Lieferung innerhalb 1-3 Werktage
Bezahlmöglichkeiten
Vorbestellung möglich
Kostenloser Versand*
Rosengrab (Darmstadt-Krimis 3)Rosengrab (Darmstadt-Krimis 3)

Rosengrab (Darmstadt-Krimis 3)

Michael Kibler
Folgen
Nicht mehr folgen

Kriminalroman

›Rosengrab‹ bietet spannende Unterhaltung, ist sehr gut recherchiert und erzählt von Charakteren, denen man gerne noch in weiteren Fortsetzungen begegnen möchte. - www.focus.de/ www.focus.de

Alle Pressestimmen (2)

Taschenbuch (9,99 €) E-Book (8,99 €)
€ 9,99 inkl. MwSt.
sofort lieferbar
In den Warenkorb
Geschenk-Service
Für den Versand als Geschenk können eine gesonderte Lieferadresse eingeben sowie eine Geschenkverpackung und einen Grußtext wählen. Einem Geschenkpaket wird keine Rechnung beigelegt, diese wird gesondert per Post versendet.
Kostenlose Lieferung
Bestellungen ab 9,00 € liefern wir innerhalb von Deutschland versandkostenfrei
€ 8,99 inkl. MwSt.
sofort per Download lieferbar
In den Warenkorb
Geschenk-Service
Für den Versand als Geschenk können eine gesonderte Lieferadresse eingeben sowie eine Geschenkverpackung und einen Grußtext wählen. Einem Geschenkpaket wird keine Rechnung beigelegt, diese wird gesondert per Post versendet.

Rosengrab (Darmstadt-Krimis 3) — Inhalt

Bei einer Autobahnraststätte wird eine junge Frau quer über die Fahrbahn in den Tod getrieben. Für Kommissar Steffen Horndeich und seine Kollegin Margot Hesgart steht schnell fest, dass hier kein Selbstmord vorliegt. Aber wer steckt dahinter? Immer tiefer dringen die Ermittler in ein Netz aus Lügen und Verrat vor. Bis sie schließlich einen rätselhaften Fund auf der Darmstädter Rosenhöhe machen, wo eine unglaubliche Wahrheit unter der Erde ruht ...

€ 9,99 [D], € 10,30 [A]
Erschienen am 01.10.2010
384 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-25989-7
Download Cover
€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 10.06.2014
384 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-96834-8
Download Cover

Leseprobe zu „Rosengrab (Darmstadt-Krimis 3)“

Prolog


Der Tod klingt wie ein Presslufthammer.

Dieser Gedanke war ihm regelrecht durch den Kopf geschossen, als er die Salve aus der Maschinenpistole gehört hatte. Ein Geräusch, das sein Leben verändert hatte.

Es war noch gar nicht lange her. Erst zwei Wochen. Oder, um genau zu sein, vierzehn verdammte Nächte, in denen er jedes Mal schweißgebadet aufgeschreckt war.

Es war saukalt. Er hätte die Mütze mitnehmen sollen. Und Handschuhe. Auch die Jacke war zu dünn. Aber er hatte schließlich behauptet, dass er nur Zigaretten holen ging.

Komisch, die kalte Nase [...]

weiterlesen

Prolog


Der Tod klingt wie ein Presslufthammer.

Dieser Gedanke war ihm regelrecht durch den Kopf geschossen, als er die Salve aus der Maschinenpistole gehört hatte. Ein Geräusch, das sein Leben verändert hatte.

Es war noch gar nicht lange her. Erst zwei Wochen. Oder, um genau zu sein, vierzehn verdammte Nächte, in denen er jedes Mal schweißgebadet aufgeschreckt war.

Es war saukalt. Er hätte die Mütze mitnehmen sollen. Und Handschuhe. Auch die Jacke war zu dünn. Aber er hatte schließlich behauptet, dass er nur Zigaretten holen ging.

Komisch, die kalte Nase zeigte ihm, dass er noch lebte. Dass er das Stakkato der Maschinenpistole überlebt hatte. Doch das Geräusch des Todes und die Schreie des Mannes hatten sich tief in seine Seele gebrannt.

Er hatte noch nicht einmal an den Tod gedacht, als sein Wagen ein paar Wochen zuvor wie ein Projektil über die Fahrbahn geschossen war, um danach als Blechlawine eine Schneise in die Vegetation des Hangs zu schlagen. Der Gurt hatte ihm das Leben gerettet. Und der Helm. Und der Überrollbügel. Er hatte sich gefühlt wie in einer Waschmaschine beim Schleudergang. Aber er hatte keine Sekunde an den Tod gedacht. Drei Rippen waren gebrochen gewesen, und er hatte Blutergüsse am ganzen Körper gehabt. So war er aus dem Wrack gekrochen. Und das Einzige, was er gefühlt hatte, war eine unglaubliche Wut darauf, dass der Wagen Schrott war.

Die Salve aus der MPi hingegen, die hatte ihm bewusst gemacht, dass er so nicht weiter leben wollte. Und konnte. Es war das erste Mal gewesen, dass er an seine Kinder gedacht hatte. Nicht als sabbernde Monster, die ihm den Schlaf raubten. Sondern … Ach, Bullshit, auf jeden Fall wusste er, dass er eine Verantwortung hatte. Auch wenn ihm das nicht passte.

Er und Barbara, das war nett gewesen. Wie mit den vielen, vielen anderen auch. Aber … Verdammt, als der Tod ihm ins Ohr gehaucht hatte, als er ihm so nah gewesen war, dass er ihm locker hätte auf die Schulter tippen können, da hatte er an sein Zuhause gedacht. Und nicht an Barbara. Oder an ihre vielen Vorgängerinnen, inzwischen namenlos und oft schon gesichtslos.

Wenn er starb, würde er nur noch durch seine Töchter weiterleben. Auch ein Gedanke, der ihm noch nie gekommen war. Ein Gedanke, der stets vom Röhren der Motoren und vielleicht auch vom Seufzen der Damen erstickt worden war.

Er überquerte die Straße, durchschritt das Tor und ging langsam über den aufgewühlten Boden.

Er fragte sich, wie die Mutter seiner Kinder wohl über ihn denken würde, wenn er tot war. Würde sie froh sein, dass es ihn nicht mehr gab? Würde sie erleichtert sein darüber, dass sie ihn nicht mehr mit anderen Frauen teilen musste? Oder würde sie traurig sein, vielleicht sogar verzweifelt?

Von einem Moment zum anderen überfiel ihn eine Sehnsucht nach ihr, wie er sie noch nie verspürt hatte. Fast zwei Jahre lebten sie schon zusammen. Und es war keine einfache Zeit gewesen, weiß Gott nicht. Schon als ihr Bauch immer dicker geworden war, hätte er am liebsten alles rückgängig gemacht. Und als die Bälger ihn nicht mehr schlafen ließen, hätte er sie am liebsten … Na, zumindest wäre er am liebsten einfach abgehauen. Was er in einigen Nächten ja auch getan hatte.

Aber er würde sich ändern. Vielleicht lag es wirklich an seiner Einstellung. Und vielleicht … Vielleicht würde sie ihm auch noch einen Sohn schenken.

Finanzielle Sorgen, die hatten sie ja nun nicht mehr. Auch wenn sie davon noch nichts wusste.

Wenn er in einer halben Stunde wieder zu Hause wäre, würde er sie fragen. Er würde sie fragen, ob sie ihn heiraten wollte.

Nägel mit Köpfen.

Keine halben Sachen mehr.

Und einen Sohn.

Der Gedanke gefiel ihm.

Und vielleicht würde der Gedanke an das Leben stärker sein als der Klang des Todes.

„Na endlich, da bist du ja!“, hörte er die Stimme seines Freundes.

Er war angekommen.



Sonntag


Kommissar Steffen Horndeich, den jeder nur Horndeich nannte, hörte den Knall.

Dann nichts mehr.

„Hallo?“, fragte er in sein Handy.

Doch seine Gesprächpartnerin antwortete nicht.

„Sandra?“

Nicht mal mehr ein Rauschen.

Horndeich betrachtete die Anzeige für die Signalstärke. Wenn das Gespräch zusammengebrochen war, dann nicht von seinem Gerät aus.

Noch einmal hakte er nach, diesmal lauter. „Sandra? Hallo!“

„Hat sie dich abgewürgt?“, fragte Henrik Gärtner, Horndeichs Nachbar und seit geraumer Zeit auch ein wenig ein Freund. Obwohl seine Frage Horndeich das Verhältnis zu ihm noch einmal überdenken ließ.

„Sie antwortet nicht. Da ist was passiert! Sie hatte einen Unfall!“ Während er das sagte, dachte ein Teil seines Gehirns: Sandra ist verletzt. Ein anderer dachte: Mein Wagen ist Schrott.

Sie saßen nebeneinander auf einer der Steinbänke gegenüber dem Brunnen. Die Luft war lau, die Atmosphäre in diesem etwas abgelegeneren Teil der Rosenhöhe – Darmstadts schönstem Park – entspannend. Henrik hatte sich gerade eine Zigarette angezündet. Selbst gedreht. Ein Kraut, bei dessen Gestank sich Horndeich jedes Mal fragte, ob es nicht doch ein Fall für die Drogenfahndung war.

„Quatsch“, meinte Henrik ganz entspannt. „Wahrscheinlich hat sie einfach aufgelegt. Ich meine – so wie du sie gerade angemault hast.“

Horndeich war sich keiner Schuld bewusst. Zumindest keiner großen. Schließlich hatten sie vereinbart, dass Sandra Hillreich, Kollegin im Morddezernat Darmstadt, ihm den geliehenen Wagen – spätestens – am Mittag zurückbringen würde. Er hatte eigentlich noch nach Langen an den Badesee fahren wollen. Gut, in den Nachrichten hatten sie um zwölf schon gesagt, dass dort alle Parkplätze belegt waren. Also war er mit Henrik zum See gefahren. Auf dessen Motorrad.

Erst vor zwei Minuten hatte das Telefon geklingelt. Und jetzt war es schon nach 23 Uhr. Sandra hatte sich sogleich entschuldigt, sie sei erst nach dem Kaffee von ihrer Familie losgekommen.

Noch bevor sie weitersprechen konnte, hatte sich Horndeich schon wortreich beschwert. Als er dann zwischenzeitlich hatte Luft holen müssen, hatte Sandra erzählt, was passiert war. Kurz hinter Kassel sei ihr der Reifen um die Ohren geflogen. Der Mann vom ADAC, auf den sie eine Stunde gewartet hatte, habe ihr zwar geholfen, das Notrad aufzuziehen und es vor allem mit Luft versorgt, aber einen richtigen Reifen hatte der auch nicht dabei gehabt. Als sie Horndeich hatte anrufen wollen, hatte sie festgestellt, dass der Akku ihres Handys nicht leer, sondern kaputt war. Dann war der Stau gekommen. Siebzehn Kilometer, direkt hinter dem Hattenbacher Dreieck bis Alsfeld. Fünf Stunden. Und als sie in seinem Handschuhfach nach einem Kaugummi geforscht habe, sei sie auf das Handy gestoßen, mit dem sie Horndeich gerade anrief. Inzwischen sei sie schon hinter Langen und würde ihm den Wagen gleich vorbeibringen.

„Ich bin aber nicht zu Hause“, hatte Horndeich ins Handy geblafft.

Die Antwort war der Knall gewesen.

Horndeich wusste, von welchem Handy aus seine Kollegin ihn angerufen hatte. Im Handschuhfach seines Wagens lag ein billiges 08/15-Teil mit Prepaidkarte. Für Notfälle. Er tastete sich durch das Telefonbuch seines Mobilapparats, fand unter N Notfallhandy und drückte die Wähltaste. Freizeichen. Keine Mailbox.

„Wahrscheinlich hat sie es nach deinen freundlichen Worten einfach in den Fußraum gepfeffert“, offenbarte Henrik seine Meinung zur weiblichen Psyche.

„Da ist was passiert“, wiederholte Horndeich.

„Quatsch“, sagte Henrik erneut.

Um sie herum saßen vielleicht noch zwanzig Leute, meist Pärchen. Sie hatten dem Konzert von „Melancholical Gardens“ gelauscht, Horndeichs Lieblingscombo unter den Darmstädter Bands. Er kannte die Mitglieder der Band sogar persönlich, vor allem Joana. Er hatte ein paar Mal mit ihr gesprochen, sie hatten sogar miteinander telefoniert, hatten über Musik geplaudert, und er hatte sie auch schon mal nach Hause gefahren und einen Kaffee in ihrer Küche mit ihr getrunken. Alles rein platonisch. Er hatte ja seine Anna. Und um den liebestollen Groupie zu spielen, dafür war Horndeich nun doch zu alt. Oder zumindest zu reif.

Etwa fünfzig Besucher hatten das Konzert gehört. Für gewöhnlich lauschten mehr Menschen Joana Werder und ihrer Band. Aber an diesem Abend hatten sie ohne offizielle Ankündigung, ohne Verstärker und auch ohne Genehmigung auf der Rosenhöhe gespielt. Nur für die Freunde der Gruppe.

Das Areal überzog feiner Kies und Rasen, umkränzt von niedrigen Hecken. Früher hatte mal ein kleines Schloss auf diesem Gelände gestanden, das Palais Rosenhöhe. Und an diesem Abend war die Fläche romantische Bühne. Das Konzert war für die Band die Generalprobe für den Auftritt auf dem Schlossgrabenfest am kommenden Sonntag. Das Fest in der Darmstädter Innenstadt hatte sich in den vergangenen Jahren zum größten Musikereignis Hessens gemausert. Für „Melancholical Gardens“ war es ein Schritt zu echtem Erfolg.

Vor einer guten Viertelstunde war das letzte Lied verklungen. Oh Daddy. Eine Coverversion des alten Fleetwood-Mac-Songs.

„Pass auf, in ein paar Sekunden fährt sie rechts ran, fischt das Handy von der Fußmatte und ruft dich zurück.“ Für Henrik war die Welt immer einfach. Wahrscheinlich mochte Horndeich seinen Nachbarn genau deshalb. Nur dass Sandra, schließlich im Polizeidienst wie er selbst, kaum auf den Standstreifen einer Autobahn fahren würde, um nach einem Handy zu suchen. Zumal Horndeich nicht glaubte, dass sie es wirklich dort hingepfeffert hatte.

„Ich ruf bei den Kollegen von der Autobahnpolizei an“, entschied Horndeich. Zum Glück hatte er die Rufnummern der wichtigen Dienststellen in seinem Handy gespeichert. Er klickte sich durchs Menü, als sein Handy anschlug.

Henrik grinste breit und inhalierte einen tiefen Zug.

„Ja?“, sagte Horndeich knapp.

„Steffen?“

Keine Sandra. Sondern Anna. Seine Freundin. „Hallo Anna. Schatz, ich muss dringend telefonieren, kann ich dich in fünf Minuten zurückrufen?“

„Ich bin nicht zu Hause. Wir fahren gerade zu Onkel Sergej nach Karamzino. Ich habe sicher gleich kein Netz mehr.“

„Anna?“, fragte Henrik überflüssigerweise von links.

Horndeich nickte. „Anna, kannst du vielleicht …“

„Steffen, ich komm übermorgen noch nicht zurück. Es dauert noch zwei Wochen. Es ist noch so viel hier zu erledigen. Nichts klappt, wie es soll.“

Noch zwei Wochen. Seit sieben Wochen weilte Anna bereits in Moskau. Seit ihre Mutter sich das Bein gebrochen hatte. Sie hatte sie nur besuchen und nach einer Woche wieder zurückkehren wollen. Dann war klar geworden, dass ihre Mutter für immer auf Hilfe angewiesen sein würde. Anna wollte ein Pflegeheim finden. Noch eine Woche. Aber das war offenbar in Moskau noch schwieriger als in Deutschland. Und noch eine Woche.

„Wie geht es deiner Mutter?“, rang sich Horndeich ab zu fragen. Dabei wusste er die Antwort schon im Voraus.

„Unverändert.“

Sie schwiegen sich über die Distanz von zweitausend Kilometern an. Stille, die man greifen konnte.

„Ich melde mich, wenn ich in zwei Tagen wieder in Moskau bin.“

„Ja. Mach das.“

Kein „Ich liebe dich“. Nicht mal ein „Bis dann.“

Horndeich wollte nicht darüber nachdenken.

„Verabschiedet ihr euch immer so herzlich?“, lästerte nun auch der Kettenraucher von links.

Horndeich entgegnete nichts. Er wählte zuerst die Nummer der Telefonzentrale seines Reviers, ließ sich dann von dem Kollegen, den er an die Strippe bekam, mit der Autobahnpolizei verbinden. Deren Dienststelle war im Westen Darmstadts angesiedelt, sinnvollerweise unmittelbar am Autobahnzubringer. Während das Freizeichen ertönte, hörte er einen Hubschrauber. Könnte ein privater Helikopter sein. Könnte aber auch ein Notarzt-Heli sein.

„Blanken, Autobahnpolizei Darmstadt, guten Abend“, meldete sich der Kollege.

Horndeich kannte Blanken. „Jörg? Hier Horndeich.“

„Hallo, Horndeich! Ist es was Wichtiges? Hier brennt gerade die Hütte.“

Steffen Horndeichs Magen zog sich zusammen wie ein Wasserball an einer Vakuumpumpe. „Was ist passiert?“

„Auf der A5 hat’s geknallt“, antwortete Blanken.

„Wo?“

„Raststätte Gräfenhausen West. Scheint richtig übel zu sein. Wir haben noch keinen genauen Überblick, aber es sieht so aus, als ob da mindestens dreißig Wagen ineinander geschoben worden sind, zusätzlich noch auf der Gegenfahrbahn.“

Horndeich brachte keinen Ton mehr hervor.

„Horndeich? Was willst du denn nun?“

Er antwortete nicht mehr. Er drückte auf die Taste, die die Verbindung unterbrach. „Ich brauch dein Motorrad“, flüsterte er Henrik zu.

„Was ist denn los?“

„Ein Unfall. A5. Hinter Langen. Sandra.“

„Und was willst du da?“

„Ich muss wissen, was los ist.“

„Ich fahr dich.“

Horndeich schüttelte den Kopf. „Nein, ich fahr selbst. Du weißt nicht, wie du da hinkommst.“

„Sag mal, ist noch alles gut im Kopf? Rheinstraße nach Westen, dann auf die Autobahn nach Norden …“

„Die Autobahn ist dicht. Ich muss durch den Wald. Zur Raststätte.“

Henrik sah seinen Freund an. Horndeich wich dem Blick nicht aus. Er sagte nur: „Bitte.“

Henrik warf die Kippe auf den Boden und zerquetschte sie mit dem Schuhabsatz. Für gewöhnlich hätte Horndeich das mindestens mit einem Spruch kommentiert. Aber Henrik spürte, dass seit ein paar Minuten gar nichts mehr gewöhnlich war.

Sie gingen schweigend den Pfad hinab, der zum Eingang der Rosenhöhe am Pförtnerhäuschen führte. Die Sommer 462 stand unmittelbar neben dem schmucken kleinen Gebäude. Auf den ersten Blick wirkte die Maschine wie ein altes britisches Motorrad. Schwarz, mit bulligem Tank, klassisch lang gezogenem Chromauspuff, dicker Trommelbremse und Speichenrädern. Nur der Motor sah ungewöhnlich aus.

Henrik steckte den Schlüssel ins Schloss. Drückte den Elektrostarter. Ein sattes Nageln drang in Horndeichs Ohren. Jeder Unbedarfte hätte sich in diesem Moment umgedreht und nach einem Lastwagen oder wenigstens einem alten Mercedes Ausschau gehalten. Doch das Dieselgeräusch gehörte tatsächlich zu dem Kraftrad. Wenn man es mit seinen zahmen elf PS so nennen konnte. „Schluckt nur zweieinhalb Liter“, hatte Henrik stoisch geantwortet, als Horndeich ihn gefragt hatte, wieso er ein Dieselmotorrad fuhr.

Horndeich schwang sich auf den Sattel. Er setze den Jet-Helm auf, den Henrik ihm am Morgen geliehen hatte, zog den Riemen unter dem Kinn fest und bockte die Maschine ab. Mit sattem Klacken rastete der erste Gang ein.

„Hoffentlich ist ihr nichts passiert“, meinte Henrik.

„Dank dir“, sagte Horndeich nur und ließ die Kupplung kommen. Das Krad machte einen Satz nach vorn. Sattes Drehmoment quasi schon im Leerlauf – genau das Richtige für einen Ritt durch den Wald.


Das blaue Blitzgewitter der Signallichter zuckte durch den Wald. Als würden sich zwei Armeen Außerirdischer zwischen den Bäumen ein Scharmützel mit Laserwaffen liefern. Schon als er über die Autobahnbrücke zwischen Wixhausen und Gräfenhausen gefahren war, hatte er die Armada von Blaulichtern blinken sehen. Inzwischen flog nicht mehr nur ein Hubschrauber über dem Gelände, es waren mindestens drei.

Horndeich hatte keine zehn Minuten für die elf Kilometer gebraucht. Auch ohne eigenes Blaulicht. Wenn es auch an der Baustelle auf der Frankfurter Straße, auf der sie derzeit die Straßenbahnschienen erneuerten, etwas eng geworden war.

Die Sommer ließ sich souverän über den Feldweg lenken, der nach Norden führte. Horndeich nahm nicht den asphaltierten Weg, der parallel zur Autobahn führte, denn den benutzten weitere Kollegen des Rettungsdienstes, denen er nicht im Weg sein wollte. Sein Weg führte auf dem schmalen Trampelpfad zwischen Steinrodsee und Autobahn direkt auf den Parkplatz der Raststätte Gräfenhausen West. Er schaltete einen Gang runter, dann erreichte er den Parkplatz.

Flutlichter auf Masten erhellten das Grauen. Entlang der Zufahrt auf die Autobahn sah Horndeich mehrere ineinander verkeilte Wagen. Unmöglich zu sagen, was für Autotypen die zusammengeschobenen Wracks gewesen waren.

Er stellte die Sommer neben einer der Picknickbänke am Parkplatz für die Lastzüge ab, hängte den Helm an den Lenker und rannte auf das Chaos zu.

Feuerwehrwagen und Sankas waren neben den Lastwagen abgestellt. Menschen wuselten zwischen den Wracks hin und her wie aufgescheuchte Hühner. Je mehr sich Horndeich der Autobahn näherte, desto mehr Wagen konnte er sehen. Weiter vorn sah er zwei ineinander geschobene Sattelzüge. Das sonntägliche LKW-Fahrverbot auf deutschen Autobahnen galt seit über einer Stunde nicht mehr; der Parkplatz für Lastwagen war kaum noch belegt. Die meisten Brummifahrer waren Punkt 22 Uhr wieder auf die Piste gerollt.

Horndeich erblickte einen Kollegen von der Autobahnpolizei. Jörg Blanken, mit dem er telefoniert hatte. Offenbar hatten sie inzwischen alle Kräfte vor Ort zusammengezogen.

„Jörg!“, rief Horndeich.

Der Angesprochene drehte sich um, trat auf Horndeich zu. „Na, haben sie euch auch schon gerufen?“

„Nein. Was ist denn hier in Gottes Namen passiert?“

„Es sieht so aus, als wäre jemand über die Autobahn gelaufen.“

Horndeich schüttelte den Kopf. „Über die Autobahn? Gelaufen?“

„Ja. Vielleicht Selbstmord.“

„Und? Hat er es geschafft?“

„Über die Autobahn? Quatsch. Wohl bis zur zweiten Spur. Dann war Ende-Gelände.“

Horndeich war mit einer ausgeprägten Vorstellungsgabe gesegnet. Nun, in diesem Falle eher gestraft. Er würde nie begreifen, wie sich ein Mensch vor einen Zug werfen konnte. Oder über eine befahrene Autobahn laufen. Der Effekt war sicher der gleiche.

„Die Bestatter kommen gleich. Die Jungs vom Bestattungshaus Flobert. Die werden sich sicher nicht über den Auftrag freuen. Sie müssen die Teile aufsammeln. Kein schöner Anblick. Zum Glück ist das nicht mein Job.“

Kurz schwiegen sie sich an, jeder in eigene Gedanken vertieft.

„Was machst du denn eigentlich hier?“

Die Frage holte Horndeich aus dem kurzen Wach-Albtraum zurück in die Wirklichkeit. „Mein Wagen … Äh, ich meine, meine Kollegin, sie ist mit meinem Wagen gefahren. Wir haben telefoniert. Dann brach das Gespräch ab. Und es klang, als ob …“

„Was für einen Wagen fährst du?“

„Golf II. GTI. Rot.“

Kurz weiteten sich die Augen des Polizisten. Dann blickte er zu Boden. „Scheiße.“

„Wo ist sie?“, fragte Horndeich.

„Steffen, du solltest da nicht hingehen.“

„Wo ist sie?“, bellte er.

Blanken deutete mit dem Kopf nach vorn, in die Richtung, in der die Auffahrspur endete. Horndeich konnte keinen Golf ausmachen. Dennoch lief er los.

Er sah nur die Sattelzüge. Vielleicht war Sandra auf der Überholspur gewesen, als es gekracht hatte. Im Vorbeirennen las er die Aufschrift des Lastzuges. „Wir schieben die Preise zusammen.“ Ein gelber Preis befand sich in einer Presse und drohte gerade zu platzen. Tolles Bild.

Noch bevor er das Führerhaus erreichte, sah er das rote Heck seines Golf. Die Schnauze einer Scania-Zugmaschine hatte sich durch die Scheibe in die linke Seite des Hecks gebohrt. Eine Chromzierleiste, mit der Annas Cousin den Wagen verschönert hatte, ragte grotesk in die Luft.

Horndeich wollte schreien, doch der Schrei verebbte, bevor er den Mund verlassen konnte.

Die Frontpartie des Wagens sah nicht viel besser aus. Der Wagen stand schräg. Deshalb war die rechte Seite der Frontpartie eingedrückt. Wären da nicht Rad und Motor gewesen, die rechten vorderen Scheinwerfer hätten das Handschuhfach geküsst. Von innen.

Der Auflieger vor dem Golf hatte extrem tief liegende Stoßfänger. So war der VW wenigstens nicht unter den Anhänger geschoben worden. Dann wäre das Dach abrasiert gewesen. Und nicht nur das Dach.

Wie ein Schlaglicht nahm Horndeich die Seitenaufschrift des Kastenaufliegers wahr: „Bloemen-Paradijs“.

Horndeich erkannte die leblose Person im Wagen. Ein Kollege von der Autobahnpolizei herrschte ihn an, er solle verschwinden.

Wie in Trance fingerte Horndeich nach seinem Ausweis, hielt ihn dem jungen Mann unter die Nase. „Das … ist … eine … Kollegin …“

In diesem Moment kam ein Feuerwehrwagen die Auffahrspur entlang. Zwei Rettungssanitäter spurteten neben dem Notarzt heran.

Abermals wurde Horndeich angeherrscht, er solle zur Seite gehen.

Der Feuerwehrwagen hielt, drei Feuerwehrmänner stiegen aus. Mit geübten Handgriffen schlossen sie ein Gerät an, das wie eine überdimensionale Kneifzange aussah und über zwei gelbe Schläuche mit dem Einsatzwagen verbunden war. Die Männer eilten um den Wagen herum, setzen die Zange an der Tür des Golf an. Die Zange entpuppte sich als Spreizwerkzeug: Sie drückte das Blech auseinander, als ob es sich um Jogurtbecherplastik handelte. Die Tür sprang auf.

Horndeich sah das Blut, das über Sandras Gesicht lief.

Der Notarzt sprach mit ihr, untersuchte sie, und Horndeich zuckte jedes Mal zusammen, wenn Sandras Wimmern zu einem Schrei anschwoll. Der Doktor legte ihr eine Infusion, woraufhin Sandra ruhiger wurde. Eine Halskrause zum Schutz der Halswirbel zierte gleich darauf ihren Nacken.

Der Arzt sprach kurz mit den Feuerwehrleuten, die daraufhin auch die Beifahrertür aufspreizten. Danach kletterte ein Mann ins Innere des Golf und schlug die Scheiben ein.

Seine Kollegen schlossen inzwischen den nächsten Apparat an Schläuche an: eine überdimensionale Schere. Wie bei einem Plastikmodel knipsten die Männer damit die Dachholme durch. Dann nahmen sie das Dach ab, trugen es zur Seite – und Sandra saß unter freiem Himmel.

Der Arzt sprach wieder mit ihr, tastete sie ab, dann warf er den Sanitätern irgendwelche lateinischen Begriffe zu, die diese offenbar verstanden. Horndeich erriet mehr, als dass er es verstand, dass auf jeden Fall Sandras rechter Unterschenkel und ihr rechter Arm schwere Blessuren davongetragen hatten.

Die Jungs in Weiß verschwanden und kehrten gleich darauf mit einer Trage zurück. Der Arzt hob gemeinsam mit den Rettungssanitätern Horndeichs Kollegin vorsichtig auf die Trage.

„Weiß jemand, wie die Dame heißt?“, fragte der Arzt, über ein Formular gebeugt.

Horndeich trat einen Schritt nach vorn, fühlte sich, als ob er vor den Vorhang einer Theaterbühne träte. „Hillreich. Das ist Sandra Hillreich.“

Der Mediziner nickte, kritzelte etwas auf den Zettel.

„Wo bringen Sie sie hin?“

„Städtische“, antwortete der Mediziner knapp.

Horndeich nickte. „Kommt sie durch?“

„Sie sind kein Angehöriger, oder?“

Horndeich fingerte nach seinem Ausweis. „Ich ermittle in diesem Fall.“

Der Arzt zuckte mit den Schultern. „Sie hat Brüche im rechten Bein und im rechten Arm. Schleudertrauma, Platzwunde, Quetschungen, Prellungen und eine Gehirnerschütterung.“

„So schlimm?“

„Schlimm? Gratulieren Sie ihr lieber zum Geburtstag!“ Damit wandte sich der Arzt ab.

Sandra wandte ihr Gesicht Horndeich zu. „Steffen …?“

Er trat an die Trage. „Hallo. Sandra.“ Er wollte ihre Hand nehmen, doch die war bereits fixiert.

„Es tut mir … leid, Steffen, ich wollte nicht … Ich konnte nichts dafür, weißt du, er hat gebremst. Und ich habe ihn doch gar nicht berührt, ich meine, ich kam doch noch zum Stehen, Steffen, ich verstehe das gar nicht …“

Während Sandra verzweifelt plapperte, als ob sie einen Richter von ihrer Unschuld überzeugen müsste, versuchte Horndeich sie zu beruhigen. Ein Sanitäter meinte: „Wir fahren jetzt.“ Dann rollten er und sein Kollege die Trage über die Einfädelspur davon. Horndeich winkte ihr zaghaft hinterher.

Um ihn herum herrschte organisiertes Chaos. Er blickte nach oben. Wieder landete ein Rettungshubschrauber. Auf dem Parkplatz der Raststätte östlich der Autobahn. Also war die Gegenspur auch in Mitleidenschaft gezogen worden. Klar, Jörg Blanken, der Kollege von der Autobahnpolizei, hatte am Telefon so was in der Richtung gesagt, erinnerte sich Horndeich. Doch die beiden Fahrtrichtungen trennte nicht nur eine Leitplanke. Blendschutzpfosten versperrten den Blick auf die andere Seite.

Horndeich ging wieder in Richtung seines Motorrads. Er konnte kaum etwas tun. Außer den Rettungskräften im Weg herumstehen. Sandra würde leben. Das war das Wichtigste.

Er schlurfte über den Parkplatz, als er wieder Jörg Blanken sah. Er redete auf einen Kollegen ein, der mit hängenden Schultern und leerem Blick auf der Erde saß. Ein Arzt kam zu den beiden gelaufen. Blanken wechselte ein paar Worte mit ihm, dann sah er Horndeich, kam zu ihm.

„Neue Erkenntnisse?“, fragte der.

Blanken nickte. „War eine Frau, die über die Autobahn gerannt ist. Junges Ding.“

„Warum macht jemand so was?“, sprach Horndeich den Gedanken aus, der sie beide beschäftigte. Es war ja nicht nur irgendein Selbstmord gewesen. So viele Wagen waren in Mitleidenschaft gezogen, so viele Menschen verletzt oder sogar getötet worden.

Blanken zuckte mit den Schultern und sprach einfach weiter. „Auf der anderen Seite genau das gleiche Bild. Ist nur noch nicht klar, wieso. Ob vielleicht irgendein Teil über die Leitplanke geflogen ist.“

„Und über die Blendschutzpfosten“, erinnerte Horndeich.

Wieder ein Schulterzucken. „Wir haben eine lange Nacht vor uns.“ Blanken hielt kurz inne. „Deine Kollegin – ist sie …?“

Horndeich schüttelte den Kopf. „Nein. Sie ist verletzt. Aber sie kommt durch.“

„Das ist die erste gute Nachricht seit einer Stunde.“ Er klopfte Horndeich auf die Schulter. „Ich muss weiter.“

Horndeich ging die letzten Meter in Richtung seines Motorrads. Unweit davon stand ein dunkler Audi Q7, den er vorher gar nicht wahrgenommen hatte. Eine Dame, gekleidet in elegantes Schwarz, lehnte an der Fahrertür. Horndeich erkannte sie.

Sie war schlimmer als alle Gaffer zusammen. Helena Bergmann. Elegante Erscheinung – und damit waren die positiven Eigenschaften auch schon aufgezählt, dachte Horndeich. Ihr größter Fehler: Sie war die Vorsitzende der DPL – der Demokratisch Patriotischen Liste. Einer kleinen Partei am rechten Rand des Spektrums, die viel Quatsch verzapfte wie viele anderen Parteien auch. Nur dass ein Lieblingsthema der DPL die Polizei war. Die, durfte man den Reden der Bergmann glauben, hoffnungslos überfordert war und dringend eine Legion privater Hilfssheriffs fürs Grobe brauchte. Eine Meinung, die Horndeich nicht teilte. Wie kaum einer seiner Kollegen.

Die Bergmann schien Horndeich ebenfalls zu erkennen. Schnäuzte sich. Dann nickte sie ihm zu. Horndeich erwiderte den Gruß und wünschte ihr eine fette Erkältung an den Hals. Und fragte sich, weshalb sie so nonchalant gegen den Wagen lehnte. Dann begriff er. Jemand hatte seinen Wagen so hinter dem Audi platziert, dass dieser schlicht zugeparkt war. Da halfen auch die 360 PS nicht weiter.

Horndeich grinste schadenfroh in sich hinein. Bis er die Jungs mit der Kamera und dem Mikro sah, die zielstrebig auf die Bergmann zuhielten.

Sie steckte das Taschentuch weg, setzte eine kokette Mischung zwischen ernster Miene und sanftem Lächeln auf.

„Frau Bergmann, hier hat es eine Massenkarambolage gegeben. Fünfzig Autos, so der letzte Stand, sind ineinander verkeilt. Es scheint, dass eine Lebensmüde vor die fahrenden Wagen gelaufen ist. Sind Deutschlands Autobahnen noch sicher genug für deutsche Fahrer?“

Nein, aber für britische, dachte Horndeich und brachte die letzten Schritte zum Motorrad schnell hinter sich. Er wollte das dumme Gesülze der Bergmann nicht hören. Und weitere Fragen, die den IQ-Wert der Antworten noch unterboten. Es würde wahrscheinlich ohnehin morgen aus allen Kanälen auf ihn eindröhnen.


Margot Hesgart saß auf einem der unbequemen Plastikstühle vor dem Operationssaal. Vor einer Viertelstunde hatten sich die Türen geschlossen. Nun lag die Zukunft ihrer Kollegin in den Händen der Halbgötter in Weiß. Sie würden darüber entscheiden, ob Sandra Hillreich jemals wieder die Finger ihrer rechten Hand würde bewegen können. Und ob ihr rechtes Fußgelenk steif bleiben würde.

Horndeich hatte Margot von der Raststätte aus angerufen. Sie hatte mit Rainer – ihrem Lebensgefährten, Mitbewohner und Vater ihres Sohnes Ben – auf der Couch gesessen, um sich einen „Tatort“ anzuschauen, mit den fiktiven Frankfurter Kollegen Andrea Sawatzki und Jörg Schüttauf alias Charlotte Sänger und Fritz Dellwo. Und sich danach noch über die Glaubwürdigkeit von Fernsehkrimis unterhalten.

Als Horndeichs Anruf kam, waren sie gerade von verbaler zu nonverbaler Kommunikation übergegangen. Noch immer jagten die sanften Berührungen seiner Finger kleine Stromschläge durch ihren Körper.

Als kleines Mädchen hatte sie mit ihrer Kindergartenfreundin Susi Mutproben bestanden. Sie hatten sich den Pluspol einer Batterie an die Zungenspitze gehalten und waren unter dem sanften Kribbeln zusammengezuckt. So ähnlich fühlte es sich an, wenn Rainer …

Sie hatte das Handy verflucht, das sich plötzlich gemeldet hatte. Während Horndeich ihr in knappen Worten berichtet hatte, was passiert war, war sie bereits wieder in BH und Bluse geschlüpft.

Sie hatte Rainer nichts sagen müssen. Er hatte sie angesehen, seinerseits den Gürtel wieder geschlossen und nur gefragt: „Soll ich mitkommen?“

Er hatte sie zum Krankenhaus gebracht, war dann aber wieder nach Hause zurückgekehrt. Sie wäre nicht für jeden Kollegen ins Krankenhaus gefahren. Aber Sandra … Sie mochte die junge Frau, die in ihrem Job eine Koryphäe war, an der Organisation ihres Privatlebens jedoch kläglich scheiterte. Allein im vergangenen Jahr war die blonde Frau dreimal der Liebe ihres Lebens begegnet. Schade, dass die Männer das nicht genauso gesehen hatten.

Sandra war die Herrscherin über die Computer. Es gab kaum etwas, was sie nicht innerhalb einer halben Stunde in irgendwelchen Datenbanken recherchieren konnte. Umso kläglicher scheiterte sie an den Recherchen des täglichen Lebens. Freund Nummer eins des vergangenen Jahres war verheiratet gewesen und hatte drei Kinder. Freund Nummer zwei war dreifach wegen Körperverletzung vorbestraft; Sandra hatte das ermittelt, als ihre rechte Gesichtshälfte eines Morgens blaugrün verfärbt war. Und der letzte? Borgte sich 5000 Euro. Weil seine Mutter eine Operation benötigte. Und tschüss!

Insgeheim hatte Margot schon längst erkannt, dass all diese Typen nur fader Ersatz waren für den Mann, zu dem sich Sandra wirklich hingezogen fühlte: Steffen Horndeich. Sicher, er war ein verlässlicher Kollege, manchmal ein Freund, aber leider liiert. Margot kannte seine Freundin Anna, und sie mochte ihre Warmherzigkeit. Aber sie fragte sich, ob die verschiedenen Mentalitäten wirklich zusammenpassten, ob die beiden kompatibel waren für ein gemeinsames Leben.

Nun ja, ob allerdings ein Scheitern der Beziehung zwischen Anna und ihm Sandra auf ihrem Weg zum Glück mit Horndeich weiterbrachte, war zumindest fraglich.

„Ach, hier sind Sie!“

Margot blickte auf und sah die Schwester, die in die Oase aus Plastiksesseln trat und wissen wollte: „Sie sind doch die Polizistin, nicht wahr?“

„Wie kann ich Ihnen helfen?“ Eine Reminiszenz an ihren Job. Sie fragte nicht: Was kann ich für Sie tun? Sie ging davon aus, dass sie helfen musste. Und konnte.

„Da ist ein Mann, den wir gerade hereinbekommen haben. Auch von dieser Massenkarambolage.“

„Und?“

„Der ist vollkommen hysterisch. Er sagt, er will mit der Polizei sprechen. Er wäre schuld an dem Unfall.“

„Können Sie ihn nicht beruhigen?“

„Nein. Wir haben ihm schon was gegeben. Wirkt aber leider nicht. Und da er unter Schock steht, wollen wir ihm nicht noch mehr verabreichen, damit sein Kreislauf nicht schlappmacht.“

„Und was meinen Sie, soll ich tun?“

„Sie sind doch von der Polizei. Wenn Sie mal mit Ihrem Ausweis wedeln, ihm zuhören – vielleicht beruhigt er sich dann. Das würde ihm – und uns – sehr helfen.“

Margot überlegt nur kurz. Die OP, so hatte man ihr versichert, würde im besten Falle noch vier Stunden dauern. Es würde nicht schaden, wenn sie für fünf Minuten verschwand. „Okay. Wo ist der Mann? Und wie heißt er?“

Werner Raschke lag im Vorzimmer der Notaufnahme. Aus seinem linken Arm führte ein dünner Schlauch zu einer Infusion, eine Halskrause zierte seinen Hals. Karambolagen-Mode, dachte Margot bitter. Als sie den Raum betrat, grüßte der Mann sie mit den Worten: „Ich will jetzt endlich einen Kommissar sprechen. Ich hab dieses ganze Chaos verursacht. Ich bin schuld!“

Margot taxierte ihn kurz: Mitte fünfzig. Geschäftsmann. Ohne Geldsorgen. Goldener Ring – und wahrscheinlich drei Kinder, vermutete Margot. Vertreter. Außendienst. Keine Versicherungen. Etwas … Seriöseres. Eher Business-to-Business. Industrieanlagen. Und sein Tonfall schien vielmehr nach einem Pfarrer zu verlangen als nach einem Polizisten.

Margot kramte ihren Ausweis aus der Jacke, war froh, dass sie ihn instinktiv eingesteckt hatte. „Hesgart. Kripo Darmstadt.“

„Danke, dass Sie gekommen sind“, sagte Raschke. Margots Anblick schien seine Pulsfrequenz locker zu halbieren. Sie hätte Ärztin werden sollen. Oder Guru.

„Herr Raschke, wie kann ich Ihnen helfen?“ Wahrscheinlich fragten das auch alle Ärzte. Womit sie an diesem Ort ja dann nicht aus der Rolle fiel.

„Wie viele sind tot?“, fragte Raschke tonlos.

„Ich weiß es nicht“, antwortete Margot wahrheitsgemäß. Sie wusste kaum etwas über den Unfall.

„Ich bin daran schuld“, wiederholte Raschke. „Ich habe den Unfall verursacht.“

„Wie kommen Sie darauf?“, fragte Margot irritiert. Schuld war ja wohl die junge Frau, die ihren Abendspaziergang ausgerechnet auf der A5 machen musste.

„Weil …“ Raschke überlegte offenbar, wie er die Geschichte am besten darlegen konnte. „Wissen Sie, ich bin Vertreter. Vertreibe Rollladenantriebe.“ Bingo, dachte Margot. „Für eine recht gut gehende Firma in Mittelhessen. Ich betreue ganz Süddeutschland. Das allerdings ist ein schweres Geschäft. Nirgends gibt es so viele Fensterläden wie in Süddeutschland. Da nutzt der beste Rollladenantrieb nichts. Ich hab das ganze Wochenende eine Schulung abgehalten. Für Fachhändler. Damit die ihre Kunden davon überzeugen können, dass Rollläden viel besser sind. Ich wollte einfach nur noch nach Hause; ich wohne in Gießen. Ich bin geheizt wie ein Blöder. Lichthupe, linke Spur. Warum eigentlich? Meine Kinder waren ja schon lange im Bett, meine Frau wahrscheinlich auch.“ Noch mal Bingo, dachte Margot.

„Und was ist passiert?“ Sie zog sich einen Plastikstuhl heran und setzte sich neben das Bett von Raschke.

„Ich hatte grade einen Polo von der Spur gescheucht, da passierte es.“

„Was?“

„Das Seitenfenster zersprang.“

Margots Stirnrunzeln manifestierte das Fragezeichen in ihrem Gehirn.

„Wissen Sie, ich fahre im Jahr mehr als 70000 Kilometer. Das macht 6000 Kilometer im Monat. Das sind 300 Kilometer am Tag. Da habe ich mir doch wirklich einen schönen Wagen verdient, oder?“

Margot nickte. Der kürzeste Weg zu weiteren Antworten.

„Ich fahre einen Jaguar. Traum aus Kindertagen. Einen x-type. Hab ich wirklich günstig gekriegt.“ Tränen schimmerten in Raschkes Augen. „Hat mir vielleicht das Leben gerettet. Und andere das Leben gekostet.“

„Was ist passiert?“

„Ich war kurz vor der Raststätte Gräfenhausen. Ich glaub, gerade auf der Höhe der Abfahrt zur Raststätte. Und da macht es Peng. Das Seitenfenster zerspringt in tausend Stücke. Ich bin so erschrocken, dass ich …“

Raschke verstummte. Sosehr er zuvor das Bedürfnis gehabt hatte zu reden, so tief war nun sein Schweigen. Margot sah, wie ihm die Tränen über die Wangen liefen.

Nach einer halben Minute frage sie leise: „Und dann?“

Raschke seufzte. „Ich hab das Lenkrad herumgerissen. Automatisch, ein Reflex. Ich hab nur mitbekommen, dass ich in die Leitplanke gerauscht bin und mich ein paar Mal gedreht habe. Es hat nur noch gekracht. Dann haben mich die Sanitäter rausgeholt.“

„Warum ist denn die Scheibe zersprungen?“

„Ich weiß es nicht. Ich dachte immer, dass Jaguar die sichersten Wagen baut. Ich hab keine Ahnung, warum die Scheibe in dem Moment den Geist aufgegeben hat.“

„Als Sie in die Leitplanke gefahren sind – haben Sie nicht die Karambolage auf der Gegenfahrbahn bemerkt?“, wollte Margot wissen.

„Auf der Gegenfahrbahn? Nein. Mein Gott, habe ich …“

„Nein, Sie haben nicht. Auf der anderen Seite der Autobahn ist eine Frau über die Fahrbahn gelaufen. Und überfahren worden.“

„Zur gleichen Zeit?“

„Offenbar. Ja.“ Margot dachte kurz darüber nach, dass dies kaum ein Zufall sein konnte.

„Nein. Davon habe ich nichts mitbekommen.“ Er schüttelte betrübt den Kopf, die Augen noch immer feucht. „Aber ich hätte nicht so schnell fahren dürfen. Meine Frau sagt schon immer, dass die fünf Minuten, die ich eher zu Hause bin, fünf Tage von meinem Lebenskonto abziehen.“

Margot schwieg. Obwohl sie selbst immer wieder mit Blaulicht unterwegs war, mochte sie Raser auf der linken Spur wie Fußpilz.

„Was machen Sie jetzt mit mir?“, fragte Raschke.

Wieder beschlich Margot das Gefühl, dass der Mann eher einen Pastor benötigte als einen Polizisten. Aber für Absolutionen war sie nun einmal nicht zuständig. „Im Moment müssen Sie erst einmal wieder gesund werden. Danach wird sich alles Weitere finden.“

„Könnten Sie vielleicht meine Frau benachrichtigen?“

Margot nickte.

„Werner Raschke. Gießen. Wir stehen im Telefonbuch.“

„Mach ich. Gute Besserung.“

Raschke nickte – und schlief ein.


Margot verließ leise den Raum. Als sie wieder den Gang vor dem OP erreichte, saß dort – Horndeich.

„Margot! Wo warst du denn?“

„Hab Seelentröster gespielt und eine Beichte abgenommen.“ Kurz erzählte sie von dem seltsamen Gespräch mit Raschke.

„Was ist da passiert?“, fragte Horndeich – sich selbst und Margot.

„Ich weiß es nicht. Aber ich kann mir kaum vorstellen, dass es Zufall ist, dass auf der einen Seite eine Frau über die Autobahn läuft und auf der anderen Fahrspur so mir nichts dir nichts eine Scheibe zerspringt.“ Margot hielt kurz inne. „Hat der Arzt schon was gesagt?“

„Nein. Nichts. Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis sie sie wieder zusammengeflickt haben.“

Margot schwieg. Horndeich tätschelte ihre Hand. „Geh du heim, ich halt hier die Stellung.“

Auch er machte sich Sorgen um Sandra. Aber das hatte Margot nicht anders erwartet. Vielleicht war es auch nicht schlecht, wenn ihr Kollege vor diesem OP saß und ein wenig Zeit zum Nachdenken hatte.


Michael Kibler

Über Michael Kibler

Biografie

Michael Kibler, geboren 1963 in Heilbronn, ist heute leidenschaftlicher Darmstädter. Nach Studium und Promotion arbeitet er als Texter und Schriftsteller. Seit 2005 veröffentlicht er erfolgreiche Kriminalromane um die Darmstädter Ermittler Steffen Horndeich und Margot Hesgart. Mit „Sterbenszeit“...

Pressestimmen
Heilbronner Stimme

Ein hochdramatisches, raffiniertes Verbrechen.

www.focus.de/ www.focus.de

›Rosengrab‹ bietet spannende Unterhaltung, ist sehr gut recherchiert und erzählt von Charakteren, denen man gerne noch in weiteren Fortsetzungen begegnen möchte.

Kommentare zum Buch
Kommentieren Sie diesen Beitrag:
(* Pflichtfeld)

Michael Kibler - NEWS

Erhalten Sie Updates zu Neuerscheinungen und individuelle Empfehlungen.

Beim Absenden ist ein Fehler aufgetreten!

Michael Kibler - NEWS

Sind Sie sicher, dass Sie Michael Kibler nicht mehr folgen möchten?

Beim Absenden ist ein Fehler aufgetreten!

Abbrechen