Mit geballter Faust Mit geballter Faust - eBook-Ausgabe
Roman
— Eine mitreißende Freundschaftsgeschichte im Italien der 70er Jahre„Autorin Giampietro versteht es, das aufgeheizte Klima jener Zeit zu beschreiben.“ - Ruhr Nachrichten
Mit geballter Faust — Inhalt
Die mitreißende Geschichte einer jungen Frau im politisch radikalsten Jahrzehnt der italienischen Nachkriegszeit
Mailand in den Siebzigern. Die Politik hat in den Schulen Einzug gehalten, für Giulia öffnet sich am Liceo eine aufregende Welt: Mit ihren Freunden Carmela und Michele geht auch sie auf die Plätze der Stadt, wo Tausende junge Mailänder für eine bessere Zukunft kämpfen. Ihrer großen Schwester Gabriella ist klar: Italien muss kommunistisch werden. Als die linksextreme Gewalt am Liceo zunimmt und Michele bedroht wird, beginnt Giulia, an der Ideologie ihrer Schwester zu zweifeln. Doch die hat inzwischen einen gefährlichen Weg eingeschlagen, und Giulia wird vor schwere Entscheidungen gestellt.
Voller Zeitkolorit und in atmosphärischer Dichte erzählt Nicoletta Giampietro von Freundschaft und Schwesternliebe, von jugendlicher Hoffnung und dem Wunsch, auch in extremen Zeiten das Richtige zu tun.
Leseprobe zu „Mit geballter Faust“
1
Als sie aufwachte, spürte Giulia eine leichte Spannung im Bauch, wie vor einer anstehenden Schularbeit. Gabriella war schon aufgestanden und wusch sich im Badezimmer. Ihre Nachttischlampe brannte noch. Die Sache war ernst, wenn man sie sogar von der Schule befreite. Aber Papà hatte darauf bestanden. Sie würden alle zusammen dabei sein, als Familie. Als Mailänder.
Giulia warf die Decke zurück und sah die Klamotten am Bettende. Mamma hatte ihr Kleidung rausgelegt, als wäre sie noch im Kindergarten: den scheußlichen grauen Faltenrock, der ihr schon zu eng [...]
1
Als sie aufwachte, spürte Giulia eine leichte Spannung im Bauch, wie vor einer anstehenden Schularbeit. Gabriella war schon aufgestanden und wusch sich im Badezimmer. Ihre Nachttischlampe brannte noch. Die Sache war ernst, wenn man sie sogar von der Schule befreite. Aber Papà hatte darauf bestanden. Sie würden alle zusammen dabei sein, als Familie. Als Mailänder.
Giulia warf die Decke zurück und sah die Klamotten am Bettende. Mamma hatte ihr Kleidung rausgelegt, als wäre sie noch im Kindergarten: den scheußlichen grauen Faltenrock, der ihr schon zu eng war, und den marineblauen Pullover, den sie ganz hinten im Schrank versteckt hatte, dazu eine dunkle Wollstrumpfhose.
Als es Zeit wurde aufzubrechen, war es noch dämmerig, der dichte Nebel beschlug die Fenster und stumpfte die gegenüberliegenden Häuser ab. Giulia schaute auf die Straße hinunter, die Ulmen streckten ihr die nackten Zweige entgegen, schwarz und glänzend vor Nässe. Sie wäre lieber in die Schule gegangen.
Auf dem Flur warteten schon alle auf sie. An den Wänden hingen zwei Ölgemälde und ein Spiegel, alle drei mannshoch und goldgerahmt, rechts von der Wohnungstür stand die geschnitzte Holztruhe für Hüte und Handschuhe, links ein Tiroler Schrank, blau und rot bemalt und mit kleinen Alpenblüten verziert.
„Wie siehst du denn aus?“, sagte Mamma. Sie drehte Giulia den Rock gerade und zog ihr den Blusenkragen aus dem Pullover. „Du hast dich nicht einmal gekämmt.“
Gabriella hingegen stand geschniegelt und gestriegelt neben Papà. Sie trug den hellgrauen Mantel mit Pelerine und die halbhohen Schuhe. Ihr dunkelblonder Pagenschnitt glänzte im Licht des Lüsters. Sie hatte genauso triste Klamotten an wie sie, Giulia hatte das schon beim Frühstück gesehen, aber es war eigentlich egal, was sie anzog, bei Gabriella sah alles elegant aus. Sie war fast so groß wie Mamma und hatte den Gang einer Gazelle.
Papà hatte seinen feinen, dunkelgrauen Mantel an, Mamma den schwarzen mit dem wunderbar weichen Pelzkragen. Sie sahen gut aus, fast wie an den Abenden, an denen sie ohne ihre Töchter ins Restaurant oder ins Theater ausgingen. Warum trugen sie ihre Festkleidung zu einer Beerdigung? Zu dieser Beerdigung?
Giulia fuhr sich mit den Fingern durch ihre wuscheligen Haare, zog schnell den Mantel über und folgte ihnen. Sie fuhren die fünf Etagen mit dem Aufzug hinunter und durchquerten schweigend den herrschaftlichen Eingang. Nur das trockene Klappern ihrer Ledersohlen auf dem Marmor war zu hören. Marino grüßte mit ernster Miene aus der Loge. Er wusste, wohin sie gingen.
Es war kalt und grau, wie seit Tagen schon. Der Mailänder Winter hatte alles mit einem Schleier aus Smog, Nebel und Nieselregen überzogen, ein allgegenwärtiges Grau, das nach Abgasen und nassem Asphalt roch.
Auf dem Weg zur Metro schlich sich die Kälte durch alle Kleidungsschichten. Giulia hielt Gabriella am Arm zurück, damit die Eltern sie nicht hörten.
„Wieso müssen wir auch mit?“
„Um Solidarität zu zeigen.“
„Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll.“
„Einfach nur still sein.“
Sie stiegen die Treppen hinunter, entwerteten die Karten, drückten die schweren Drehschranken und liefen zum Bahnsteig. Als der rot-weiße Zug einfuhr, wuchs Giulias Anspannung. Sie hatte Angst vor dieser Beerdigung. Sie hatte Angst vor den vielen Leuten, die weinen würden, vor dem Schmerz und der Verzweiflung, vielleicht auch vor der Wut, die überall zu spüren sein würde. Denn an diesem Tag wurden vierzehn Menschen zu Grabe getragen.
Fast alle Fahrgäste stiegen mit ihnen aus. Draußen brannten noch die Straßenlaternen. Es war, als traute sich das Licht nicht, den Tag zu erhellen. In den Schaufenstern des Kaufhauses Rinascente hatte man die Weihnachtslichter nicht angeschaltet. Auch der hohe Tannenbaum auf der Piazza war dunkel. Der Duomo war eine unscharfe Masse aus verrußtem Marmor. Die zierlichen Guglie und die goldene Madonnina an der höchsten Spitze waren nur schemenhaft zu sehen.
Die Piazza del Duomo war schwarz vor Menschen. Sie füllten den ganzen riesigen Platz vor der Kathedrale, sie hockten auf den Stufen des Standbilds von König Vittorio Emanuele II, manche waren sogar auf die Laternen geklettert. Junge und Alte, Familien, Studenten, einfache Mailänder, viele Arbeiter im Blaumann. Von über dreihunderttausend, sprachen die Nachrichten später. Und doch war es vollkommen still. So still, dass Giulia erschrak, als ein Schwarm Tauben plötzlich aufflog.
Über dem Tor des Duomo war ein Schild aufgehängt worden: Mailand verneigt sich vor den unschuldigen Opfern und betet für Frieden.
Drei Tage zuvor, am 12. Dezember, wollten Giulias Eltern abends in die Oper gehen. Papà hatte Mamma zum Geburtstag Karten für Il barbiere di Siviglia in der Scala geschenkt, und darauf freuten sie sich seit Wochen. Der Friseur hatte Mammas kastanienbraune Haare zu einer wunderschönen Frisur hochgesteckt, ihr dunkelrotes Abendkleid lag frisch gereinigt auf dem Bett. Um kurz nach fünf hatte Papà angerufen. Es hatte eine Explosion gegeben. Wahrscheinlich ein Heizkessel. Es gab Tote und viele Schwerverletzte. Er musste im Krankenhaus bleiben.
Als die Abendnachrichten die Bilder der Explosion zeigten, vergaß Mamma ihre Enttäuschung. Es waren verwackelte Aufnahmen eines runden Saals. In seiner Mitte klaffte ein schwarzes Loch. Drum herum lagen zerschlagene Möbelstücke und einige wie durch ein Wunder heil gebliebene Stühle. Glasscherben und unzählige Blätter Papier färbten den Boden hell. Bis auf einige verdächtig dunkle Flecken.
Es war kein Heizkessel gewesen.
„Vierzehn Tote und über achtzig Verletzte bei der Explosion einer Bombe in einer Mailänder Bank“, las der Sprecher vor. „Aufgrund ihrer Grausamkeit und der Zahl der Toten und Verletzten ist diese Tat die schlimmste, die Mailand in Friedenszeiten getroffen hat.“
Mamma und Papà nahmen Giulia und Gabriella an die Hand und bahnten sich mühsam einen Weg durch die Menge zum Dom. Aber es war bereits so voll, dass sie keinen Platz fanden, auch nicht im Stehen. Gerade, als sie wieder hinausgehen wollten, erblickte Giulia die Särge. Sie waren in zwei Reihen aufgestellt, die fast die gesamte Länge des Mittelschiffs einnahmen. Giulia suchte den Blick ihrer Schwester, doch Gabriella starrte mit offenem Mund auf die Särge, ihre Augen bewegten sich, ohne zu blinzeln, als würde sie sie zählen, ungläubig.
Papà drängte sie nach draußen, an die Luft, weg vom ungeheuren Schmerz der Familien, zurück in die Menge der einfachen Mailänder. Neben ihnen hörte Giulia einen Mann immer wieder murmeln: „Warum dieses Gemetzel? Warum? Warum? Warum dieses Gemetzel …“
Der Trauergottesdienst begann, von Lautsprechern auf die Piazza übertragen. Giulia verstand kein Wort, sie hörte nur
die unterdrückten Tränen in der Stimme des Erzbischofs. Als die Särge hinausgetragen wurden, drückte ihr die Stille auf
die Trommelfelle. Es wurde dunkel. Später berichteten die Zeitungen von der gespenstischen Dunkelheit, die sich plötzlich über die Kathedrale und die Trauergemeinde gelegt hatte.
Über einen breiten Weg, den die Polizei abgesperrt hatte, wurden die Särge fortgefahren. Erst, als der letzte Wagen Richtung Piazza Cordusio verschwunden war, setzte sich die Menschenmenge, langsam und still, in Bewegung. Giulia hörte nur ihre Schritte.
„Ich will sehen, wo es passiert ist“, sagte Gabriella. Sie war ganz weiß, sogar ihre Lippen.
Sie überquerten den Platz und liefen am Duomo entlang
bis zur Piazza Fontana. Die Banca dell’Agricoltura hatte bereits wieder geöffnet. Mamma und Papà wollten nicht reingehen, aber Gabriella hörte nicht auf sie und trat ein. Und die anderen folgten ihr. Die Trümmer, die Scherben und die furchtbaren dunklen Flecken waren weg. Nur das große Loch in der Mitte des Saals war noch da, es war mit Kordeln abgesperrt. Drum herum lagen Blumensträuße. Zwei Carabinieri in Paradeuniform standen Wache. Es roch unheimlich. Nach Bank, aber auch nach Verbranntem und nach Chlorputzmittel. Als Giulia tief einatmete, nahm sie einen weiteren, fast versteckten Geruch wahr, der ihr auf den Magen schlug, metallisch und unangenehm. Papà drängte sie wieder hinaus.
„Auch zwei Kinder wurden schwer verletzt“, sagte er, als sie wieder an der frischen Luft waren. „Zwei Geschwister. Patrizia und Enrico, fünfzehn und zwölf Jahre alt. Wir haben Enrico die ganze Nacht operiert.“
„Habt ihr ihn retten können?“, fragte Mamma.
„Ja. Aber er hat seinen linken Fuß verloren.“ Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und stöhnte. „Er ist tapfer gewesen. Ein mutiger kleiner Mann. Ob er bald wieder Fußball spielen kann, wollte er wissen. Und ich wusste nicht, wie ich es ihm beibringen sollte.“
„Wer hat das getan?“, fragte Gabriella tonlos.
„Das weiß man noch nicht. Man sagt, die Anarchisten. Ein Mann wurde festgenommen. Aber es ist zu früh, um sicher zu sein.“
„Was sind Anarchisten?“, fragte Giulia.
„Menschen, die jede Form von Herrschaft und Hierarchie ablehnen“, antwortete Mamma.
Giulia verstand kein Wort. „Und warum haben die das gemacht?“
„Wie gesagt, wir wissen noch nicht, ob sie es überhaupt waren“, sagte Papà.
„Egal, wer es war, was hat man davon, Menschen zu töten und zu verletzen, die man nicht einmal kennt?“
Mamma und Papà waren lange still. Giulia sah, wie sie sich anschauten, beieinander die richtige Antwort suchten und nicht fanden.
Papà machte den Mund auf, dann wieder zu. Er streichelte ihre Wange und schüttelte langsam den Kopf.
Gabriella hatte beide Hände zu Fäusten geschlossen.
„Wer so etwas tut, ist kein Mensch.“
Es war der 15. Dezember 1969.
Giulia fragte sich später oft, ob es dann und dort begonnen hatte. Ob an jenem kalten Dezembertag bei ihrer Schwester, wie bei so vielen anderen, der erste Funken des Feuers sprang, das sie alle beinahe verschlingen sollte.
2
Carmela kam Anfang 1972 in Giulias Klasse, mitten im dritten Schuljahr der Scuola Media. Schon der Name verriet sie. Wer hieß in Norditalien schon Carmela? Hinzu kamen die Augen, die glänzten wie Vanilleschoten, und ein goldener Teint wie nach einem langen Urlaub am Meer. Sie war klein, ihre dunklen, gewellten Haare ließ sie am liebsten wie einen Schleier vor ihr schmales Gesicht fallen. Ihre Augen sah man selten. Sie sprach nur, wenn die Lehrer sie dazu aufforderten, und dann so leise, dass man sie kaum hörte. Bereits in der ersten Woche hatte die Italienischlehrerin ihre Aussprache verbessert, zur besten Unterhaltung der Klasse. Carmela saß allein in einer Bank, schrieb mit einem abgekauten Kugelschreiber alles auf und bemühte sich vor allem, unsichtbar zu sein. Die anderen Schüler kicherten und lästerten über sie oder ignorierten sie komplett. Sie war noch einsamer, als Giulia im ersten Jahr gewesen war.
Giulia hatte keinen Platz auf der Mittelschule bekommen, in die fast all ihre Mitschüler aus der Grundschule gingen. Es gab einfach zu viele Schüler in Mailand, so viele, dass viele Schulen zu Schichtunterricht übergangen waren. Das wollten Giulias Eltern nicht, also hatten sie sie an der viel weiter entfernten Scuola Media Ascanio Sforza angemeldet. Ein grauer Betonkasten mit dunklen Schlieren unter den Fenstern und einem viel zu kleinen Pausenhof, auf dem zwei Platanen ihr trauriges Dasein fristeten. Für Giulia war es schwer gewesen, Anschluss zu finden. Die anderen Schülerinnen kannten sich seit dem Kindergarten und kümmerten sich wenig um die Neue, die ihre alten Freundinnen vermisste und nicht viel redete. Erst im zweiten Jahr hatten Roberta und Sabrina sich erbarmt. Mehr gönnerhaft als freundschaftlich, doch es war besser als nichts. Keine von ihnen hatte Giulia je zu sich nach Hause eingeladen, nur in den Pausen und nach Unterrichtsschluss standen sie zusammen und unterhielten sich über Mode, über Fernsehsendungen, über Sänger und andere Prominente. Besonders spannend fand Giulia diese Themen nicht, aber dank Irmas Klatschzeitschriften war sie bestens informiert und konnte auch ihren Teil dazu beitragen.
Meistens stellten sie sich unter eine der Platanen. Sie hätten überall stehen können, aber so störten sie die Jungs, die sofort anfingen, Fußball zu spielen, sobald sie auf den Hof kamen. Wenn sie keinen Ball hatten, tat es auch eine leere Dose oder eine Samenkugel der Platanen. Die Jungs beschimpften sie lautstark, und Giulia schimpfte zurück, mit Ausdrücken, über die ihre Freundinnen schrill lachten und sich in gespielter Entrüstung eine Hand vor den Mund schlugen. Dabei warfen sie den Jungs verstohlene Blicke zu und genossen sichtlich deren Aufmerksamkeit. Giulia staunte darüber. Warum machten sie das? Für diese Deppen? Es war total albern.
Seit Anfang Februar sprachen sie über nichts anderes als über die bevorstehende Geburtstagsfeier. Roberta hatte ihre Eltern so lange bearbeitet, bis sie ihr erlaubten, ein Tanzfest zu veranstalten. Sie unterhielten sich endlos darüber, welche Musik sie spielen würden, was sie anziehen wollten, vor allem, wen sie unbedingt und wen sie auf keinen Fall einladen würden. Roberta deutete mit dem Kinn auf Carmela, die gerade aus dem Schulgebäude kam. Sie trug einen ausgebeulten braunen Wollmantel und war ganz in einen handgestrickten beigen Schal eingemummelt.
„Also, die kommt ganz bestimmt nicht. Wo hat sie nur solche Klamotten gefunden? In der Truhe ihrer Großmutter?“
„Auf dem Wühltisch am Wochenmarkt“, kicherte Sabrina.
„Eigentlich ist sie ganz nett“, sagte Giulia.
Carmela saß in der Bank hinter ihr. Giulia lieh sich oft Dinge von ihr aus, die sie regelmäßig vergaß, den Radiergummi, das Lineal, den Zirkel.
„Woher willst du das wissen, die sagt doch kein Wort.“
„Und wenn, redet sie wie eine Terrona“, sagte Roberta.
Carmela huschte mit zusammengezogenen Schultern zum Tor. Roberta sah Sabrina vielsagend an und stellte sich ihr in den Weg.
„Wie heißt du?“, fragte sie lächelnd.
Carmela erkannte die Falle nicht und sagte ihren Namen.
„Sag noch mal. Cammella?“, fragte Roberta sehr laut. „Heißt du wirklich Cammella? Kannst du nicht reden wie alle anderen auch?“
Sabrina brach in Lachen aus. Wie alle Schüler in Hörweite. Carmela versuchte, ihren Peinigern zu entkommen, doch Sabrina schubste sie.
„Geh zurück nach Afrika zu deinen Kamelen.“
Carmela stolperte, fing sich und flüchtete durchs Tor.
Ein wenig später machte sich Giulia auf den Weg nach Hause, allein, denn Roberta und Sabrina wohnten in einem anderen Viertel und mussten in die entgegengesetzte Richtung. Sie versuchte, sich auf das kommende Fest zu freuen, aber die Szene mit Carmela drängte sich immer stärker ins Gedächtnis, und mit jedem Schritt wuchs ihr Unbehagen darüber. Auch sie hatte gelacht. Wie alle anderen Idioten. Und jetzt gingen ihr der Schmerz und die Scham in den Augen der armen Carmela nicht mehr aus dem Kopf. Als sie die Piazza Amendola erreichte, sah sie sie in die Metrostation hinunterrennen.
„Carmela“, rief sie, aber der Verkehr war zu laut.
Wo wohnte sie wohl? Giulia wusste nichts über sie, nur ihr Akzent verriet, dass sie aus der Region um Neapel stammte. Vielleicht fuhr sie mit der Metro nach Sesto San Giovanni, im Norden der Stadt, wo so viele Migranten in den unsagbar hässlichen Wohnsilos hausten, die man von der Autobahn aus sah. Ob sie Geschwister hatte? Hatte sie auch eine große Schwester, bei der sie sich Trost holen konnte?
Seit Gabriella auf dem Liceo war, hatte sie kaum noch Zeit für Giulia. Es waren nicht nur die vielen Hausaufgaben, auch nicht das tägliche Üben an der Geige, seit sie eine neue Lehrerin hatte, die sie für sehr begabt hielt. Am Liceo schien Gabriella in eine neue Welt eingetaucht zu sein, die sie begeisterte und ihre ganze Aufmerksamkeit beanspruchte. Auch Mamma beschwerte sich darüber, sie sei nur körperlich anwesend.
Giulia hing an Gabriellas Lippen, wenn sie von den rätselhaften, aufregenden Dingen berichtete, die am Liceo geschahen. Seit sie denken konnte, fand sie das Leben ihrer Schwester interessanter und spannender als ihr eigenes, denn alles, was sie selbst erlebte und tat, hatte Gabriella bereits erlebt und getan. Meistens sogar besser. Doch auf dem Liceo schienen schier undenkbare Dinge möglich zu sein. Die Assemblee, zum Beispiel, bei denen die Schüler in der Aula ganz ohne Lehrer über Politik diskutierten und zusammen Pläne für eine neue, bessere Gesellschaft machten, wie Gabriella es ausdrückte. Für Giulia und ihr Leben in der langweiligen Scuola Media, für ihre Sorgen und ihre Einsamkeit interessierte sie sich da natürlich nicht mehr.
Gabriella kam erst am Nachmittag nach Hause. Aus ihrer Schultasche ragte eine lange Papierrolle.
„Du solltest Bescheid sagen, wenn du nicht zum Essen kommst, Irma hat gemeckert“, sagte Giulia.
„Irma sollte sich besser daran gewöhnen, das wird jetzt häufiger passieren.“
„Wo warst du denn?“
Gabriella antwortete nicht. Sie hängte das Bild der Madonna mit Kind über ihrem Bett ab und zog die Papierrolle auseinander. Giulia stand von ihrem Schreibtisch auf, um besser zu sehen. Es war ein Poster, das schwarz-weiße Bild eines bärtigen Mannes mit Baskenmütze.
„Was machst du denn da?“, fragte Giulia.
Sie durften keine Poster aufhängen. In ihrem Zimmer hingen nur von den Eltern genehmigte, sauber gerahmte Bilder. Ein Panorama von Siena, ein Bilderbogen vom Sturm auf die Bastille, den Papà von einer Reise aus dem Elsass mitgebracht hatte, und natürlich die Madonna mit Kind, die Zio Daniele für jede von ihnen gezeichnet hatte. Ausgerechnet dieses Bild hatte Gabriella abgenommen.
„Du wirst Ärger kriegen.“
„Ich brauche keine Madonna über meinem Kopf. Ich glaube eh nicht an Gott. Und schon gar nicht, dass Maria seine Mutter war.“
„Sag das nicht Mamma.“
„Wieso eigentlich nicht? Papà ist auch nicht gläubig.“
„Papà ist Papà, und wir sind wir. Woher hast du das Poster?“
„Fabio hat es mir gegeben.“
Den Namen hatte Gabriella schon einige Male genannt, wenn sie von den politischen Aktionen der älteren Schüler erzählte. Immer auffallend beiläufig.
„Wie? Macht er dir jetzt sogar Geschenke?“
„Und was geht dich das an?“
Sie hörten, wie die Haustür aufgeschlossen wurde, und kurz darauf steckten ihre Eltern die Köpfe durch die Tür, um Hallo zu sagen. Ihre Gesichter erstarrten.
„Was ist das“, fragte Mamma, ohne Fragezeichen.
„Ein Poster.“
„Du weißt, wie wir zu Postern stehen.“
Gabriella entschied sich für den Angriff.
„Ja, weiß ich“, sagte sie in dem betont genervten Ton, der Giulia bei ihr neuerdings häufiger auffiel. „Poster sind unfein, gewöhnlich und niveaulos und unwürdig für ein wohlerzogenes Mädchen aus gutem Hause.“
Mammas Lippen wurden gefährlich schmal. Sie hob ein winziges Stückchen Putz vom Nachttisch auf, das eine unvorsichtig eingedrückte Heftzwecke gelöst hatte.
„Von der beschädigten Wand einmal abgesehen ist dieses Ding nicht nur hässlich, es ist proletenhaft.“
„Vielleicht gefällt es mir gerade deswegen.“
Es roch nach Ohrfeige. Papà zeigte auf das Poster.
„Weißt du eigentlich, wer das ist?“
„Natürlich. Che Guevara.“
„Ein kommunistischer Revolutionär.“
„Ganz genau.“
„Bist du jetzt etwa Kommunistin geworden?“
„Du sagst das, als wäre es etwas Schlimmes.“
„Weißt du überhaupt, was das bedeutet? Natürlich weißt du das nicht. Du bist noch ein Kind.“
„Ihr macht einen großen Fehler, wenn ihr das denkt.“
Es lag nicht in Gabriellas Natur zu rebellieren. Und in der Tat sah ihr trotziger Ausdruck kindlich aus, sie klang auch nicht souverän, sondern bockig.
„Was erlaubst du dir für einen Ton!“, sagte Mamma. „Wo ist die schöne Madonna von Zio Daniele?“
„In der Schublade.“
Papà drängte sich dazwischen. „Ilaria, wir müssen uns beeilen, ich habe das Taxi für halb acht bestellt. Gabriella, wir sprechen später darüber, verlass dich drauf.“
Seit Wochen hatten sie diesen Opernabend geplant. Sie hatten gerade noch Zeit, sich fein zu machen. Später würden die Mädchen schlafen. Bis zu dem ernsten Gespräch würden sich die Gemüter beruhigen. Gabriella hatte ihre Aktion gut geplant.
Während Gabriella in der Küche ein Glas Wasser trank, vielleicht, um wieder zur Ruhe zu kommen nach der Aufregung, betrachtete Giulia das Poster. Auch sie fand es ziemlich hässlich, doch darum ging es nicht. Gabriella hatte den Mut gehabt, sich gegen die Eltern aufzulehnen. Giulia kannte diesen Che Guevara nicht, aber sie verstand, dass er für etwas Größeres stand. Gabriella kämpfte für etwas, woran sie glaubte. Und was tue ich?, fragte sich Giulia.
Auf dem Weg zur Schule, am folgenden Morgen, wartete sie beim Zeitungskiosk neben dem Ausgang der Metro.
„Hallo, Carmela. Wollen wir zusammen gehen?“
Carmela sah sie erschrocken an. Sie blickte sich um, als wäre es ein Hinterhalt.
„Äh … ja … wenn du meinst“, sagte sie, noch misstrauisch.
Sie liefen eine Weile nebeneinander, ohne etwas zu sagen. Um die Stille zu füllen, begann Giulia, über Belangloses zu plaudern. Sie stellte keine Fragen. Sie spürte, dass Carmela ihr nicht vertraute.
In der Pause kam Roberta auf sie zu.
„Wir reichen dir also nicht mehr“, sagte sie eisig.
„Wie bitte?“
„Du hast eine neue Freundin.“ Sie verzog den Mund. „Und dann auch noch diese Cammella.“
Einen Augenblick lang war Giulia versucht, alles abzustreiten, um doch zu Robertas Feier gehen zu können. Sie war seit der Grundschule nirgendwo mehr eingeladen worden.
„Nenn sie nicht so.“
Roberta schnaubte. „Wie soll ich sie denn sonst nennen?“
„Sie hat einen Namen!“
Sabrina sah Roberta mit einem dünnen, selbstzufriedenen Lächeln an. „Was habe ich dir gesagt?“
Roberta nickte. „Mensch, Giulia, allein die Klamotten. Und wie sie spricht! Unterentwickelt.“
„Ich sehe hier nur ein Kamel, borniert, gemein und unterentwickelt, und das steht vor mir.“
Giulia drehte sich auf den Hacken um und ging zurück in die Klasse.
„Geh doch, Mutter Teresa der Terroni“, rief ihr Roberta hinterher. „Aber glaub nicht, dass du zu uns zurückkommen kannst.“
Carmela, die die Szene von Weitem beobachtet hatte, hielt sich den Rest des Vormittags im Hintergrund. Erst auf dem Nachhauseweg fing sie an zu reden.
„Du hast meinetwegen deine Freundinnen verloren.“
Ein langer Satz für sie.
„Man kann nur verlieren, was man hat“, brummte Giulia. „Mach dir keinen Kopf. Echte Freundinnen waren die nicht.“
„Die Atmosphäre überträgt sich dann auch sehr genau auf die Leser*innen von Heute.“
„Der Roman ist ein Hohelied auf die Freundschaft und Schwesternliebe inmitten von Gewalt und Terror.“
„Sie liefert hier eine akribische historische Aufarbeitung mittels der damit gekoppelten, von ihr höchst einfühlsam gestalteten Schilderung junger Menschen.“
„Nicoletta Giampietro erzählt in ›Mit geballter Faust‹ packend und klischeebefreit von politischer Gewalt im Mailand der 1970er Jahre.“
„Der Roman ist mitreißend und fesselnd.“
„Autorin Giampietro versteht es, das aufgeheizte Klima jener Zeit zu beschreiben.“
„Eine atmosphärisch dichte Geschichte über das Erwachsenwerden junger Frauen im politischen und privaten Sturm jener Zeit.“
„Ein bewegender, vielschichtiger Roman!“
„Der Roman ist aber auch die enorm spannend geschriebene Geschichte eines Mädchens, ihrer Familie und ihrer Freunde, die man, wenn man einmal angefangen hat, so schnell nicht mehr aus der Hand legt.“
„Giampietro gelingt es in ihrem Roman ›Mit geballter Faust‹, auch Themen wie Freundschaft, Liebe, Bestimmung der Frau, Familie und Hoffnung packend und mitreißend zu verbinden.“
„Absolute Leseempfehlung!“
„Als ein Einblick in die Geschichte jener Jahre ist ›Mit geballter Faust‹ spannend. Man kann das Buch aber auch als Coming-of-age-Roman lesen, in dem ganz klassische Jugendprobleme ebenso ihren Platz finden wie die großen, politischen Fragen der Zeit – und das vor der liebevoll eingefangenen Atmosphäre eines vergangenen Italiens.“
„Emotional packend“
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