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Staatsbürgerschaften

Staatsbürgerschaften

Kämpfe um politische Zugehörigkeit in Deutschland, Frankreich und Polen seit dem 19. Jahrhundert

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Staatsbürgerschaften — Inhalt

Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart wird der Bedeutungswandel von Staatsbürgerschaft gezeigt: ihr Aufstieg zur dominanten Form politischer Zugehörigkeit im Zeitalter des Nationalstaats und Instrument ethnischer und politischer Selektion in Diktaturen bis hin zur neuen Gestalt der Unionsbürgerschaft in der supranational organisierten Europäischen Union. Drei Länder Europas, die als Nachbarstaaten in besonders intensiver Weise durch existentielle Konflikte und politische Kooperation miteinander verflochten waren, dienen als Anschauungsbeispiel. Zwischen Frankreich, Deutschland und Polen haben tiefe ideologische Gegensätze sowie gewaltsame Auseinandersetzungen, aber auch von wechselseitigen Lernprozessen und Adaption über zwei Jahr-hunderte intensiver als in fast jeder anderen Region Europas die Geschichte der Staatsbürgerschaft geprägt.

€ 21,99 [D], € 21,99 [A]
Erschienen am 30.06.2022
Herausgegeben von: Dorlis Blume, Dieter Gosewinkel, Raphael Gross
256 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-60199-3
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Leseprobe zu „Staatsbürgerschaften“

Dorlis Blume, Dieter Gosewinke

Einleitung

„Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch.“ Bertolt Brecht, Flüchtlingsgespräche

 

Staatsbürgerschaft hat viele Bedeutungen. Sie bezeichnet ein Ideal guter Ordnung, einen Appell zur Gemeinschaft, eine politische Forderung nach Freiheit, Gleichheit, Teilhabe und Schutz. Sie bedeutet aber auch und vor allem einen Status des Rechts. Dieser führt Menschen zusammen und trennt sie zugleich. Die Staatsbürgerschaft scheidet damit Zugehörige von [...]

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Dorlis Blume, Dieter Gosewinke

Einleitung

„Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch.“ Bertolt Brecht, Flüchtlingsgespräche

 

Staatsbürgerschaft hat viele Bedeutungen. Sie bezeichnet ein Ideal guter Ordnung, einen Appell zur Gemeinschaft, eine politische Forderung nach Freiheit, Gleichheit, Teilhabe und Schutz. Sie bedeutet aber auch und vor allem einen Status des Rechts. Dieser führt Menschen zusammen und trennt sie zugleich. Die Staatsbürgerschaft scheidet damit Zugehörige von Nichtzugehörigen. Sie stiftet einerseits nationale und politische Gemeinschaften. Andererseits markiert sie den Unterschied und Vorrang gegenüber denjenigen, die außerhalb der Gemeinschaft stehen. Diese tiefe Ambiguität in der Zuordnung von Menschen trug der Staatsbürgerschaft immer zugleich nachdrückliche Unterstützung wie scharfe Gegnerschaft ein. Das lag an der existenziellen Bedeutung, die sie seit der revolutionären Wende zum 19. Jahrhundert gewann. In ihrer immer engeren Verbindung mit dem modernen Nationalstaat wurde sie zum Gegenstand elementarer Kämpfe um Zugehörigkeit und Teilhabe. Sie stärkte Identitätskonstruktionen, mit denen sich ein Nationalstaat vom anderen abgrenzte. Die Staatsbürgerschaft teilte Rechte auf staatliche Daseinsvorsorge und politische Mitbestimmung zu und auferlegte mit dem Wehrdienst die Pflicht, für den Staat sein Leben einzusetzen.

Die Staatsbürgerschaft stieg daher seit dem 19. Jahrhundert zur bestimmenden Form politischer Zugehörigkeit auf. Dies ist die Ausgangsthese der Ausstellung im Deutschen Historischen Museum (DHM), die dieser Begleitband in vertiefenden Essays analysiert und veranschaulicht. Mehr noch: Gezeigt wird, dass die Staatsbürgerschaft kraft der ihr innewohnenden ambivalenten Funktion, zugleich über Ein- wie Ausschluss zu bestimmen, zum zentralen Instrument der Verteilung von Lebens- und Überlebenschancen in den europäischen Staaten des 19. und 20. Jahrhunderts wurde.

Die elementare politisch-soziale Bedeutung von Staatsbürgerschaft soll bis in die Ebene des Alltagslebens fassbar werden. Dabei geht es über staatliche Akteure hinaus auch um diejenigen, die von den Regelungen der Staatsbürgerschaft betroffen waren, diese erstritten und erlitten, von ihnen Schutz oder Ausschluss zu gewärtigen hatten. Denn Staatsbürgerschaft manifestiert sich nicht nur in Pässen, Gesetzen und behördlichen Maßnahmen, sondern in hohem Maße auch in den durch sie ausgelösten widersprüchlichen und starken Gefühlen – der Sicherheit wie der Schutzlosigkeit, der Anerkennung wie der Ablehnung, des Stolzes wie der Missachtung.

Ausstellung und Begleitband zeigen die Entwicklung der Staatsbürgerschaft als Instrument der Ein- und Ausschließung seit dem Beginn des „nationalen Zeitalters“ im Zuge der Französischen Revolution exemplarisch anhand dreier Länder: Frankreich, Polen und Deutschland. Mehr noch als andere waren diese drei Nationalstaaten im Herzen Europas als Nachbarn in intensiver Weise durch existenzielle Konflikte und politische Kooperation miteinander eng verflochten. Zwischen Frankreich, Deutschland und Polen haben tiefe ideologische Gegensätze sowie gewaltsame Auseinandersetzungen in Gestalt von Besetzung und Vertreibung, aber auch wechselseitige Lernprozesse und Adaption über zwei Jahrhunderte die Geschichte der Staatsbürgerschaft in ihrer Vielfalt ausgeprägt.


Beiträge der Autorinnen und Autoren

Einleitend stecken vier Essays den Gegenstand sowie das zeitliche und räumliche Feld dieses Bandes ab. Dieter Gosewinkel erklärt die zugrunde gelegte doppelte Bedeutung von Staatsbürgerschaft. Sie bezeichnet zum einen den rechtlichen Status der Mitgliedschaft in einem Staat, die Staatsangehörigkeit, zum anderen die individuellen Rechte, die grundsätzlich durch die Staatsangehörigkeit vermittelt werden. Unterschiedliche Ausprägungen von Staatsbürgerschaften spiegelten und verfestigten über lange historische Perioden die gegenseitige Abgrenzung von Nationalstaaten. Die Länder Frankreich, Polen und Deutschland eignen sich angesichts ihrer spannungsreichen Nachbarschaftsverhältnisse in besonderer Weise, um die extremen Verwendungsmöglichkeiten der Staatsbürgerschaft vor Augen zu führen: von der ausgleichenden Regelung der Nachbarschaftsbeziehungen bis hin zur Unterdrückung und Verdrängung. Die Verflechtung der drei Staatsbürgerschaften wird anhand fünf historischer Phasen aufgezeigt, die von der Epoche der Französischen Revolution bis zur europäischen Wende nach 1989 reichen.

Das französische Staatsbürgerschaftsrecht, so der zunächst überraschende Befund von Patrick Weil, vergab mit dem Code Civil von 1803 das erste Mal überhaupt in Europa die Staatsangehörigkeit aufgrund der Abstammung. Gleichwohl, so Weils These, entwickelte und bewahrte die französische Staatsbürgerschaft ihren spezifisch einschließenden Charakter. Frankreich wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts zum Einwanderungsland und wollte seinen demografischen Nachteil gegenüber dem bevölkerungsstärkeren Deutschland ausgleichen. Dies trug maßgeblich dazu bei, dem Territorialprinzip wieder ausschlaggebende Bedeutung zu geben und in Frankreich geborene Kinder von Ausländern zu Franzosen zu machen. Ungeachtet dreier „ethnischer Krisen“, in denen ein von der französischen Rechten getragenes ethno-nationales Gegenkonzept das Territorialprinzip infrage stellte, setzte sich die französische Linke mit seiner Verteidigung durch. Dabei spielten das Argument, das „Blutsprinzip“ komme aus Deutschland, und die Erinnerung an das vom nationalsozialistischen Modell inspirierte rassistische Staatsbürgerschaftsrecht des Vichy-Regimes eine maßgebliche Rolle.

Nicht geradlinig, vielmehr „sinusförmig“ verlief nach Jerzy Kochanowski die Entwicklung der Staatsbürgerschaft in Polen. Sie war von Frankreich beeinflusst, litt aber an der brüchigen Eigenstaatlichkeit Polens im 19. und 20. Jahrhundert. Nach der frühen ersten Erwähnung des obywatel (Bürger) in der polnischen Verfassung vom 3. Mai 1791 dauerte es bis 1918, dass der dann wieder errichtete polnische Staat eine gesamtstaatliche polnische Staatsbürgerschaft schuf. Sie vermittelte erstmals umfassende politische und soziale Rechte – auch für Frauen – und stand dennoch von Beginn an unter Druck, zumal die polnische Regierung nur widerwillig die staatsbürgerliche Gleichberechtigung der nationalen und religiösen Minderheiten anerkannte. Während des Zweiten Weltkriegs waren die Polen, vor allem die polnischen Juden, Ziel von Diskriminierung und Vernichtung, die die deutsche und die sowjetische Besatzungsmacht maßgeblich mithilfe des Staatsbürgerschaftsrechts ins Werk setzten. Nach 1945 diente der neuen Volksrepublik Polen das Staatsbürgerschaftsrecht vor allem der ethnischen Homogenisierung, unter anderem durch den Ausschluss der großen Mehrheit Deutschstämmiger.

Die Staatsbürgerschaft als Rechtsbegriff entwickelte sich in Deutschland später als in Frankreich und Polen. Andreas Fahrmeir verweist aufdie große Bedeutung des Abstammungsprinzips in der Entwicklung der deutschen Staatsbürgerschaft. Eingeführt in das deutsche Recht wurde es nach dem als besonders modern geltenden französischen Vorbild in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Überhaupt war die Staatsbürgerschaft im föderalen Deutschland unterschiedlich ausgestaltet. Nach der Reichsgründung 1871 setzte in Preußen eine Politik der ethnischen Homogenisierung ein, die sich insbesondere gegen Polen und Juden richtete. Das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 verfestigte die Abstammung als alleiniges Prinzip des Geburtserwerbs der Staatsangehörigkeit, indessen ohne diese an die Zugehörigkeit zu einem deutschen Volk zu binden. Die Ethnisierung der deutschen Staatsbürgerschaft setzte sich schließlich im nationalsozialistischen Recht durch, das den vollen Rechtsstatus des „Deutschen“, des Reichsbürgers, aus der Zugehörigkeit zur „arischen Rasse“ ableitete. Erst nach der deutschen Wiedervereinigung vollzog sich schrittweise der Abschied vom reinen Abstammungsprinzip, als 2000 mit der Einführung des Territorialprinzips – ähnlich wie in Frankreich – in Deutschland geborene Kinder von lang ansässigen Ausländern die deutsche Staatsbürgerschaft erhielten.

Stetig verschränkt waren die Staatsbürgerschaftssysteme der drei Länder durch die Arbeitsmigration. Frankreich und Deutschland waren die wichtigsten Zielländer von Arbeitsmigranten aus Polen, das während der Zwischenkriegszeit zum zweitwichtigsten Auswanderungsland der Welt nach Italien aufstieg. Malgorzata Radomska untersucht diese Entwicklung und veranschaulicht, dass der mindere Rechtsstatus der polnischen Arbeitsmigranten gegenüber deutschen und französischen Staatsbürgern im ökonomischen Interesse der Einwanderungsländer lag. Statt sie einzubürgern, schlossen diese die Eingewanderten von der politischen und sozialen Teilhabe aus und regelten die arbeits- und sozialrechtliche Grundsicherung der Migranten durch befristete bilaterale Verträge. Dies lag auch im Interesse des polnischen Staates, der den Überschuss an inländischen Arbeitskräften abbauen konnte, ohne den Kontakt zu seinen auswandernden Staatsbürgern zu verlieren. Freilich bevorzugte Polen dabei die Angehörigen polnischer Nationalität, während es bei Angehörigen nationaler Minderheiten, vor allem Juden, die endgültige Auswanderung förderte. Mit dem Beitritt Polens zur Europäischen Union 2004 wurde Deutschland wieder zum wichtigsten Einwanderungsland für polnische Staatsbürger, die dort als Unionsbürger einen ungleich besseren Rechtsstatus genießen als je zuvor.

Seit ihrer Entstehung im Zuge der Französischen Revolution war die Staatsbürgerschaft eng mit dem Militärdienst verbunden. Die Aufhebung eines gesonderten Militärstandes in einer Gesellschaft der Freien und Gleichen verlangte von diesen selbst die Organisation einer Streitmacht, die fortan in der Massenaushebung und der Wehrpflicht aller (männlichen) Staatsbürger bestand. Jens Boysen thematisiert diese Erfindung des citoyen-soldat, dessen Idee in den großen französischen und polnischen Rechtsdeklarationen der Zeit ihren Niederschlag fand und bis in die preußischen Heeresreformen reichte. Die „totale Mobilmachung“ im Ersten Weltkrieg erhob den einfachen Soldaten zum Protagonisten. Auch als Reaktion auf die Gewaltexzesse der Wehrpflichtarmeen im Zweiten Weltkrieg kam es in der Bundesrepublik Deutschland zur Wiederbelebung des Ideals vom citoyen-soldat, dem „Staatsbürger in Uniform“. Doch die gegenwärtige technische Entwicklung und die weitgehende Aufhebung der Wehrpflicht lösen die Verbindung zum Militärischen auf, die über zwei Jahrhunderte konstitutiv für die Staatsbürgerschaft war.

„Die Frau ist frei geboren und bleibt dem Manne gleich in allen Rechten“, forderte Olympe de Gouges als Vorkämpferin für Frauenrechte schon während der Französischen Revolution. Wie lang und beschwerlich der Weg bis zur verfassungsmäßigen Gleichstellung war, zeigt Claudia Kraft auf. Polinnen und Deutsche erhielten zwar nach dem Ersten Weltkrieg, Französinnen nach dem Zweiten Weltkrieg das aktive und passive Wahlrecht, das Recht auf körperliche Selbstbestimmung von Frauen hingegen ist bis heute hart umkämpft. Auch die Institution der Ehe erwies sich lange Zeit als Einbahnstraße, erhielten zwar Ausländerinnen bei Heirat die deutsche Staatsbürgerschaft, deutsche Frauen hingegen verloren ihre Staatsbürgerschaft, wenn sie einen Ausländer heirateten.

Nach einem jahrhundertelang prekären Status erlangten Jüdinnen und Juden erstmalig in der französischen Verfassung von 1791 rechtliche Gleichstellung mit ihren christlichen Mitbürgern. Wie diese Erfahrung Veränderungsprozesse in Deutschland einleitete, beschreibt Miriam Rürup vornehmlich am Beispiel der deutschen Staaten. Einen ersten Durchbruch stellte das „Juden-Edikt“ von 1812 dar, das Juden als „Einländer und preußische Staatsbürger“ den Christen gleichstellte. Vollends umgesetzt wurde die Gleichstellung mit der Reichsgründung 1871. Mit dem Ende des 19. Jahrhunderts aufkeimenden Antisemitismus und dessen Radikalisierung durch die Nationalsozialisten verloren Jüdinnen und Juden die Staatsbürgerrechte in Deutschland und in allen besetzten Gebieten. Häufig führte dies in die Staatenlosigkeit. 1955 leitete die Bundesrepublik Deutschland eine Wiedergutmachung auf staatsbürgerlicher Ebene ein: Allen Personen und deren Nachkommen, die aus politischen, religiösen oder rassistischen Gründen ausgebürgert worden waren, räumte sie ein Recht auf Wiedereinbürgerung ein.

Mit der Entstehung von Nationalstaaten und ihrer Abgrenzung gegeneinander wurde die doppelte Staatsangehörigkeit zu einem potenziellen Konfliktherd, gerade auch zwischen den benachbarten Staaten Polen, Frankreich und Deutschland. Sarah Mazouz arbeitet hier einen historisch begründeten Unterschied heraus: Frankreich als Einwanderungsstaat, der lange über stabile Grenzen verfügte und die Eingliederung von Fremden in die Nation auf das Recht des Bodens (ius soli) gründete, verfolgte im Allgemeinen das Prinzip der Indifferenz gegenüber der Doppelstaatsangehörigkeit. Deutschland und Polen hingegen, die sich bis in die jüngere Vergangenheit als Auswanderungsländer begriffen und zahlreiche Grenzänderungen erfuhren, stützten die Zugehörigkeit zum Staat auf das Abstammungsprinzip (ius sanguinis). Beide Länder standen der Doppelstaatsangehörigkeit ablehnend gegenüber, es sei denn, diese bildete das Band zu ihren ausgewanderten Staatsbürgern und deren Nachkommen. Die Frage bleibt virulent, zumal sich die heutigen Gegner der doppelten Staatsangehörigkeit auf Muster eindeutiger nationaler und „rassischer Identität“ berufen, die gerade in postkolonialen Gesellschaften wie Frankreich heftige Konflikte auslösen.

Kathrin Kollmeier definiert Staatenlosigkeit als „das Fehlen der rechtlichen Verbindung zwischen Individuum und Staat, einer Staatsangehörigkeit“. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Entstehung neuer Nationalstaaten wurde die Staatenlosigkeit zum Massenphänomen in Europa. Der Völkerbund suchte dem unter anderem durch die Einführung von Identifikationspapieren wie dem Nansen-Ausweis entgegenzuwirken, scheiterte aber spätestens 1938, als das NS-Regime die Staatenlosigkeit gezielt gegen Juden als Vorstufe der Vernichtungspolitik einsetzte. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs schwoll die Zahl der Staatenlosen unter den Displaced Persons erneut immens an und führte zur Etablierung der internationalen Flüchtlingsorganisation UNHCR in Genf 1951, die sich für die Einhaltung von Menschenrechten auch gegenüber Staatenlosen einsetzte. Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts verlagerte sich das Massenphänomen der Staatenlosigkeit zunehmend in nichteuropäische Regionen.

Die Publizistin, Moderatorin, Autorin und Übersetzerin Olga Mannheimer schildert im Interview die Erfahrungen ihrer Familie, die nach der antisemitischen Kampagne in Polen zunächst nach Frankreich und dann nach Deutschland ausgewandert ist. Über die verschiedenen Ausweispapiere, die sie in ihrem Leben in Polen, Frankreich und Deutschland erhalten hat, sagt sie, dass diese Papiere zwar kein Gefühl der Zugehörigkeit, wohl aber der Akzeptanz und des Schutzes vermittelt hätten. Ihrer Meinung nach bedürfe es für die Staatsbürgerschaft keiner patriotischen Gefühle, wohl aber des Respekts vor der gesellschaftlichen Ordnung. Aus ihrer persönlichen Erfahrung heraus konstatiert Mannheimer, dass die Staatsangehörigkeit die Möglichkeiten, am Staat zu partizipieren, deutlich verbessere, und sie unterstreicht, wie wichtig es sei, Menschen ohne Staatsbürgerschaft vor Rechtlosigkeit zu schützen.

Seit dem Beitritt Polens zur Europäischen Union wird die nationale Staatsangehörigkeit in Frankreich, Polen und Deutschland um die europäische Bürgerschaft, die sogenannte Unionsbürgerschaft, ergänzt. Christoph Schönberger führt aus, dass die Verknüpfung der Unionsbürgerschaft mit der nationalen Staatsangehörigkeit das wichtigste Charakteristikum der europäischen Bürgerschaft ist und ihre Wurzeln im Föderalismus hat. Gleichzeitig weist er auf die Gefahren hin, die sich daraus ergeben, dass allein der jeweilige Mitgliedstaat darüber entscheidet, wer die Staatsbürgerschaft und damit automatisch auch die Unionsbürgerschaft erhält: Die Unionsbürgerschaft kann zum Beispiel gegen die Zahlung einer vereinbarten Geldsumme an wohlhabende Investoren aus Drittstaaten verliehen werden, ohne dass die Europäische Union eine Handhabe hat, dies zu verhindern.

Dass die Unionsbürgerschaft keineswegs die nationalen Staatsbürgerschaften abgelöst hat, zeigt Christian Joppke am Beispiel der Reaktionen auf die Coronapandemie ab 2020 auf: Eine der Errungenschaften der Unionsbürgerschaft, die unbeschränkte Freizügigkeit zwischen den Mitgliedstaaten, wich panikartig aufgestellten Schlagbäumen zur Abriegelung während des Lockdown. Auch veranlasste die Pandemie dazu, über eine soziale Staatsbürgerschaft neu nachzudenken – eine Vision, die der britische Soziologe Thomas Marshall bereits Anfang der 1950er-Jahre entwickelt hatte. Unabhängig von der Pandemie habe sich, so Joppke, mit dem beginnenden 21. Jahrhundert die Auffassung durchgesetzt, dass eine Staatsbürgerschaft „verdient“ werden müsse, was umgekehrt auch dazu führe, dass die Staatsbürgerschaft, sofern sie nicht durch Geburt zugewiesen werde, schwerer zu bekommen, aber leichter zu verlieren sei.

Dass im Alltag eine Staatsbürgerschaft nicht nur schwer zu erlangen ist, sondern von manchen Minderheiten häufig auch nachgewiesen werden muss, beschreibt Dominique Hipp anhand eines Hip-Hop-Songs und bislang marginalisierter Perspektiven von People of Colour, Migrantinnen und Migranten. Da nicht zuletzt durch Politikerinnen und Politiker wiederholt Gefühle instrumentalisiert und Ängste geschürt werden, besitzt das Thema Staatsbürgerschaften auch eine emotionale Komponente.


Biografien und Abbildungen

Die Essays werden ergänzt um Biografien und Abbildungen von Ausstellungsobjekten rund um die vertiefenden Themen. So zeigen die Lebensläufe Frédéric Chopins und Marie Curies ihren Weg vom russisch besetzten Teil Polens in die französische Staatsbürgerschaft, wohingegen die Familie Rosa Luxemburgs von Frankfurt am Main nach Polen emigrierte und Luxemburg eine Eheschließung instrumentalisierte, um die preußische Staatsangehörigkeit zu erlangen, weil sie für ein politisches Engagement in der SPD notwendig war. Hubertine Auclert, Paulina Kuczalska-Reinschmit, Louise Otto-Peters und Käthe Schirmacher stehen für den Kampf für staatsbürgerliche Mitbestimmungsrechte der Frauen in Frankreich, Polen und Deutschland. Welche Nachteile aufgrund von Kolonialismus und Rassismus entstehen können, wird anhand der Biografien des Politikers Amadou Lamine Guèye, des Soldaten Bayume Muhammed Hussein und des Fußballers Christian Karembeu aufgezeigt. Charles de Gaulle, Zygmunt Bauman und Hannah Arendt waren in unterschiedlichen Zeitspannen Staatenlose.

Der Band ist reich bebildert mit ausgewählten Objekten der Ausstellung. Sie stammen aus der Sammlung des DHM und zahlreichen internationalen Museen und Archiven wie dem Musée national de l’histoire de l’immigration, der Bibliothèque Marguerite Durand und der Bibliothèque nationale in Paris, den Nationalmuseen in Stettin, Krakau und Warschau, den Jüdischen Museen in Berlin, Frankfurt am Main und New York sowie dem Archiv der deutschen Frauenbewegung in Kassel.

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