. Ein Priester, der auf den Stufen saß, als wartete er auf etwas, nickte ihr zu. Sie kannten einander, ohne den Namen des anderen zu wissen. Der heilige Bart, der immer gleich aussah, das Mädchen, das Sommer für Sommer mit leisen Schritten dahinging, als könnte es nichts um sich hören. In dem kleinen Hafen umrundete sie die überteuerten Jachten, ohne in die Cafés einzukehren. Sie ließ den Touristenhafen hinter sich und beschritt einen Pfad oberhalb des Meeres, geräuschlos in ihren Espadrilles, bis sie anfing zu singen und im Gehen ihre Schritte zu zählen. Sie kam an einer Reihe von Kanonen vorbei, die in eine Mauer eingelassen waren, und an dem Denkmal für Antonios Kriezis, hinter dem sich vom Wind zerrupfte Agaven wie Totempfähle vom Hang abspreizten. Sie umrundete die Insel in nördlicher Richtung auf einem Weg, der zu der kleinen Bucht namens Mandraki führte, in der sich, wie ihre griechische Stiefmutter oft sagte, das Wasser nicht bewegte. Sie hatte nie herausgefunden, warum sich am Wegrand rostiger Schrott auftürmte, Boiler und Eisenträger, vor langer Zeit zwischen die Blumen gekippte Zementmischer.

Auf der Bergkuppe über Mandraki standen einige imposante, von langen Mauern umgebene Villen, deren Türklopfer wie das Haupt der Athena geformt waren. In der Bucht lag ein heruntergekommenes Resort namens Mira Mare, wo man ein kleines Wasserflugzeug an den Strand gehievt und die Fenster mit Sichtblenden verkleidet hatte. Strohlose Sonnenschirmgerippe waren über das Grundstück hinter dem Strand verstreut, doch von Mandraki an wurde der Weg sauberer. Er schlängelte sich durch hügeliges Buschland auf Zourva zu, und dort fegte ein brennender Wind über weite Steinfelder zum Wasser hinunter. Es war kalt und fast schwarz, solange die Sonne nicht hoch genug stand, um es zu erhellen. Hier schwamm Naomi immer, bis ihr kalt war und ihre Finger taub wurden.

Ihrem Vater und Phaine erzählte sie nie von ihren morgendlichen Schwimmausflügen, und es gab auch keinen Grund dazu. Was hätten sie gesagt? Das Alleinsein war etwas, das ihnen nichts bedeutete. Sie hätten nicht verstanden, dass Naomi jeden Morgen die gleiche lustlose und diffuse Erwartung hatte, auf die gleiche Weise unzufrieden war mit dem Tempo der Welt, wie sie sie kannte. Manchmal dachte sie, sie hätte diese ewige Enttäuschung von Kindesbeinen an verinnerlicht, ohne dass sie den Grund dafür hätte benennen können. Vielleicht war es auch die Insel selbst. Die nicht enden wollenden Sommer, die für rein animalische Aktivitäten zu heißen Nachmittage. Und schlimmer noch, die steinalten Bohemiens, mit denen ihre Eltern Umgang pflegten. Die überwältigende Leere langweilte Naomi nicht einmal; sie fühlte sich dadurch nur dem Hedonismus wie dem Tourismus überlegen, ohne sich selbst eine Alternative bieten zu können.

Nach dem Schwimmen trocknete sie sich, von Wespen umgeben, auf dem steinigen Hang ab. Sie schrieb in ihr kleines Tagebuch, das sie bei sich trug, während der lange und vielversprechende Schatten des Festlands auf die gegenüberliegende Seite der Meerenge fiel. Hinter dem Nebel lagen die Argolis und der Landungssteg von Metochi, beides außer Sichtweite. Wenn sie nach Mandraki zurückgelaufen und auf der Suche nach einem Kaffee in das Resort spaziert war, war es meist gegen acht. Hoch über der Bucht reckten raue Berghänge ein weißes Kloster in die ersten Sonnenstrahlen. Als Kind hatte sie sich immer vorgestellt, dass dort Heilige lebten, windgegerbte Einsiedler. Doch sie hatten sich nie gezeigt. Unter den Jungen, die die Schirme und die zugeteilten Liegestühle über den Sandstreifen schleiften, war sie inzwischen bekannt. Die Flirtversuche hatten nachgelassen, und sie betrachteten sie zunehmend mit verdrossener Skepsis, weil sie ihre Avancen hundertundeinmal zurückgewiesen hatte.

Es dauerte nicht lange, bis ihr Blick auf die Reihen marineblauer Badetücher fiel, die die Jungen in der Hitze auf den Sonnenliegen ausgebreitet hatten. All dies war schäbig, aber abgeschieden; manchmal war Ersteres der Preis für Letzteres. Die Bucht war so klein, dass der Ozean davor im Vergleich zu dem eingeengten Strand eine weitwinklige Grenzenlosigkeit besaß. In jedem Fall waren dort schon zwei Frauen angekommen und stiegen mit ihren Strandtaschen von dem Pfad herab; bei jeder Bewegung erzitterten ihre Strohhüte mit der besonnenen Behändigkeit von Käfern.

Sie besetzten zwei Sonnenliegen, und die Jungen brachten ihnen Tabletts mit Eiswasser; es war offensichtlich, dass sie jeden Tag herkamen und das Personal sie gut kannte. Wahrscheinlich bestellten sie Frühstück und Mittagessen, dazwischen reichlich alkoholische Getränke, denn im Verhalten der Griechen lag eine gewisse Vertrautheit. Das Resort starb, da waren zahlende Nichtgäste nicht weniger wichtig als Gäste. Diese hier, eine ältere und eine junge Frau, waren offenbar Mutter und Tochter. Aber Naomi kannte sie nicht von den endlosen Partys, zu denen ihr Vater und ihre Stiefmutter eingeladen wurden und die auch sie über sich ergehen ließ, weil es auf der Insel sonst nichts zu tun gab. Also waren sie nicht berühmt, gehörten nicht zu den Reichen und Schönen, und Jimmie und Phaine kannten sie vermutlich auch nicht. Trotzdem waren sie hier, tranken ihren Kaffee aus großen blauen Bechern und vertrieben die Fliegen mit – ausgerechnet – tropischen Fliegenwedeln. Das Mädchen war bemerkenswert zart, gertenschlank, ihre Haare wie gesponnenes Gold, zu blass für diese Sonne, was ihren Augen einen noch wild entschlosseneren und begierigeren Ausdruck verlieh. Wenn das Licht auf sie fiel, erfüllte sie das unmenschliche Leuchten blauer Edelsteine. Die Wedel waren amüsant, und innerlich zollte Naomi den beiden selbst dann noch Respekt, als ihre Akzente zu ihr herüberwehten und nahelegten, dass es sich um Amerikanerinnen handelte. Das waren sie tatsächlich, und noch bevor sie ihre Kaffeebecher geleert hatten, schauten sie zu dem englischen Mädchen mit seinem Joghurt und dem Honig auf einer hölzernen Spirale hinauf, und in ihren Augen leuchtete eine leichte, heimelige Neugierde. Du auch hier in Mandraki?

 

Die weibliche Hälfte der Familie Haldane hatte die Bucht gleich am ersten Tag entdeckt, an dem sie mit dem Schiff aus Piräus angekommen waren. Sie hatten einen langen Spaziergang um die Insel unternommen, ohne Mr Haldane, und wenn Amy darüber nachdachte, musste sie sich eingestehen, dass sie die besten Entdeckungen immer dann machte, wenn ihr Mann nicht dabei war, um sie ihr zu verderben.

„Samantha hat sie gefunden – sie hat die Putzfrauen im Hotel gefragt, was sehr schlau war. Aber ich glaube, du warst schon vor uns hier.“

„Ich komme seit Jahren her“, sagte Naomi mit bewusst matter Stimme.

„Dann kennst du –“

Das andere Mädchen war jünger als Naomi mit ihren vierundzwanzig Jahren, vielleicht neunzehn oder zwanzig. Ein steter, kühler Blick: Wahrscheinlich erforschte sie wie Naomi selbst die Menschen und ihre Miseren.

„Wohnst du hier?“, unterbrach sie ihre Mutter seelenruhig.

„Mein Vater hat hier ein Haus. Es gehört ihm seit den Achtzigern.“

„Herr im Himmel“, sagte die Mutter. „Wir sind auf eine Expertin gestoßen. So lange ist er schon hier? Dann musst du dein ganzes Leben auf dieser Insel verbracht haben.“

„Die Sommer.“

„Sommer auf der Insel. Wir haben ein Ferienhaus auf einer Insel in Maine, die fast so schön ist wie die hier. Aber wir kommen aus New York. Vielleicht kennen wir deinen Vater?“

Sie war etwas übereifrig, und Naomi musste ihr einen Dämpfer verpassen.

„Ich glaube nicht. Mein Vater und meine Stiefmutter sind ziemlich zurückhaltend.“

„Mein Mann, weißt du … er kuriert eine Verletzung aus. Er ist hergekommen, um gesund zu werden, was keine schlechte Idee zu sein scheint. Es geht ihm schon besser, meinst du nicht, Sam?“

„Er kann den schlimmen Fuß beim Gehen schon wieder belasten.“

Naomi ging zu der Liege neben ihnen. Sie streckte sich aus, und in der Art und Weise, wie sich ihr Körper entfaltete, lag etwas, das Aufmerksamkeit auf sich zog. Eine Narzisstin, dachte die Mutter.

„Ich spreche Griechisch“, sagte Naomi lächelnd. „Ich kann euch alles bestellen, was ihr möchtet. Sie haben einige Sachen, die nicht auf der Karte stehen.“

Die Mutter schaute zu den Kellnern an der Bar hinauf, den Mund unschlüssig verzogen.

„Wie wär’s mit Joghurt?“, murmelte sie und zeigte auf Naomis halb verspeistes Frühstück. „Gegen ein bisschen Joghurt hätte ich nichts einzuwenden.“

„Yaourti“, rief Naomi mit schneidender Stimme nach oben. „Me meli.“

Die Hitze kroch ihnen in den Nacken, und als sie sich einmal hinter ihren Ohren niedergelassen hatte, weigerte sie sich, ihren stillen Griff zu lockern. Zwei Bäume schwebten auf der Kuppe des Berghangs und loderten in ihrem eigenen grauen Licht. Die Frauen spürten Hunde, die noch unter ihnen schliefen, konnten sie aber nicht sehen, und Naomi fragte leise, was Mr Haldane denn zugestoßen war.

„Er ist im Zoo in einen Käfig mit Waranen gestiegen“, antwortete das Mädchen ausdruckslos. „Einer von ihnen hat ihm in den Fuß gebissen. Er hat die Sehnen durchtrennt, und sie haben Bakterien im Speichel.“

„Sam, bitte.“

In Wahrheit war er beim Anstreichen eines Gewächshauses in der Nähe von Blue Hill von der Leiter gefallen.

„Es ist peinlich. Jeffrey kann einfach nicht mit Leitern umgehen. Um genau zu sein, hat er sich die Hüfte und den Fuß gebrochen.“

„Keine Warane?“

Amy wandte sich ihrer Tochter zu. „Nicht, dass ich wüsste.“

„Er saß für einen Monat im Rollstuhl“, sagte Samantha, „und jetzt ist er auf einer Insel ohne Autos oder Fahrräder. Er meinte, das sei ja der Sinn der Sache – hier sei er zum Laufen gezwungen. Aber jetzt, wo wir da sind –“

„Sitzt er den ganzen Tag in seinem Sessel und malt.“

„Na ja“, sagte Naomi und blickte zum Himmel hinauf. „Hier gibt es sonst nicht viel zu tun. Ich male auch.“ Das war gelogen, aber die beiden Frauen schienen es nicht zu merken, und falls doch, war es ihr auch gleich.

 

Sie unterhielten sich eine Zeit lang. Es war das Geplauder von Menschen, die einen ähnlichen sozialen Rang haben, auf dezente Weise getrennt durch eine gemeinsame Sprache. Seevögel kreisten über ihnen, und es gab keine Musik. Noch wurde die Bouzouki für die Touristen nicht gebraucht.

Sie hörten nur die Bewegungen des Wassers an den Steinen und die ersten Zikaden, die sich regten, als sich die Sonne über den Berghang ausdehnte. Die Hitze störte alle Lebewesen auf. Amy lehnte sich schließlich zurück und versank in ihrem komatösen Sonnenbad, während die beiden jüngeren Frauen beschlossen, gemeinsam zu den Felsen der äußeren Bucht hinauszuschwimmen. Im gleißenden Sonnenschein, der jetzt ihre Gesichter verbrannte, gingen sie zum Wasser hinunter und stiegen langsam zusammen hinein. Sie schwammen nahezu geräuschlos, und während ihre Hände unter der Wasseroberfläche nach vorn glitten, erschien es Naomi, als hätten sie sich, ohne es zu merken, vom ersten Augenblick an freundschaftlich aneinander gerieben. Wie so etwas kam, ließ sich schwer sagen, aber Samantha – sie könnte sie auch einfach Sam nennen, ihre Mutter tat es schließlich auch – war auf eine Art lässig und trocken, die Naomi neu war. Sie war das ältere Kind eines wohlhabenden Mannes, ein Journalist im Ruhestand und zudem ein vermögender Erbe. Ihr fünfzehnjähriger Bruder war ebenfalls in der gemieteten Villa geblieben und spielte mit Mr. Haldane Schach. Sam räumte ein, sie habe eigentlich nicht mitkommen wollen, doch ihre Mutter habe wie immer nicht lockergelassen. Über Freunde in New York hatten sie das perfekte Haus gefunden.

„Es ist in der Nähe von Vlichos, du kennst es bestimmt. Im Garten gibt es einen Esel.“

„Einen Esel?“

„Na ja, er kommt und geht.“

„Ich glaube, das kenne ich – es ist das Haus von Michael Gladstone.“

„Das ist es. Es gehört ihm seit Jahren. Dad sagt, es ist das beste Haus, das er je gesehen hat. Aber ich glaube, er meint, es ist das beste Haus, in dem er je invalide war. Und ihr?“

„Unser Haus liegt hoch oben über dem Hafen. Meine Eltern haben es gekauft, als sie jung waren und Leonard Cohen noch darin wohnte.“

„Das war schlau von ihnen.“

„Sie haben es gut durchgerechnet“, antwortete Naomi. „So macht man das bei uns.“

Sie schwammen an einem Steg vorbei, der sich seitwärts ins Wasser neigte und von Treibgut umgeben war: kunstvoll geformten Eisenpfosten, hellgrünen Fischernetzen und Drahtgittern. Es war, als wären ganze Dörfer von heftigen Winden verwüstet und der Schutt über die Küste verteilt worden. Wo der Pfad um die erste Ecke bog, türmte sich wieder der Schrott auf. Dort stiegen sie aus dem Wasser, legten sich auf einen kleinen Vorsprung aus Bruchstein und blickten zum Strand hinüber. Die düsteren Reihen der Sonnenliegen sahen aus wie ausrangierte Spielzeuge oder Maschinen, identisch mit den Trümmern hinter ihnen. Es war merkwürdig, so als sollte dieser Ort für immer aufgegeben werden. Die umgekippten Wegweiser, die mineralischen orangen Flecken auf den Felsen. Selbst die wiedererbaute Festung über ihnen – falls es sich um eine solche handelte – wirkte wie etwas, das man in den Wind geschrieben hatte. Und doch erstrahlte darüber das weiße Heiligendomizil im Licht der Sonne.

Sams Mutter war endlich von einem der Jungen angesprochen worden und lächelte ihn, während sie mit ihm redete, übertrieben an. Bei Müttern wusste man nie. Naomis eigene Mutter war schon lange tot, und die Frau, die in diesem Moment hoch oben in den Bergen in den Armen ihres Vaters schlief, war ein Thema für sich. Doch Amy hatte anfangs normal gewirkt, und nun flirtete sie mit den beschürzten Strandjungs. Lag es daran, dass ihr Mann den Sommer über einen verkrüppelten Fuß hatte?

Sie wandte sich zu Sam um.

„Du verstehst dich gut mit deiner Mutter – ich bin neidisch. Meine ist nur meine Stiefmutter. Sie ist nicht verkehrt, aber eben auch nicht meine Mutter. Und manchmal kann sie wirklich anstrengend sein.“

Nachdem Sam ihr mit einem „Das tut mir leid“ entgegengekommen war, erzählte Naomi ihr in wenigen Sätzen die Geschichte. Ihr Vater war Kunstsammler und Philanthrop. Da er viele Leute kannte und viele Kunstwerke kaufte, erregte er oft Aufmerksamkeit. Ihre Stiefmutter war Griechin, sie stammte aus Kifisia bei Athen, aber die Kyriakous hatten schon immer in South Kensington gelebt.

„Sie ist jünger als deine“, fuhr Naomi fort, „und hat eine illustre Ahnenreihe von Militärfaschisten vorzuweisen. Ich mag deine Mutter. Sie sagt, was sie denkt.“

„Ist das gut?“

„Es ist nicht schlimm. Oder es gibt Schlimmeres. Sagst du denn, was du denkst?“

„Nicht immer. Sagen Militärfaschisten etwa nicht, was sie denken?“

Naomi ließ sich leicht ein Lächeln entlocken, doch es zeigte sich nie ganz. Sie schien es zurückzuhalten, wie ein Kind einen Drachen an einer langen Schnur hält.

Sam blickte in den gleichförmigen Himmel hinauf. An dieser Stelle konnte man das winzigste Geräusch aus der Ferne hören. Die Regungen einer Zikade in einem anderthalb Kilometer entfernten Mauerspalt, den Widerhall von Wellen in einer nicht einsehbaren Bucht. Doch wenn sich der Wind plötzlich erhob, löschte er alles andere aus, und man hörte nur noch das melancholische Pfeifen des Salbeis, der die Berghänge bedeckte und erzitterte, wie durch einen ängstlichen Gedanken der beiden bewegt. Die Haldanes würden bis zum Ende des Sommers hierbleiben, und Sam würde während der gesamten Zeit die Minuten und, ja, auch die Sonnenuntergänge zählen. Vielleicht würde sie auch einen Jungen finden, eine kleine Sommerliebe. Meist kam es so. Wenn nicht, würde sie, falls sich keine Freundschaft mit Naomi ergab, einfach allein bleiben und in ihrem kleinen weißen Zimmerchen hinter Kamini hundert Romane lesen. Sollte es so kommen, würde sie das auch nicht stören. Alles war besser als ein Sommer in der Stadt, ein Besuch bei den Großeltern in Montauk, das Leben von einem Tag auf den anderen, das das Lesen in Bibliotheken immer mit sich brachte. In der Stadt schloss sie selten neue Freundschaften, und der alten war sie längst überdrüssig. Was sie dort ganz sicher nie finden würde, war eine Freundin mit Ecken und Kanten. Die Mädchen in ihrem Alter waren alle gleich, es war zum Verzweifeln, so als hätte sie eine Menschenfabrik in der Landesmitte nach einem bewährten Muster gefertigt. Unvermittelt hatte Sam jemanden gefunden, der anders war.

Irgendwann standen sie auf und schlenderten wieder zu dem Café unter dem Strohdach hinunter, wo auf einem gedeckten Tisch im Schatten eine Flasche Santorini und ein Tomatensalat mit schwarzen Oliven standen. Die Mutter hatte sie bestellt. Wieder ließ der Wind alles ein wenig unheilvoll wirken. Sam lehnte das angebotene Brot leicht theatralisch ab. Sie habe eine Glutenunverträglichkeit.

„Eviva“, sagte Amy und erhob ihr Glas. „Das habe ich gestern unten am Hafen gelernt. Prost, stimmt’s?“

„Eviva“, entgegnete Naomi und stieß mit ihr und Sam an. „Es gibt noch einen Spruch, den ihr kennen solltet: Na pethani o charos – möge der Tod sterben. Tod dem Tod!“

Sie aßen einige Baklava, tranken dazu schwarzen Kaffee und beschlossen dann, gemeinsam zum Hafen zurückzugehen. Tatsächlich waren die Schatten der Zypressen inzwischen weitergewandert, und als sie so liefen, waren sie froh, kein Wort sprechen zu müssen, bis sie um eine Ecke bogen und die ersten Häuser von Hydra erblickten.



ZWEI


„Ich bin mir über den Ausblick nie ganz schlüssig geworden“, sagte Jimmie Codrington zu seiner Frau, als das Hausmädchen mit ihren Gin Tonics und einer Schüssel in Öl eingelegter Kalamata-Oliven auf die Terrasse trat. Man hörte sie immer erst im allerletzten Augenblick, und dann erschien ihr Liebreiz wie durch Zufall, sodass man Notiz davon nehmen musste. „Findest du nicht, dass er im Laufe der Jahre verloren hat? Das Merkwürdige ist, dass ich nicht sagen könnte, woran es liegt. Er scheint einfach kleiner und schäbiger geworden zu sein.“

„Vielleicht sind wir ja auch größer und prachtvoller geworden.“

Jimmie gefiel der Gedanke, aber es stimmte nicht. Der Hafen war noch immer da, ganz wie zu Beginn ihrer gemeinsamen Vergangenheit, das Meer funkelte noch immer bis nach Thermisia, die Kapitänshäuser mit ihren Palmen, Miniaturkanonen und angestrichenen Kleiderschränken gehörten noch immer Mitgliedern der feinen Gesellschaft, und die Glocken der Kirchen hoch über den Straßen sandten ihr Läuten herab und störten die Ruhe der Plätze, auf denen sich gebrechliche Katzen versammelten, um jede einzelne Abenddämmerung zu bezeugen.

„Oder wir sind selbst kleiner und schäbiger geworden. Aber der Gedanke ist mir auch schon gekommen, Funny, der Gedanke ist mir auch schon gekommen. Du könntest recht haben.“

Phaine sprach auf Griechisch mit dem Hausmädchen.

„Bereitest du für heute Abend etwas vor, oder sollen wir auswärts essen?“

„Ganz wie Sie wünschen, Madame. Ich kann Psarosoupa machen.“

„O Gott, nicht schon wieder. Wir essen auswärts, Carissa. Du kannst gehen, wenn du die Drinks abgeräumt hast.“

„Sehr wohl, Madame.“

Phaine wandte sich wieder ihrem Mann zu, während das Mädchen davonging und ihre schwarze Uniform einen erotisch aufgeladenen Strich in das Weiß der Terrasse schnitt.

„Wollen wir zum Hafen hinuntergehen und Oktopus essen? Das wäre doch schön.“

„Nobbins hat angerufen.“ Das war Jimmies Kosename für seine Tochter. „Sie sagt, wir sollen ins Sunset kommen, um ein paar Amerikaner kennenzulernen. Sie hat sich mit jemandem angefreundet.“

„Ach?“

„Irgendein Journalist und seine Familie. Ich habe noch nie von ihm gehört.“

„Wie lästig. Sollen wir sagen, wir hätten Sodbrennen?“

„Nein, ich finde, wir sollten hingehen. Ich will Nobbins nicht immer vor den Kopf stoßen. Ich finde, wir sollten uns Mühe geben und etwas gesellig sein, so wie eine richtige Familie, meinst du nicht auch? Außerdem ist es gut, dass sie Leute kennenlernt.“

„Nun ja, Leute kennenzulernen war nie ihr Problem, Jimmie.“

„Es geht nicht immer um Probleme. Und selbst wenn sie einige hat, ist sie damit wohl nicht allein. Jeder hat Probleme.“

„Das ist, als würde man sagen: Jeder bekommt mal Kopfschmerzen.“

Ein altes Gespräch, es war schon so oft geführt worden, und seine offensichtliche Sinnlosigkeit brachte ihn leicht auf.

„Sei nicht so streng mit ihr“, protestierte er. „Sie hat schwere Zeiten durchgemacht. Ich glaube nicht, dass irgendwer in ihrem Alter den Tod der eigenen Mutter leicht verkraften würde. Aber genug davon. Gehen wir essen.“

Sie willigte ein, war aber äußerst verärgert.

„Also gut. Darf ich mich betrinken?“

„Nicht im Mindesten, du Monster. Bestes Betragen, wenn es dir nichts ausmacht. Wenn sie mich nach deinem Namen fragen, sage ich, du heißt Funny, und warte ab, was sie erwidern. Das wird sehr aufschlussreich.“

„Meinetwegen. Ich gehe sowieso früh schlafen.“

Er schnaubte und griff nach den Oliven. Der ehemalige Eigentümer der Fluggesellschaft Belle Air konnte sehr wohl einschätzen, was seine Frau am Ende eines Abends tun oder nicht tun würde. Schlaf war der letzte Posten auf diesem umfangreichen Menü, und so brachten sie einen gewohnheitsmäßigen Toast aus:

„Wer ist besser als wir, Funny?“

„Niemand!“

Das Hausmädchen verharrte in der Mitte der weiträumigen Terrasse und lauschte halb unsichtbar auf sein Stichwort. Außer ihm hörte niemand die Schwalben pfeifend um die Steinpfeiler herumschießen, welche die äußere Begrenzung der Terrasse bildeten. Sie waren nahezu allein hier in den Bergen, die letzte Villa am Hafen mit ihrer eigenen schwindelerregenden Treppe, durch uralte, mit Vorhängeschlössern versperrte Türen und Eisengitter mit Eleganz und Nachdruck gegen die übrigen Exemplare ihrer Spezies abgeriegelt. Hier fühlte sich das Meer näher und wirklicher an als die Häuser unter ihnen. Die einzige andere Villa auf der gegenüberliegenden Seite des Stegs war verrammelt; die griechischen Eigentümer hatten im Zuge der Finanzkrise Bankrott gemacht. Bezahlte Gärtner pflegten die Zypressen und Olivenbäume im Garten, doch davon abgesehen, war es ein Geisterhaus. Es waren vor allem die Ausländer auf der Insel, die nach wie vor zahlungskräftig blieben, die weiterhin ihren Sommer hier verbrachten und dafür sorgten, dass ihre Türen stets ordentlich gestrichen wurden. Als Einheimische hatte Carissa ein ganzes Leben lang verfolgt, wie sie sich veränderten. Zuerst die Dichter und Schriftsteller, die für zehn Dollar im Monat Fischerhütten gemietet hatten. Dann die wohlhabenden Städter mittleren Alters, dann die Flugunternehmer mit Kunstgeschmack. In ihren Augen waren sie alle barbarische Eindringlinge.

Codrington hatte sein Haus sogar „Belle Air“ getauft, was nicht nur ziemlich albern, sondern auch grammatikalisch falsch war (Bel Air hätte allerdings nicht an seine Fluglinie denken lassen), und er hatte es mit Kunstwerken von Leuten angefüllt, die im Laufe der Jahre zu seinen Freunden geworden waren. Das Mädchen wusste nicht, was er an diesen Objekten fand, mit denen jeder einzelne Raum vollgestellt war. Im Wohnzimmer stand die Keramikbüste eines rauchenden Hitlers, über die sie jedes Mal lachten. Alle sprachen sie von ihrer Ironie. Aber worin lag der Witz? Ihr Vater war Kommunist und sagte immer, den Engländern sei nicht zu trauen.

„Und selbst wenn“, fuhr Codrington fort und hielt die Hand seiner Frau. „Der Sommer ist nicht so übel dieses Jahr. Ich wünschte nur, Naomi hätte etwas mehr Freude daran.“

„Wohin geht sie denn nur jeden Morgen? Sie steht im Morgengrauen auf und verschwindet. Ich habe Carissa gefragt, aber sie behauptet, sie wüsste es nicht.“

Nochmals wandte sie sich dem Mädchen zu und sprach wieder Griechisch.

„Wo geht Naomi morgens hin? Kochst du ihr Kaffee?“

„Ja, Madame.“

„Und sie sagt es dir nicht?“

„Nein, Madame.“

Phaine wechselte wieder ins Englische.

„Sie ist sowieso nur hier, um keine Miete zahlen zu müssen. Was ist denn in London passiert?“

Jimmie gestand, er wisse es nicht genau.

„Sie hat bei Fletcher and Harris gekündigt, hat aber nur etwas von einer Meinungsverschiedenheit gesagt. Sie erzählt mir gar nichts mehr. Schon seit sie fünfzehn war.“

Es war die Stunde der Schwalben. Codrington wurde stets melancholisch, wenn er an seine Tochter dachte. Vielleicht lag es daran, dass die Schönheit seiner ersten Frau in ihr Spuren hinterlassen hatte. Solange es Naomi gab, war Helen nicht tot. Ein Teil der Mutter lebte in der Tochter fort. Doch ein kaputtes Zuhause zerstört alle Gewissheiten, mehr, als er geahnt hatte, mehr, als je irgendjemand ahnt. Naomi, dachte er, die beim Krebstod ihrer Mutter ein Teenager gewesen war, hatte sich nie von ihm erholt. Ein kaputter Teenager wird niemals wieder ganz. In jedem Fall war die Rechtswissenschaft die falsche Wahl für sie gewesen, sie entsprach nicht ihrem Temperament. Er vermutete, dass die Tätigkeit als Prozessanwältin für ein großes Unternehmen für sie ein Rollenspiel gewesen war, eine Form der Imitation. Aber konnte man die eigenen Kinder zur Authentizität zwingen? Schließlich verstand niemand so recht, warum die Jungen liberale oder linke Positionen einnahmen, die ganz eindeutig nicht zu ihren eigenen Vermögensverhältnissen passten, sie sogar untergruben oder ihnen zuwiderliefen. Anfangs konnte man es ihrer Jugend zuschreiben. Wer mit zwanzig kein Sozialist ist, der hat kein Herz und so weiter. Was aber, wenn man es nun mit einer Generation zu tun hatte, die in ihre Dreißiger hineinsegelte, ohne dass diese verzerrte Weltsicht von irgendjemandem, den sie respektierte, korrigiert wurde? Nicht weil es solche Menschen nicht gegeben hätte – sie waren leicht zu finden –, sondern weil die Betroffenen sie aufgrund von Gruppenzwang und Konformismus gewissermaßen aus ihrem Bewusstsein ausblendeten. Es lag daran, so hatte er entschieden, dass diese Generation verweichlicht und verwöhnt war, dass sie in der wirklichen Welt nie etwas erlebt hatte. Ja, sie glaubte nicht einmal an eine wirkliche Welt. Ihr Bewusstsein war durch die Medien geformt, nicht durch das Leben.

Die Codringtons gingen die steilen Stufen zum Hafen hinab, und die Abenddämmerung bezauberte Jimmie. Die Häuser hatten hohe Mauern, Relikte aus einer Zeit, in der Fehden und Vendetten gewütet hatten. Selbst zur Mittagszeit waren die geweißten Plätze jetzt mitunter wie leer gefegt, als erinnerten sie sich noch an die Pest. Die Fuchsien und Zikaden, die blendende Kalkfarbe, die Esel, die sich mit ihren Glocken die Steinstufen hinaufmühten, schienen der modernen Welt durch eine nostalgische Sturheit schlicht enthoben zu sein.

Aufgrund von Jimmies Alter – er war siebzig und nicht mehr so trittsicher wie früher – kamen sie nur langsam vorwärts, und auf dem Weg nach unten begegneten sie einem anderen Exilanten, einem alten Amerikaner, der sich in entgegengesetzter Richtung hinaufkämpfte.

„Sieh nur“, flüsterte Phaine, „da kommt der steinalte Beatnik!“

„Abend, Jeremy“, rief Codrington ihm zu, als sich ihre Wege auf einem weißen Platz kreuzten. Der Amerikaner hob die Hand, es waren keine weiteren Worte vonnöten. So war das nach einigen Jahren. Man hob einfach eine Hand, und damit war alles gesagt. Das Winksignal der Gezähmten.

Sie erreichten den Hafen, als gerade die letzte Fähre zurück zum Festland ablegte. Einige Soldaten standen mit geschulterten Gewehren am Kai und starrten reglos und stumm auf das hellenische Schiff, das mit strahlenden Lichtern und von Touristenmusik belebten Decks ausfuhr. Auf dem kleinen Berg zur Linken des Hafens pochte Jimmies Gehstock auf das Pflaster, und sie erreichten die erste Wegbiegung, an der die Klippen steil zum Wasser hin abfielen und sich junge Menschen wie prähistorische Tiere an die Felsplatten unter ihnen schmiegten. Tische mit dunkelblauen Tischdecken standen auf Terrassen, sonnengebräunte slawische Frauen mit geöltem Haar rekelten sich mit ihren Drinks auf Sofas. Über der Terrasse eines Restaurants stand eine der alten Windmühlen der Insel, weit über die frustrierten und gehetzten Kellner in ihren Schürzen erhaben. Sich wie riesige Bonsais neigende Pinien beschatteten die Terrasse bei Sonnenschein. An der Außenwand mit den aufgereihten Kanonen saßen schon die Haldanes und Naomi, ein erstaunliches Arrangement auf Eis gelegter Meeresfrüchte zwischen sich, und eine angenehme Energie ging von ihnen aus. Jimmies Blick fiel sofort auf das junge Mädchen neben seiner Tochter: the Huckleberry Friend, dachte er sofort mit innerer Zustimmung und nickte sich selbst anerkennend zu.

Die Tische um sie herum waren mit britischen und französischen Familien besetzt: Hier und dort saßen vermögende Athener, die vor ihrer nationalen Tragödie flohen und vielleicht froh waren, endlich wieder unter ihresgleichen zu sein. Den Paaren, die jeden Sommer kamen, den Männern mit den Jachten, die für die Dauer eines Monats anlegten und dann wieder verschwanden. Sam bemerkte Jimmies Blick und taxierte ihn. Er wirkte wie ein Nachtclubsänger auf dem absteigenden Ast. Dass Naomis Stiefmutter ein fürchterlicher Snob war, merkte man auf Anhieb. Sie waren eines dieser Paare, das die potenziellen Freunde der Tochter auf Herz und Nieren prüfte, und sei es nur mit einem einzigen Blick.

Bald jedoch beruhigte sich die Lage, und alles floss wieder ruhig dahin, denn es war unter Reichen Gesetz, dass die Muße im Sommer wie ein breiter und anmutiger Strom dahinfließen sollte. Es galt, eine gute Zeit zu haben und sich auf der leuchtenden Oberfläche treiben zu lassen. Niemand durfte kneifen oder irgendeine Schwäche zeigen. Das Ganze unterschied sich nicht sehr vom Schrecken der Hamptons, nur dass dies hier weniger prätentiös und etwas weniger seelenlos war. Sam begann, diese Menschen zu mögen. Immerhin interessierten sie sich für Fremde; sie löcherten das Mädchen mit Fragen, lechzten nach Einblicken in ihre rätselhafte Generation. Jugend war hier keine rein körperliche oder sexuelle Qualität, sie speiste die Neugierde anderer Menschen – was dachte sie, was wollte sie später einmal werden, wie war ihre Einstellung den Alten gegenüber? Sie hörten ihr amüsiert zu. Und es amüsierte sie, weil es bedeutsam war.

Sam beantwortete derlei Fragen nie ganz wahrheitsgemäß. Während sie unter dem wachsamen Blick ihrer Mutter einige Gläser Wein zu sich nahm, drangen weniger angenehme Gedanken auf sie ein. Obwohl sie noch jung war, war sie zu dem Schluss gekommen, wenn sie irgendeinen beliebigen Moment noch einmal erleben könnte, würde sie das Angebot ausschlagen. Doch warum war das so? Es könnte tausend Sommer wie diesen geben, jeder so schön wie der vorangegangene und dennoch nicht wert, ihn ein zweites Mal zu erleben. Ein erstaunlicher Gedanke.

Naomi und Sam verständigten sich durch stumme Blicke. Das ältere Mädchen zog sie auf diese Weise an sich heran, und einen Moment lang hatte Sam das Gefühl, diesmal der Drachen zu sein. Jimmie war ein Anekdotenerzähler, das Schlimmste, was es gab. Naomi wandte sich halb zu ihr, und in ihrem eingefrorenen Lächeln lag Geringschätzung. Ist das nicht schrecklich?, sagte der Blick ihrer neuen Freundin. Ist er nicht schrecklich? Sie genossen diesen Augenblick der gemeinsamen Verachtung, doch Sam war nicht ganz so abschätzig wie sie. Sie fand den alten Herrn eher vergnüglich – und ein wenig billig.

Also geht es Naomi wie mir, dachte sie. Sie wird gequält.

Naomi beugte sich zu ihr herüber und flüsterte ihr ins Ohr: „So geht das stundenlang. Wer weiß, wen er dabei niedermäht. Er ist wie ein Schneepflug ohne Getriebe. Soll ich etwas sagen? Deine armen Eltern.“

Aber Amy litt kein bisschen. Faszinierend, dachte sie. Ein Mann mit Feuer!

Nach dem Abendessen trennte sich Naomi am Sunset von ihrem Vater und Phaine, um die Haldanes noch zu ihrem Haus in Vlichos zu begleiten. Kurz vor Kamini stieg der Weg an und führte zu einer Reihe von Plateaus und Stufen und einem Restaurant namens Kodylenia, dessen Terrasse noch geöffnet war. Einige alte Männer hockten dort mit ihren Ouzo-Gläsern, umgeben von einer Aura zeitloser Geduld. Aus den Lautsprechern dröhnten alte Tsitsanis-Lieder, und die an einem Spalier hängenden Öllampen schaukelten im Takt vor und zurück. Tagsüber, so erinnerte sich Naomi, wurden hier hauptsächlich Mahler und Ausgesuchtes von Rossini gespielt. Von den Griechen blickte keiner auf, nur eine betuchte französische Familie.

Danach gelangten sie nach Kamini hinunter, wo Boote im Sand lagen. Auf der anderen Seite des Strandes war ein zerstörtes Café, blutrot, mit eingeschlagenen Fensterscheiben und einem alten Schild, auf dem in griechischen Buchstaben Mouragio Cafe-Bar zu lesen war. Über dem vertrockneten Berg ging ein Halbmond auf, in dessen Licht allmählich die Umrisse von Pferden auf den Feldern sichtbar wurden. An den Geruch von Menschen gewöhnt, standen sie völlig reglos da.

Das Haus lag über dem Weg zu ihrer Linken – ein Stück vor Vlichos –, und die Felder darunter fielen zu tückischen Klippen und dem Meer ab. Doch selbst dort, auf diesen gefahrvollen Weiden, standen Pferde und machten sich still über das feuchte Gras her. Es war eines der üblichen weißen Häuser mit ägäisblauen Fensterrahmen und Säulen, umgeben von Zitronenbäumen. Überall lagen aufgequollene Früchte unbeachtet im Gras herum.

„Kommst du noch auf einen Tee mit rauf?“, fragte Amy, als sie die Außenmauer der Villa erreicht hatten und das Tor aufschwang.

Sie gingen zu ihrer Terrasse hinauf, wo sie Jeffrey mit seiner Pfeife und einer Streichholzschachtel stehen sahen. Sein überraschter Blick schien nicht nur ihnen zu gelten. Vielleicht, dachte Naomi, schaute er immer so. Eine Überraschung dem Leben gegenüber oder einfach eine Art liebenswerter Unfähigkeit. Er zündete die Öllampen an, schaltete aber auch noch die helleren elektrischen Lampen mit den orangen Glasschirmen ein. Es gab zwei Schaukelstühle und zwei Rattansofas, dazwischen stand ein mit getrockneten Zierschwämmen bedeckter Glastisch. Die Insel war einst das Zentrum des griechischen Schwammhandels gewesen. Sie verteilten sich auf die Kissen, und Naomi dachte, der Abend gehe weit besser zu Ende, als er begonnen habe. Die Haldanes waren entspannter, wenn sie unter sich waren, fernab der einschüchternden Scheinwerfer ihres Vaters und seines überwältigenden Selbstbewusstseins, das sie auf eine subtile und nicht greifbare Weise niedergedrückt hatte, ohne dass sie sich dessen vollends bewusst waren.

Sam hockte am Rand der Terrasse, und ihre Haare peitschten im Wind. Ihre Augen bewegten sich langsam und nahmen alles auf, während ihr Vater redete.

„Hat dein Vater uns wirklich angeboten, auf seiner Jacht mitzufahren?“, fragte er und stieß Rauch aus. „Ich würde nicht mitkommen, aber Sam und Chris fänden es herrlich.“

„Ja“, antwortete Naomi. „Er hat es angeboten. Wir können einmal um die Insel segeln. Das machen wir oft. Dort draußen kann man gut schwimmen.“

„Ich fände es in der Tat herrlich“, sagte Sam, allerdings ganz unaufgeregt.

„Hättest du Lust, Amy?“

„Natürlich. Ich würde gern die wilde Seite der Insel sehen.“

„Da kommt man zu Fuß nicht hin, oder?“

Naomi schüttelte den Kopf. „Kaum.“

„Ich mache mir nichts aus den wilden Seiten von Inseln“, sagte Jeffrey. „Auch wenn ich mich manchmal selbst gern von der wilden Seite zeige. Ich bleibe hier und wälze mich mit meinem verkrüppelten Bein herum, aber die anderen …“

„Dann organisiere ich alles“, sagte Naomi.

„Können wir speerfischen?“, fragte Sam.

„Ich wüsste nicht, was dagegenspräche.“

Sam wollte gar nicht speerfischen, sie wollte nur wissen, ob es in diesen unbekannten Gewässern möglich wäre.

„Du wirst nur Delfine sehen“, warf ihre Mutter erhaben ein. „Und die kann man nicht aufspießen.“ (...)


VIER


Die Geschwister Haldane erschienen allein mit ihrem Vater am Hafen und tranken mit Naomi vor der Abfahrt einen Kaffee in der Pirate Cove. Amy war lieber zu Hause geblieben, um ein wenig zu malen und zu kochen, und Jeffrey wirkte, als wäre er nun doch von seinen Kindern zum Mitkommen genötigt worden. Dennoch machte er gute Miene zum bösen Spiel und trank eine Tasse Sketos nach der anderen.

Die dreiköpfige Besatzung der Black Orchid war ebenfalls da, und alle saßen zusammen an einem Tisch. Die Griechen interessierten sich prompt für die explosive Schönheit des amerikanischen Mädchens, und Jeffrey strotzte vor beschützerischer Widerborstigkeit, als ihm das Koffein zu Kopf stieg. Naomi beobachtete sie aufmerksam. Die männlichen Haldanes trugen ähnliche Kakihosen und schwarze Turnschuhe, die gleichen Sweatshirts der University of Pittsburgh und die gleichen Baseballkappen. Eine Familie, deren Männer eine Uniform hatten. Es war fantastisch – sie kannte dergleichen aus Filmen –, und auf eine gewisse Weise erleichterte es den Umgang mit ihnen. Der Junge war gut gelaunt, redete aber nicht viel. Das musste er offensichtlich auch nicht. Er tat genau das, was er an diesem Tag tun wollte.

„Eine echte Jacht“, sagte er schließlich zu Naomi, und sein Gesicht leuchtete vor Anerkennung. „Fahrt ihr damit auch zum Fischen raus? Ihr könntet Roten Thun fangen.“

Sams Blick traf auf Naomis, und sie lachten stumm. Als sie über den Steg zum Boot gingen, tauschten sie ein stilles Yassou aus. Sam wirkte außerordentlich lebhaft auf Naomi, mehr noch als am Tag zuvor. Vielleicht war es die unelegante Uniform der anderen, die ihre Vorzüge zur Geltung brachte. Außerdem hatte sie eine leichte Sonnenröte.

Sie gingen an Bord der Jacht, und der Junge lief herum, nahm alles in Augenschein und stieß dabei immer wieder ein kehliges „Wow!“ aus.

„Hier unten gibt es ein Schlafzimmer!“, rief er zu seinem Vater herauf. „Über dem Bett hängt ein Schild, auf dem Schande steht.“

„Das ist ein Kunstwerk“, erklärte Naomi.

Sam und sie traten aufs Achterdeck hinaus und setzten sich dort auf die Stühle. Die Sonne fiel auf sie, und die Mannschaft spannte das Sonnensegel. Auf dem Tisch standen ein Eiskübel, ein Flaschenkühler, Gläser und Porzellanteller bereit. Sam schaute auf die braunen, verbrannten Hügel, und etwas in ihr sträubte sich. Es war wie im Nahen Osten, einem Winkel vom Libanon oder von Syrien Jahrhunderte vor ihrer Zeit. Hoch oben in den Höhlen, inmitten der grell leuchtenden Felsen bewegten sich Sklaven zwischen den gesattelten Eseln hindurch. Ein ganz eigenes Mysterium. Es war nicht ganz das, was sie erwartet hatte. Als sie aufs offene Meer hinausfuhren, ragte der nach Eros benannte Berg über der Miniaturstadt aus Cafés, Discos und Läden für Taucherbedarf auf. Sie sah Leute auf dem Weg oberhalb des Sunset und die frühmorgendlichen Schwimmer auf den flachen Felsen darunter. Die kollektive Pantomime eines Ferientages. Dann drehte die Besatzung die Motoren auf, und sie bewegten sich flink an der Küste entlang, vorbei an Vlichos und dem Haus der Haldanes. Plötzlich war Amy da, die ihnen schwungvoll zuwinkte wie eine einsame, hagere Gestalt auf einem Gemälde von Andrew Wyeth, und die Jacht ließ ihr Horn erschallen. Sie passierten Molos und die abgelegeneren Landzungen, Kap Bisti, die Insel Tsingri und Agios Konstantinos. Dann drehten sie bei und fuhren am Ufer der Insel entlang auf das Kap Agios Ioannis zu. Auf dieser weniger belebten Seite gab es keine Häuser oder Straßen; die Strände zwängten sich zwischen dramatische Klippen und Felsformationen. Das Meer war dunkler und unberechenbarer. Als sie für einen ersten Zwischenstopp ankerten, brandeten die Wellen gegen eine Seite des Bootes und brachten es leicht zum Schwanken. Unter dem Sonnensegel wurden ihnen Fruchtsaft und Kaffee, Croissants und Tulumba serviert. Es wurde Musik gespielt – Calypso, erklärte Naomi, und ein wenig Louis Armstrong vom Soundtrack zu High Society. Ihr Vater liebe diese Musik. Sie ging mit Sam ins Schlafzimmer hinunter, wo sie ihre Badeanzüge anzogen. Sam sah, dass über dem Bett tatsächlich eine gewundene Neonröhre hing, und las das Wort Schande.

„Krank, oder?“, flüsterte Naomi. „Das hat ihn 20 000 Dollar gekostet.“

Sam betrachtete die ungeordnete Mischung aus Kunstwerken, die Nachttischlampen aus massivem Glas und die in die Wand eingelassenen Bilder von Keith Haring. Es hätte so cool sein können, dachte sie, doch irgendwie war es das nicht.

Sie gingen wieder an Deck, wo die Besatzung gerade die Leiter ins Wasser hinabließ. Jeffrey und der Junge spähten mit zusammengekniffenen Augen auf einige Hornhechte hinunter, die wie lebendige Nadeln durch das Blau schossen. Das Ufer war etwa hundert Meter weit entfernt, eine Distanz, die sich schwimmend gut bewältigen ließ. Vom Boot aus war jetzt der Sandboden zu erkennen, ein Schimmer von dunklem Gold. Sam und Naomi zogen sich Schwimmflossen über und setzten Taucherbrillen auf, verzichteten aber auf Schnorchel. Sie glitten ins Wasser und schwammen leise von Calypso, dem funkelnden Silber und dem besorgten väterlichen Blick davon. Jeffrey dachte, dass er sich in Bezug auf dieses selbstsichere britische Mädchen doch nicht ganz sicher war. Sie hatte ihre Tochter ein wenig von ihnen losgeeist, und seine Frau und er wussten es beide. Doch er glaubte nicht, dass es absichtlich geschehen war. Naomi gehörte zu den Menschen, die einen gänzlich unbewussten Einfluss auf andere ausüben und nicht für die Folgen verantwortlich gemacht werden können. Es war Tropismus und keine Verschwörung. Was sie natürlich noch gefährlicher machte. Darüber hinaus erregte die Lässigkeit, mit der sie sich bewegte und mit anderen umging, sein ehrliches und aufrechtes Gemüt – sie war der Ausweis einer Überlegenheit, die er schmälern musste, um zu überleben.

 

Innerhalb weniger Minuten waren sie am Ufer, stemmten sich wieder an die Luft und legten sich, der Jacht zugewandt, flach auf die Felsen. Noch konnten sie Louis Armstrong und die Calypso-Rhythmen hören, und die Besatzung hatte eine Flasche Champagner hervorgeholt, wohl ebenso für sich selbst wie für die unbekannten und unbedeutenden Gäste. Der Schaum schimmerte kurz auf, als er sich ins Wasser ergoss. „Eviva!“

Naomi schüttelte ihre nassen Haare aus und lehnte sich zurück. Wieder diese aristokratische Lässigkeit in ihren Bewegungen und Gesten. Sam tat es ihr nach und streckte ihre Zehen mit der blutroten Kriegsbemalung. Sie hatte sie am Abend zuvor lackiert. Eidechsen huschten raschelnd unter Steine, und Sam drehte sich nach ihnen um, doch die Echsen waren zu schnell für ihre Augen.

Nach einigen Minuten standen sie auf und erklommen einen steilen Berghang. Bald hatten sie ein Felsplateau erreicht, von dem aus sie auf das Boot hinunterblicken konnten, wo Vater und Sohn unter dem Sonnensegel zusammenhockten und wieder einmal Schach spielten. Wie erholsam es doch war, endlich von ihnen getrennt zu sein, dachte Sam, fort von dem Gezänk und den familiären Nichtigkeiten. Ein Besatzungsmitglied schwamm um das Boot herum, seine Stimme drang mit großer Klarheit zu ihnen herauf. „To nero einai gamo kryo!“, rief einer der anderen ihm zu. Dass auf dem Boot niemand mehr Griechisch sprach, hatte ihre Zungen gelockert.

Der Berghang unter ihnen warf seinen Schatten weit über das Wasser. Gerade eben streifte er das Heck des Bootes und verdunkelte die dort hängende kleine griechische Flagge. Ein weiterer strubbeliger Hang führte zu einer von Felsen und Geröll überschwemmten Bucht, die vom Boot aus uneinsehbar sein musste. Weglos und von Kakteen überwuchert, hatte sie etwas Verlockendes an sich. Als sie sich aus der Sichtweite des Bootes entfernten, blickte Jeffrey kurz besorgt auf, doch die Besatzung bemerkte es nicht. Ein kleiner Schatten war plötzlich auf seine Welt gefallen. Die Besatzung dagegen wusste, dass Naomi die Insel kannte. In Wahrheit jubelten die Mädchen. Die schimmernde Reinheit des Himmels, ganz frei von Wolken und Verunreinigungen, gab ihnen ein Gefühl der Sicherheit. Sie hüpften über die gestaffelten Steine zu der zweiten Bucht hinunter, und die Hitze schlug ihnen ins Gesicht.

Sobald sie außer Sichtweite ihres Vaters war, fühlte Sam sich freier. Ihr fiel ein, wie ihre Mutter sie am Morgen vor der Sonne gewarnt hatte. Ach, zum Teufel mit ihr. Zum Teufel mit der Familiennorm. Ihrer Haut gefiel die ungezähmte Wildheit der Sonne.

„Was bedeutet Skatofatsa?“, fragte sie, während sie hinter ihrer Führerin herging.

Naomi drehte sich um und sagte: „Arschgesicht.“

„Ist das ein nützlicher Ausdruck?“

„Ich benutze ihn so gut wie täglich.“

„Skatofatsa. Fantastisch.“

„Fatsa. Du kannst ihn auch in Amerika verwenden.“

Auf der anderen Seite der Bucht setzten sie sich wieder und verschnauften. Das Boot war hinter der Landmasse verschwunden, aber die Musik von High Society wehte noch immer zu ihnen herüber. Erst als der Wind über den Hang fegte, verklang sie, und sie hörten nur noch Staub und Sand durch die Luft wirbeln.

„Wollen wir weitergehen?“, fragte Sam. „Vielleicht folgen sie uns und sammeln uns ein Stück weiter ein.“

„Ich habe kein Telefon dabei. Wir müssten ihnen von irgendwo zuwinken.“

„Dann winken wir eben.“

Sie drehten sich um und erklommen die nächsten Hänge, bis sie das Boot wieder sehen konnten. Sie winkten, doch niemand sah sie. Schon sind wir vergessen, dachte Sam belustigt und mit einer gewissen Befriedigung. Sie riefen, und ihr Echo kam unvermittelt zurück. Sie fragten sich, was sie als Nächstes tun sollten; jenseits ihres Aussichtspunkts lagen Schluchten und Buchten, in dunkelblauem Licht schimmerndes Wüstengestrüpp. Es war so still und unberührt, dass es in ihnen eine kindische Lust weckte, es durcheinanderzubringen und weniger rein zu machen. Ohne darüber zu reden, liefen sie weiter, stießen ein zweites Mal auf das Meer und sangen dabei, bahnten sich zum Text von „Paperback Writer“ behutsam einen Weg durch die Kakteen.

Welch schöne Tiere wir sind, dachte Sam, schön wie Panther. Als sie bei den weißen Felsen am Wasser ankamen, sah sie im Vorübergehen zwei rote Flecken. Blut, schoss es ihr durch den Kopf. Sie blieb stehen und kniete sich hin, um es genauer zu betrachten, und mit einem Mal legte sich Verwunderung auf ihr Gesicht. Sie hatte recht gehabt. Da waren zwei getrocknete Blutflecken, wie kleine, zufällig verlegte Gegenstände. Sie spürte einen kurzen Kitzel, dessen Ursprung ihr verborgen blieb.

„Das kann nicht sein“, sagte Naomi.

„Gibt es hier Tiere?“, fragte Sam.

„Niemand jagt in dieser Gegend.“

Etwas in Sam erstarrte, und ihr Instinkt übernahm die Führung. Sie berührte einen der Flecken. „Nur zwei Flecken? Es ist von weiter oben heruntergetropft.“

„Könnte sein“, sagte Naomi.

„Das muss von einem Menschen stammen. Vielleicht Wanderer?“

Menschen kamen auf Privatbooten her, so wie sie auch. Doch Naomi war skeptisch.

„Wir haben kein Boot wegfahren sehen.“

„Dann müssen sie über die Berge gewandert sein.“

„Nein.“

Sie standen auf und blickten sich um, sahen jedoch nichts. Zweifel regten sich in ihnen, aber sie schwiegen. Sie liefen einfach weiter und erklommen die nächste Anhöhe, bis sie auf Abhänge hinabschauten, die vor glänzenden Disteln strotzten. Felsen wölbten sich schützend über das Wasser, Wellen schäumten einige Meter weit draußen auf den verborgenen Steinen. Anfangs war nichts zu sehen. Aber dort, mitten im Sonnenschein, lag eine Gestalt ausgestreckt in den Thymianbüschen, ein auf der Seite schlafender Mann, von Lumpen umgeben, eine Plastikflasche neben sich auf dem Boden.

Der Mann war halb nackt, nur mit einer Trainingshose und Zehensandalen bekleidet. Ein zerschlissener Pullover hing wie zum Trocknen auf einem wenige Meter entfernten Kaktus. Der Mann sah jung aus; er hatte lange Haare und einen ungestutzten, ungepflegten Bart. Ein erschöpfter Vagabund des Meeres. Naomi erkannte sofort, dass er kein Grieche war. Etwas an seiner Kleidung, an seiner totalen Erschöpfung verriet ihn. Sam aber dachte über etwas anderes nach. Sie blickte die Küste hinunter und sah nichts. Nicht einmal das mickrigste Beiboot oder ein fortgeworfenes Paddel. Als Tochter eines Journalisten las sie eifrig Zeitung und hatte bereits eine Ahnung. Obschon sie zu dem gleichen Ergebnis wie Naomi gekommen sein mochte, betrachtete sie es weniger moralisch. Sie konnten jetzt nicht mehr so tun, als hätten sie ihn nicht gesehen, konnten nicht mehr zur Jacht zurückgehen, ohne sich einen Reim auf die Sache gemacht zu haben. Sie verspürte einen Anflug von Neugierde, doch dann bemerkte sie die extreme Konzentration, die in Naomis Blick lag.

Nach und nach fiel die Beunruhigung von dem englischen Mädchen ab; es war Sam, die angespannt blieb und doch lieber gleich zurückgehen wollte. Naomi machte einige beschwichtigende Gesten. Der Schlafende hatte nichts Bedrohliches an sich. Er wirkte kläglich und verlassen, beinahe als hätte er sich selbst aufgegeben. Die zwei Bluttropfen stammten von ihm. Ein Schnitt in der Hand, einer im Fuß: Sein Leid hatte sich offenbart. Man merkte, dass er aus dem Meer kam und nicht vom Hafen und dass sein Schlaf kein müßiger war. Plötzlich bewegte sich etwas am Himmel, und sie blickten auf. Zwei riesige Vögel kreisten dort oben, flogen hin und her und schauten auf die drei Menschen hinunter, als gäbe es an ihrer Anordnung etwas zu entschlüsseln. Langsam ließen sie sich herabsinken. Der Mann drehte sich ebenso langsam auf den Rücken, und sein Mund klappte auf. Lange Striemen und Kratzer bedeckten seinen bloßen Oberkörper, seine Haut hatte sich dunkler gefärbt. Schritt für Schritt gingen Naomi und Sam zu der Felskante zurück, von der sie gekommen waren, und vermieden es, auf den kleinsten Stein zu treten.

„Er stirbt nicht“, sagte Naomi. „Er schläft nur. Er wurde vom Meer angespült.“

Sam fragte sich laut, ob sie dennoch wieder zurückgehen und mit ihm sprechen sollten. Jetzt kam es ihr doch feige vor, sich einfach davonzumachen, ohne irgendetwas zu tun, ohne mit ihm in Kontakt zu treten.

„In Kontakt treten?“ Naomi lächelte.

„So habe ich das nicht gemeint. Ich meinte … einfach nur runtergehen und schauen, wer er ist. Er hat geblutet.“

„Heute nicht. Ein andermal.“

Naomi machte ein Handzeichen, und sie gingen den Weg zurück, auf dem sie gekommen waren. Diesmal beeilten sie sich.

Als sie die Stelle erreichten, an der sie ursprünglich an Land gegangen waren, sagte Naomi: „Deinem Vater sollten wir definitiv nichts sagen. Gar nichts. Einverstanden?“

„Kein Wort.“

„Er würde mit Sicherheit überreagieren. Wahrscheinlich würde er direkt zur Polizei gehen. Er wäre der Meinung, das einzig Richtige zu tun.“

Sie hatte eine Hand ausgestreckt und sie sanft um Sams Handgelenke gelegt. So zwang sie das jüngere Mädchen, in ihre unverwandt dreinblickenden blauen Augen zu schauen. In den Pupillen zitterte eine leichte Bedrohung.

„Er ist Araber, oder?“, platzte es aus Sam heraus.

Zwischen ihnen breitete sich eine lange Stille aus, während sie sich ihren Weg zurück in Sichtweite der Jacht bahnten, die doch noch nicht abgelegt hatte, um nach ihnen zu suchen. Als sie den ersten Hang auf ihrer Route wieder hinaufstiegen, winkten sie wie zuvor, und die Besatzung, die ob ihrer langen Abwesenheit vielleicht etwas nervös geworden war, gab ihnen ihrerseits Zeichen, als wären sie es, die eine Zeit lang verschollen gewesen waren.

Lawrence Osborne

Über Lawrence Osborne

Biografie

Lawrence Osborne, geboren 1958 in England, studierte in Cambridge und Harvard und lebte zehn Jahre lang in Paris, bevor er in Mexiko, Marokko und Thailand Reportagen für The New York Times Magazine, The New Yorker, Harper's Magazine und viele andere schrieb. Auf Deutsch erschien bisher sein Roman...

Pressestimmen
Münchner Merkur

„Ein Roman unserer Zeit.“

Hörzu

„Abgründig.“

Die Welt

„Der gewiefte Stilist Osborne - man vergleicht ihn mit Paul Bowles und Graham Greene - ... beschreibt die Rituale und Riten der Reichen, die sich (in Hydra) neben den Einheimischen tummeln. So intensiv und kenntnisreich, dass man beim Lesen nicht einmal Leonard Cohens Songs zur Untermalung abspielen muss.“

Madame

„Osbornes ›Welch schöne Tiere wir sind‹ trifft ins Herz der aktuellen Debatte.“

Süddeutsche Zeitung

„Lawrence Osborne holt die Geschichte von Odysseus und Nausikaa in die Gegenwart.“

Bolero

„eine perfekte, anspruchsvolle Sommerlektüre.“

Madonna

„Empfehlenswert.“

in-muenchen.de

„Osborne liest sich wie eine faszinierende Mischung aus Edward St. Aubyn und Patricia Highsmith – wer für diesen Sommer noch keine spannende, mediterrane Urlaubslektüre hat, sollte zugreifen, auch wenn er diesen nicht auf Hydra verbringt.“

Freie Presse

„Lawrence Osborne komponiert auch in diesem Roman mit einer sehr differenzierten Sprache … einen furiosen Krimi, der einen nicht mehr loslässt. … ›Welch schöne Tiere wir sind‹ braucht den Vergleich mit der Meisterin der Spannungsliteratur, Patricia Highsmith, nicht zu scheuen.“

Kleine Zeitung

„Das brisante Thema Migration greift Osborne aus einem völlig anderen Blickwinkel auf und rückt es, anscheinend locker und leicht, in ein düsteres Licht. Entlarvend, fintenreich.“

Kölner Stadtanzeiger

„Wie in den Alltagstragödien von Patricia Highsmith oder Georges Simeon genügen hier kleine Fehltritte oder ein unter günstigeren Umständen sogar folgenloses Laster, um Menschen in die Bredouille zu bringen. Zugleich unterläuft Osborne die Regeln der Eskalationsdramatik. Selbst angesichts härtester Schicksalsschläge bleibt das Handeln aller Beteiligten unvorhersehbar. Einladungen zur Empathie bekommt man hier kaum, wohl aber Einblicke in die abgründige Natur des Menschen.“

arttv.de

„Das Buch hat eine raffinierte psychologische Note.“

literaturreich.blog

„ ›Welch schöne Tiere wir sind‹ ist ausgesprochen gut konturiert, spannend, abgründig und auch boshaft … Viel mehr als an politischen Gegebenheiten ist Osborne an den psychologischen Abgründen seiner Figuren gelegen. Diese beleuchtet er mit kühlem Blick und meisterhaft.“

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