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Adventsgeschichte 7. Dezember

Rosas Weihnachten

von Julia Neumann

Rosa zupfte den BH unter ihrem Ausschnitt zurecht und schaute zufrieden in den Spiegel. Die körperformende Unterwäsche war ihr Geld wert gewesen. Es hatte zwar eine Weile gedauert, bis sie den engen Unterrock über ihre Hüften bis kurz über die Taille gezogen hatte, aber die einzelnen Röllchen, die sich normalerweise unter ihren T-Shirts abzeichneten, wirkten jetzt schon viel fester. Sie machte ein paar kleine Drehungen, der Rock ihres roten Kleides schwang freudig hin und her, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Eine zynische Stimme in ihrem Kopf nölte sofort los: „Mit dir will doch sowieso niemand tanzen. Warum sollte es dieses Jahr anderes sein als in den letzten?“ Aber genau das war Rosas Hoffnung: dass es dieses Jahr anders werden würde. Das war jetzt ihre sechsundzwanzigste Weihnachtsfeier in der Versicherung, bei der sie nach der Ausbildung angefangen hatte. Wie viele Kollegen hatte sie schon gemeinsam auf der Toilette verschwinden und kurze Zeit später verstohlen grinsend und mit derangierten Kleidern wiederauftauchen sehen. Irgendwann musste sie doch auch einmal Glück haben. Und um dieses Jahr ein wenig nachzuhelfen, hatte sie vorgesorgt. Schon im August, als es so schön warm war und die Pärchen händchenhaltend durch die Straßen spazierten, hatte sie begonnen, im Internet zu recherchieren. Und sie war fündig geworden…

Nervös stand sie am Rand der Tanzfläche, auf der ihre Kollegen schon eifrig flirteten und eine Menge Spaß zu haben schienen. Sie überlegte kurz, ob sie sich vielleicht auch so einen Rentierhaarreifen hätte kaufen sollen, wie er bei den jüngeren Kolleginnen auf der Tanzfläche sehr beliebt zu sein schien. „Als ob das irgendwas ändern würde…“, zischte ihre zynische innere Stimme. Sie schaute sich um. Eine Kollegin trug sogar Engelflügel über ihrem knappen schwarzen Kleidchen. Und Nikolausmützen gab es zu dutzenden. Einer hatte sogar ein vollständiges Weihnachtsmannkostüm angezogen. Sie nahm einen großen Schluck Prosecco. Schon wieder leer. Auf dem Weg zurück zur Bar merkte sie, dass es ihr schon ein wenig schwer fiel, geradeaus zu laufen. Egal. Alle anderen waren mindestens genauso betrunken wie sie. Sie nahm sich einen neuen Prosecco und leerte ihn fast in einem Zug. Die Gläschen waren aber auch wirklich klein. „Eine Cola“, hörte sie eine angenehm tiefe Stimme neben sich bestellen. Der Weihnachtsmann. Er lächelte sie an, als sie einen Rülpser unterdrückte. Er war zwar schon ein wenig älter, hatte aber sehr freundliche Augen. Was sollte es. Wenn sie darauf wartete, bis ein anderer den ersten Schritt machte, würde sie heute wieder alleine im Bett landen. „Prost“, erklärte sie mit dem Restschluck in ihrem Glas. Und auch der Weihnachtsmann hob sein Glas.
„Ich hab Sie hier noch gar nicht gesehen“, erklärte Rosa mutig. „In welcher Abteilung arbeiten Sie denn?“
„Ich bin für die Post zuständig“, erwiderte der Mann mit einem schwer zu definierenden Akzent. War ja klar. Der einzige Typ, der mit ihr sprach, war ´ne ausländische Aushilfskraft aus der Poststelle.
„Frohe Weihnachten“, sagte der Mann und wollte schon wieder gehen. Da schoss Rosas Hand nach vorne. Aushilfskraft hin oder her. Er war ein Mann. Und sie konnte sich nicht mehr erinnern, wann sie das letzte Mal Sex gehabt hatte.
„Noch ein Getränk! Bitte“, stammelte sie nervös.
Der Mann sah sie aus seinen gütigen Augen an. „Gerne“, sagte er.
„Was möchten Sie?“, fragte Rosa. Und der Mann schaute auf sein leeres Glas.
„Eine Cola bitte.“
Rosa drehte sich um, bestellte die Getränke und griff mit nervösen Fingern in ihre Handtasche. Heute Nacht würde sie nicht allein bleiben. Sie zog das Fläschchen mit dem Rohypnol hervor und kippte einen guten Schluck in die Cola. Dann drehte sie sich zum Weihnachtsmann um. „Auf alle Postboten“, erklärte sie.
Glücklich und zufrieden wachte Rosa am nächsten Morgen von einem Schnarchen neben sich auf. Verliebt betrachtete sie den Mann, mit dem sie die halbe Nacht den besten Sex ihres Lebens gehabt hatte. Es war ein wenig schwer gewesen, ihn ins Taxi zu kriegen, weil er die ganze Zeit über behauptete, dass er eine Kutsche auf dem Dach habe, die sie besser nehmen sollten. Vielleicht hatte sie irgendeinen Fehler bei der Dosierung der Tropfen gemacht. Aber irgendwann hatte er den Widerstand aufgegeben. Leise stand sie auf, um schnell zur Toilette zu gehen. Sie machte das Licht im Badezimmer an und automatisch schaltete sich das Radio ein, das der Vormieter schon mit dem Lichtschalter verbunden hatte. Sie war nie dazu gekommen, die Installation abzubauen und hatte sich inzwischen daran gewöhnt, jeden Morgen alle Konflikte der Welt aus den Nachrichten mit unter ihre Dusche zu nehmen. Eigentlich fand sie es sogar ganz schön, ein wenig Unterhaltung zu haben. Auch wenn sie persönlich einen anderen Sender gewählt hätte, vielleicht einen mit Schlagern, aber sie hatte nie herausgefunden, wie man den Sender wechselte, und war deswegen bei den Nachrichten geblieben. Heute Nacht schien etwas besonders Schlimmes passiert zu sein. Der Sprecher, der sonst jede Katastrophe vorlas, als handele es sich um einen Stau auf der Autobahn, wirkte ganz aufgeregt. Hysterische Kinder hatten in Horden bei der Polizei angerufen. Der Weihnachtsmann war verschwunden. Eine Expertenrunde nahm an, dass islamistische Terroristen es auf den Weihnachtsmann abgesehen und seinen Schlitten abgeschossen hatten. Ein Bündnis der Kohle- und Ölindustrie behauptete, Gerüchte gehört zu haben, nach denen der Weihnachtsmann auf Solarenergie umgestiegen sei und wies darauf hin, dass die flächendeckende Energieversorgung mit alternativen Energien eben bedauerlicherweise nicht gewährleistet sei, weder in der Stromversorgung noch bei wie auch immer gearteten Fahrzeugen. Der Vorsitzende der CSU schlug vor, dass doch der ehemalige Verfassungsschutzpräsident, mit seiner Erfahrung im Eindringen in die Privatsphäre anderer, geradezu prädestiniert dafür wäre, die Nachfolge des Weihnachtsmanns anzutreten. Es dauerte eine Weile, bis Rosa begriff, was passiert war. Offensichtlich hatte der Weihnachtsmann mitten in der Nacht aufgehört, seiner Aufgabe nachzugehen. Die Hälfte der Welt hatte pünktlich, wie jedes Jahr, ihre Geschenke bekommen. Die andere Hälfte – nichts. Irgendwo über Köln, mutmaßten die Verkehrsexperten, war es scheinbar zu einem Unfall mit seinem Schlitten gekommen. Zumindest deutete alles darauf hin, dass die Rentiere und der Schlitten, die man auf dem Dach einer Kölner Versicherung gefunden hatte, die des Weihnachtsmanns waren.
Rosa vergaß vor Schreck abzuziehen. Sie stürzte zurück in ihr Schlafzimmer, in dem der Weihnachtsmann friedlich schlummerte. Hinter ihr wurde weiter im Radio über den Zustand der Welt diskutiert. Dass jetzt selbst auf den Weihnachtsmann kein Verlass mehr war, schien selbst die hart gesottensten Personen des öffentlichen Lebens aus dem Konzept zu bringen. Sie überlegte einen Moment. Ging zurück ins Bad. Und stellte Licht und Radio aus.
Dann kroch sie wieder ins Bett. Was machte es schon, wenn ein paar Millionen verwöhnte Blagen noch ein paar Stunden länger auf ihre Geschenke warten mussten. Jetzt war sie dran. Sie griff nach dem kleinen Weihnachtsmann. Eine Runde musste noch drin sein. Das meinte sogar die zynische kleine Stimme tief in ihr drin.

Über die Autorin

Die Kölnerin Julia Neumann folgte nach ihrem Studium der Film-und Fernsehwissenschaft ihrer Leidenschaft fürs bewegte Bild und schreibt seit 2004 als Drehbuchautorin deutsche und internationale Krimi- und Thrillerformate für Film und Fernsehen. Inzwischen ist sie auch als Romanautorin tätig.

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