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Lebenslänglich Fußball

Lebenslänglich Fußball

Manuel Andrack
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Vom Wahnsinn, Fan zu sein

„Über Fußball und seine Fans muss man schreiben können. Und Andrack kann. Er kann es sogar richtig gut. Feine Ironie, ein scharfes Auge für Details, ein ganz feines Gespür für Emotionen, eine ganz präzise Formulierungsgabe und die nötige Distanz zum Thema (und das, obwohl er selbst ja nun Fan mit Leib, Seele und Leidenschaft ist) machen ›Lebenslänglich Fußball‹ zu einem einzigartigen Lesevergnügen.“ - Ibbenbürener Volkszeitung

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Lebenslänglich Fußball — Inhalt

„Ich gehe nicht ins Stadion, weil es Freude macht“, sagt Nick Hornby. Eigentlich leidet der Fan immer und überall, vor allem an der eigenen Mannschaft, an ihren Unzulänglichkeiten, am Trainer und an den eigenen Fans. Er pendelt zwischen Depression und Hysterie, zwischen Herzklopfen und Agonie. Lebt der Fan in einer Ehe ohne Liebe, leidet er unter einer Sucht oder Zwangshandlung? Manuel Andrack stellt sich als bekennender Fußball-Fan den existentiellen Fragen. Und findet nach Gesprächen mit Psychologen, echten Fans und Selbstversuchen Antworten darauf, wie es sich anfühlt, Fan zu sein und warum wir überhaupt Fans sind, was ein Spielerverkauf in uns auslöst, was ein Auswärtsspiel oder eine krachende Niederlage.

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 01.09.2017
256 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97633-6
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Leseprobe zu „Lebenslänglich Fußball“

Die Attribute „verrückt“ und „bekloppt“ liegen für Fußballfans nahe. Ich bin in diesem Buch der Frage nachgegangen, ob Fans wirklich verrückt sind. Menschen gehen zum Therapeuten, weil sie Depressionen haben, Angstzustände, unter Neurosen leiden, hysterische Anfälle haben. Alles das kennt jeder Fan. Hysterische Anfälle nach Toren, tagelange Depressionen nach Niederlagen. Jeder Fan spürt die Notwendigkeit, den Zwang, ins Stadion zu gehen, gleichzeitig steht er während des Spiels unter unerträglichem Stress, weil er Angst hat, das Spiel zu verlieren. Was [...]

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Die Attribute „verrückt“ und „bekloppt“ liegen für Fußballfans nahe. Ich bin in diesem Buch der Frage nachgegangen, ob Fans wirklich verrückt sind. Menschen gehen zum Therapeuten, weil sie Depressionen haben, Angstzustände, unter Neurosen leiden, hysterische Anfälle haben. Alles das kennt jeder Fan. Hysterische Anfälle nach Toren, tagelange Depressionen nach Niederlagen. Jeder Fan spürt die Notwendigkeit, den Zwang, ins Stadion zu gehen, gleichzeitig steht er während des Spiels unter unerträglichem Stress, weil er Angst hat, das Spiel zu verlieren. Was steckt hinter diesen Gefühlen? Ich habe mit vielen Fans in Deutschland gesprochen, die Fans auf die Couch gelegt.

 

Ich habe natürlich auch Fachmeinungen eingeholt, von meinem Psychologen. „Meinen“ Psychologen gibt es als einzelnen Menschen gar nicht. Mein Psychologe ist eine Kunstfigur, ich bedanke mich aber bei zwei befreundeten Psychologen, die mir bei der Recherche zu diesem Buch sehr geholfen haben. Der Vorteil der beiden: Ich musste ihnen sogar die Abseitsregel erklären, die beiden haben gar nichts mit Fußball am Hut. Sie konnten sich, das ist der Vorteil, dem Phänomen Fußballfan mit einem gesunden persönlichen Abstand nähern.

 

Ich möchte keinesfalls die Fußballfans pathologisieren. Fan zu sein ist etwas sehr Schönes, etwas sehr Wichtiges. Für den Fan ist sein Verein eine Herzenssache, es geht um Leidenschaft und Treue. Fußball ist nicht die schönste Nebensache der Welt, es ist die schönste Hauptsache der Welt. Der Fan kann ein tolles Familienleben haben (oder auch nicht), einen Superjob (oder auch nicht), aber sein Verein ist sein Verein. Ganz wichtig: Man ist nicht nur Fan, wenn man zu jedem Heimspiel geht, auf dem Zaun hängt, Auswärtsfahrten liebt und jeden Fan-Gesang mitgrölen kann.

Es gibt ganz andere Anzeichen für die Diagnose Fan: Wenn dein Puls kurz vor dem Anpfiff hochgeht, wenn du panisch zum Smartphone greifst, um den Live-Ticker zu aktualisieren, wenn du dich zwei Tage vergraben möchtest, weil dein Verein verloren hat, wenn du dich bei jeder Chance deiner Mannschaft verkrampfst (weil das Ding reingehen MUSS) und wenn du bei einer Chance der anderen Mannschaft auch verkrampfst (vor Angst, dass er reingehen KÖNNTE), dann, ja, dann bist du Fan. Und dann ist dieses Buch für dich. Damit du endlich weißt, was mit dir los ist. Dieses Buch ist für alle Fans da, die sich selbst ein wenig besser verstehen wollen. Aber egal, wie fan-verrückt du bist, lass dir nichts einreden: Du bist okay, so wie du bist. Bleib so.

 

Dieses Buch wurde auch für mich zu einer Art Therapie. Nicht nur, dass ich viel über mich als Fan gelernt habe. Ich habe bei den Gesprächen mit den Fans anderer Vereine über deren teilweise unterschiedliche, teilweise gleiche Emotionen etwas gelernt. Durch die Gespräche mit anderen Fans habe ich vor allem eines entwickelt: Sympathie für die Fans anderer Vereine. Ich bin aus meinem alten „Wir sind super, und die anderen sind doof“-Schema ausgebrochen.

Prinzipiell bin ich der Ansicht, dass der Faktor Fan in der Fußballberichterstattung sträflich vernachlässigt wird. Kreative Gesänge, Unterstützung oder auch Liebesentzug der Fans werden so gut wie nicht thematisiert. Ausnahme: Randale. Das ergibt ein verzerrtes Bild des Fans. Im kicker zum Beispiel wird wirklich alles bewertet und gezählt. Wie viele Chancen, wie viele Ecken, es gibt eine Benotung der Spieler, des Schiedsrichters, der Gesamtspieldramaturgie. Überspielte Gegner, Ballbesitz, Teamlaufleistung, Durchschnittsalter der Spieler. Alles, aber eine Fan-Support-Bewertung fehlt. Man könnte den Fansupport mit A-Note (Dezibel) und B-Note (Kreativität) messen. Das ist doch wichtig, auch die Fans wollen womöglich ihren Support verbessern.

 

Das Thema Gewalt lasse ich bewusst außen vor. Idioten gibt es überall, aber nachgewiesene 99,9 Prozent der Fans gehen nicht ins Stadion, um anderen aufs Maul zu hauen. Trotzdem nehmen die größtenteils kriminellen Taten der 0,1 Prozent gewaltbereiten Fans einen sehr großen medialen Raum ein. In diesem Buch bekommen sie diesen Raum nicht. Die komplette Fachliteratur zum Thema Fußballfans und Psychologie beschäftigt sich mit dem Gewaltaspekt der Fans. Ich interessiere mich für die 99,9 Prozent der Fußballfans, für die Gewalt nie ein Thema war oder ist. Diese 99,9 Prozent denken, fühlen, jubeln und leiden genauso wie ich.

 

 

 

Lebenslänglich Fußballfan

 

 

Sommerfest in der KiTa meiner jüngsten Tochter. Mit einem Kaltgetränk in der Hand unterhalte ich mich mit den Vätern von Joshua und Lena über Fußball. Und über mein Buch über den Fan-Wahnsinn. Und da kommen die beiden ins Erzählen.

Seit ihrer Kindheit sind sie Fans des FC Saarbrücken. Sie haben eine Dauerkarte gehabt, haben mit dem FCS gewonnen, verloren, gejubelt, gelitten. Sie haben im Stadion die Vereinshymne gesungen und sind 2006 mit fünftausend Saarländern zum entscheidenden Abstiegsfinale gegen 1860 München gefahren. Verloren, nun ja, aber es war trotzdem eine geile Auswärtsfahrt.

„Der schönste Abstieg aller Zeiten“, sagt Pascal. Trotzdem sei die Leidenschaft für den FC Saarbrücken seit Jahren abgekühlt. Nach zu vielen Enttäuschungen und Abstiegen brenne kein Fan-Feuer mehr in ihnen. Aus und vorbei.

 

Interessant, denke ich. Man kann sich also auch vom Verein entlieben, ent-fanen sozusagen, einen noch nicht einmal freiwilligen Fan-Entzug machen.

Ich verabrede mich mit Pascal und Lars zu einem Mittwochabendspiel des FC Saarbrücken. Man muss wissen, dass der FC Saarbrücken Glanz und Niedergang einer ganzen Region versinnbildlicht. Bis 1956 war es ja gar nicht ausgemachte Sache, ob das Saarland wieder zu Deutschland gehören würde. Und alle Fußballfans des Saarlands kennen die Geschichte der WM-Qualifikation zur WM 1954. Der spätere Weltmeister Deutschland musste sich in der Quali-Gruppe gegen Norwegen behaupten – und gegen das Saarland. Nach einem sensationellen Auswärtserfolg in Norwegen und einer Auswärtsniederlage in Deutschland hätten sich die Saarländer durch einen Erfolg im Saarbrücker Ludwigspark für die WM qualifizieren können. Und wäre das gelungen, dann wäre beim Wunder von Bern das Saarland Fußballweltmeister geworden, und Deutschland hätte sich dem Saarland angeschlossen und nicht umgekehrt. Eine Geschichte mit vielen Konjunktiven.

In den 1950er-Jahren hat der FC Saarbrücken einige internationale Spiele in den Vorläuferwettbewerben von UEFA-Cup und Champions League gespielt. Und unter anderem die spanische Wundertruppe von Real Madrid besiegt, doch dazu später mehr. In den folgenden Jahrzehnten war Saarbrücken eine klassische Fahrstuhlmannschaft. Die Kulttrainer der Saarbrücker damals hießen Peter Neururer, Klaus Toppmöller, Otto Rehhagel. Nach 2006 dann eine unglaubliche Abstiegsserie, man stürzte von der 2. Liga in die 5. Liga, inzwischen hat man sich als feste Größe in der Regionalliga Südwest etabliert. Damit teilt man ein Schicksal mit anderen Fußballtraditionsvereinen und ihren leidenden Fans: Waldhof Mannheim, Kickers Offenbach, Hessen Kassel, Eintracht Trier.

Liebe kennt keine Liga, behauptet die Marketingabteilung des FC Saarbrücken. Lars und Pascal scheinen das anders zu sehen.

 

Den beiden ist es unangenehm, dass ich die Karten für das Spiel gegen Offenbach besorgt habe.

Pascal sagt: „Ich fühle mich verantwortlich, für dich und für den Verein.“

Das verstehe ich, ehrlich gesagt, nicht so richtig. Ich bin schon groß und kann selbst entscheiden, wen ich zu einem Fußballspiel einlade und wen nicht. Aber es kostet Pascal inzwischen ein bisschen Überwindung, zu einem Spiel von Saarbrücken zu gehen. Ein Selbstbewusstsein à la „Ich bin Schalker“ ist ihm fremd. Und er leidet, wenn er aufgezogen wird: „Ah, hat der FCS wieder verloren!“

Aber warum leidet er denn noch? Ich dachte, Pascal und Lars wären keine Fans mehr? Es könnte ihnen doch piepegal sein, wie der FCS dasteht? Mir kommt der Verdacht, dass die beiden doch ein bisschen mehr Fan sind, als sie sich eingestehen möchten.

 

Vor dem Spiel erzählen sie von früher. Lars hat beim Aufräumen seine alte Kutte wiedergefunden. In der linken Tasche ein Haufen handbeschriebener Zettel. Auf jedem einzelnen steht: „Scheiß FC Homburg.“ Da hat sich noch jemand mit echter Handarbeit so richtig Mühe gemacht. In der rechten Kuttentasche findet Lars zu seiner eigenen Überraschung einen riesengroßen Chinaböller, eher eine Handgranate als ein Silvesterspaß.

Er sagt: „Ich kann mich echt nicht erinnern, je einen Böller im Stadion geworfen zu haben.“

Sein sechsjähriger Sohn, der zugehört hat, fragt nach: „Was hast du nie geworfen?“

Äh, also, so ein zusammengerolltes Stück, äh, Papier. Wie soll man einem Sechsjährigen die Stadionunsitten der späten Achtzigerjahre erklären? Pascal schwärmt davon, wie man früher die Tropfenfänger der Pilsgläser und Bierdeckel in den Saarbrücker Kneipen eingesammelt habe, um sie dann im Stadion als eine Art Konfetti XXL in die Luft zu werfen. Bei Auswärtsfahrten habe man im Zug die Klopapierrollen mitgehen lassen und die aufs Spielfeld geworfen. Was eine wirkliche leichtathletische Meisterleistung war, bedenkt man, dass in den „guten alten Zeiten“ das reine Fußballstadion eher die Ausnahme gewesen ist. Vom Stehplatzblock über die Laufbahn das grüne Rechteck oder gar den Eckenschützen zu treffen, das war ein echtes Kunststück.

 

Die richtig legendären Spiele haben Lars und Pascal gar nicht mitbekommen, können die Daten aber auswendig herunterbeten. 1951 ein 4:0 bei Real Madrid, 1977 ein 6:1 im Heimspiel gegen Bayern München, der Triumph gegen den VfB Stuttgart im Viertelfinale des Pokals 1985. Die guten alten Zeiten eben, das, was die meisten Fußballfans umtreibt.

Lars sagt: „Früher haben wir gedacht, wir gehören wieder in die erste Liga, das ist inzwischen aber unvorstellbar. Da existiert eine ganz andere Sportart vier Ligen über uns.“

Pascal ergänzt: „Das ist keine Referenz mehr.“

Allerdings, so Pascal, einen Traum hat man noch, und der orientiert sich am Wunder vom Böllenfalltor: „Das Darmstadt-Ding. Das ist mal ein Verein mit vergleichbarer Historie, wobei Saarbrücken natürlich wesentlich attraktiver ist. Darmstadt war lediglich von der Fallhöhe vergleichbar, und die haben Unglaubliches geschafft.“

Zwischen den Zeilen höre ich heraus: Ganz vielleicht, wenn uns die Fußballfee küsst und der Fußballgott zwei Augen zudrückt, dann kann ein ähnliches Wunder an der Saar geschehen.

 

Wahrscheinlich fühlen sich die Fans des FC Saarbrücken, wenn sie sich die Erfolgsstorys der Bundesligavereine anschauen, vom Schicksal extrem gebeutelt. Ach was! Schaut euch doch bei den Leidensgenossen in den vierten Ligen der Republik um. Fragt nach bei Fans aus Essen, Wuppertal, Mannheim. Hört und seht die Tränen der Fans von Aachen, Jena, Unterhaching. Lauscht den Klageweibern von Ulm, Oberhausen, Cottbus oder des Gegners, gegen den der FCS heute antritt: die Kickers Offenbach. Alles Mannschaften mit Erstliga-Vergangenheit, die bejubelt werden von in ihrer Fan-Liebe tief verletzten Seelen.

 

Ich muss den beiden Jungs also noch einmal auf den Zahn fühlen, ob sie denn wirklich nichts mehr für ihren Verein empfinden. Ob sie wirklich Ehemalige sind oder ob da noch ein Fan-Flämmchen glüht.

Wenn die Saarbrücker verloren haben, liest Pascal keine Zeitung. Das hört sich doch eher nach Fan an. „Ich will nur Positives lesen“, sagt er.

Das kenne ich sehr gut, dieses Verhalten ist ganz eindeutig eine posttraumatische Fan-Depression, das Nicht-Zeitung-Lesen ein klassischer Fall von Fan-Verdrängung.

„Die Zeitdauer, die das blöde Gefühl nach einer Niederlage anhält, ist aber wesentlich kürzer als früher“, meint Pascal.

Wobei das natürlich auch eine Altersfrage sein könnte.

„Wenn es ein richtig fieses Spielergebnis war, dann macht einem das durchaus noch am nächsten Morgen zu schaffen.“

Immerhin! Bei mir persönlich kann es im schlechtesten Fall mehr als achtundvierzig Stunden dauern, bis ich mein fußballerisches Gleichgewicht wiederhergestellt habe. Dass auch bei Pascal die Nacht nach dem Spiel noch keine Linderung bringt, scheint mir außergewöhnlich für jemanden, der sich als Nicht-mehr-Fan bezeichnet.

 

Nach vielen Jahren der Frustration ist die Schwelle des Erträglichen stark gesunken.

Lars findet: „Jetzt gerade geht’s. Aber wenn die dreimal schlecht spielen, gehen sie mir richtig auf den Sack. Früher ist man auch nach zehn Niederlagen hingegangen. Aber natürlich mit dem Spruch: ›Ich geh se nimmeh gugge.‹ Inzwischen ordne ich dem Fußball nichts mehr unter. Familie, Freunde, die Gartenmauer ausbessern, das geht vor. Es gab Phasen, da wusste ich gar nicht, wann die spielen.“

Und Pascal ergänzt: „Ich muss nicht mehr unbedingt ins Stadion gehen. Das ist natürlich auch so ein Familien- und Zeitding.“

 

Lars hat zehn Jahre in der Saarbrücker Szenekneipe „Karateklub Meier“ gearbeitet und dort immer Bundesliga geguckt. Saarbrücken war im Bezahlfernsehangebot beim besten Willen nicht vertreten, deswegen hat er sich einem Zweitverein verschrieben, den er sympathisch findet: Werder Bremen. Das scheint aber keine wirkliche Herzenssache geworden zu sein. Als beim Pokalspiel 2013 Bremen in Saarbrücken spielte, war er vor dem Spiel davon ausgegangen, er könnte eine relativ neutrale Haltung einnehmen.

„Ich dachte erst, bei dem Spiel kannst du ja nur gewinnen. Aber als ich im Stadion war, war relativ schnell klar: Wenn Bremen gewinnt, bin ich schlecht drauf.“

Natürlich hat er für Saarbrücken geschrien und gejubelt. Und er musste nicht schlecht drauf kommen, denn der blau-schwarze Viertligist besiegte den grün-weißen Bundesligisten.

 

Leider blieb der Pokalerfolg nur eine Eintagsfliege. Für Lars und Pascal ist das Fan-Sein nicht mehr alltäglich, sie hinterfragen sich und ihre Motive. „Man überlegt natürlich, warum man überhaupt noch den FCS guckt.“ Es folgt eine Litanei über die dilettantische Führungsarbeit – „seit Jahren eine Katastrophe!“. Dann bemängeln die beiden fehlende Trainerkonstanz und -kompetenz. Und die Spieler kennt doch keine Sau mehr. Vorletzte Saison hat nur ein Spieler dem Verein die Treue gehalten. Ein einziger Spieler! Eine Entwicklung wie in Darmstadt wird man so niemals hinbekommen.

 

Und dann gibt es ein paar Sachen, die wirklich schmerzhaft waren.

„Wo es wirklich einen Bruch gab“, gibt Lars zu, „das war, als Saarbrücken in der fünften Liga gegen die Sportfreunde Köllerbach gespielt hat. Andere Gegner wie Gau-Waldalgesheim waren uns als Gegner egal. Okay, Gau-Waldalgesheim, lustiger Vereinsname, aber wo liegt das? Für die Jugend von Köllerbach hingegen habe ich selbst gespielt, und jetzt muss mein FC Saarbrücken gegen meinen Kinderverein spielen. Das hat wirklich wehgetan.“

Und dann das Stadion. Pascal spricht das Wort „Stadion“ aus, als wäre er gerade in Hundescheiße getreten. Zur Erklärung: Saarbrücken spielt seit einiger Zeit in einem Ausweichstadion in Völklingen, weil der traditionelle Ludwigspark umgebaut wird, voraussichtliche Baudauer siehe Großflughafen Berlin.

„In dem Stadion in Völklingen haben wir als Schüler Bundesjugendspiele gemacht, da habe ich die Siegerurkunde mit der Originalunterschrift des Bundespräsidenten bekommen, zur Ehrenurkunde hat es nie gereicht. Und da spielen wir jetzt Fußball, in diesem Stadion!“

Auch die Spielstätte wird als Niedergang betrachtet. Vom Ludwigspark ins Bundesjugendspielstadion, von der Stätte der legendären Fußballschlachten zur Weitsprunggrube des Grauens. Und die emotionale Bedeutung des Stadions ist natürlich nicht zu unterschätzen. Schon beim Anblick der Flutlichtmasten steigt der Adrenalinspiegel des Fans.

Mein Psychologe sagt: „Die Idealisierungsmöglichkeit geht verloren. Die Möglichkeit, einen Ort mit vielen Fantasien aufzuladen (Hier möchte ich noch mal ein 6:1 gegen die Bayern sehen!), die geht verloren. (Es bleibt die Erinnerung an den eigenen missglückten Versuch im Weitsprung.) Der Weg zum Stadion ist schon emotional aufgeladen. Das ist eine Kultstätte, an der Rituale vollzogen werden. Das Individuum wird in den Fanprozessen aufgehoben und wird Teil des Kollektivs.“

Und Teil eines Kollektivs zu sein oder zu werden ist eigentlich ja ein Traum – nicht nur für die Verfechter der reinen kommunistischen Lehre.

 

Das Übergangsstadion in Völklingen ist wirklich sehr speziell. Zur Waldseite hin stehen die beiden Trainerbänke, dahinter sieht man keine Tribüne, sondern nur sehr viele Bäume. Auch die Kurven sind nicht wirklich vorhanden, im Grunde existiert das Stadion nur als eine Art Halbmond auf einer Seite der Laufbahn. Mit einer kleinen Tribüne und einer Menge Stehplatzblöcken. Und welche Fangruppe in welchem Stehplatzblock steht, das ist beim 1. FC Saarbrücken schon lange eine Geheimwissenschaft.

„Die moderne Fankultur fuckt uns richtig ab“, sagt Pascal.

Es gibt verfeindete Fangruppen und Ultragruppierungen. Es gibt den Rentner-Stehplatzblock im A-Block („Geht gar nicht!“). Und die Ultraszene sei ganz schlimm: „Denen ist doch Fußball egal, die wollen sich nur selbst feiern, kein situationsbedingter Jubel.“

Mir scheint die Abneigung gegen die Ultras in Saarbrücken noch größer als bei anderen Vereinen. Es könnte mit der größeren Diskrepanz zwischen gezeigter Fußballleistung und dem neunzigminütigen übertriebenen Dauer-Support inklusive buntem Fahnenmeer zu tun haben.

 

Wir stehen in der Schlange vor der Wurstbude, es gibt eine saarländische Spezialität: Merguez-Frikadellen, wahrscheinlich extra scharf. In der Schlange neben uns an der Bierbude steht der gewichtige Präsident des 1. FC Saarbrücken. Ich finde das sehr volksnah, dass der Präsident selbst für ein Bier ansteht und nicht extra einen Bierholassistenten hat.

Beim Warten auf die Merguez-Frikadelle verrät mir Pascal: „Ganz emotional wird es bei mir, wenn der Stadionsong gespielt wird: ›Wir sind vom FCS, blau-schwarz ist unser Dress.‹ Da sing ich immer noch mit. Das ist für mich Heimat, da fühle ich mich zu Hause. Ich hätte gedacht, dieses Gefühl würde sich im Bundesjugendspielstadion von Völklingen niemals einstellen. Aber es funktioniert.“

 

Als kurz vor dem Spiel gegen Offenbach die Hymne gespielt wird, singt Pascal dann doch nicht mit. Vielleicht schämt er sich, weil ich danebenstehe. Das Spiel beginnt, Offenbach führt schnell, Saarbrücken hat mehrere Großchancen zum Ausgleich. Und man kann Pascal an seiner Körpersprache ansehen, dass er immer noch ein großer Fan ist. Er hüpft vor Aufregung, wenn ein Erfolg versprechender Angriff eingeleitet wird. Lars schreit: „Abseits, abseits!“ Schuss, knapp daneben – Pascal biegt den Rücken ins Hohlkreuz.

Mein Psychologe sagt: „Mit dem Körper mitzugehen, den Kopfball im Stadion mitzuvollziehen, vor dem Fernseher zu schießen, das sind identifikatorische Bewegungen. Der Fan ist in gewisser Weise in den Spielern drin. Man erlebt sich so, als würde man selbst auf dem Platz stehen.“

 

Wie ein Nicht-Fan sich verhält, habe ich vor einigen Jahren aus nächster Nähe erleben können. Ich bin mit Harald Schmidt nach Stuttgart zum Spiel des VfB gegen den FC Köln gefahren. Ich bin FC-Fan, klar, Harald ist Schwabe, in seiner Jugend war er oft im Neckarstadion.

Aber ist er auch ein Fan? Wir sitzen auf der VIP-Tribüne, es läuft die 87. Minute. Kevin Kuranyi haut frei stehend drei Meter vor dem Tor über die Latte und versemmelt damit den möglichen Sieg gegen Köln. Ich schnaufe gaaanz tief durch, neben mir raufen sich erwachsene Männer die Haare, unter ihnen Gerhard Meyer-Vorfelder, sie sacken in sich zusammen, schreien verzweifelt auf. Zu sehen ist der körperliche Schmerz eines Fans angesichts einer vergebenen hundertprozentigen Chance. Diesen Schmerz kann man auch auf einer VIP-Tribüne mit Händen greifen. Und was macht Harald Schmidt? Er lacht und lacht und lacht, als hätte er gerade den besten Witz des Jahrhunderts gehört. Harald Schmidt mag ein Fußball-Connaisseur sein, ein Fußballfreund, aber er ist kein Fan.

 

In der Halbzeitpause holen wir mehr Bier. Noch in der ersten Halbzeit hat Saarbrücken den Ausgleich geschafft, sofort nach dem Wiederanpfiff drängt die Mannschaft auf den Siegtreffer. Im Völklinger Stadion der ewigen Bundesjugendspiele sind nur noch wenige Minuten zu spielen, es steht immer noch 1:1, die Fans blasen zur letzten Attacke.

„Sahr-brüh-cken“, skandieren Lars und Pascal.

Wie hat Pascal bei unserem Gespräch vor dem Spiel gesagt? „Das ist ja eine richtige Therapiesitzung hier!“

Kann schon sein, auch wenn ich nicht der Psychologe bin. Aber vielleicht habe ich dazu beigetragen, die beiden erkennen zu lassen, dass sie hinter all der enttäuschten Liebe zum Verein immer noch am FC Saarbrücken hängen. Sie sind mit Leib und Seele Fans.

 

Ein paar Monate später treffen wir uns noch einmal im Stadion und schauen die Partie gegen den FC Astoria Walldorf. Pascal würde sich zwar immer noch nicht als Hardcorefan bezeichnen, Hardcorefans sind für ihn nur die, die (fast) alle Spiele gucken. Aber er geht wieder ins Stadion, und er ist emotional voll dabei und bejubelt die drei Tore gegen den Verein, der heißt wie ein berühmtes Hotel in New York. Lars hat nach unserem ersten Treffen kein Heimspiel mehr verpasst, es ist eine Art emotionaler Knoten bei ihm geplatzt. Er hat seinen Frieden mit dem Stadion und seinem Verein gemacht. Und auch ich denke in der wärmenden Spätfebruarsonne, dass es genau der richtige Platz ist, um dort drei Stunden an einem Samstagnachmittag zu verbringen. Es sind diese Glücksmomente, für die man doch eigentlich lebt.

Der Verein lässt Pascal und Lars einfach nicht los, auch wenn sie an der Vereinsführung verzweifeln. Auch wenn das Ausweichstadion scheiße ist. Auch wenn es wehtut, gegen den FC Nöttingen und Teutonia Watzenborn-Steinberg spielen zu müssen. Sie gehen die Saarbrücker doch immer wieder gugge.

Lebenslänglich Fußball eben.

Manuel Andrack

Über Manuel Andrack

Biografie

Manuel Andrack, 1965 in Köln geboren, lebt mit seiner Familie im Saarland. Er ist Autor und Moderator beim Saarländischen Rundfunk und schreibt neben seinen erfolgreichen Büchern regelmäßig für den Stern, DIE ZEIT, GEO Special u.a. Zuletzt erschienen von ihm die Bücher "Schritt für Schritt" und...

Pressestimmen
Donaukurier

„Andrack schafft es durch eine charmante und abwechslungsreiche Erzählweise, auch das Interesse von Fußballmuffeln an einer Antwort auf diese Frage zu wecken.“

Kicker

„In seinem Plädoyer gegen die Gleichgültigkeit kommt er den unterschiedlichsten Schattierungen des FanSeins auf die Spur. Und beschreibt pointiert, warum Fans leben, was sie lieben.“

General-Anzeiger

„Andrack schafft es, das in Worte zu fassen, was ein Fan fühlt, seine Beweggründe und sein Verhalten transparent und nachvollziehbar zu machen. Für jeden echten Fan des Fußballs ist Andracks Buch ein Muss.“

TV Star (CH)

„Ein amüsantes Buch.“

SR3 "Aus dem Leben"

„Im Buch ›Lebenslänglich Fußball. Vom Wahnsinn, Fan zu sein‹ erzählt Andrack davon auf die ihm eigene witzige und schonungslose Art, mit der er zwar den Gegenstand seiner Betrachtung ernst nimmt – aber sich selbst nicht allzu wichtig.“

Ibbenbürener Volkszeitung

„Über Fußball und seine Fans muss man schreiben können. Und Andrack kann. Er kann es sogar richtig gut. Feine Ironie, ein scharfes Auge für Details, ein ganz feines Gespür für Emotionen, eine ganz präzise Formulierungsgabe und die nötige Distanz zum Thema (und das, obwohl er selbst ja nun Fan mit Leib, Seele und Leidenschaft ist) machen ›Lebenslänglich Fußball‹ zu einem einzigartigen Lesevergnügen.“

Heimspiel

„Ein fluffiges Buch.“

boersenblatt.net

„Ob Sie Fan sind oder nur Fußballfreund – interessantes und amüsantes über Fans finden Sie in ›Lebenslänglich Fußball‹.“

11 Freunde

„Als roter Faden dient Andrack, dass er befreundete Psychologen um eine Erklärung für Ausformungen des Fanseins bittet. Diesen Kniff hätte er aber gar nicht gebraucht, denn seine Expedition ins Reich der Extremfans ist kurzweilig genug.“

NWZ Online

„Sehr unterhaltsam erzählt ›Lebenslänglich Fußball‹ von Verlobungen, die wegen dem 1. FC Köln gelöst wurden, vom König der Mecker-Opas und wie man polyamouröser Fan wird.“

Südkurier

„In Büchern über Fußballfans geht es meist um Randale und Rechtsextremismus. Andrack konzentriert sich auf die schönen Seiten und verdeutlicht, warum Liebe keine Liga kennt.“

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