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Naris (Naris 2)

Naris (Naris 2)

Lucy Hounsom
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Das Schicksal der Sterne

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Naris (Naris 2) — Inhalt

Kyndra hat ihr Land fürs Erste vor dem Untergang gerettet, doch nun muss sie sich in feindliche Gebiete aufmachen, um den Frieden für ihre Heimat auch zu sichern. Auf der Suche nach Verbündeten gerät Kyndra zwischen die Fronten – denn im Nachbarland Acre ist nicht alles so geordnet, wie es scheint. Es regt sich Widerstand gegen das herrschende Regime und diverse Gruppen wollen Kyndra auf ihre Seite ziehen. Dann trifft sie in der Wüste auf einen jungen Mann, in dem Kräfte schlummern, von denen er noch nichts ahnt. Und am Ende müssen beide erkennen, dass sie ihre Bestimmung annehmen müssen, um die ganze bekannte Welt zu retten.

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 02.05.2017
Übersetzt von: Barbara Röhl
528 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97642-8
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Leseprobe zu „Naris (Naris 2)“

Kapitel 1
Neu-Sartya, Acre
Hagdon

Das Schlafgemach des Imperators war ebenso prachtvoll ausgestattet wie der Rest des Palasts. Seltene schwarze Ken – die kleinen Steine, die in Acre als Währung dienten – schimmerten an den Wänden, wo sie wie einfache Mosaiksteine verlegt worden waren. Die meisten Menschen zogen es vor, ihr Geld in ihrem Geldbeutel aufzubewahren, aber der derzeitige Davaratch neigte dazu, sein Vermögen zur Schau zu stellen. Davaratch war der Imperator gewesen, der Sartya vor Jahrhunderten zur Vorherrschaft geführt hatte, seitdem hatte jeder [...]

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Kapitel 1
Neu-Sartya, Acre
Hagdon

Das Schlafgemach des Imperators war ebenso prachtvoll ausgestattet wie der Rest des Palasts. Seltene schwarze Ken – die kleinen Steine, die in Acre als Währung dienten – schimmerten an den Wänden, wo sie wie einfache Mosaiksteine verlegt worden waren. Die meisten Menschen zogen es vor, ihr Geld in ihrem Geldbeutel aufzubewahren, aber der derzeitige Davaratch neigte dazu, sein Vermögen zur Schau zu stellen. Davaratch war der Imperator gewesen, der Sartya vor Jahrhunderten zur Vorherrschaft geführt hatte, seitdem hatte jeder der darauffolgenden Herrscher seinen Namen als Titel verwendet. Dieser Davaratch war der einundzwanzigste seiner Dynastie, und Hagdon traf ihn auf dem riesigen Bett liegend an, umgeben von jungen Männern, alle Sprösslinge adliger Häuser. Ihre geschminkten Gesichter wirkten vorsichtig, zurückhaltend.
General Hagdon von der Faust Sartyas wandte mit einer kaum verhohlenen Grimasse den Blick ab. Die Szene erinnerte ihn unangenehm an seinen Neffen; unwillkürlich stellte er sich die Umstände vor, unter denen Tristan zu Tode gekommen war. Doch als er seinen Bericht abgab, klang seine Stimme ausdruckslos und ließ keine Empfindungen erkennen.
„Land im Osten?“, fragte der Imperator und setzte sich auf.
„Unbekannt“, erklärte Hagdon. „Unsere Karten sind nutzlos.“
Mit einem Knurren erhob sich der Davaratch und warf sich einen Hausmantel über. Im Stehen war er gut über sechs Fuß groß. Gereizt schnippte er mit den Fingern der einzigen Hand, die er besaß, und die halbnackten Knaben stoben durch die Tür.
„Lasst sie beseitigen, Hagdon.“ Die dunklen Augen des einarmigen Imperators blickten kalt. „Ihr solltet Eure Worte besser abwägen. Ich hasse es, junges Leben zu vergeuden.“
Kälte breitete sich in Hagdons Magengrube aus. „Herr, es wurde nichts von Bedeutung gesagt …“
„Nicht?“ Die schwarzen Augen schienen tiefer in ihre Höhlen einzusinken. „Ich erlaube nicht, dass solche Kunde nach Khronosta gelangt.“
„Unsere Kundschafter melden, dass sich das Land in Ost-Baior befindet, Herr“, erklärte Hagdon leise, „jenseits der Frostlande.“
„Jenseits der Frostlande ist nichts.“
Hagdon zögerte. „Ihr habt natürlich recht, Herr, aber …“
Der Davaratch brachte ihn mit einem zornigen Blick zum Verstummen. „Holt Shune. Wir fragen ihn.“
„Sofort.“ Hagdon trat an die Türflügel und ergriff eine vergoldete Klinke. „Seine Imperiale Majestät wünscht den Barden zu sehen“, blaffte er eine der in rote Rüstungen gekleideten Wachen, die draußen standen, an. „Gebt ihm Bescheid.“
Der Soldat schlug sich mit der Faust an die Schulter und eilte davon.
Für einen so massigen Mann bewegte sich der Davaratch geschmeidig. Er brütete bereits über einer detaillierten Reliefdarstellung von Acre, die in einer Ecke des Gemachs stand. Hagdon trat zu ihm und folgte dem Bogen der Ak-Taj-Wüste nach Norden bis nach Baior. Letzteres war eine ärmliche Gegend mit felsigem Boden, wo es regelmäßig zu Missernten kam. Bauernland. Die Frostlande erstreckten sich bis zu Baiors Ostgrenze, und Hagdon unterdrückte ein Schaudern – dort verschwanden häufig Menschen. Vor Jahren hatte er dort ein ganzes Regiment verloren.
Der Davaratch benetzte seine Fingerspitze und strich damit leicht über die Karte. Flackernd erwachte das Relief zum Leben. Die Maserung der aus dem Holz herausgeschnitzten Flüsse schien zu fließen, und Wind bewegte die skelettartigen Blätter des Toten Waldes. Über Städten flatterten sartyanische Banner und zeigten ihre Gefolgschaft an. Hagdon blinzelte; es erstaunte ihn, dass die Karte noch funktionierte. Die Energie, mit der sie betrieben wurde – Ambertrix, Sartyas Lebenselixier – war fast versiegt. Sogar im Palast wurde es rationiert.
Am östlichen Ende der Frostlande begann Rauch aufzusteigen, und graues Holz löste sich auf und enthüllte einen tiefroten Farbton darunter. Hagdon starrte darauf, und ein Prickeln überlief seine Haut.
„Unmöglich“, hauchte der Davaratch und richtete den Blick auf den glitzernden Sand. „Seit fünfhundert Jahren hat niemand mehr das Verlorene Tal gesehen. Warum sollte es ausgerechnet jetzt auftauchen?“
„Die Antwort auf diese Frage solltet sogar Ihr zu fürchten lernen“, sagte eine Stimme.
Behände wie ein viel kleinerer Mann fuhr der sartyanische Imperator herum, der mit einem Mal ein Messer mit schwarzer Klinge in der Hand hielt. Es fuhr durch die Luft, und dann saß seine Spitze am Hals des im Alter dürr gewordenen Mannes, der plötzlich dastand. „Komm mir nicht mit deinen Tricks, Shune“, knurrte der Davaratch. „Ich schneide dir ohne zu zögern die Kehle durch.“
Sobald er das Messer vom Hals von Shune, dem Barden, löste, rieb der Alte über den Blutstropfen, der zurückgeblieben war, und runzelte angesichts des Flecks auf seinen Fingern die Stirn. „Solche Reflexe leisten Euch gute Dienste, Majestät, aber sie allein werden Euch nicht retten.“ Er richtete die hellen, phosphoreszierenden Augen auf die Karte. „Ihr seid unvorbereitet.“
„Worauf?“, fragte der Davaratch und verzog gereizt das Gesicht.
„Veränderungen.“
Ein schneller Schlag mit dem Handrücken ließ Shune krachend zu Boden gehen. Mit wütendem Blick stand der Davaratch über ihm. „Ich will nichts von deinen Rätseln hören. Du wirst mir sagen, was du über das hier weißt“ – er wies auf das Verlorene Tal –, „sonst finde ich eine andere Verwendung für dich.“
Hagdon sah, wie kurz ein hasserfüllter Ausdruck über Shunes Gesicht huschte. Der Mann war Barde, solange er denken konnte. Er diente dem gegenwärtigen Davaratch und hatte schon dem vorherigen gedient – und möglicherweise bereits dessen Vorgänger. Hagdon sah zu, wie der Alte unsicher aufstand. Er ignorierte das Blutrinnsal, das aus seiner aufgeplatzten Lippe lief. „Es ist Rairam“, sagte er.
Plötzlich war das Gemach in Finsternis getaucht. Hagdons Herz machte einen Satz, doch dann wurde ihm klar, dass nur das mit Ambertrix unterhaltene Licht wieder einmal ausgefallen war. Der Davaratch brummte missfällig, und Hagdon suchte in seiner Tasche rasch nach den Streichhölzern und der Wachskerze, die herumzutragen er sich angewöhnt hatte. Sobald er den Kandelaber auf der Kommode angezündet hatte, nahm er ihn und beleuchtete damit die Karte. Das Verlorene Tal schien die Flammen anzuziehen und hielt sie begehrlich fest wie rote Glasperlen.
„Rairam“, sagte der Davaratch schließlich mit gedämpfter Stimme.
Shune nickte und sah die Karte an. „Ah, Kierik“, flüsterte er. „Du konntest uns nicht in alle Ewigkeiten fernhalten.“
Krachend flog die Tür auf, und Hagdon wirbelte mit einem wütenden Tadel auf den Lippen herum, der jedoch erstarb, als er sah, wer dort stand und den roten Panzerhandschuh auf die Klinke gelegt hatte.
„Majestät“, sprach die Frau den Imperator direkt an, „wir haben sie gefunden.“
Die Augen des Davaratch funkelten. „Die Einheit soll Abstand halten“, befahl er. „Haben sie euch entdeckt?“
„Nein, Herr“, antwortete die Frau. Sie trug den gleichen Kettenpanzer wie die Wachen draußen, nur dass ihre Schulterstücke schwarz und mit drei eingravierten, mit ihrer Haube dargestellten Falken geschmückt waren. Iresonté, Hauptmann der Unsichtbaren Truppe. Ihr Auftauchen konnte nur eines bedeuten: Sie hatten Khronosta gefunden.
„Der ganze vermaledeite Tempel ist in der Nähe eines unserer Außenposten an der Grenze zu Baior aufgetaucht“, erklärte Iresonté. „Das ist jetzt zwei Wochen her, und er ist immer noch sonnenklar zu erkennen.“
„Hagdon“, fauchte der Davaratch, und Hagdon richtete sich gerader auf. „Nehmt Eure besten Männer und begleitet den Hauptmann ins Feld. Ich will kein Risiko eingehen.“ Er presste die Lippen zusammen. „Die baioranische Grenze. Das ist kein Zufall …“
„Die Aufständischen haben auch eine Basis …“
„Die Aufständischen sind gesetzloses Gesindel, und der Hauptmann hier hat schon einen Mann bei ihnen eingeschleust. Ich bezweifle, dass sie so dumm sind, sich einzumischen, aber wenn, dann kümmert Euch um sie.“ Der Imperator ließ den Blick seiner schwarzen Augen über die beiden schweifen, und Hagdon sah, wie Iresonté zusammenfuhr. „Gut möglich, dass heute der Tag ist, auf den wir gewartet haben. Ihr habt Eure Befehle.“
James, flüsterte der Barde in seinem Kopf, und Hagdon musste sein verblüfftes Zusammenzucken als Salut tarnen – er hasste es, wenn Shune ihn ohne Vorwarnung auf diese Art ansprach. Der Imperator ist so besessen von Khronosta, dass es ihn blind für die wahre Bedrohung macht.
Und was ist die wahre Bedrohung?, gab Hagdon zurück. Er fand dieses Eindringen in seinen Kopf unangenehm.
Rairam, antwortete der Alte. Wir wissen nicht, was hinter seiner Rückkehr steckt. Das muss untersucht werden.
Ich nehme keine Befehle von Euch entgegen.
Nein, pflichtete Shune ihm mit seiner Flüsterstimme bei, Ihr nehmt sie von dem Mann entgegen, der Eure Verwandten ermordet hat.
Raus aus meinem Kopf, knurrte Hagdon lautlos und trat an die Tür zu Iresonté. Er spürte den Blick des Imperators im Rücken wie zwei Klingen, die sich hineinpressten.
„General.“
Er drehte sich um.
„Dies ist unsere Chance, Khronosta zu vernichten. Ich möchte, dass sich die Böden dieses Tempels rot färben. Sie sollen spüren, was es heißt, sich gegen mich aufzulehnen.“
General James Hagdon befehligte die Faust Sartyas seit einem halben Jahrzehnt. Seine Männer nannten ihn Sartyas Hand. Seine Feinde – von denen er sich im Lauf der Jahre viele gemacht hatte – schmähten ihn als des Imperators tollwütigen Hund. Heute, dachte er, während er gehorsam aus dem Gemach trabte, um ein Volk auszulöschen, traf eher der Name zu, den seine Feinde ihm verliehen hatten.




Kapitel 2
Die Frostlande, Acre
Kyndra


Sie stand auf der schwarzen Straße, die zu den Sternen führte, und sah zu, wie er eine Welt erschuf.
Seine Haut wurde von den Sternen erhellt, und aus seinen dunkelblauen Augen – die ihren so ähnlich sahen – loderte die Energie, die er seinem Willen unterwarf. Hier war er nicht der Wahnsinnige, den die verlorenen Jahrhunderte niederdrückten, sondern jung, gut aussehend sogar, und von der Gewissheit erfüllt, das Richtige zu tun. Sie beobachtete, wie er an der Zeit zerrte, die Dimensionen der Erde nach seinem Gutdünken verdrehte, und sie forderte ihn schreiend auf, damit aufzuhören.
Als er den Kopf wandte und sie sah, erschauerte sie, wich aber nicht zurück. Er hielt Sigel in den Händen, einen reißenden Energiestrudel. Ehe sie sich versah, griff sie selbst nach dem Stern und versuchte, ihm seine Macht zu entreißen. Knurrend kämpfte er gegen sie an, und sie wehrte sich. Die Welt drohte bei ihrem Kampf zu zerbrechen. Sie konnte ihn nicht gewinnen lassen; nicht, solange die Einschläge ganz Mariar und seine Menschen vernichten würden, und weil sie die Zukunft kannte.
Er strauchelte, und sie ergriff ihre Chance und entriss ihm die Macht. Er schrie auf und umklammerte seinen Kopf, und sie gebrauchte Sigel, um die Mauern, die er zwischen den Welten errichtet hatte, in Flammen zu setzen. Acre musste unversehrt bleiben. Als er schreiend auf die Knie fiel, hielt sie nicht inne, sondern zerrte an ihren Fugen, bis sie zerbrachen und die Welt wieder in ihre ursprüngliche Gestalt zurücksprang.
In dem Moment, in dem sie ihre Willenskraft zurücknahm, begann die Energie in ihr zu brennen. Sie versuchte sie davonzuschleudern, aber die Sterne drängten sich in ihren Kopf und zerfraßen alles, was sie ausmachte. Sternbilder zogen über ihre Handflächen, und sie keuchte auf, während Feuer an ihren Narben entlang ihre Arme hinauf über ihre Brust und den Hals und dann ihren Mund lief, sodass er sich mit ihren Namen füllte. Sie schluckte dagegen an und sehnte sich verzweifelt danach, sich vor ihnen zu verstecken. Aber sie waren sie. Sie konnte nicht gegen sich selbst kämpfen.
Kierik kauerte vor ihr, drückte die Fäuste an seinen Kopf und heulte so wahnsinnig, wie er war. Das Feuer verzehrte sie, wälzte sich aus ihr heraus, brach wie eine Flutwelle über die Lande von Acre und Rairam herein und verbrannte alles, was sich ihm in den Weg stellte, bis nichts mehr übrig war als Asche und Tod und Finsternis.

Kyndra schlug die Augen auf … aber das Feuer war echt und heiß, weiß wie Sternenlicht. Sie wurde sich bewusst, dass sie sich mit verkrampften Gliedmaßen auf dem Boden zu einem Ball zusammengerollt hatte. Sie war das Feuer; es lief in Wellen über ihren Rücken und plätscherte seitlich davon. Stimmen riefen ihren Namen. Zwischen den Feuerwänden erhaschte sie Blicke auf vertraute Gesichter, in denen Angst, Schrecken und Grauen standen.
Nein.
Kyndra schloss die Augen und konzentrierte sich, bis es ihr gelang, sich von der Schwelle zurückzuziehen. In ihrer Vorstellung knallte sie die dunkle Tür zu, die zu den Sternen führte, und ihr Flüstern verklang. Das Feuer brannte herunter und zog sich wieder in ihre Haut zurück, als hätte es nie existiert. Als sie die Augen aufschlug, dauerte es ein paar Sekunden, bis sie wieder wusste, wo sie war. Vorsichtig schoben sich die Gesichter näher heran. Kaits Miene wirkte argwöhnisch; ohne zu blinzeln sah sie Kyndra an.
Medavle, der Yadin, war als Erster an ihrer Seite, und dann kam Nediah, der sich – nach kaum wahrnehmbarem Zögern – neben sie auf den Boden hockte. In den Schatten unter seinen Augen kämpften Sorge und Misstrauen miteinander.
Ein leiser, melodischer Ton erklang, und Kyndra drehte den Kopf und erblickte Irilin, deren Haut durch ihre Mondkräfte leuchtete. Fädchen klebten an den Händen der Novizin wie Spinnweben und schwebten sanft davon, um die Umgebung zu erhellen. „Wir sind abgeschirmt“, erklärte sie.
„Kyndra?“, fragte Nediah leise.
Sie saß wie in Stein gegossen da und starrte auf einen düsteren Fleck außerhalb des von Irilin erzeugten Lichts. „Gut“, sagte sie und hörte, wie bei der Lüge ihre Stimme brach. „Mir geht es gut.“
„Das ist jetzt das zweite Mal“, sagte Kait. „Irilin kann uns nicht die ganze Nacht abschirmen.“
„Es tut mir leid.“ Irilin schaute beschämt drein. „Wenn ich gelernt hätte, wie man einen Schild stabilisiert …“
Kait ging auf Medavle los. „Könnt Ihr ihr nicht helfen?“
„Kyndra muss sich selbst helfen“, gab der Yadin kalt zurück. „Sie muss aufhören, sich gegen sie zu wehren.“
„Niemals“, knurrte Kyndra mit zusammengebissenen Zähnen. Hinter den Augen spürte sie pochende Kopfschmerzen. „Ich will sie nicht. Ich habe mir das nicht ausgesucht.“
„Deine Sturheit wird uns noch alle umbringen“, sagte Kait, und Nediah legte ihr tadelnd eine Hand auf die Schulter. Sie warf ihm einen gereizten Blick zu, schüttelte sie jedoch nicht ab. „Wir haben keine Ahnung, womit wir es zu tun bekommen könnten.“
„Ihr seid nicht mehr in der Tiefe“, ließ sich Shika aus dem Dunkel vernehmen. „Wir sind in der Lage, mit Problemen fertigzuwerden.“
Kait starrte den Novizen zornig an. „Was wisst ihr schon davon, die ihr gut genährt und verwöhnt seid? Ist euch noch nicht aufgefallen, dass nur eine von uns“ – mit dem Kopf wies sie auf Irilin –, „Mondkräfte besitzt? Und sie kann nicht einmal einen Schild aufrechterhalten.“
Irilin wirkte verletzt.
„Bei Nacht sind wir alle so gut wie wehrlos“, fuhr Kait fort. Ihr Kopf fuhr zu Kyndra herum. „Und was nützt uns eine Sternengeborene, die sich weigert, ihre Kräfte einzusetzen?“
„Das verstehst du nicht“, sagte Kyndra leise.
„Streit bringt uns nicht weiter“, kam Nediah Kaits Erwiderung zuvor. „So unrecht hat sie allerdings nicht“, meinte er zu Kyndra. „Du machst es uns schwer, unsere Anwesenheit zu verbergen.“
„Ich weiß, Nediah“, erklärte sie leise. „Es kommt nicht wieder vor.“
Hinter der dunklen Tür regte sich Austri. Das wird es aber, wenn du dich weiter widersetzt.
„Wir sind ja noch nicht vielen Menschen begegnet“, sagte Irilin in einem offensichtlichen Versuch, alle zu besänftigen. Ihre Mondaura warf einen silbrigen Schein über ihr Haar und ihre Haut. „Ich glaube, diese Gegend ist bei den Einheimischen nicht beliebt.“
Shika zuckte die Achseln. „Würdest du freiwillig hier draußen leben?“
„Jemand soll die Kinder zum Schweigen bringen“, sagte Kait. „Warum hast du sie mitgenommen, Sternengeborene?“
„Nenn mich nicht so.“ Kyndra gestattete sich, jedem in die Augen zu sehen. Bis auf Medavle. Sie spürte seinen unergründlichen, taxierenden Blick. „Ich halte Wache“, erklärte sie und ignorierte den Umstand, dass sie sich kaum ausgeruht hatte. „Ihr könnt wieder schlafen gehen.“
Bevor sie Einwände erheben konnten, hatte sie sich schon abgewandt, und aus dem Augenwinkel sah sie, wie sie zu ihren Schlafsäcken zurückwichen. Kait hatte ihren ein wenig näher an den von Nediah gezogen.
Kyndra stopfte die Hände in ihre Manteltaschen. Um sie warm zu halten, sagte sie sich, obwohl sie sich bewusst war, das das nicht der wahre Grund war. Sie mochte ihre Handflächen nicht ansehen. Sie wollte die schrecklichen Muster nicht sehen, die sie als jemanden kennzeichneten, der anders war … gefährlich.
Sie erinnerte sich an die ängstlichen Mienen ihrer Gefährten. Für sie war eine Sternengeborene etwas Grauenhaftes; unmenschlich, unerbittlich und unkontrollierbar. Kyndra dachte an den eisigen Klumpen, der gleich neben ihrem Herzen in ihrer Brust saß. Manchmal fühlte er sich größer an, so als wollte er den roten Muskel beiseiteschieben und seinen Platz einnehmen. Doch statt Blut würde er Energie durch ihren Körper pumpen.
Ein Schauer überlief Kyndra. Es war schlimmer, wenn sie allein war. Dann schlichen sich ihre Stimmen in ihren Kopf und hallten aus unvorstellbarer Ferne heran. Manche Sterne redeten mehr als andere, und Austri war der schlimmste von allen. Am stärksten war er in der Morgendämmerung, sodass er das Erste war, was Kyndra hörte, wenn sie erwachte. Er holte sie aus Träumen, die sie nicht verlieren wollte; von ihrem Zuhause, Brenwym, vor den Einschlägen, als ihr Leben, zumindest kam es ihr so vor, von Sonnenschein und Sommer erfüllt gewesen war.
Sie hatten Naris, die Stadt der Wirker, gestern Nachmittag verlassen, und statt sich auf halbem Weg durch das rote Tal von der Nacht überraschen zu lassen, hatten sie an seinem Rand ein Lager aufgeschlagen. Die Stille in dem Tal beunruhigte Kyndra. Nicht einmal Vögel saßen in den Bäumen. Keine Grille zirpte, keine Fliegen belästigten die Pferde. Das war unnatürlich. Wo sind denn nur alle?, fragte sie sich. Seit Acres Rückkehr war ein Monat vergangen. Bestimmt konnte Mariar – oder Rairam, um ihr Land mit seinem acreanischen Namen zu nennen – doch nicht so lange unbemerkt geblieben sein?
Irgendetwas stimmte nicht. Sie wünschte nur, sie wüsste, was.
Nachdem sich eine Stunde dahingeschleppt hatte, warf Kyndra einen Blick zu Irilin, Shika, Kait und Nediah, die hinter ihr zusammengedrängt auf dem steinigen Boden lagen; keiner von ihnen rührte sich. Der Himmel im Westen war still und dunkel, aber von Osten her schien blasses Licht. In seinem wässrigen Schein wirkten Medavles offene Augen umso schwärzer.
Kyndra fuhr zusammen. Der Yadin saß, mit dem Rücken an einen dürren Baum gelehnt, da, und sie fragte sich, wie lange er schon wach war. „Schlecht geträumt?“, fragte sie.
Medavle gab keine Antwort. Vielleicht weckte dieser Ort Erinnerungen, die er lieber vergessen hätte. Sie beschloss, nicht nachzuhaken. „Heute erreichen wir die Talsohle“, bemerkte sie. „Wie kommt es, dass wir noch niemandem begegnet sind?“
Der Yadin betrachtete sie einen Moment lang schweigend, dann huschte sein Blick an ihr vorbei ins Tal. Im morgendlichen Dämmerlicht hatte die Erde die Farbe von altem Blut. „Ich habe diesen Ort seit fünfhundert Jahren nicht gesehen“, sagte er leise. „Die Erde war nicht immer rot. So viele sind hier gestorben. So viele haben ihr Blut vergossen.“
Ein Schauer lief über Kyndras Haut. „Ihr meint, die Erde ist durch ihr Blut so rot?“
„Das habe ich nicht gesagt.“ Medavle hielt inne. „Aber die Erde erinnert sich.“
Kyndra sah in sein versteinertes Gesicht und entschied, dass es sicherer war, sich auf ihre vorherige Frage zurückzuziehen. „Findet Ihr es nicht eigenartig, dass noch niemand aus Acre hergekommen ist, um zu untersuchen, was passiert ist?“
Langsam schüttelte Medavle den Kopf. „Vielleicht haben sie noch nichts bemerkt.“
Kyndra war sich nicht sicher, ob sie ihm glaubte. Sie wandte sich wieder dem Tal zu. In den ersten Sonnenstrahlen wirkte die Erde wie mit Rubinen übergossen, und der Anblick faszinierte sie. Austris wortloses Flüstern wurde leiser.
Endlich begannen die anderen sich zu regen. Als sich Kyndra umschaute, sah sie, wie sich Nediah aufsetzte und auf Kait hinuntersah, die sich neben ihm zusammengerollt hatte wie eine Katze. Die Frau schlief mit einer Hand auf dem Dolch, der in ihrem Gürtel steckte, aber trotz dieser Haltung wirkte ihr Gesicht friedlich. Im Schlaf wirkten die Linien, die ihr Zynismus um ihren Mund eingegraben hatte, weicher. Nediah sah sie noch einen Moment lang an, dann wandte er sich mit einstudiert ausdrucksloser Miene ab.
Kyndra beschäftigte ihre Hände damit, Frühstück zu machen, und wich den Blicken aus, die sie auf sich spürte. Auf der einen Seite war es töricht, dreist ins Unbekannte zu marschieren, ohne etwas über die herrschenden Mächte oder die Politik von Acre zu wissen. Aber es wäre noch schlimmer, in Mariar zu bleiben. Was, wenn Acres Vorstellung von einer Begrüßung darin bestand, zuerst einzumarschieren und später Fragen zu stellen? Hunderttausende Leben hingen davon ab, was sie als Nächstes unternahm.
„Wie fühlst du dich heute?“
Nediah war herangetreten und ragte über ihr auf. Die Sonnenkräfte leuchteten ihm aus den Augen. Er war für die Reise gekleidet und sah fast genauso aus wie bei ihrer ersten Begegnung in Brenwym, als ihre einzige Sorge ihr bevorstehendes Erbfest gewesen war. Kyndra sah in sein vertrautes Gesicht, und ein Teil der Anspannung in ihrer Magengrube löste sich. „Gut.“ Sie lächelte.
Nediah wirkte nicht überzeugt. „Du bist den größten Teil der Nacht wach gewesen“, sagte er tadelnd.
Sie versuchte zu ignorieren, dass ihre Augen vor Müdigkeit prickelten. „Ich habe keine Ahnung, was ich tue, Nediah“, gestand sie und achtete darauf, leise zu sprechen. „Alle warten darauf, dass ich Entscheidungen treffe, aber ich habe nicht die geringste Ahnung davon, eine Mission anzuführen, oder von Armeen und Politik und alldem.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin die Tochter einer Wirtin, keine Strategin.“
Nediah musterte sie eine Weile, bevor er antwortete. „Du traust dir nicht genug zu, Kyndra. Du hast die Lösung gefunden, um den Wahnsinn daran zu hindern, jeden Wirker in der Zitadelle zu töten. Du hast Mariar vor den Einschlägen gerettet.“
„Der Wahnsinn war meine Schuld“, erinnerte sie ihn bitter. „Hätte es nicht zwei Sternengeborene auf der Welt gegeben …“
Jetzt war es an Nediah, den Kopf zu schütteln. „Mach dir keine Vorwürfe, weil du existierst. Ebenso gut könntest du Medavle die Schuld geben, weil er sich in deine Zeugung eingemischt hat. Und die Einschläge wurden ohnehin schlimmer. Brégenne und ich haben gesehen …“ Er verstummte, als hätte ihr Name ihm die Sprache verschlagen. „Es war nicht deine Schuld“, sagte er nach kurzem Schweigen leise.
„Aufgepasst, Ned!“
Nediah erstarrte und fuhr gerade noch rechtzeitig herum, um das Brot aufzufangen, das Kait ihm zuwarf. Er sah sie undeutbar an und ließ die Hand mit dem Brot sinken. Kyndra musterte die beiden und spürte die Anspannung, die in der Luft lag. Schließlich ließ sich Nediah auf dem Boden nieder, und Kyndra reichte ihm hastig eine Blechtasse mit Tee.
Irilin war aufgestanden und sah über das Tal hinaus. Sie erschauerte einmal und wandte sich ab. „Da … da unten ist etwas“, erklärte sie zögernd. „Irgendetwas fühlt sich nicht richtig an.“
Kyndra sah zu dem roten Landstreifen hinüber. Er war nicht breit, aber lang, und lief an einem bewaldeten Hügelkamm an seinem westlichen Ende spitz zu. Reglos saß sie da, blendete die Gespräche der anderen aus und horchte.
Nur unheimliche Stille schlug ihr entgegen.
Shika kam auf die beiden zu. „Was glaubt ihr, was Gareth wohl gerade tut?“
„Es ist kaum einen Tag her, Shika.“ Irilin zog eine Augenbraue hoch. „Du vermisst ihn jetzt schon?“
Shika errötete. „Nein. Ich hatte nur überlegt. Ich hoffe, Meisterin Brégenne findet eine Möglichkeit, ihm den Panzerhandschuh abzunehmen. Bevor wir aufgebrochen sind, sagte Gareth, er fühle sich anders an.“
„Ich kann nicht glauben, dass ihr beiden so dumm wart, ihn aus dem Archiv zu stehlen“, befand Irilin. „Habt ihr nicht daran gedacht, dass er vielleicht aus gutem Grund weggeschlossen war?“
„Na schön, wir haben einen Fehler gemacht“, gab Shika zurück. „Gareth sollte nicht dafür leiden müssen.“
„Kyndra“, rief Nediah, und sie drehte sich um.
Die anderen starrten sie erwartungsvoll an; Kait mit verschränkten Armen, und Medavles dunkle Augen wirkten distanziert. Er war ein vollkommen anderer als noch vor einem Monat, so als wäre die glühende Rachsucht, die ihn fünfhundert Jahre lang angetrieben hatte, mit Kierik gestorben. Kyndra gefiel es nicht, wie er sie jetzt ansah, als erinnere sie ihn ständig daran, dass der letzte Sternengeborene die Frau, die Medavle liebte – eine Yadin –, getötet hatte. Ich bin nur Euretwegen hier, dachte Kyndra, ich bin hier, weil Ihr Kierik tot sehen wolltet.
„Wenn wir uns ein Bild von Acres Infrastruktur machen wollen“, erklärte Nediah, worauf sie mit einem Ruck in die Gegenwart zurückkehrte, „brauchen wir als Erstes Karten. Wir müssen uns eine Vorstellung von Acres Geografie und seinen großen Städten machen. Medavle sagt, dass seine Erinnerungen dazu nicht ausreichen.“
Karten. Wenn sie eine richtige Anführerin wäre, hätte sie früher darauf kommen müssen. Kyndra spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. „Natürlich“, sagte sie.
„Viele der Städte, an die ich mich erinnere, werden sicherlich nicht mehr existieren“, sagte der Yadin, „aber die Region jenseits des Tales hieß Baior. Größtenteils Ackerland, keine großen Ansiedlungen.“
„Wir müssen wissen, wer das Sagen hat“, fuhr Nediah fort, „ob es Sartya ist oder eine andere Macht. Nutzen sie die Technologie, an die sich Medavle erinnert? Was ist mit Wirkern und ihrer Rolle hier?“ Der Wirker zählte die Fragen an den Fingern ab und breitete dann die Hände aus. „Wir wissen nicht einmal, ob wir dieselbe Sprache sprechen. Wenn es unser höchstes Ziel ist, Mariars Interessen zu wahren, müssen wir wissen, was wir in eine mögliche Allianz einbringen können.“
Blinzelnd sah Kyndra ihn an und kam sich mit jeder Sekunde dümmer vor. Sie sollte diejenige sein, die diese Fragen stellte. Offensichtlich würde Nediah den besseren Anführer abgeben; sie konnte es den anderen von den Gesichtern ablesen. Zorn flammte in ihr auf. Warum hatten sie ihr dann diese Rolle übergestülpt?
Als klar wurde, dass sie auf eine Äußerung von ihr warteten, schluckte Kyndra ihre Gefühle herunter. „Dann müssen wir so vorgehen“, erklärte sie. „Solange wir uns verständigen können, müssten die ersten Menschen, auf die wir stoßen, in der Lage sein, viele unserer Fragen zu beantworten.“
„Was sollen wir sagen, wenn sie uns fragen, wer wir sind?“, fragte Irilin hinter ihr. „Wenn sich herausstellt, dass wir nicht dieselbe Sprache sprechen, werden sie niemals glauben, dass wir aus Acre kommen.“
Kyndra sah, wie Nediah den Mund öffnete, und kam ihm rasch zuvor. Sie hatte etwas beizutragen. „Lasst uns diese Hürde angehen, wenn es so weit ist. Keine Stadt und kein Dorf in der Nähe können Mariar übersehen haben.“ Noch während sie das sagte, spürte sie einen erneuten Anflug von Besorgnis. Es war eigenartig, dass noch niemand gekommen war, um Nachforschungen anzustellen. Sie wünschte, sie wüsste, warum.
„Dann lasst uns aufbrechen“, erklärte Kait entschieden und ging ihr Pferd satteln.
Bevor sich Kyndra um ihr eigenes Reittier kümmerte, sprach sie Nediah an. „Danke“, sagte sie so leise, dass die anderen es nicht hörten. Statt den Wirker anzusehen, starrte sie Onkels Flanke an. „Ich kann so etwas nicht so gut.“
Nediah fragte nicht, was sie meinte. „Du schlägst dich gut“, sagte er, und Kyndra sah zu ihm auf. Die Morgensonne ließ die goldenen Flecken in seinen Augen aufleuchten, und eine Erinnerung stieg in ihr auf: Sie hatte neben ihm und Brégenne gesessen, während er ihnen mit seinen Sonnenkräften Frühstück kochte. Brégenne, das wusste sie noch, hatte das entschieden missbilligt.
„Es tut mir leid, dass ich Euch von Brégenne fernhalte“, sagte sie spontan und bereute es dann, als sich Nediahs Miene verhärtete.
„Naris zu verlassen, war meine Entscheidung“, erklärte er.
Kyndra spürte einen Kloß im Hals. „Danke, dass Ihr mit mir gekommen seid.“
Nediah tätschelte ihre Schulter, aber das Lächeln, mit dem er ihres erwiderte, war gefährlich nah daran zu verrutschen. „In deiner Nähe ist das Leben jedenfalls immer interessant.“
Kait beobachtete die beiden. Sie musterte Nediah oft, und Kyndra spürte plötzlich den starken Drang, ihn beschützen zu müssen. Sie hatte das Versprechen, das sie Brégenne gegeben hatte, nicht vergessen; in der Nacht, als Nediah und sie Kait in die Tiefe begleitet hatten. Ich passe auf ihn auf. Und das würde sie, schwor sich Kyndra und warf Kait einen feindseligen Blick zu, bevor sie auf ihr Pferd stieg.
Sie brauchte zwei Versuche, um aufzusteigen, und nicht zum ersten Mal fragte sie sich, warum Medavle ihr so ein großes Pferd ausgesucht hatte. Der schwarze Hengst tänzelte unruhig unter ihr. Er sollte einen Namen bekommen, dachte Kyndra. Vielleicht etwas aus den alten Legenden.
Als sie an der Spitze der Gruppe in das Tal hinunterritt, kamen hinter ihr Gespräche auf, was die Atmosphäre aufhellte. Ihre Gefährten schienen vergessen zu haben, dass sie letzte Nacht fast geröstet worden waren. Kyndra war sich nicht sicher, ob sie dankbar oder verärgert sein sollte. Was, wenn es ohne Vorwarnung wieder geschah? Was, wenn sie alle verbrannte, während sie schliefen?
Das solltest du auch.
Sigel glühte plötzlich in ihrem Kopf wie ein Schmelzofen. Kyndra versuchte, den Stern zum Schweigen zu bringen, aber sie konnte ihn nicht ganz verdrängen. Sei still, fauchte sie ihn an und ballte die Fäuste. Lass mich in Frieden.
Der Pfad war so breit, dass zwei Personen nebeneinanderreiten konnten, und sie fand sich neben Irilin wieder. Die gefleckte Stute der Novizin passte viel besser zu ihrer Größe. Heute Morgen fiel Irilins langes Blondhaar über ein Lederwams und ein Hemd, dessen Ärmel bis zu den Ellbogen hochgerollt waren. Das Glühen, das vom Boden ausging, warf einen rosigen Schein über ihre blassen Wangen.
Ich sollte aufhören, von ihr als Novizin zu denken. Indem sie beschlossen hatten, Naris zu verlassen, hatten sowohl Irilin als auch Shika die Chance geopfert, ihre Wirker-Ausbildung abzuschließen. In den Augen der Zitadelle würden sie niemals Meister werden. Überlegt es euch gut, hatte Alandred zu ihnen gesagt, als er von ihrem Wunsch erfuhr, Kyndra nach Acre zu begleiten.
Kyndra warf ihrer Freundin einen Seitenblick zu. Sie war sich ganz und gar nicht sicher, ob die Novizen sich alles wirklich gut überlegt hatten, aber sie konnte nicht abstreiten, dass sie froh über ihre Gesellschaft war.
Als sie die Talsohle erreichten, war die Sonne vollständig aufgegangen. Mit Irilin an ihrer Seite musterte Kyndra die unwirtliche Umgebung. „Das gefällt mir nicht“, erklärte die junge Frau und zog ihre Ärmel herunter, als friere sie.
„Mir läuft es auch kalt den Rücken hinunter“, meinte Shika zustimmend, und Kyndra versuchte, ihre eigenen Befürchtungen nicht laut auszusprechen. Sie fragte sich, was Medavle damit gemeint hatte, die Erde erinnere sich. Von hier aus wirkten die vielen kleinen Erhebungen in dem Tal wie blutgetränkte Steinhaufen. Kyndra schüttelte den Kopf und versuchte, das Bild zu vertreiben.
Kait schnaubte angesichts ihrer Besorgnis verächtlich und trieb ihre Stute an. Das Pferd wieherte, als seine Hufe den roten Staub aufwirbelten. Kyndra musterte den Rücken der Frau und fragte sich, warum sie mitgekommen war. Suchte sie nach dem Tod ihres Herrn nach einem neuen Lebenssinn? Fünfzehn Jahre lang, seit sie vor den aufständischen Wirkern, den Nerian, einen Eid geschworen hatte, war sie Kieriks Hüterin gewesen. Nun, da zwischen den beiden Fraktionen ein angespannter Friede herrschte, hatte Kait vielleicht das Gefühl, eine neue Aufgabe zu brauchen. Kyndra warf Nediah einen Blick zu. Auch er sah Kait an und hatte die Stirn in tiefe Falten gelegt.
Sie drangen weiter in das Tal vor, und nach und nach verstummten die Gespräche. Etwas an diesem Ort hielt einen vom Sprechen ab. So, wie man bei einem Begräbnis nicht redet, dachte Kyndra mit einem leichten Schauder. Kein Wind wehte, kein Tier rief. Untermalt nur vom Knarren und Klirren der Pferdegeschirre war ihre kleine Gruppe das Einzige, was sich bewegte. Die Wolken schienen am Himmel festgenagelt zu sein, und die Sonne hing trübe und schwer über ihren Köpfen.
Trotz ihres Unbehagens trafen sie auf nichts weiter als die kränklichen, verkrüppelten Büsche, die zwischen den Erdhügeln wuchsen. Zwei Stunden später, kurz vor dem Verlassen des Tals, stieß Kyndra den Atem aus, von dem ihr nicht klar gewesen war, dass sie ihn angehalten hatte. Irilin wirkte ebenfalls erleichtert und warf Kyndra ein schwaches Lächeln zu.
Dann ging vor ihnen Kait in Flammen auf.
Schreiend trieb Nediah sein Pferd hinter ihr her, doch als er sie erreichte, entzündete sich auch die Luft um ihn herum. Kaits Stute bäumte sich auf, und als sie verzweifelt nach den Zügeln griff, bockte das Tier und warf sie ab. Immer noch brennend wälzte sich Kait vor den schlagenden Hufen davon, sprang auf und schnappte sich den Zaum ihres Reittiers, bevor es durchgehen konnte.
Shika war der dritte, der zur menschlichen Fackel wurde. Er hatte es so eilig, vom Pferd zu steigen, dass er fast herunterfiel, und in seiner panischen Miene sah Kyndra die gleiche Verwirrung, die Kait und Nediah bewegte. „Was ist los?“, schrie er.
Wenn jemand sie jetzt sähe – drei in Flammen gehüllte Gestalten –, hätte er mit Fug und Recht glauben können, in einen Albtraum geraten zu sein. Aber Kyndra war an den grellen, goldenen Schein gewöhnt, den die Sonnenwirker um sich herum schaffen konnten. „Warum setzt ihr eure Kräfte ein?“
„Kann nicht anders“, stöhnte Kait mit verzerrter Miene. „Es … lässt sich nicht … stoppen.“
Nediahs Blick schlug von Verwirrung zu Entsetzen um. „Etwas zieht sie her“, sagte er, und seine grünen Augen huschten über die öde Landschaft. „Ich spüre, wie es mich benutzt. Wie eine Leitung.“
Irilin saß verkrampft auf ihrer Stute, doch soweit Kyndra sehen konnte, passierte dem schmalen Mädchen nichts. „Ich spüre etwas“, sagte Irilin. „Wie Hände in meinem Kopf.“ Ihre Augen wurden groß, und sie erschauerte. „Ich glaube, es weiß, dass ich Mondkräfte lenken kann, aber es kann sie nicht erreichen, solange die Sonne am Himmel steht.“
Da erblickte Kyndra den Schädel, der halb verborgen zwischen Dornenranken lag, die sich durch von der Zeit abgeschliffene Augenhöhlen schoben. Sie sah sich um. Nach dem ersten war es unmöglich, die anderen nicht zu sehen.
Sie befanden sich mitten in einem Feld voller Knochen. Halb im Boden begraben und gebleicht, das Fleisch schon lange nicht mehr da. Finger griffen durch den Sand; Schienbeine, Oberschenkelknochen und Schulterblätter lagen ohne Sinn und Verstand überall verstreut. Kyndra verfolgte die Wölbung einer menschlichen Wirbelsäule, die an die Oberfläche kam, sich krümmte und wieder unter der Erde verschwand wie eine Sandschlange. Kalter Schweiß lief ihr den Nacken hinunter.
„Das sind Knochen“, erklärte sie finster, aber Medavle hatte sie schon gesehen.
„Verschwindet von hier“, sagte er. „Bewegung.“ Sein warnender Ton war für Kyndra nicht zu überhören. Kait und Shika versuchten verzweifelt, ihre Pferde zu beruhigen, aber je heller die Wirker brannten, desto panischer wurden ihre Reittiere.
„Wir müssen sie führen“, erklärte Kait mit zusammengebissenen Zähnen, während sie sich bemühte, ihr Pferd in Zaum zu halten. „Vielleicht hört es ja auf, wenn wir das Tal verlassen.“
Kyndras Hengst schienen die drei brennenden Gestalten nicht zu beeindrucken. Dankbar tätschelte sie ihn, und er ging langsam los, ohne dass sie ihn anzutreiben brauchte. Sie brachten noch eine halbe Stunde hinter sich, aber sie bewegten sich langsam, und das Gelände war schwierig. Jetzt stiegen sie die weglosen, steilen Hände hinauf. Shikas Atem ging schwer, und Kyndra hörte, wie er die dicke Luft ruckartig einsog. Sein Gesicht wurde sichtlich blasser. Kait und Nediah hielten sich besser, aber beide wirkten mitgenommen.
„Lange halte ich das nicht mehr aus“, krächzte Nediah nach weiteren zehn Minuten. „Ich habe noch nie so lange so viel Energie erzeugt.“
„Meister … Meister Rush hat uns erklärt, wir könnten ausbrennen, wenn wir … zu viel Energie erzeugen“, keuchte Shika. „Das ist doch nicht wahr, oder?“ Zum ersten Mal wirkte er wirklich verängstigt.
Nediah schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht.“
Kyndra fühlte sich hilflos. Sie warf Irilin einen Blick zu und sah, dass ihre Freundin die Zügel so fest umklammerte, dass ihre Knöchel weiß wirkten. Medavles Blick schweifte auf der Suche nach ihrem unsichtbaren Angreifer hektisch über die Landschaft.
Dann verloschen die Flammen wie von unsichtbarer Hand gelöscht, und die drei Wirker sackten in sich zusammen wie Marionetten, denen man die Fäden durchschnitten hat.
Die Luft explodierte.

Lucy Hounsom

Über Lucy Hounsom

Biografie

Lucy Hounsom arbeitet als Buchhändlerin für Waterstones. Sie hat einen BA in English & Creative Writing von der Royal Holloway University of London. Ihren Master in Creative Writing machte sie bei Sir Andrew Motion. „Naris. Die Legenden von Mond und Sonne“ war ihr erster Roman, mit »Naris. Das...

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