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Homer Literaturpreis - Gewinner und nominierte Romane

Sonntag, 07. April 2024 von Piper Verlag


Jørn Precht und Ulrike Fuchs stehen auf Shortlist für den Homer-Literaturpreis 2024

Bücher auf der Shortlist für den HOMER-Literaturpreis 2024

Wie die Jury des Vereins „Homer Historische Literatur“ verkündete, sind Ulrike Fuchs mit „Reporterin für eine bessere Welt“ und Jørn Precht mit „Die Heilerin vom Rhein“ für den Goldenen HOMER 2024 nominiert. Die Preisverleihung findet am 14. September erstmals in Lübeck statt. Der HOMER-Literaturpreis soll die Vielfalt der historischen Unterhaltungsliteratur fördern und wird an die besten deutschsprachigen Romane des Genres vergeben. Neben Ulrike Fuchs und Jørn Precht dürfen sich acht weitere Autor*innen Hoffnung auf den renommierten Preis machen. Der Literaturpreis „Goldener HOMER“ wird am Samstag, den 14. September, verliehen und besteht aus einer Medaille, einer Urkunde und einem symbolischen Geschenk. Zudem sind alle Nominierten eingeladen, ihre Romane im Rahmen des Leseabends des Literaturforum Lübeck am 13. September vorzustellen.

Blick ins Buch
Die Heilerin vom RheinDie Heilerin vom Rhein

Hildegard von Bingen – In der Naturheilkunde fand sie ihre Berufung, den Menschen zu helfen

Die Geschichte der ersten deutschen Heilerin: Hildegard von Bingen

Diözese Mainz, 12. Jahrhundert: Im Garten des Klosters Disibodenberg gedeihen unter Fürsorge der Nonne Hildegard allerlei Heilpflanzen. Sie forscht an diversen Mitteln, von Wundheilung bis Zahnhygiene – wer krank ist, klopft an ihre Pforte. Doch dem Abt sind ihre Experimente ein Dorn im Auge, er untersagt die weitere Herstellung von Heilmitteln aus Pflanzen. Hildegards Wissensdurst spornt sie an, trotzdem weiterzuforschen. Unermüdlich schreibt sie ihre Erkenntnisse über Glauben und Natur nieder und arbeitet auf ihr großes Ziel hin: ein eigenes Kloster, in dem jede Frau willkommen ist. Wird sie sich gegen die Konventionen ihrer Zeit durchsetzen können?

2023 wird der 925. Geburtstag Hildegard von Bingens gefeiert. Der Roman- und Drehbuchautor Jørn Precht lässt zu diesem Anlass die Geschichte der bis heute gefragten Heilerin aus dem Mittelalter noch einmal vor dem Auge der Leser:innen real werden und gewährt einen Blick auf die Wandlung der unterwürfigen Hildegard zu einer extrem emanzipierten Frau, die für ihre Überzeugungen einsteht.


Bedeutende Frauen, die die Welt verändern

Mit den historischen Romanen unserer Reihe »Bedeutende Frauen, die die Welt verändern" entführen wir Sie in das Leben inspirierender und außergewöhnlicher Persönlichkeiten! Auf wahren Begebenheiten beruhend erschaffen unsere Autor:innen ein fulminantes Panormana aufregender Zeiten und erzählen von den großen Momenten und den kleinen Zufällen, von den schönsten Begegnungen und den tragischen Augenblicken, von den Träumen und der Liebe dieser starken Frauen.

Weitere Bände der Reihe: 

  • Laura Baldini, Lehrerin einer neuen Zeit (Maria Montessori)
  • Romy Seidel, Die Tochter meines Vaters (Anna Freud)
  • Petra Hucke, Die Architektin von New York (Emily Warren Roebling)
  • Laura Baldini, Ein Traum von Schönheit (Estée Lauder)
  • Lea Kampe, Der Engel von Warschau (Irena Sendler)
  • Eva-Maria Bast, Die aufgehende Sonne von Paris (Mata Hari)
  • Eva-Maria Bast, Die vergessene Prinzessin (Alice von Battenberg)
  • Yvonne Winkler, Ärztin einer neuen Ära (Hermine Heusler-Edenhuizen)
  • Agnes Imhof, Die geniale Rebellin (Ada Lovelace)
  • Lea Kampe, Die Löwin von Kenia (Karen Blixen)
  • Eva Grübl, Botschafterin des Friedens (Bertha von Suttner)
  • Laura Baldini, Der strahlendste Stern von Hollywood (Katharine Hepburn)
  • Eva-Maria Bast, Die Queen (Queen Elizabeth II.)
  • Agnes Imhof, Die Pionierin im ewigen Eis (Josephine Peary)
  • Ulrike Fuchs, Reporterin für eine bessere Welt (Nellie Bly)
  • Anna-Luise Melle, Die Meisterin der Wachsfiguren (Marie Tussaud)
  • Petra Hucke, Die Entdeckerin des Lebens (Rosalind Franklin)
  • Eva-Maria Bast, Sisis Schwester (Sophie Charlotte in Bayern)
  • Elisa Jakob, Die Mutter der Berggorillas (Dian Fossey)
  • Eva-Maria Bast, Queen Mum (Elizabeth Bowes-Lyon)
  • Yvonne Winkler, Kämpferin gegen den Krebs (Mildred Scheel)
  • Lena Dietrich, Die Malerin der Frauen (Artemisia Gentileschi)
  • Laura Baldini, Die Pädagogin der glücklichen Kinder (Emmi Pikler)

TEIL I

Anno Domini 1136

1. Kapitel

Die betörende Melodie kam irgendwo aus dem üppigen Grün. Hier, wo der Fluss Glan in die Nahe mündete, war das Land äußerst fruchtbar. An diesem Hochsommertag hatte man Elisabeth, die alle nur Lieschen nannten, zum Beerensammeln geschickt. Die Zehnjährige hielt inne, als sie den himmlisch klingenden Gesang hörte. Neugierig folgte das Kind der unbekannten hohen Stimme. Vorsichtig linste es durch einen Busch – und erblickte eine Nonne. Die schlanke Frau mochte ungefähr zehn Jahre älter sein als Lieschens Mutter, also Mitte dreißig. Die Haarfarbe war nicht zu erkennen, da die Klosterschwester Ordenskleidung mit Schleier trug. Man nannte diese schlichten Gewänder „Habit“ – das wusste Lieschen von den Leuten auf dem Hof des Freibauern. Dort arbeitete ihre Mutter Griseldis als Magd, und auch das Kind musste schon auf dem Acker und in den Ställen mithelfen. Sein Vater war Stallknecht gewesen – doch der Tod hatte ihn so früh ereilt, dass Lieschen sich nicht an ihn erinnern konnte.

Die Nonne pflückte einige Pflanzen und sang dabei weiter, in dieser geheimnisvollen Zaubersprache der Kirche, die das Mädchen nicht verstand.

Plötzlich unterbrach die Christusbraut ihr Lied und blickte genau in Lieschens Richtung.

„Guten Morgen, junges Fräulein“, grüßte sie freundlich lächelnd. „Suchst du auch nach Heilpflanzen?“

Lieschen war so erstaunt über die Frage, dass sie ganz vergaß davonzulaufen, stattdessen trat sie aus dem Gebüsch.

„Nein, ich suche nach Beeren“, antwortete sie wahrheitsgemäß.

Sie konnte nun sehen, dass die Klosterfrau leuchtend blaue Augen hatte. „Meine Mutter sagt, Kamille hilft gegen Bauchweh. Können auch andere Pflanzen heilen?“

„O ja, man muss nur herausbekommen, welche von ihnen gegen welches Leiden helfen“, erklärte die Nonne. „Das alles verdanken wir der Viriditas.“

„Vi-ridi-tas?“, wiederholte Lieschen. „Ist das Lateinerisch?“

Die Nonne schmunzelte. „Ja, Lateinisch, genau. Viriditas bedeutet Grünkraft – diese Macht ist ein Gottesgeschenk.“ Sie ließ ihren Blick zufrieden über die üppige Landschaft der zwei Flusstäler und die gegenüberliegenden bewaldeten Höhen schweifen. Dann sah sie dem Mädchen wieder in die Augen. „Ich bin übrigens Hildegard von Bermersheim. Und du?“

„Ich bin Elisabeth … von Freibauer Burkhards Hof drüben. Aber alle sagen Lieschen zu mir“, antwortete sie.

„Dann nenne ich dich auch so“, schlug Schwester Hildegard vor. „Möchtest du mich zum Kloster begleiten? Vor unserer Frauenklause gibt es nämlich einige Beerensträucher.“

Lieschen konnte ihr Glück kaum fassen, denn bisher war die Suche eher erfolglos gewesen. „Aber braucht Ihr und Eure Schwestern die Beeren nicht selbst?“

„Ach, wir haben innen im Klausengarten genug Sträucher mit Holunder und Johannisbeeren“, entgegnete die Nonne abwinkend. „Die an der Außenmauer sind noch recht voll.“

Wahrscheinlich traute sich niemand, Beeren unmittelbar an einem Kloster zu pflücken, dachte Lieschen, aber sie selbst hatte nun ja die ausdrückliche Genehmigung dafür. „Dann begleite ich Euch gern, es ist ja gar nicht weit. Habt Ihr denn genug Heilpflanzen gefunden?“

„Ja, Wollkraut, Anis und Mutterkraut“, bestätigte Hildegard, während sie nebeneinander auf die Klosteranlage zugingen.

„Warum heißt der Disibodenberg eigentlich so seltsam?“, fragte Lieschen.

„Er ist nach dem heiligen Disibod benannt“, erzählte die Nonne. „Das war ein irischer Mönch, der vor knapp fünfhundert Jahren viel gewandert ist um Christi willen. Nachdem er dessen müde war, fand er hier eine letzte Bleibe. Als er seinen Wanderstab neben einer Quelle in den Boden steckte, trieb der Blüten.“ Sie machte die Bewegung des ausschlagenden Baumes mit den Armen nach. „Darin erkannte der alte Mönch ein göttliches Zeichen. Deshalb errichtete er unterhalb der Bergkapelle eine Einsiedelei. In dieser ärmlichen Hütte hat er dann seinen Lebensabend verbracht. Er hat sein ganzes Leben in vorbildlicher Weise Gott gewidmet. Seine Überreste liegen noch heute im Männerkloster.“

Der Berg war also ein Ort der Wunder? Lieschen fiel wieder ein, dass der Freibauer einmal gesagt hatte, es gebe keine Wunder. „Ein wahres Wunder wäre es, wenn mein Gesinde einmal fleißig arbeitet, ohne dass ich es dazu ermahnen muss.“

Lieschens Blick fiel auf Schwester Hildegards Kräutersäckchen. „Ich hab gar nicht gewusst, dass Nonnen sich mit Heilpflanzen auskennen.“

In der Tat war sie davon ausgegangen, dass die Menschen im Kloster den größten Teil der Zeit beteten und in kostbaren Kopien der Heiligen Schrift lasen, die zu erstellen laut Lieschens Mutter Jahre dauerte.

„Eigentlich hat uns der Abt die Heiltätigkeit tatsächlich verboten“, gestand Hildegard, „und unsere Vorsteherin in der Frauenklause ist auch nicht begeistert von ihr.“

„Aber wieso?“, wunderte sich das Mädchen. „Leute gesund zu machen ist doch etwas Gutes.“

„Ja, trotzdem hat man die klösterliche Heilkunst bei der Synode von Clermont vor sechs Jahren verboten“, berichtete Hildegard.

„Was ist eine Synode?“, hakte das Kind nach.

„Ein Treffen von ganz wichtigen Männern der Kirche. Unter anderem werden dort neue Regeln und Verbote festgelegt.“

Lieschen verstand das Verhalten der Geistlichen noch immer nicht. „Aber wieso wollen die Männer keine Medizin? Die werden doch auch mal krank.“

„Sie schätzen wohl allein die Heilkräfte eines demütigen Gebets. Viele Kirchenfürsten meinen, Gott allein sei für die Heilung zuständig. Und unsere Vorsteherin Jutta findet das ebenfalls“, sagte Hildegard und beugte sich verschwörerisch zu ihrer kleinen Begleiterin hinunter.

„Aber das meint Ihr nicht?“

Die Nonne schüttelte den Kopf. „Ich denke, Gott hat uns die Pflanzen geschenkt, damit wir uns selbst emsig damit helfen. Deshalb habe ich mir vom alten Bruder Antonius heimlich zeigen lassen, wie man aus den Kräutern im Garten und am Fluss Heilmittel braut. Er war früher der Infirmar.“

Immer diese Kirchensprache, dachte Lieschen und fragte: „Was ist ein Irfir…“

„Er war vor dem Verbot für die Kranken und den Klostergarten zuständig. Ich habe im Stillen dann auch lange selbst in Gottes Schöpfung geforscht – und mittlerweile kann ich Pflaster fertigen, Salben und Tinkturen rühren. Gestern hat mir einer der Mönche anvertraut, dass er unter peinlichen Blähungen leidet.“ Sie deutete auf ihr Beutelchen mit den eben gepflückten Pflanzen. „Und ein Sitzbad mit diesen drei Kräutern hilft dagegen. In dem Fall kommt die Heilkunde also auch Abt Folkard und seinen Brüdern zugute. Sie sorgt schließlich für … frischere Luft im Kloster.“

Lieschen musste kichern. Da ließ ein Knacken aus dem Waldrand sie herumfahren. Ein riesiger Bär brach aus dem Gestrüpp hervor! Das Mädchen stieß einen spitzen Schrei aus und stolperte zurück, Hildegard stand ganz starr da.

„Beweg dich auf keinen Fall!“, wisperte die Nonne und umschloss die Hand des Kindes fest mit der ihren. „Bleib ganz ruhig stehen, zeig ihm keine Angst!“

Der Bär kam knurrend und schnaufend nähergetrottet. Lieschen fühlte sich mit einem Mal wie in einem Albtraum. Warum nur war keiner der starken Knechte in der Nähe? Sie hätten das große Tier mit ihren Mistforken in die Flucht geschlagen. Ja, zu Hause, zu Hause. Nur nicht an den Bären denken! Zitternd sah Lieschen geradeaus, fühlte, wie das große Tier an ihren Füßen schnüffelte, spürte den heißen, feuchten Atem. Würde es nun gleich seine Tatzen und Zähne in sie schlagen? Sie war einer Ohnmacht nahe. Plötzlich kam der Bär wieder in ihr Gesichtsfeld: Er richtete sich vor Hildegard auf! Dann legte er der Betschwester eine Pranke auf ihre Schulter. Was sollte Lieschen tun? Wie konnte sie der armen Nonne bloß helfen? Das ungeheure Gewicht des Tiers musste die zerbrechliche Frau jeden Augenblick umwerfen, und dann wäre es gewiss um sie geschehen! Hildegard tat derweil etwas völlig Unglaubliches: Sie grub ihre rechte Hand in das Fell hinter den Ohren des Bären. Er wandte ihr die Schnauze zu, und sie sah ihm in die Augen: Das Tier gab ein schauerlich kehliges Brummen von sich, welches Lieschen durch Mark und Bein ging. Es klang fast klagend und seltsam weinerlich.

Bitte, lieber Gott, hilf uns! Ich werde auch nie mehr ungehorsam gegen meine Mutter sein!, dachte Lieschen.

Da ließ der Bär von der Nonne ab, trottete zurück in den Wald. Hildegard, nass im Gesicht, folgte dem Tier mit ihrem Blick. Dann wandte sie sich dem zitternden Kind zu. „Geht es? Kannst du laufen?“

Obwohl sie sich nicht sicher war, ob sie dazu wirklich in der Lage war, nickte Lieschen. Doch an der Hand der Nonne gelangen ihr dann tatsächlich kleine, wackelige Schritte. Die Angst verließ das Kind dennoch nicht. Selbst, als sie mit Schwester Hildegard an dem kargen Steingebäude auf dem Disibodenberg angekommen war, zitterte Lieschen noch. Die Frauenklause war an die Klosterkirche der Mönche gebaut worden. Anders als die meisten Gebäude des Männerklosters war das der Nonnen nicht von Baugerüsten umgeben. Und Hildegard hatte nicht zu viel versprochen: Die Sträucher an der Mauer der Klause waren voll von kleinen roten und dunklen Beeren. „Den schwarzen Johannisbeerstrauch nenne ich auch den Gichtbaum“, erläuterte sie, „seine Früchte schützen nämlich vor Knochenschmerzen und Altersvergesslichkeit.“

„Euer Haus hat ja nur zwei Fenster“, stellte Lieschen fest.

„Ja, das vergitterte oben im Schlafsaal ist für frische Luft. Ganz am Anfang gab es hier keine Vordertür. Aber wir konnten nicht alles in unserem ummauerten Gärtchen anbauen und hatten kein eigenes Vieh. Deshalb wurde uns, was wir sonst brauchten, durch das zweite Fenster hier unten gereicht.“

„Meine Mutter hat erzählt, dass hier viele Menschen herkommen und Eure Meisterin Jutta um Rat fragen“, erinnerte sich das Mädchen.

Hildegards Miene wurde ernst. „Früher zumindest, und sie fand stets strenge Worte. In der Klause selbst spricht sie aber nur das Nötigste.“

Während sie nun zusammen Beeren pflückten, sah Lieschen immer wieder beunruhigt zum Waldrand hinüber. „Warum hat uns der Bär wohl nicht gebissen?“

„Ich weiß es nicht“, gab die Nonne zu. „In seinem Blick war etwas … Trauriges. Gott offenbart sich durch seine Schöpfung. Aber was er uns durch diesen Bären mitteilen wollte … Zum Glück hat niemand mitbekommen, dass ich dort draußen in Gefahr geraten bin. Eigentlich darf ich die Klause nämlich gar nicht verlassen. Ich bin hier vor über zwanzig Jahren eingemauert worden.“

Lieschen sah erschrocken auf, und die Nonne ergänzte: „Aber in unserem vierten Jahr bekamen wir diese Tür – zum Glück, denn in unserem kleinen Garten wachsen ja, wie gesagt, nicht alle Heilpflanzen. Anfangs nutzte ich jeden freien Augenblick zwischen den Gebeten, um die neue Klausentür von außen zu betrachten. Ich habe oft liebevoll über ihr frisches Holz gestrichen, es roch nach Harz, nach der Freiheit endloser Märchenwälder. Und natürlich habe ich mir heimlich das Kloster von außen angeschaut.“

Lieschen blickte eingeschüchtert an der Mauer der Klause hinauf. „Warum hat man Euch hier eingesperrt? War das eine Bestrafung?“

Hildegard schüttelte den Kopf. „Du weißt doch, dass Bauer Burkhard jedes Jahr den zehnten Teil seiner Ernte an den Landbesitzer abgeben muss?“

Das Mädchen nickte eifrig. „Ja, da ärgert er sich immer sehr.“

Im Gegensatz zu Hörigen oder Leibeigenen durfte Burkhard als Freibauer seinen Wohnort, sein Eheweib und sein Gesinde selbst wählen. Da er den Großteil seines Landes aber von einem Grundherrn gepachtet hatte, musste auch er Abgaben an diesen abführen.

„Er sagt, der Lehnsherr ist ein gieriger Halsabschneider.“

Die Nonne schmunzelte. „Siehst du, und weil ich ihr zehntes Kind war, haben mich meine Eltern mitsamt meiner Aussteuer Ihrem Herrn gegeben. Sie sind von hohem Stand und besitzen selbst Land, deshalb ist Gott ihr Herr.“

Lieschen war so erstaunt, dass sie endlich den Bären vergaß. Ein kleines Mädchen als Ernteanteil für die Kirche? „Ach so, dann seid Ihr Nonne, weil Ihr die Zehnte seid?“

„Genau. Schon als ich etwa so alt war wie du sollte ich auf das spätere Nonnenleben vorbereitet werden. Und als ich vierzehn war …“

In diesem Augenblick öffnete sich eine in der Klausentür angebrachte Sprechluke, und eine sommersprossige Nonne, die etwas jünger als Hildegard aussah, linste heraus. „Hier bist du“, sagte sie, und es klang vorwurfsvoll. Sie öffnete die Tür, kam heraus und sah Lieschen misstrauisch an. „Was tust du mit dem Kind?“

„Ich schenke ihm die Beeren, die wir vergessen haben“, verkündete Hildegard.

„Vergiss bloß die Non nicht!“, mahnte die andere und wirkte etwas ängstlich.

„Was ist eine Non?“, erkundigte sich Lieschen neugierig.

„Das ist eines unserer Stundengebete. Siebenmal täglich rufen uns die Glocken dazu“, antwortete Hildegard, und ihre Mitschwester ergänzte mit leidgeprüfter Miene: „Die Morgenandacht heißt Laudes und endet schon mit der aufgehenden Sonne.“

„Sie meint, wir stehen zu früh auf“, erläuterte Hildegard lächelnd, und die andere erwiderte mürrisch: „So lange vor Sonnenaufgang! Und dann neun Stunden ohne Nahrung – völlig übertrieben!“

Hildegard seufzte. „So lauten nun einmal die Regeln unseres heiligen Benedikt. Und die haben sich seit über dreihundert Jahren bewährt.“

„Wie heißen denn die anderen Stundengebete?“, erkundigte sich Lieschen.

„Nach der Laudes am frühen Morgen folgen im Abstand von je drei Stunden Terz, Sext und Non“, zählte Hildegard auf. „Zu der wird demnächst geläutet. Bei Einbruch der Abenddämmerung wird dann die Vesper gefeiert, und abends gegen neun Uhr klingt der Tag mit der Komplet aus. Danach herrscht Sprechverbot, und eine Stunde nach Mitternacht läuten die Glocken die Vigilien ein.“

Nach dieser Erklärung stellte sie Lieschen ihre Mitschwester vor: „Das ist übrigens Hiltrud, wir nennen sie Trude. Sie ist die Base unserer Klostervorsteherin Jutta. Vor knapp einem Vierteljahrhundert kam sie als vierte Schwester hier zu uns in die Klause. Sie war damals erst so alt wie du jetzt und besaß die widerspenstigsten Locken, die man sich nur vorstellen kann. Sie haben die Farbe von Kastanien.“

„Inzwischen ist mein Kopf aber kurz geschoren“, sagte Trude wehmütig. „Wie bei allen Frauen hier.“

Das Kind sah mit großen Augen auf die Schleier der beiden Nonnen. „Warum sind Eure Haare abgeschnitten?“

Trude seufzte. „Weil wir der irdischen Schönheit entsagt haben.“

„Ich finde euch trotzdem schön“, sagte Lieschen.

Die beiden Nonnen sahen sich schmunzelnd an, und Hildegard strich dem Mädchen liebevoll über den Kopf.

Vom Männerkloster aus hörte man schon die ganze Zeit ein Hämmern. Nun fuhr in Richtung des Portals ein vierspänniger Ochsenkarren, der neue Steinmassen geladen hatte.

„Wird bei den Mönchen drüben gebaut?“

Hildegard bejahte. „Der Ausbau des Männerklosters hatte schon begonnen, als ich hier angekommen bin. Anfangs war noch nicht mal die Kirche ganz fertig.“

Und Trude erzählte: „Das Hämmern der Steinmetze, das Ächzen der Winden – all das ist für uns zur Begleitmusik unseres Klosteralltags geworden.“

„Das Bild des Bauens hat sich uns im Laufe der Jahre nachhaltig ins Gedächtnis eingeprägt“, bestätigte Hildegard, während sie weitere Rispen roter Johannisbeeren in Lieschens Korb warf. „Stein auf Stein, immer größer, höher und weiter!“

„… und niemals fertig werden“, ergänzte Trude spöttisch.

Lieschens Korb war fast voll, da kam auf einem einspännigen Pferdefuhrwerk ein großer Mann mit Lederschürze vorbei. Das Kind erkannte den massigen blonden Kerl, es war der Hufschmied, dessen Dienste auch der Bauer öfters in Anspruch nahm.

„Grüß Euch, Schwester Hildegard, befindet Ihr Euch wohl?“, erkundigte er sich.

„Ulrich!“, rief die Nonne erfreut. „Plagt dich dein Zahnfleisch noch?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, Eure Tinktur hat geholfen, nichts ist mehr wund. Gott segne Euch dafür!“

In diesem Augenblick läuteten die Klosterglocken.

„Die Non“, erinnerte sich Lieschen stolz.

Hildegard nickte anerkennend und wandte sich wieder an den Schmied: „Kannst du mir einen Gefallen tun und Elisabeth hier zum Hof von Bauer Burkhard mitnehmen? Wir sind vorhin einem etwas erschreckenden Bären begegnet.“

„Das muss das Viech sein, das dem Schäfer gestern ein Lamm gerissen hat“, mutmaßte der Schmied.

Lieschen erschauderte bei der Vorstellung.

Glücklicherweise fügte Ulrich hinzu: „Ich werde die Kleine heil nach Hause bringen, keine Angst!“

Hildegard streichelte zum Abschied die Wange des Mädchens. „Mit Ulrich an deiner Seite wird dir nichts geschehen“, gab sie sich überzeugt. „Ich bin mir sicher, wir sehen uns wieder.“

Das hoffte Lieschen zwar, doch den schützenden Bauernhof würde sie in nächster Zeit bestimmt nicht so schnell verlassen.


2. Kapitel

Lieschen hatte Freude daran, die Zeit ein wenig festzuhalten. Neben ihrer Lagerstatt über dem Kuhstall verwahrte sie mehrere Stücke Leder, die ihr der gutmütige alte Knecht Ortwin geschenkt hatte. Mit verkohlten Hölzchen zeichnete sie auf die helle Rückseite Landschaften, Tiere und Menschen, um sich an besondere Ereignisse in ihrem Leben auf dem Bauernhof zu erinnern. Ihrem Alter entsprechend waren die Darstellungen recht einfach, aber ihre Mutter Griseldis fand sie gut erkennbar. „Schade, dass wir hier nichts damit anfangen können. Wenn du ein Mann wärst und Abschriften des Gottesworts mit Bildern schmücken dürftest – dann wäre deine Begabung ein Geschenk des Herrn“, hatte sie einst gesagt. „Als ich so alt war wie du, hat mein Vater mich einmal mit nach Mainz genommen, in der Kirche dort gab es wunderschöne Bilder.“

Lieschen wusste, dass ihre Mutter selbst gern Nonne geworden wäre, doch das war für nicht adelige Frauen unmöglich.

„Es ist traurig, dass du deine Fähigkeiten nicht nutzen darfst, aber ich bin mir sicher, du bist ebenso begabt wie jene Künstler.“

Wahrscheinlich lobten alle Mütter ihre Töchter. Ob sie wirklich gut zeichnete, war Lieschen aber auch gar nicht so wichtig; sie freute sich einfach nur über die Gedächtnisstütze, die ihre Zeichnungen darstellten. An diesem vorletzten Spätnachmittag im Windumemanoth, dem zehnten Monat des Jahres, fröstelte Lieschen am offenen Fenster beim Zeichnen des Schnees, der draußen höher lag, als sie es jemals erlebt hatte. Und Griseldis hatte ihr bestätigt, dass auch sie nie zuvor solche Massen der weißen Pracht gesehen hatte, schon gar nicht im Weinlesemonat.

Da sah Lieschen ihre Mutter durch das Tor des Gehöfts kommen. Sie war vom Besuch bei Winzer Georg zurück, wo sie eine Bestellliste von Burkhard hatte abgeben sollen. Griseldis mochte den Weinbauern nicht sonderlich, er mache Frauen gegenüber unziemliche Bemerkungen, hatte sie gesagt. Lieschen verstand zwar nicht genau, was eine „unziemliche Bemerkung“ war, aber ihr war auch aufgefallen, dass der Weinbauer immer grimmig dreinblickte und seine Mitmenschen oft anbrüllte. Dennoch war sie neugierig auf Geschichten vom Weingut, weshalb sie beschloss, ihrer Mutter entgegenzugehen.

Kaum hatte sie jedoch den Stall verlassen, musste sie mitansehen, wie Griseldis ausrutschte und stürzte. Diese tückischen Eisflächen unter dem Neuschnee! Voller Sorge eilte sie zu ihrer Mutter und versuchte dabei, nicht auch noch selbst hinzufallen. Die Witwe mit den blonden Locken wimmerte vor Schmerz. „Ich kann mein Bein nicht bewegen“, brachte sie in einer hilflosen Mischung aus Lachen und Weinen hervor, als sich ihre kleine Tochter bei ihr niederkniete. „Ich glaube, es ist gebrochen, das tut so weh.“

„Ich hole jemanden!“, rief Lieschen aufgeregt und bemühte sich, die Tränen niederzukämpfen. Ihre Mutter, ihre arme Mutter! Das Leben des Mädchens, das seinen Vater nie gekannt hatte, bestand von einem Augenblick auf den nächsten nur noch aus blanker Angst! Zum ersten Mal überhaupt hörte sie sich selbst um Hilfe rufen.

Sie fand den alten Ortwin beim Ausmisten des Stalls und erzählte ihm aufgeregt, was geschehen war. Er folgte ihr sogleich. Der Knecht musste sehr vorsichtig sein, als er ihre verletzte Mutter zu deren Bett trug, denn bei der kleinsten Bewegung schmerzte ihr Bein derart, dass sie nur mit Mühe Schreie unterdrücken konnte.

„So, wie das aussieht, ist es wirklich gebrochen“, mutmaßte der Knecht, nachdem er die keuchende und schweißnasse Griseldis auf ihrer Bettstatt abgelegt hatte. „Man müsste es wahrscheinlich schienen, aber ich weiß nicht, wie das geht.“

Da kam Lieschen eine Idee. „Ich hole Schwester Hildegard.“

Sie hatte die heilkundige Nonne seit ihrer ersten Begegnung im Sommer nicht mehr gesehen, war sich jedoch sicher, dass diese bereit wäre, ihrer Mutter zu helfen. Unsicher war nur, ob es auch deren Vorsteherin und die Mönche erlauben würden.

Der hohe Schnee und der scharfe Wind machten das Vorankommen derart mühsam, dass Lieschen sich fragte, ob sie es überhaupt bis zur Frauenklause schaffen würde. Und sie konnte nur hoffen, dass der Bär sich inzwischen im Winterschlaf befand.

Trotz der Kälte schwitzte das Mädchen. Der Aufstieg zum Kloster Disibodenberg wirkte an diesem Abend unendlich steil und weit, die immer höheren weißen Massen schienen sich an ihren Füßen festzukrallen. Als sie endlich die Klause erreichte, begann sie verzweifelt zu weinen, denn die einzige Tür war bis zur Höhe ihres Kinns zugeschneit. Sie musste sich strecken, um ihre Fäustchen gegen das Holz zu schlagen, und rief um Hilfe, doch es erschien ihr angesichts des heulenden Windes viel zu leise. Erneut rief sie um Hilfe.

Wider Erwarten öffnete sich schließlich der Ausguck in der Tür. Das Mädchen erkannte das sommersprossige Gesicht von Schwester Trude, die erstaunt zu ihr hinabsah.

Obwohl Lieschens Stimme sich vor Aufregung überschlug, machte sie der Nonne klar, was mit Griseldis geschehen war – und dass sie Schwester Hildegard sprechen musste.

Im Nachhinein konnte sich das Mädchen gar nicht mehr genau an die Einzelheiten erinnern, aber es gelang ihr, die heilkundige Nonne zu überzeugen, sie auf den Bauernhof zu begleiten. Hildegard bat die unwillige Trude mitzukommen. Zum Glück hatten sich Wind und Schneefall endlich ein wenig gelegt.

 

Kaum waren sie bei Lieschens Mutter an deren Lagerstatt angekommen, bestätigte Hildegard den Verdacht, dass Griseldis’ Bein gebrochen war. Es müsse in der Tat geschient werden, damit der Knochen wieder richtig zusammenwachsen könne.

Als die Nonne damit fertig war, drückte die Verletzte ihr dankbar die Hand. Inzwischen war auch Bauer Burkhard, ein Berg von einem Mann mit rotblondem Haar und blasser Haut, in die Kammer über dem Stall gekommen, und Lieschen bemerkte, wie argwöhnisch er die beiden Nonnen musterte.

Hildegard mahnte Griseldis: „Du musst dich aber schonen.“

Dann wandte sie sich an Burkhard: „Sie wird einige Wochen bettlägerig sein.“

„Ich kann aber keine nutzlose Magd durchfüttern“, knurrte der Bauer verstimmt.

Lieschen war verzweifelt. Wenn er sie verstieß, würden ihre Mutter und sie verhungern.

„Bitte, Herr, ich werde auch für zwei arbeiten“, flehte sie.

Ehe Burkhard antworten konnte, verkündete Hildegard: „Wir nehmen Griseldis und Lieschen mit zu uns, bis das Bein verheilt ist.“

Schwester Trude sah sie erschrocken an. „Aber Hildegard, das wird Mutter Jutta doch nie erlauben.“

Die Ältere zuckte mit den Schultern. „Wir haben schon öfter Herrgottsgäste aufgenommen.“

„Ja, damals waren wir auch noch weniger Schwestern und besaßen deshalb eine Gästezelle. Außerdem waren jene Besucher zumeist adelig“, argumentierte Trude. „Und sie haben großzügige Geschenke für Abt Folkard mitgebracht. Auch er wird es verbieten.“

„Dazu ist er im Augenblick zu krank“, erwiderte Hildegard.

„Das Kind könnt ihr meinetwegen hierlassen“, bot nun Burkhard an, „es ist fleißig.“

„Wir trennen es nicht von seiner Mutter, wir nehmen beide mit“, entgegnete Hildegard zu Lieschens Erleichterung.

„Und wie wollt Ihr die Verletzte in Euer Kloster bekommen?“, fragte der Bauer mürrisch.

Lieschen wusste, dass ihr Herr natürlich ein Fuhrwerk zur Verfügung stellen konnte, ahnte aber, dass er dazu nicht die geringste Lust verspürte.

„Ich werde zu Ulrich hinübergehen“, verkündete Hildegard. „Er hilft uns gewiss.“

Das Mädchen mochte den Schmied. Auf dem Rückweg vom Kloster seinerzeit im Sommer hatte er sie beruhigt, dass der Bär sich nicht auf den Bauernhof trauen würde. Dazu sei er zu schüchtern. Lieschen hatte lachen müssen – ein schüchterner Bär!

Wie Schwester Hildegard vermutet hatte, war Ulrich sofort bereit zu helfen. Er trug Griseldis vorsichtig auf sein Fuhrwerk. Lieschen packte für sich und ihre Mutter rasch deren wenige Besitztümer in einen alten Mehlsack und folgte den Erwachsenen.

Auf dem Disibodenberg öffnete Hildegard ihnen die Tür zum Klausengebäude. Nun würde Lieschen es also betreten! Die Nonne führte sie und den Hufschmied, der ihre Mutter wieder behutsam auf dem Arm trug, in eine Speisekammer hinter der großen Feuerstelle der Küche im Erdgeschoss.

Eine sehr junge Nonne sah die Neuankömmlinge verwundert an.

„Adelgundis, wo ist Jutta?“, erkundigte sich Hildegard bei ihr.

„Ich glaube, sie ist noch in der Kapelle und …“

„Nein, ich bin hier“, kam es von der Küchentür.

Lieschen erschrak, als sie die ausgemergelte Frau in ihrer Nonnenkleidung dort stehen sah. Sie musste gut ein halbes Jahrzehnt älter als Hildegard sein. Mit ihren großen braunen Augen war sie bestimmt einmal sehr hübsch gewesen, doch jetzt war ihr Gesicht eingefallen, wirkte ein wenig wie ein mit Pergament überzogener Totenkopf.

Zitternd vor Aufregung hörte Lieschen zu, wie Hildegard ihrer Vorsteherin von Griseldis’ Unfall erzählte und darum bat, sie und deren Tochter hinter der Küche wohnen zu lassen, bis das Bein verheilt war.

Mit einer merkwürdigen Gleichgültigkeit in der Stimme sagte Jutta nur: „Ich werde Abt Folkard um Erlaubnis bitten – wenn es ihm wieder besser geht.“

Lieschen fiel auf, dass die Klausenleiterin auf die Arbeitstasche des Schmieds starrte, aus der sein großer Hammer ragte.

„Ich gehe zurück in die Kapelle“, murmelte Jutta schließlich geistesabwesend und verließ, einer Schlafwandlerin gleich, die Küche.

Kurz darauf half Lieschen Hildegard, Trude und Adelgundis, die wenigen Vorräte aus der Speisekammer, in der ihre Mutter auf einem der beiden Strohlager ruhte, in einer Küchentruhe zu verstauen. Sie wandte sich an Hildegard: „Was tut Eure Vorsteherin in der Kapelle? Betet sie?“

„Unter anderem“, antwortete Hildegard vage. „Sie leistet dort Nachtwachen.“

„Bei eisiger Kälte“, ergänzte Trude mit Bitterkeit in der Stimme.

„Aber was gibt es dort zu bewachen?“, wunderte sich Lieschen.

„Sie quält sich. Manchmal geißelt sie sich auch mit einer Peitsche“, wisperte die Sommersprossige und sah sich ängstlich um.

Das Kind erschauderte. „Warum tut sie das?“

„Sie hofft, durch die Qual Jesus nahezukommen“, erläuterte Hildegard.

„Weil der auch am Kreuz gelitten hat?“, erinnerte sich Lieschen an die traurige Karfreitagsgeschichte.

Trude nickte. „Ja, unsere Mutter Oberin hofft auf die Unio mystica.“

Wieder dieses Lateinerisch! Hildegard bemerkte den ratlosen Blick des Mädchens und übersetzte: „Geheimnisvolle Vereinigung bedeutet das. Jutta sehnt sich sehr nach göttlichen Zeichen.“ Mit düsterem Blick fügte sie hinzu: „Dabei können einen solche Visionen sehr beunruhigen, wenn man sie bekommt.“

„Was sind Visionen?“, erkundigte sich das Kind.

Trude warf Hildegard einen Hilfe suchenden Blick zu.

Die erklärte: „Das sind Bilder, die Gott einem zeigt. Aber nur die Person, die eine Vision bekommt, sieht all das, andere Menschen nicht. Man nennt sie auch Gesichte oder Schauungen.“

Lieschen spürte, dass dieses Gespräch die Nonne sehr traurig machte, und sie fragte sich, warum das so war.

 

Während sich die Nonnen zum Tageswechsel ihrem Matutin-Stundengebet widmeten, lag Lieschen neben ihrer Mutter auf der rasch mit Stroh eingerichteten Lagerstatt. Griseldis’ ruhiges, gleichmäßiges Atmen beruhigte die Tochter zwar, aber sie hatte trotzdem Schwierigkeiten einzuschlafen. Es mochte an diesem Ort liegen, den sie unfreiwillig gegen den vertrauten und sicheren Bauernhof eingetauscht hatten.

Diesen seltsamen Ort, an dem die Nonnen mehrmals am Tag miteinander beten mussten, dafür auch mitten in der Nacht aufstanden – mit einer Vorsteherin, die sich selbst quälte, um Jesus näher zu sein.

*

Einige Tage später wurde Lieschen vom Gesang der Christusbräute geweckt. Es klang himmlisch, wie seinerzeit Hildegards Melodie bei ihrem ersten Aufeinandertreffen im Sommer, nur diesmal vielstimmig. Dabei wurden die Schwestern von einem Instrument begleitet, das dem Mädchen unbekannt war. Sie richtete sich auf und sah, dass ihre Mutter ebenfalls aufgewacht war und Tränen in den Augen hatte.

„Hast du Schmerzen?“, fragte Lieschen besorgt.

Griseldis schüttelte den Kopf. „Der Gesang ist so wundervoll. Das Schönste am Klosterleben. Ich habe früher oft vor der Klause gestanden, um ihn zu hören.“

Ihre Tochter lauschte weiter der Musik. „Was ist das wohl für ein Instrument?“

„Ich denke, es ist ein Psalterium, eine Art Holzbrett mit Saiten darauf.“

„Ich könnte mich in die Kapelle schleichen und nachschauen“, schlug Lieschen unternehmungslustig vor.

„Mach das“, stimmte ihre Mutter zu und deutete auf ihr Bein. „Ich kann es nicht – noch nicht.“

Als Lieschen kurz darauf in den Gebetsraum lugte, sah sie die Nonnen ganz in ihren Gesang vertieft. Schwester Trude spielte das Instrument, auf das in der Tat Griseldis’ Beschreibung zutraf.

Schließlich beendeten die Schwestern ihren Gesang und verließen die Kapelle. Lieschen ging auf Schwester Adelgundis zu. Die gutmütige Tochter eines Herzogs war sechzehn Jahre alt. Wie Schwester Trude hatte sie hellgrüne Augen und Sommersprossen. Ob ihre kurz geschorenen Haare unter dem Schleier wohl kastanienfarben oder rot waren?

„Na, bereit für deine neue Aufgabe?“, fragte Adelgundis gutmütig lächelnd.

Da Lieschen gebeten hatte, sich in der Klause nützlich machen zu dürfen, war sie von Mater Jutta der jungen Adelgundis als Hilfe in der Küche zugeteilt worden.

„Ja, das bin ich“, antwortete Lieschen.

Nicht alle der adeligen Mitschwestern waren so freundlich zu ihr wie Adelgundis. Die ältere Beata beispielsweise hatte sich beschwert, dass sie gleich zwei „Bauerntrampel“ beherbergten, wie sie es ausdrückte. Als Hildegard abgelehnt hatte, Lieschen und deren Mutter fortzuschicken, war Beata laut Trude sogleich zu Jutta gegangen, um ihr Ziel zu erreichen – zum Glück bisher vergeblich.

„Das Instrument, das Schwester Trude gespielt hat, ist das ein Psalterium?“, fragte Lieschen.

Adelgundis bejahte. „Mater Jutta musste angeblich monatelang beim Abt betteln, dass wir es bekommen. Am Ende konnte Klosterschreiber Volmar ihn dazu überreden.“

Plötzlich wurde den beiden Mädchen der Weg zur Küche durch einen hochgewachsenen, ziemlich jungen Mönch versperrt. Er hatte wache Augen, und seine hervorstechende Nase erinnerte Lieschen an einen Raubvogel. Davon abgesehen war er eigentlich recht hübsch. Doch im Blick des drahtigen Mannes zeigte sich ein derartiger Zorn, dass sie erschrocken zurückwich. Was hatte er hier in der Frauenklause zu suchen?

„Wo ist Schwester Jutta?“, knurrte der Mönch.

„In der Kapelle“, entgegnete Lieschen hastig. „Ich bringe Euch zu ihr.“

Sie wollte dem Ordensbruder vorausgehen, doch am Eingang des Kirchleins stieß er sie grob zur Seite. Sie beobachtete, wie er mit großen Schritten auf die betende Vorsteherin zuging.

„Mater Jutta, ihr dürft ab sofort nicht mehr singen!“, rief er aufgebracht.

Die erschöpft aussehende Nonne drehte sich zu ihm um. „Bruder Helenger“, erkannte sie und fragte mit bangem Blick: „Ist es so weit?“

„Ja, die Stunde seiner Abberufung ist nah.“

Jutta schien von dieser Nachricht zutiefst schockiert. Sie stützte sich schwer atmend an der Mauer ab. Bruder Helenger warf Lieschen einen bösen Blick zu und verscheuchte sie mit einer einzigen Bewegung seines Kinns.

Abt Folkard musste im Sterben liegen, Lieschen hatte bereits Gerüchte unter den Nonnen darüber gehört, dass er todkrank war. Rasch eilte sie in die Küche. Vielleicht konnte sie von Adelgundis mehr erfahren.

„Es ist ein schweres Erbe hier in der Küche, Schwester Walburga muss die beste Köchin der Welt gewesen sein“, erzählte die junge Nonne beim gemeinsamen Zubereiten einer Linsen- und Bohnensuppe. „Gott hat sie viel zu früh zu sich gerufen.“

„Und jetzt liegt wohl euer Abt im Sterben?“, versuchte Lieschen das Gespräch umzulenken. „Ich habe sein Husten gestern Nacht bis hierher gehört.“

Adelgundis nickte seufzend. „Ja, leider. Er hat das Kloster acht Jahre lang weise geführt und seine Pfründe ausgebaut.“

„Es ist wirklich gut, dass wir hier immer genug zu essen haben“, meinte Lieschen.

„Oh, glaub mir, drüben im Vaterkloster haben sie wesentlich mehr. Wir Nonnen sind ganz und gar von den Almosen der Mönche abhängig. Wegen Meisterin Juttas gutem Ruf schließen sich uns ja immer mehr adelige Schwestern an, aber all ihre üppigen Mitgiften gehen an das Männerkloster.“

In diesem Augenblick ertönte zu Lieschens Erstaunen von den Mönchsgebäuden her die Glocke. Die Klausnerinnen durften zwar nur durch ein kleines Fenster bei der Messe und den Gebeten der Mönche zusehen, doch Lieschen wusste, dass es zu dieser Stunde keinen Anlass gab, die Kirchenglocken zu läuten. Warum also erklangen sie nun so unerwartet? Adelgundis war beim ersten Schlag erstarrt, hatte das Reinigen der Bohnen unterbrochen und hauchte: „O Gott, das ist die Totenglocke.“

Lieschen erschauderte, und in diesem Augenblick betrat Trude aufgebracht die Küche. „Habt ihr das gehört?“, wisperte sie. „Abt Folkard muss gestorben sein. Jetzt ist das ganze Kloster in tödlicher Gefahr.“ Sie schluchzte auf, und dann war sie auch schon wieder hinausgeeilt.

„Was meint sie damit?“, fragte Lieschen.

„Bis zur Wahl eines fähigen Nachfolgers ist das Kloster schutzlos den weltlichen Vögten ausgeliefert“, erinnerte Adelgundis mit ernster Miene. „Es heißt, die warten nur darauf, es gierig auszusaugen wie ein Blutegel. Wir Schwestern haben ja keinerlei eigene Mittel – wenn es dem Mönchskloster also schlecht geht, ist unser Leben in Gefahr.“

Lieschen begann zu zittern. Ihre Mutter war immer noch nicht in der Lage zu laufen. Sie waren völlig von den Nonnen abhängig, und mit ihrer Sicherheit konnte es jetzt wohl jeden Augenblick zu Ende sein!

Der Roman- und Drehbuchautor Jørn Precht lässt in „Die Heilerin vom Rhein“ anlässlich des 925. Geburtstages von Hildegard von Bingen die Geschichte der bis heute bekannten Heilerin noch einmal Wirklichkeit werden. Dabei gewährt er einen Blick auf die Wandlung der beflissenen Hildegard zu einer Frau, die für ihre Überzeugungen einsteht.

In ihrer Romanbiografie „Reporterin für eine bessere Welt“ erzählt Ulrike Fuchs gefühlvoll wie kraftvoll von der historischen Nellie Bly. Ihren Schwerpunkt legt sie dabei auf Nelly Blys Reportage über die erschreckenden Zustände in der Nervenheilanstalt für Frauen. Die Reporterin hatte sich dort für zehn Tage einweisen lassen und schlug mit ihrem Bericht aus erster Hand hohe Wogen in der Politik und bewegte ein Umdenken in der Gesellschaft.

Blick ins Buch
Reporterin für eine bessere WeltReporterin für eine bessere Welt

Nellie Bly – Mit der Macht ihrer Worte schrieb sie sich auf die Titelseiten.

Mit investigativer Recherche und sensationellen Reportagen überzeugte Nellie Bly nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch Joseph Pulitzer.

Ulrike Fuchs erzählt in dieser bewegenden Romanbiografie „Reporterin für eine bessere Welt“ die Geschichte der mutigen und empathischen Nellie Bly und ihres Durchbruch als investigative Journalistin.

1887: Die junge Reporterin Nellie reist mit großen Zielen nach New York. Sie will für die renommierteste Zeitung arbeiten: Joseph Pulitzers World. Doch in der ganzen Stadt sind Frauen in der Presse unerwünscht. Schließlich bekommt Nellie die lang ersehnte Chance, sich zu beweisen: eine Reportage über die berüchtigte Nervenheilanstalt für Frauen. Dafür soll sie sich unter falschem Namen dort einweisen lassen. Ausgerechnet ihre große Liebe, Jonathan, ist strikt dagegen. Nellie muss für ihre Karriere alles riskieren. Auch ihre Zukunft mit Jonathan?

Die berührende Geschichte der ersten investigativen Reporterin Nellie Bly und ihres Erfolgs mit der Reportage über die Nervenheilanstalt für Frauen auf Backwell‘s Island.

In dieser Romanbiografie erzählt Ulrike Fuchs gefühlvoll wie kraftvoll von der historischen Nellie Bly und ihrer Reportage über die erschreckenden Zustände in der Nervenheilanstalt für Frauen, wo sie dafür selbst 10 Tage einweisen ließ. Ihr Bericht schlug hohe Wogen in der Politik und bewegte ein Umdenken in der Gesellschaft. Nellie Bly veränderte damit das Leben vieler Frauen ihrer Zeit.

Für alle Leser:innen von historischen Romanen und der Reihe „Bedeutende Frauen, die die Welt verändern“, die das Leben besonderer und inspirierender Persönlichkeiten erzählt.

Weitere Bände der Reihe: 

  • Laura Baldini, Lehrerin einer neuen Zeit (Maria Montessori)
  • Romy Seidel, Die Tochter meines Vaters (Anna Freud)
  • Petra Hucke, Die Architektin von New York (Emily Warren Roebling)
  • Laura Baldini, Ein Traum von Schönheit (Estée Lauder)
  • Lea Kampe, Der Engel von Warschau (Irena Sendler)
  • Eva-Maria Bast, Die aufgehende Sonne von Paris (Mata Hari)
  • Eva-Maria Bast, Die vergessene Prinzessin (Alice von Battenberg)
  • Yvonne Winkler, Ärztin einer neuen Ära (Hermine Heusler-Edenhuizen)
  • Agnes Imhof, Die geniale Rebellin (Ada Lovelace)
  • Lea Kampe, Die Löwin von Kenia (Karen Blixen)
  • Eva Grübl, Botschafterin des Friedens (Bertha von Suttner)
  • Laura Baldini, Der strahlendste Stern von Hollywood (Katharine Hepburn)
  • Eva-Maria Bast, Die Queen (Queen Elizabeth II.)
  • Agnes Imhof, Die Pionierin im ewigen Eis (Josephine Peary)
  • Ulrike Fuchs, Reporterin für eine bessere Welt (Nellie Bly)
  • Anna-Luise Melle, Die Meisterin der Wachsfiguren (Marie Tussaud)

Pittsburgh, Pennsylvania, Mai 1887

Der Zug setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. Nellie konnte das weiße Taschentuch ihrer Mutter durch den dichten Dampf der Lokomotive gerade noch so ausmachen. Sie lehnte sich weit aus dem Fenster und winkte zurück.

„Nun machen Sie doch das Fenster zu!“, beschwerte sich die magere Dame mit dem altmodischen schwarzen Hut und hüstelte demonstrativ in ihr Taschentuch, während der Zug Geschwindigkeit aufnahm und der strahlende, sehr frühe Maimorgen wieder zum Vorschein kam.

Nellie schloss das Fenster, setzte sich und strich die Falten ihres Reisekleides glatt. Dann nahm sie vorsichtig ihren schicken neuen Filzhut mit den drei kecken Straußenfedern ab und legte ihn auf die Ablage über der Sitzbank. Die Dame neben ihr blickte missbilligend. Nicht nur war Nellie nun ohne Hut unterwegs, sondern auch ohne Begleitung. Beides gehörte sich eigentlich nicht. Aber die Dame mit dem spitzen Gesicht und dem spitzeren Tonfall lebte eindeutig noch in der Steinzeit. Und vermutlich fuhr sie auch nicht die ganze Strecke bis New York, sondern höchsten bis Altoona. Da konnte man den Hut auch schon mal aufbehalten.

„Verzeihung, ich glaube, dies ist mein Platz.“

Ein Mann in einem adretten grauen Anzug stand in der Tür zum Gang, er trug seinen Mantel über dem Arm und in der Hand eine Aktentasche. Die Dame sah von ihrem verschlissenen Psalter auf und vermeldete in einem fordernden Jammern:

„Ich vertrage das Rückwärtsfahren nicht.“

Na und? Wer fuhr schon gerne rückwärts? Als ob das eine Begründung wäre, jemandem einfach den besseren Platz wegzunehmen, dachte Nellie.

Aber der Mann lächelte nur verständnisvoll, legte ohne ein Widerwort Mantel und Aktentasche auf die hölzerne Ablage und setzte sich auf den gegenüberliegenden Platz. Sie hätte nicht so einfach klein beigegeben!

„Guten Tag!“, grüßte er höflich.

Er sah nett aus, recht jung, vielleicht Ende zwanzig, mit unauffälligem braunem Haar, aber schönen blauen Augen. Seine Schuhe waren neu, und seine Garderobe war sehr gepflegt, aber nicht eitel. Er sah aus wie ein Büroangestellter. Vielleicht war er auf einer Geschäftsreise. Verheiratet war er nicht, zumindest trug er keinen Ring. Nellie bemerkte, wie sich die Andeutung eines Grübchens auf seine Wange schlich. Ihre Blicke trafen sich. Herrje, sie hatte schon wieder gestarrt, wie peinlich.

„Verzeihung.“

„Ach was. Das ist das Privileg Ihres Geschlechts.“

„Was ist das Privileg meines Geschlechts?“, fragte Nellie überrascht.

„Sie dürfen Menschen ausgiebig betrachten. Wenn ich das gemacht hätte, hätten Sie den Schaffner gerufen oder mich gar geohrfeigt.“

Nellie schüttelte den Kopf. „Den Schaffner brauche ich nicht. Ich bin durchaus fähig, auf mich selbst aufzupassen.“

Die fromme Dame neben ihr machte ein missbilligendes Geräusch.

„Ich hätte selbst geohrfeigt“, legte Nellie nach, und ihr Gegenüber lachte. Er hatte erstaunlich gerade weiße Zähne, ein weiterer Pluspunkt.

„Es freut mich, die Bekanntschaft einer so resoluten Dame zu machen. Darf ich mich vorstellen, Jonathan Card, zukünftiger Assessor der Chase National Bank.“

„Nellie Bly, Journalistin.“

Miss Elizabeth Jane Cochrane, von ihrer Familie nur Pinkey genannt, war nämlich in Pittsburgh geblieben, um der aufstrebenden Reporterin Nellie Bly in New York nicht im Wege zu sein. Immerhin hatte Nellie Bly schon eine Stelle beim Pittsburgh Dispatch innegehabt, für ein 23-jähriges Fräulein ohne formelle Ausbildung eine ganz beachtliche Leistung. Das mit der Ausbildung sollte sie allerdings noch einmal überdenken, befand Nellie. Vielleicht konnte sie ihr mageres Semester auf dem Lehrerinnenseminar der Indiana State Normal School doch ein bisschen „verlängern“.

Jonathan Card schien nachzudenken, es war eine kleine Falte zwischen seinen Brauen entstanden.

„Ich glaube, ich habe tatsächlich schon einmal etwas von Ihnen gelesen.“

Sie ärgerte sich über das Erstaunen in seiner Stimme. Was wäre daran bitte so überraschend? Sie schrieb regelmäßig für den Dispatch, und ihre Serie über ihre Erlebnisse in Mexiko war sogar noch von anderen Zeitungen gedruckt worden. Dachte er, dass sie nur für Kochrezepte oder Mode taugte? Natürlich dachte er das, wie alle anderen auch. Es war schwer, sich gegen diese Themen zu wehren. „Fraueninteressen“ hieß das, als ob sich Frauen nicht auch für andere Dinge interessierten. Aber das konnten sich Männer nicht vorstellen. Die konnten sich so manches nicht vorstellen.

„Sie scheinen nicht viel Zeitung zu lesen.“

Das hatte jetzt etwas schnippisch geklungen, bemerkte Nellie und ärgerte sich nun auch noch über sich selbst.

„Doch, doch. Ich lese die Chicago Tribune, die Chicago Times, die Chicago Daily News …“

„Ach, ich dachte, Sie kämen aus Pittsburgh. Verzeihung, ich wollte nicht unhöflich sein“, unterbrach Nellie die Aufzählung, erleichtert, dass Mr Card offenbar doch kein einfältiger Tropf war, der nie Zeitung las.

„Nein, ich komme aus Chicago. Jetzt bin ich auf dem Weg nach New York, in Pittsburgh hatte ich nur geschäftlich noch etwas zu erledigen.“

„Sie haben sicher meine Berichte über Mexiko gelesen.“

Er nickte zustimmend. „Ja, richtig! Ich habe leider nicht alle gelesen, finde es aber ein sehr spannendes Thema. Und ein spannendes Land.“

„Alle Artikel kommen demnächst in einem Buch heraus“, informierte Nellie ihn nicht ohne Stolz.

„Gut zu wissen.“ Er lächelte freundlich. „Wenn ich eines kaufe, werden Sie es für mich signieren?“

„Selbstverständlich.“

„Erzählen Sie doch mal über diese Reise durch Mexiko.“

Als sie Altoona erreichten, wusste Nellie, dass sie einen neuen Freund gewonnen hatte. Jonathan Card war einfach reizend. Nicht nur hörte er aufmerksam zu, er stellte auch verständige Fragen und hatte sich bisher nicht ein einziges Mal darüber gewundert, dass sich eine „empfindsame junge Dame“ dem harten Geschäft des Journalismus verschrieben hatte oder überhaupt ihr eigenes Geld verdienen wollte. Stattdessen interessierten Jonathan, wie Nellie ihn schon im Stillen nannte, andere Dinge. Wie sie sich in bestimmten Situationen gefühlt hatte, wie es ihr gelang, auch widerwilligen Quellen Informationen zu entlocken, oder was sie von den Reaktionen ihrer Leserschaft hielt. Und da es die Höflichkeit gebot, ihn auch mal zu Wort kommen zu lassen, hatte sie von ihm erfahren, dass er in der Nähe von Detroit aufgewachsen, bei der örtlichen Bank in die Lehre gegangen und dann nach Chicago gewechselt war. Und nun hatte er eine tolle Stelle bei einer Bank in New York bekommen. Obwohl Nellie Jonathans bisheriges Leben eher langweilig fand, war er selbst es überhaupt nicht. Im Gegensatz zu ihr war er ausgesprochen belesen und schien über alle Themen zumindest grundlegend informiert zu sein. Um dieses breite Allgemeinwissen beneidete Nellie ihn. Was ihr ganz besonders gut an ihm gefiel, war sein Sinn für Humor. Auch schien er ein durch und durch ehrlicher Mensch zu sein, obendrein auch noch langmütig mit seinen Mitmenschen. Letzteres war eine Sache, um die Nellie ihn ehrlich beneidete. Sie mochte es auch, wie seine blauen Augen blitzten, wenn er lachte. Also eigentlich gefiel ihr alles an Jonathan Card.

„Und werden Sie dann bald zum Bankdirektor aufsteigen?“

„Wohl eher nicht. Das sind Positionen, die vererbt und nicht erarbeitet werden.“

„Schade.“

„Warum?“

„Dann hätten Sie mir viele Türen aufstoßen können.“

„Das Gleiche hatte ich mir eigentlich von Ihrer Bekanntschaft erhofft“, erwiderte er. „Wenn Sie demnächst bei Joseph Pulitzer zum Bankett eingeladen werden, legen Sie doch ein gutes Wort für mich ein. Der kennt bestimmt eine Menge wichtiger Leute.“

Nellie lachte. Wie nett, was er ihr alles zutraute, selbst wenn es nur im Spaß war.

„Woher wissen Sie, dass ich zur New York World möchte?“

„Na, das ist doch genau die richtige Zeitung für Sie. Keine langatmigen Exposés, sondern Berichte direkt aus dem Leben.“

Nellie sah aus dem Fenster, die Landschaft flog vorbei. Es war erstaunlich, wie schnell der moderne Mensch von einem Ort zum anderen gelangen konnte. Ja, langatmige Exposés waren wirklich nicht ihre Sache. Sie seufzte.

„Das sagt Q. O. auch immer.“

„Wer ist Q. O.?“

„Erasmus Willson vom Pittsburgh Dispatch. Man kann wohl sagen, dass er mein Mentor ist. Er hat eine Kolumne, ›Quiet Observer‹. Ich hatte ihm mal einen Leserbrief geschrieben, damit hat alles angefangen.“

Sie erzählte Jonathan, wie Q. O. in einer Kolumne behauptet hatte, Frauen taugten nur zur Hausfrau und Mutter. Empört hatte Nellie an die Zeitung geschrieben. Ihr Brief war zwar nicht veröffentlicht worden, hatte aber dennoch die Aufmerksamkeit des Chefredakteurs geweckt. So war eins zum anderen gekommen. Q. O. war, wie sich herausstellte, doch kein frauenfeindlicher Stiesel, sondern tatsächlich ein reizender Herr, von dem Nellie in der Folgezeit viel Unterstützung erfahren hatte, zum Beispiel, als sie zwei Reportagen über die Arbeitsbedingungen für junge Fabrikarbeiterinnen geschrieben hatte. Oder als sie alleine, nur mit ihrer Mutter als Anstandsdame, durch Mexiko gereist war, um über die dortigen Lebensverhältnisse zu berichten. Es war ihr bisher größter journalistischer Erfolg. Nellie seufzte unwillkürlich. Trotzdem war es nun an der Zeit gewesen, den Dispatch zu verlassen, ja fast zu fliehen. Sie hatte sich nicht einmal richtig verabschiedet, geschweige denn gekündigt. Aber die Furcht davor, vielleicht in letzter Sekunde den Mut zu verlieren, war zu groß gewesen. Sie wollte richtige Geschichten aus dem richtigen Leben schreiben. Und das waren nicht die Hochzeiten und Gartenschauen, über die sie in letzter Zeit hatte berichten sollen! Hatte sie nicht schon bewiesen, dass sie das Zeug zu echten Reportagen hatte? Trotzdem kamen immer wieder Einwände und Bedenken und wohlgemeinte Ratschläge. Es hatte sie viel Kraft gekostet, sich nicht ins Bockshorn jagen zu lassen. Als ob es nicht schon anstrengend genug wäre, allein in New York sein Glück zu versuchen. Wenn einem dann immer noch eingeredet wurde, dass man das – als Frau – niemals schaffen würde, war es besser, sich einfach davonzumachen.

„Es ist, als machte ich zwei Schritte voran, nur um dann drei zurück zu machen. Ich schreibe einen tollen Artikel und muss beim nächsten schon wieder erklären, warum ich nicht lieber über den Gesellschaftsklatsch schreiben möchte.“

Jonathan Card nickte verständnisvoll.

„Und dann sagen sie noch, dass sie einem ›etwas Gutes tun‹ wollen. Ich will aber nicht über Tratsch und Mode berichten. Das kann doch nicht so schwer zu verstehen sein!“ Nellie merkte, wie die Wut wieder in ihr hochkochte. Immer musste sie sich rechtfertigen!

„Männer sind einfach begriffsstutzig“, stellte Jonathan ruhig fest. Sie sahen sich an. Nellies Mundwinkel zuckten, und ihr Zorn verpuffte.

„Allerdings. Warum nur?“

Er zuckte mit den Schultern. „Schwer zu sagen. Frauen sind für Männer ein Buch mit sieben Siegeln, einfach nicht zu verstehen.“

„Dabei wird uns stets vorgehalten, zu viel zu reden. Wir erklären und erklären“, Nellie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe, „aber da geht nichts rein beim Mann!“

„Schon voll?“, schlug Jonathan nach einer Weile scheinbar intensiven Nachdenkens vor. Nellie brach in ganz undamenhaftes Gelächter aus, das sie schnell mit ihrem Taschentuch zu dämpfen suchte. Einige Mitreisende sahen pikiert von ihrer Lektüre auf. Lange, wirklich lange hatte sie sich nicht mehr so gut unterhalten.

Während der Zug zielstrebig ostwärts brauste, verging die Zeit wie im Flug. Sie teilten sich ihren Proviant in einem gemütlichen Picknick, sahen auch mal in einvernehmlichem Schweigen aus dem Fenster, aber meistens unterhielten sie sich angeregt über Gott und die Welt, bis spät in den Abend hinein. Als Nellie sich schließlich auf ihrem sehr schmalen und sehr harten Bett im Schlafwagen ausstreckte, fand sie erst keine Ruhe. Wie schön, dass sie jetzt schon einen Freund in New York hatte, denn ansonsten kannte sie dort keine Menschenseele. Sie lächelte im Dunkeln. Jonathan war sehr klug, was sie bewunderte, und er hatte einen wunderbaren Humor. Humor hatten die wenigsten. Es war, als würden sie sich in ihrer Unterhaltung Pingpongbälle zuspielen, und das Spiel endete immer in Gelächter. Wie froh sie war, ihn kennengelernt zu haben. Nellie freute sich schon auf den Morgen, sie hatten sich zum Frühstück verabredet. Gemeinsam mit Jonathan in New York anzukommen fühlte sich so viel schöner an als alleine. Zwar hatte ihr Mrs Herman vom Women’s Club Name und Adresse einer Bekannten aufgeschrieben, falls es einen Notfall gäbe oder sie Hilfe bräuchte, aber Nellie war fest entschlossen, dass kein Notfall so schlimm sein würde, dass sie dort um Hilfe bitten müsste. Diese Blöße würde sie sich niemals geben, daheim warteten zu viele darauf, dass sie scheiterte und mit eingezogenem Schwanz kleinlaut wieder nach Hause käme. Doch das würde niemals geschehen, eher ginge sie nach Afrika oder Grönland oder sonst wohin. Ach, New York! Sie war schon so gespannt. Pittsburgh war gewiss keine kleine Stadt, aber New York? Dort spielte das Leben, dort schlug das Herz von Amerika, das Zeitungszentrum, die Börse, reiche Wirtschaftsmagnaten in riesigen Villen, Wolkenkratzer, sogar elektrische Straßenlaternen sollte es da geben. Und jeden Tag Hunderte von neuen Einwanderern aus aller Herren Länder. Nellie versuchte, auf der Pritsche eine bequemere Position zu finden. Wenn sie genug Geld gehabt hätte, wäre sie im luxuriösen Pullman gefahren. Aber das würde auch noch kommen! Andererseits hätte sie dann nicht Jonathan kennengelernt, also war es doch gar nicht so schlimm. New York! Sie konnte es gar nicht erwarten. Jonathan hatte behauptet, dass es ganz unmöglich wäre, in Manhattan eine günstige Bleibe zu finden. Entweder seien sie exorbitant teuer oder völlig überfüllt mit Einwanderern. Die normalen Leute würden in die Vorstädte ziehen, nach Jersey oder Harlem, wo man sich noch ein Haus oder eine Wohnung leisten konnte. Die Bank hatte für Jonathan arrangiert, dass er für die erste Zeit bei einem Kollegen in Manhattan unterkommen konnte. Er war besorgt, dass Nellie noch nicht wusste, wo sie bleiben würde. Natürlich war das Geld knapp, aber sie war zuversichtlich, dass sie alsbald ein Zimmer finden würde. Ja, die normalen Leute zogen in die Vorstädte, aber war sie etwa normal? Nein, sie würde mittendrin im Trubel wohnen und freute sich schon darauf.

Das laute Pfeifen der Lokomotive ließ Nellie hochfahren. Einen winzigen Moment lang starrte sie verwundert auf die fremden Menschen vor ihrem Bett. Dann drang das regelmäßige Rattern von Rädern in ihr Bewusstsein: Eisenbahn, Schlafwagen, New York! Meine Güte, sie hatte geschlafen wie ein Stein! Im Waggon herrschte schon rege Betriebsamkeit.

„Wie lange haben wir denn noch?“, fragte Nellie die Dame neben sich, als sie sich von der Pritsche schwang.

„Keine halbe Stunde.“

Wie bitte? Jetzt musste sie sich aber beeilen! Hastig raffte Nellie ihre Sachen zusammen und stopfte sie erbarmungslos in ihre Reisetasche, sie würde alles neu plätten müssen, schoss es ihr durch den Kopf. Und was war mit Jonathan? Sie hatten sich zum Frühstück treffen wollen. Herrje, dafür war jetzt keine Zeit mehr. Nellie hoffte inständig, dass sie ihn auf dem Bahnsteig wiederfände. Wo hatte man ihren Koffer untergebracht? Warum, verflixt, hatte sie nur so lange geschlafen? Die plötzliche Aufregung drohte Nellie zu überwältigen. Sie atmete ein paarmal tief durch. Durch Hektik würde sie auch nicht schneller werden. Stattdessen sah sie aus dem Fenster, einzelne Häuser rauschten vorbei. Vorstädte sahen irgendwie immer gleich aus, egal, in welchem Teil des Landes man sich befand. Sie griff nach ihrer Reisetasche, aber der Mittelgang war vollständig von den bauschigen Hinterteilen der mitreisenden Damen belegt. Ausgefüllt? Verstopft? „Meer von Kleiderfalten wogt im Eisenbahnwaggon“ wäre auch eine lustige Überschrift, amüsierte Nellie sich im Stillen, während sie sich rigoros durchdrängelte.

Der Zug fuhr schon in den Bahnhof ein. Der Exchange Place in Jersey City war ein gewaltiges Gebäude. Während sie noch darauf wartete auszusteigen, fuhr ein weiterer Zug ein, der alsbald ebenfalls seine Passagiere auf den Bahnsteig entließ. Das Gedränge war enorm und der Krach ohrenbetäubend. Nellie kämpfte sich zum Gepäckwagen vor, um ihren Koffer entgegenzunehmen, immer auch nach Jonathan Ausschau haltend. Welch eine Menschenmenge! Wurde einem bei anderen Gelegenheiten in Bahnhöfen das Gepäck von den Trägern fast aus der Hand gerissen, waren es hier nun eindeutig zu wenige Männer.

„Eine Unverschämtheit ist das!“, beschwerte sich der korpulente Herr neben ihr. Sie folgte seinem Blick. Ein Großteil der Träger war damit beschäftigt, Gepäck aus einem einzigen privaten Waggon entgegenzunehmen. Und es war tatsächlich eine ganze Menge Gepäck.

„Wer sich seinen eigenen Waggon leisten kann, muss ja nicht auch noch uns Normalsterblichen die Gepäckträger klauen!“

Der lange, glänzende Pullman-Waggon musste nach Pittsburgh angehängt worden sein, denn Nellie konnte sich nicht erinnern, ihn beim Einsteigen gesehen zu haben. Und der wäre ihr ganz sicher aufgefallen. Vor einiger Zeit hatte sie einmal einen solchen Luxuswaggon besichtigen können – die meisten Häuser waren schäbig dagegen. Dem Paar, das nun diesem exklusiven Vehikel entstieg, war anzusehen, dass es ganz sicher nicht unbequem auf seinem Sitzplatz oder auf einer schmalen Pritsche genächtigt hatte und auch nicht lange hatte anstehen müssen, um seine Notdurft zu verrichten und eine Katzenwäsche zu absolvieren. Der Herr, klein und ähnlich rund wie der Beschwerdeführer neben ihr, war adrett in einen schwarzen Anzug gekleidet, sein Zylinder glänzte frisch gebürstet, und an der eleganten Dame neben ihm saß auch keine Falte schief. Ein wenig neidisch verfolgte Nellie die beiden mit ihrem Blick, als sie dem Bahnsteigvorsteher folgten, der ihnen kraft seiner Autorität eine Schneise durch den mitreisenden Plebs bahnte. Sich der Störung oder vermutlich überhaupt der Anwesenheit des niederen Volkes nicht bewusst, flanierten sie, eine lange Karawane von Gepäckträgern im Schlepptau, Richtung Fähre davon. Queen Victoria hätte es kaum besser machen können.

Nellie sah sich erneut um, aber von Jonathan keine Spur. Was mochte er jetzt denken, nachdem sie ihn einfach so versetzt hatte?

„Miss!“

Nellies Kopf schnellte herum.

„Ist das nun Ihrer?“

Einer der Männer, die das Gepäck ausluden, deutete ungeduldig auf ihren Koffer.

„Ja!“

Sie sah sich erneut suchend um, aber an einen Träger war nicht heranzukommen. Dann eben nicht. Hatte sie nicht in Mexiko ihr Gepäck auch selbst getragen? Die Reisetasche in der einen, den Koffer in der anderen Hand, machte sich Nellie auf den Weg zur Fähre, die sie über den Hudson River nach Manhattan bringen sollte. Offenbar wollten alle dorthin, und so ließ sie sich einfach von der Menge in die richtige Richtung treiben. Auf der Gangway zur Fähre wurde es wieder enger. So musste sich eine Herde Kühe fühlen, wenn sie von der Weide in einen Waggon verladen wurde. Es stockte, und die Herde kam zum Stehen. Sie mussten auf das nächste Boot warten. Nellie stellte den schweren Koffer ab. Für Fußmärsche waren Koffer eigentlich denkbar ungeeignet, kein Wunder, dass die meisten Leute ihr Gepäck lieber als Bündel trugen. Wenigstens hatte man dann die Hände frei. Oder auch nicht. Nellies Blick fiel auf eine Frau, die, Bündel auf den Rücken und Baby vor den Bauch gebunden, an jeder Hand ein heulendes Kleinkind hatte. Wie konnte man so seine Fahrkarte zeigen? „Warum die Ärmsten der Armen so oft ohne Fahrschein fahren“, war die Überschrift, die Nellie in den Sinn kam. Der Herr neben ihr wischte sich mit einem karierten Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Das Taschentuch sollte auch einmal wieder gewaschen werden. Sie musterte ihre Mitreisenden, aber von Jonathan fehlte jede Spur. Es war unangenehm beengt, mit so vielen Leuten warten zu müssen, und irgendwie schien ein Gepäckträger auch so etwas wie Ehrbarkeit und Anstand zu verleihen, denn der glücklichen Dame dort vorne rückte man nicht so auf die Pelle wie ihr. Nach einer gefühlten Ewigkeit, die sicher nicht mehr als zehn Minuten gedauert hatte, ging es weiter. Nellie wollte ihren Koffer wieder aufnehmen, aber ihre Hand stieß gegen die Hand einer anderen Person. Sie blickte nach unten und sah ihren Koffer durch die Beine der Umstehenden verschwinden.

„He! Das ist mein Koffer! Dieb! Ein Dieb!“

Die vormals zielgerichtete Bewegung der Menge wurde jäh chaotischer, als viele die Hälse streckten, um zu sehen, was vor sich ging, und um sicherzustellen, dass der eigene Koffer noch da war. Oder sie nutzten die Ablenkung, um sich vorzudrängeln. Nellie bemerkte eine Person in einer grünen Kappe, die sich eilig den Weg zurück in Richtung Bahnhofshalle bahnte, eigentlich sah sie nur die Kappe, die nun auch noch verschwand.

„Der mit der grünen Kappe, halt! Mein Koffer!“, schrie Nellie verzweifelt aus voller Brust. Aber wie ein unaufhaltsamer Fluss strömte die Menge nun schon wieder in Richtung Fähre, an Nellie wie an einem kleinen Felsen vorbei. Was ging die Leute ein fremder Koffer an?

„He!“ Tränen der Wut und Verzweiflung stiegen in Nellie auf.

„Ist das Ihrer, Missy?“

Ein wahrer Bär von einem Mann erreichte sie, ihren Koffer in der Hand.

„Oh, danke sehr! Danke, danke, danke!“

Er grinste, die beiden vorderen Zähne fehlten, seine Nase war platt, und eigentlich sah er aus wie ein Kinderschreck, aber Nellie erschien er wie der Erzengel Gabriel persönlich. Sie griff nach dem Henkel, aber er ließ den Koffer nicht los.

„Kommen Sie, sonst verpassen wir noch das Boot.“

Mühelos pflügte er durch die Menge und zog Nellie, die Hand am Koffergriff, in seinem Windschatten mit. Tatsächlich schafften sie es, als zwei der Letzten an Bord zu gehen. Im Inneren der Fähre war kein Platz mehr, und auch draußen konnte man nur noch stehen. Aber es war ein schöner Morgen, und es tat gut, an der frischen Luft zu sein.

„Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin!“, wiederholte Nellie, als sie sich neben ihren Retter an die Reling lehnte.

„Ach, lassen Sie nur.“ Der Mann hatte einen ausgeprägten irischen Akzent.

„Ich bin Nellie Bly.“ Nellie streckte die Hand aus.

Seine Pranke, mit der er an seine speckige Lederkappe tippen wollte, hielt inne. Er nickte offensichtlich erfreut und schüttelte ihre Hand.

„Collin Murphy, zu Diensten, Miss.“

„Ich danke Ihnen sehr, Mr Murphy. Haben Sie dem Dieb eine verpasst?“

Mr Murphy brach in Gelächter aus, das sich wie das Brüllen des Bären anhörte, den Nellie einmal in Philadelphia im Zoo gesehen hatte. Er schüttelte den Kopf.

„Nein, Missy, habe ich nicht.“

„Schade.“

„Er war zu schnell weg. Ich habe den Koffer gepackt, und schon war er verschwunden“, erklärte er entschuldigend.

„Macht nichts. Hauptsache, ich habe meinen Koffer wieder.“

Mr Murphy legte den Kopf schief.

„Reisen Sie immer alleine? Ich meine, so eine feine Dame wie Sie und so.“

Jedem anderen hätte Nellie eine scharfe Antwort gegeben, aber um Mr Murphy etwas übel zu nehmen, war sie ihm viel zu dankbar. Deswegen würde sie ihn auch nicht darauf hinweisen, dass sie mit dreiundzwanzig Jahren volljährig war und sehr gut auf sich selbst aufpassen konnte. Letzteres klang nach der Kofferepisode auch nicht wirklich überzeugend. Die wirklichen Bedenken hinter seiner Frage großzügig ignorierend, antwortete sie also:

„Ich reise auch gerne mal in Gesellschaft, aber ich werde jetzt hier arbeiten und somit in New York bleiben.“

„Ach? Wo gehen Sie denn in Stellung?“

Überrascht glitt sein Blick ein zweites Mal über Nellie, als wunderte er sich, was denn eine so gut – und auch modisch, wie Nellie fand – gekleidete Dame wohl arbeiten würde.

„Ich bin Journalistin.“

„Was Sie nicht sagen!“

„Ich habe bisher für den Pittsburgh Dispatch gearbeitet, aber nun möchte ich etwas Neues machen.“

Das hatte sehr nonchalant geklungen, stellte Nellie zufrieden fest.

„Na, da sind Sie in New York ja genau richtig. Von dem Kumpel von meinem Cousin Patrick, der Bruder, dem seine Tochter, die arbeitet auch da irgendwo.“

„Ach ja? Wo denn?“ Das wäre natürlich ein wertvoller Kontakt für sie. Viele Journalistinnen gab es wirklich nicht.

Mr Murphy kratzte sich am Kinn.

„War es die World?“

Nellies Herz tat einen Sprung. Das wäre ja fantastisch.

„Oder die Tribune?“

Sie sah ihn erwartungsvoll an, aber er schüttelte den Kopf.

„Kann ich nicht sagen. Aber jedenfalls ist sie da in der Poststelle und verdient nicht schlecht.“

Nellie sah auf das dunkle Wasser des Hudson River. Was hatte sie denn gedacht? Dass die Tochter des Bruders des Freundes des Cousins von Mr Murphy allen Ernstes auch Journalistin wäre? Urplötzlich fühlte sich Nellie einsam. Die Häuser Manhattans kamen schnell näher. Jonathan würde sie wohl nie wiedersehen. Wie hatte sie denn nur verschlafen können? Jede andere Frau wäre vor Aufregung, allein nach New York zu gehen, ein Nervenbündel, nur sie schlief wie ein Stein! Aber sicher nicht, weil sie so gelassen war, das musste sie ehrlicherweise zugeben. Die Sache mit Jonathan bekümmerte Nellie sehr, aber es gab nichts, was sie dagegen tun konnte, und auch zu viele andere Dinge, mit denen sie sich jetzt befassen musste. Rigoros schob sie den Gedanken beiseite.

„Und wohin geht’s, wenn wir anlegen? Vielleicht kann ich Ihnen Ihren Koffer noch ein Stückchen tragen?“

Mr Murphy war wirklich reizend!

„Ich habe mir noch keine Unterkunft gesucht.“

„Oha.“ Er rieb sich die platte Nase.

Nellie wurde es etwas klamm in der Magengegend. Jonathans Behauptung, günstige Pensionen in Manhattan seien Mangelware, hatte sie gestern einfach beiseitegeschoben – beiseitegeschoben, aber nicht vollständig vergessen, und die nagende Unsicherheit in ihrem Hinterkopf drängte nun machtvoll nach vorne. Sie hatte nicht viel Geld, und Nellie wollte, nein sollte ganz dringend einen teuren Hotelaufenthalt vermeiden.

„Ist es denn so schwierig, eine Unterkunft zu bekommen?“

Mr Murphy deutete mit seiner Pranke flussabwärts.

„Da unten bei Castle Garden kommen die Schiffe mit den Einwanderern an. Hunderte, ach was, Tausende pro Tag.“ Er nickte bekräftigend. „Und ich war auch mal dabei!“

Nellie kniff die Augen zusammen, konnte die Südspitze von Manhattan aber nicht ausmachen.

„Jedenfalls kommen die alle hier an. Und dann müssen sie ja irgendwo wohnen.“

„Aber die bleiben doch nicht alle in New York.“

„Stimmt. Viele reisen weiter zu Verwandten oder machen es wie mein Vetter Brian. Der hat bei diesem Homestead-Programm mitgemacht und sich seine eigene Farm und Land erarbeitet.“ Mr Murphy ließ den Arm wieder sinken und runzelte die Stirn. „Ist dann aber wohl von irgendeiner Bande überfallen worden. Habe schon länger nichts mehr von ihm gehört.“

Noch ehe Nellie Mr Murphy ihr Mitgefühl bekunden konnte, hatte sich dessen Gesicht schon wieder aufgehellt.

„Na, jedenfalls müssen die alle ja erst mal irgendwo bleiben, wenn die hier ankommen, nicht wahr?“, kam er wieder auf das wenig erfreuliche Thema der Wohnungsnot zurück. Er lächelte aufmunternd. „Aber so ein feines Fräulein wie Sie wird ja sicher erst mal ins Hotel gehen.“

Nellies neues Reisekleid schien Mr Murphy einen falschen Eindruck von ihren finanziellen Möglichkeiten zu geben. Natürlich wäre es nett, erst einmal in einem Hotel zu übernachten, aber das war mindestens doppelt so teuer, wie sich gleich dauerhaft irgendwo einzumieten. Sie schüttelte den Kopf.

„Eigentlich würde ich mir am liebsten gleich etwas Längerfristiges suchen. Ich muss meine Pennys etwas zusammenhalten.“

Mr Murphy nickte verständnisvoll. „Und welche Gegend haben Sie sich vorgestellt?“

„Am liebsten natürlich in der Nähe der Park Row, wo die ganzen Verlage sind.“

Ihr hünenhafter Begleiter schüttelte vehement den Kopf. „Das ist keine Gegend für ein Dame. Nee, nee.“

„Dann vielleicht etwas nördlicher?“, fragte Nellie, die Manhattan auf einer Karte eingehend studiert hatte.

„Da ist Kleindeutschland, voll mit Deutschen. Sie wollen ja wohl nicht zwischen die ganzen Schnitzelfresser, oder? Überhaupt sollten Sie lieber weiter nach Norden in Richtung Central Park ziehen, Missy, da sind Sie besser aufgehoben.“

„Aber nicht Yorkville! Da sind mittlerweile auch schon ganz viele Deutsche!“, ließ sich ein schlaksiger Mann in einer auffälligen grünen Tweedweste neben ihnen vernehmen. Er war eindeutig ebenfalls Ire, und die Iren waren sich einig, dass man mit den strebsamen, Schnitzel essenden Deutschen nichts zu tun haben wollte.

Mr Murphy kratzte sich am Kinn.

„Wohin dann mit ihr?“, fragte er über Nellies Kopf hinweg seinen Landsmann. Nellie unterdrückte die aufwallende Empörung, dass die beiden Herren nun einfach über sie und nicht mehr mit ihr sprachen. Wenn sie aber andererseits so an eine günstige Bleibe käme, war es taktisch klug, erst einmal den Mund zu halten. Der dünne Ire, Nellie schätzte ihn auf Mitte dreißig, musterte sie von oben bis unten, als wollte er abschätzen, was sie sich denn so leisten könnte. Anscheinend war er zu keiner befriedigenden Antwort gekommen.

„Was können Sie denn zahlen?“, wollte er wissen.

„Nicht mehr als fünf Dollar pro Woche.“

Die beiden Herren sahen sich an. Mr Murphy schob die Unterlippe vor. Es schien für sie nicht gut auszusehen, dachte Nellie etwas beklommen. Ganz offensichtlich war eine Karte nicht dazu geeignet, einen Eindruck von den tatsächlichen Gegebenheiten einer Stadt zu vermitteln.

„Von der Frau von meinem Bruder Bill die Mutter, die hat da im Westvillage immer zwei Zimmer vermietet“, überlegte der Neuankömmling laut. Aber Mr Murphy schüttelte den Kopf.

„Keine Gegend für eine Dame und zu viele Italiener.“

Der dünne Ire nickte, woraufhin die beiden sich gegenseitig diverse Wohnviertel und Straßenblocks vorschlugen, die sie aber immer sogleich wieder verwarfen. Offenbar war ein Großteil Manhattans für Damen unbewohnbar, und Nellie fragte sich gerade, ob ihre beiden selbst ernannten Beschützer ihre weiblichen Empfindlichkeiten vielleicht überschätzten, als sich unversehens ein weiterer Herr in die Unterhaltung einschaltete.

„Ich wüsste vielleicht was in der Upper Westside.“

„Ach?“ Mr Murphy und der dünne Ire wandten sich um.

Der kleine Mann, der nun ebenfalls mitreden wollte, strich sich mit schwieligen Händen über seine Jacke und tippte sich dann an die Mütze.

„Thomas Kinnley“, stellte er sich vor. „Meine Tochter Maureen wohnt in der 96th Street. Da ist gerade ein Zimmer frei geworden, hat sie mir gestern erzählt.“

96th Street? Nellie besah sich vor ihrem geistigen Auge den Stadtplan von Manhattan. Das war viel zu weit nördlich, viel zu weit weg von der Park Row! Sie schüttelte den Kopf, aber Mr Murphy und der dünne Ire nickten.

„Wie soll ich denn da zur Arbeit kommen?“

„Da fährt doch die 9th Avenue EL, nur drei Blocks südlich ist eine Station, West 93rd Street.“

„Elevated Railroad“, erklärte Mr Murphy unnötigerweise, denn Nellie hatte bereits über New Yorks Hochbahn gelesen.

„Was für eine Wohnsituation ist denn das?“, fragte sie. Es war an der Zeit, ihr Schicksal wieder selbst in die Hand zu nehmen.

„Das ist bei einer Witwe, die ein paar Zimmer untervermietet. Wie eine Pension. Vier Dollar die Woche.“

Die drei Herren sahen Nellie erwartungsvoll an. In der Zwischenzeit hatte die Fähre Manhattan erreicht und begann das Anlegemanöver. Stolze Preise in New York! Aber sie sollte diesem Tipp nachgehen, besser, als Geld in einem Hotel zu verschwenden. Offenbar war es tatsächlich nicht leicht, überhaupt etwas zu finden. Sie konnte von Glück sagen, dass sich ihre neuen Bekanntschaften so für sie bemühten, auch wenn sie deutsche oder italienische Vermieter wohl grundsätzlich nicht in Betracht zogen. Also nickte sie.

„Ja, das sehe ich mir gerne an.“

Mr Murphy trug ihr noch den Koffer zur Hochbahnstation. Nellie nahm sich fest vor, wenn sie je wieder eine Reise ganz alleine machte, würde sie nur ein Gepäckstück mitnehmen! Mit echtem Bedauern verabschiedete sie sich schließlich von ihrer freundlichen Begleitung.

„Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin, Mr Murphy!“ Sie schüttelten einander erneut die Hände.

„Ach, das habe ich doch gerne gemacht, Missy. Ich wünsche Ihnen viel Glück. Vielleicht lese ich ja mal was von Ihnen.“

„Das werden Sie ganz bestimmt, darauf können Sie sich verlassen!“

Er grinste, schien ihr nicht recht Glauben zu schenken. Dann bahnte er sich seinen Weg durch das Gedränge zurück in Richtung Ausgang, so wie ein Dampfer durch entgegenkommende Wellen pflügt.

Nun war sie wieder ganz alleine in der großen Stadt. Und groß war Manhattan wirklich. Geradezu gigantisch und vor allem unfassbar voll. Nie zuvor hatte Nellie derartige Menschenmassen gesehen, nicht einmal in Mexico City. Der Zug fuhr ein, Ruß und Asche spuckend, und sofort drängte die wartende Menge nach vorne. Wer hier hätte aussteigen wollen, hätte Schwierigkeiten bekommen. Nellie packte ihre beiden Gepäckstücke fester und ließ sich von den anderen Fahrgästen in den Waggon schieben. Dicht gedrängt, wie Sardinen in einer Dose, standen sie im Gang. Eigentlich hätte sie ihren Fahrschein in die Sammelbox stecken sollen, aber dann hätte sie ihr Gepäck loslassen müssen, und überhaupt hätte sie sich gar nicht zur Box vordrängen können. Zwar war sie objektiv gesehen nicht weit weg, aber eben doch unerreichbar. Mit einem Ruck setzte sich der Zug in Bewegung. Nellie reckte den Hals, um hinauszusehen. Es war kurios, so über der Straße zu schweben und den Leuten in die Wohnungen schauen zu können. Ihr würde das nicht behagen. Das war sicher sehr lästig, wenn einem immer die Bahn vor dem Wohnzimmerfenster vorbeirumpelte, lästig und laut. „Mann seit drei Wochen nicht geschlafen wegen Hochbahn!“, formulierte Nellie im Geiste eine weitere Schlagzeile. Konnte man überhaupt drei Wochen ohne Schlaf überleben? Jonathan hätte das gewusst. Die Bahn fuhr an schier endlosen Reihen mehrstöckiger Wohnhäuser aus braunem Backstein vorbei. Überall flatterte Wäsche. Schnurgerade folgte die Hochbahn der 9th Avenue Richtung Central Park. Sie hielten an verschiedenen Stationen, Leute stiegen ein und aus, ohne dass der Zug merklich leerer wurde. Wie war das wohl zu Arbeitsbeginn und Feierabend? Endlich, „West 93rd Street“. Nellie durfte aussteigen und war herzlich froh darüber. Die Treppe hinunter auf die Straße war steil. In jeder Hand ein Gepäckstück, musste sie achtgeben, nicht auf ihren vorderen Rocksaum zu treten, sonst wäre sie kopfüber gefallen. Diesmal gab es keinen irischen Kavalier, der ihr seine Hilfe angeboten hätte, vielmehr hasteten die Leute rücksichtslos an ihr vorbei, den Blick auf den Boden geheftet. Der New Yorker an sich schien es immer eilig zu haben.

Geschafft. Nellie hatte wieder festen Boden unter den Füßen und sah sich suchend um. Die Straße unter der Hochbahn war nicht weniger verstopft als der Zug. Wo kamen bloß all die Leute her? Es war sagenhaft. Und sagenhaft schmutzig obendrein. Ruß und Dreck der Bahnlokomotive rieselten erbarmungslos auf die Passanten und Pferdefuhrwerke auf der Straße nieder. Nellie setzte sich in Bewegung, nur drei Blocks zur 96th Street. Trotzdem war sie schweißgebadet, als sie endlich am richtigen Haus ankam. Nie wieder so viel Gepäck!

„Ich suche Mrs Bukowski. Wohnt die hier?“, fragte Nellie zwei struppige Kinder, die im Rinnstein mit Murmeln spielten.

Die Kinder sahen sie mit großen, sehr blauen Augen an. Es mussten Geschwister sein. Sie nickten.

„Und ist sie zu Hause?“

Wieder nickte das Paar synchron.

„Danke schön.“

Nellie betrat das schmale dreistöckige Haus. Es war noch nicht alt, aber trotzdem schon ein bisschen abgewohnt. Nellie klopfte vernehmlich. Als niemand antwortete, öffnete sie die Tür und steckte den Kopf hindurch. Essensduft kam ihr entgegen.

„Hallo! Ist jemand da?“

Ein gigantisches dunkles Etwas kam urplötzlich hinter dem Sofarücken hervor. Nellie hätte vor Schreck fast ihr Gepäck fallen lassen.

„Was? Wie?“

Unter einer Wolldecke unbestimmter Farbe kam eine sehr umfangreiche junge Frau hervor. Nellie hätte über ihren eigenen Schreck fast laut gelacht.

„Kann ich Ihnen helfen?“ Im Türrahmen auf der entgegengesetzten Seite des Salons erschien auch eine Frau. Sie mochte in den Vierzigern sein, hochgewachsen und kräftig. Aber nicht wie die junge Dame auf dem Sofa, die Nellie jetzt mit unverhohlener Neugierde betrachtete, sondern eher wie eine Amazone. Sie hatte dunkle Haare und dunkle Augen, die einen aparten Kontrast zu ihrer hellen Haut ergaben. Nellie hatte sich die „Witwe“ ganz anders vorgestellt, irgendwie klein und hutzelig. Die Frau musterte Nellie mit einem Blick, dem sicher nicht viel entging.

„Kommen Sie wegen des Zimmers?“

„Ja, ganz genau.“

„Wer hat Ihnen davon erzählt?“

„Der Vater von Maureen.“

Das klang, als wäre sie mit dieser anderen Mieterin bekannt, was hoffentlich ein Vorteil und kein Nachteil war. Offenbar war es kein Nachteil, denn die Vermieterin löste sich von der Tür, kam auf Nellie zu und streckte die Hand aus.

„Ich bin Eliza Bukowski, die Inhaberin dieser Pension.“ Nellie meinte Stolz in ihrer Stimme zu hören.

„Nellie Bly.“ Sie schüttelten sich die Hände.

„Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Zimmer.“

Nellie setzte ihr Gepäck ab und folgte Mrs Bukowski die schmale, steile Treppe hinauf in den ersten Stock und dann noch eine in den zweiten.

„Ich habe fünf Zimmer zu vermieten. Dieses ist gerade frei geworden.“

Der Raum war klein, aber sauber. Ein Bett, ein Stuhl, eine Kommode mit Lampe und Spiegel. Sie trat ans Fenster und sah hinab in die dunkle rückwärtige Gasse. Das nächste Haus war so nahe, dass sie die Wand fast hätte berühren können. Kein Sonnenstrahl würde sich je hier hereinverirren.

„4,50 Dollar pro Woche mit Verpflegung morgens und abends. Im Voraus.“

„4,50? Maureens Vater sagte, vier Dollar.“

„Maureen hat kein Fenster.“

Kein Fenster? In Manhattan herrschte wirklich Wohnungsnot! Aber dieses Zimmer war so gut wie jedes andere, und wahrscheinlich hatte sie wirklich riesiges Glück, überhaupt so schnell untergekommen zu sein. Fürs Erste war es in Ordnung, und wenn sie sich erst einmal auskannte, würde sie sich etwas Besseres suchen.

„Einverstanden.“

„Kommen Sie, ich mache uns einen Tee.“

Nellie folgte ihr die Treppe hinunter. Die junge Frau auf dem Sofa hatte sich aufgerappelt und war dabei auszugehen.

„Das ist Miss Hamilton“, stellte Mrs Bukowski sie einander vor. „Jane, das ist Miss Bly.“

Miss Hamilton unterbrach ihre Bemühungen, ihre pummeligen Finger in ein Paar cremefarbene Handschuhe zu zwängen, und lächelte freundlich.

„Nennen Sie mich gerne Jane. Ich kann leider nicht bleiben und plauschen, ich muss jetzt zur Arbeit.“

„Wo arbeiten Sie denn?“

„Ich bin Köchin im Temple of Health. Vegetarisch nach Kellogg!“

Sie winkte und war auch schon, die Handschuhe noch nicht übergestreift, zur Tür hinaus.

„Vegetarisch“, wiederholte Nellie.

„Ja“, bestätigte Mrs Bukowski amüsiert, „und dort bekocht von unserer hausbackenen Jane.“

Nellie lachte.

„Das ist schon erstaunlich, was es in Manhattan alles so gibt.“

„Allerdings“, brummte die Vermieterin und stellte zwei Teetassen auf den Tisch.

„Erzählen Sie mal, was haben Sie vor?“

„Ich bin Journalistin und werde hier arbeiten.“

„Aha.“

Für einen Moment war Nellie ein bisschen pikiert, dass ihre neue Vermieterin von der Tatsache, eine weibliche Journalistin vor sich zu haben, anscheinend wenig beeindruckt war. Dann musste sie über sich selbst schmunzeln. Immer beschwerte sie sich, wenn die Leute mit Erstaunen auf ihren Beruf reagierten, und blieb das einmal aus, war sie auch nicht zufrieden.

Während Mrs Bukowski in der Küche mit dem Wasserkessel hantierte, wanderte Nellies Blick durch den Salon. Er war geschmackvoll eingerichtet. Die meisten Möbel waren ein bisschen abgewetzt, bei einer Pension sicher kein Wunder. Doch alles war sehr wohnlich. Nellie ließ sich auf einen der Stühle am großen Tisch sinken, an dem wohl die Mahlzeiten eingenommen wurden. Doch im Großen und Ganzen hatte sie wohl wirklich Glück gehabt.

„Erzählen Sie mal, wo kommen Sie her?“, fragte Mrs Bukowski, als sie sich schließlich mit der Teekanne zu Nellie an den Tisch setzte.

„Pittsburgh.“

„Ach, dann sind Sie heute angekommen?“

„Ja, heute Morgen mit dem Zug.“

„Guck an.“

Sie goss Tee in die Tassen und schob Nellie die Zuckerdose zu.

„Und haben Sie Aussicht auf Arbeit?“

Keine ganz unberechtigte Frage für eine Vermieterin, die jede Woche 4,50 Dollar von ihr sehen wollte. Nellie hatte nach ihrem doch recht spontanen Entschluss, nach New York zu ziehen, ihr Sparkonto geplündert und würde sich mit diesem Geld die erste Zeit über Wasser halten können. Da New York die Zeitungshauptstadt der USA war, war Nellie zuversichtlich, bald eine Anstellung zu finden, am liebsten bei der New York World.

„Nein, noch nicht, aber ich habe schon für den Pittsburgh Dispatch gearbeitet und gute Referenzen.“

„Zeitungen gibt es hier ja zur Genüge. Warum haben Sie Ihre Stelle in Pittsburgh aufgegeben? Ich würde meinen, dass es nicht ganz einfach ist, als Frau überhaupt eine zu finden.“

Eliza Bukowski gefiel Nellie, sie stellte die richtigen Fragen.

„Es ist mir einfach zu langweilig geworden. Ich will über die richtigen Sachen schreiben, nicht nur über Theatervorstellungen oder Mode.“

Bronzener HOMER 2023 für „Botschafterin des Friedens“

Eva Grübl gewinnt mit „Botschafterin des Friedens“ den bronzenen HOMER Literaturpreis 2023. 

Mit ihrem ersten historischen Roman bei Piper konnte sich die gebürtige Wienerin den dritten Platz bei der diesjährigen Verleihung des HOMERS sichern. Der HOMER Literaturpreis will die Vielfalt der historischen Unterhaltungsliteratur fördern und zeichnet die besten historischen Romane des Jahres aus. Über den goldenen HOMER kann sich der Wiener René Anour für „Die Totenärztin“ freuen. 

In ihrer Romanbiografie erzählt Eva Grübl das spannende Leben der österreichischen Pazifistin Bertha von Suttner. Die Friedensforscherin und Schriftstellerin wurde 1905 als erste Frau mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet und ist bis heute eine Ikone der Friedensbewegung. „Botschafterin des Friedens. Ihr Kampf für die Liebe war ein Skandal, ihr Kampf gegen die Waffen veränderte die Welt“ ist im Juli 2022 erschienen und ist Teil der Piper-Reihe über „Bedeutende Frauen, die die Welt verändern“. 

 

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Botschafterin des FriedensBotschafterin des Friedens
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Bertha von Suttner – Ihr Kampf für die Liebe war ein Skandal, ihr Kampf gegen die Waffen veränderte die Welt

Ein Leben für den Frieden

Wien, 1873: Mit 29 wird Bertha Gouvernante im Hause von Suttner und verliebt sich in Arthur, den jüngsten Sohn der Familie. Als die Baronin von der skandalösen Verbindung erfährt, wird Bertha gekündigt. 

Mit gebrochenem Herzen flieht sie nach Paris und wird die Sekretärin eines berühmten Chemikers, der an Dynamit forscht: Alfred Nobel. Es entsteht eine Freundschaft mit Sprengkraft, denn ihre Positionen könnten unterschiedlicher nicht sein. Bertha weiß: Sie wird gegen Waffen kämpfen und für den Frieden. Ihre Berufung hat sie nun gefunden, aber ihre Sehnsucht nach Arthur ist drängender denn je … 

Die österreichische Pazifistin, Friedensforscherin und Schriftstellerin Bertha von Suttner (1843–1914): wurde 1905 als erste Frau mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

Ihr Leben lang führte Bertha von Suttner den scheinbar aussichtslosen Kampf für Abrüstung und Frieden. In Briefen ermutigte sie ihren Freund Alfred Nobel unermüdlich, eine Stiftung für den Frieden zu gründen, was er in seinem Testament tatsächlich festlegte. 

Bertha von Suttner allerdings wurde gegen Nobels Willen zunächst nicht ausgezeichnet. Erst 1905 erhielt sie den Friedensnobelpreis für ihr Werk „Die Waffen nieder!“. Vier Jahre hatte die Jury sich geweigert, eine Frau auszuzeichnen. 

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Eva Grübl

Über Eva Grübl

Biografie

Eva Grübl-Widmann wurde 1971 in Wien geboren. Sie studierte Grundschullehramt und Gehörlosenpädagogik. Nach langjährigem Auslandsaufenthalt in Stockholm und Mailand, lebt sie heute mit ihrer Familie wieder in Österreich und unterrichtet an einem Kompetenzzentrum für hörbeeinträchtigte Kinder. Ihre Freizeit gehört ganz ihren drei Leidenschaften: ihrer Familie, dem Schreiben von Romanen und dem Reisen in ferne Länder. „Botschafterin des Friedens“ ist ihr erster Roman im Piper Verlag.

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