Kind, versprich mir, dass du dich erschießt Kind, versprich mir, dass du dich erschießt - eBook-Ausgabe
Der Untergang der kleinen Leute 1945
— Über den größten Massenselbstmord der Geschichte DeutschlandsKind, versprich mir, dass du dich erschießt — Inhalt
„Eines der besten historischen Bücher des Jahres 2019“ The Times
„Eines der besten historischen Bücher des Jahres 2019“ The Times
Monatelang brandete 1945 eine Selbstmordwelle durch Deutschland, die Tausende – Frauen, Männer und Kinder – in den Untergang riss. In welchen Abgrund hatten die Menschen geblickt, dass sie angesichts der Befreiung vom Dritten Reich nur im Tod einen Ausweg sahen? Aus der Sicht derer, die das unfassbare Geschehen selbst miterlebt haben, erzählt der Historiker Florian Huber von dem größten Massenselbstmord der deutschen Geschichte und seiner Verdrängung durch die Überlebenden – ein fesselnder Blick auf die Gefühle der kleinen Leute, die in ihren Untergang marschierten.
Leseprobe zu „Kind, versprich mir, dass du dich erschießt“
Teil I
Vier Tage in Demmin
Fluss ohne Brücken
„Wir erreichten gegen Morgen wieder eine Stadt. Demmin.“
Ganz am Ende der schnurgeraden Allee löste sich der Umriss eines mächtigen Kirchturms aus der Dämmerung. Die Fluchtlinien der Chaussee und das Spalier der Ahornbäume lenkten den Blick auf die Turmspitze, die sich nadelfein in die Höhe reckte. Ein Scherenschnitt vor zartrosa Himmel, wie mit dem Rasiermesser in Seidenpapier geritzt. Schlank und wuchtig, filigran und fest zugleich. Zum ersten Mal fanden Irene Brökers Augen Halt in der Gleichförmigkeit des [...]
Teil I
Vier Tage in Demmin
Fluss ohne Brücken
„Wir erreichten gegen Morgen wieder eine Stadt. Demmin.“
Ganz am Ende der schnurgeraden Allee löste sich der Umriss eines mächtigen Kirchturms aus der Dämmerung. Die Fluchtlinien der Chaussee und das Spalier der Ahornbäume lenkten den Blick auf die Turmspitze, die sich nadelfein in die Höhe reckte. Ein Scherenschnitt vor zartrosa Himmel, wie mit dem Rasiermesser in Seidenpapier geritzt. Schlank und wuchtig, filigran und fest zugleich. Zum ersten Mal fanden Irene Brökers Augen Halt in der Gleichförmigkeit des Tieflandes. Sie musste nur weiter direkt darauf zusteuern.
Irene Bröker war 23 Jahre alt, stammte aus Stettin und war mit ihrer Familie auf der Flucht. Von der Familie war jetzt, Ende April 1945, nicht mehr viel übrig. Ihr Mann Werner-Walter galt seit letztem Herbst als vermisst. Ihre Eltern, den Schwiegervater und die Schwägerin hatte sie am Tag zuvor in Anklam, einem der vorüberziehenden Durchgangsorte, nach einem Fliegerangriff aus den Augen verloren. Der Kutschwagen der Eltern war mit gebrochenem Rad liegen geblieben, während sie mit dem Auto im dichten Strom der Fahrzeuge, Menschen und Pferde einfach aus dem Ort hinausgeschoben wurde. Sie hatte ihre Verwandten danach nicht wiederfinden können. Nur Holger war jetzt noch bei ihr. Ihr kleiner Sohn Holger, zwei Jahre alt. Ihn durfte sie nun nicht mehr aus ihrer Nähe lassen.
Aber ganz alleine waren die beiden nicht, denn in Löcknitz, ein paar Kilometer westlich von Stettin, hatten sich ihnen ein älterer Arzt und dessen Frau angeschlossen. Wie viele Frauen, hinter denen ein bis dahin geordnetes Leben gelegen hatte, entwickelte Irene Bröker in dieser Lage eine erstaunliche Überlebensklugheit. Dazu gehörte, ihre Gefühle bis auf das Nötigste einzufrieren. Außerdem die Fähigkeit, in fremden Menschen den Verbündeten zu finden. Dr. P., wie Irene Bröker den Arzt in ihren Aufzeichnungen nennt, wurde für sie die wichtigste Stütze in den Tagen, die ihnen bevorstanden. Sogar für den Moment, in dem sie das Überleben vielleicht gar nicht mehr wünschen würde, hatte sie Vorsorge getroffen. An einer Schnur um den Hals trug Irene Bröker ein wasserdichtes Beutelchen bei sich.
Gegen Morgen kamen sie also nach Demmin. Für sie nur ein weiterer gleichgültiger Name auf dem Fluchtweg. Die Stadt um den ziegelroten Kirchturm, der die Landschaft weitum dominierte, barg für Irene Bröker keine Erinnerungen und keine Bedeutung. Das Ziel ihres Marsches lag irgendwo weit im Westen, dort, wo die russischen Soldaten nicht hinkämen.
Die Schrecken der Wintertrecks, der Kampf gegen den Schneesturm auf eisglatten Wegen, die Frostnächte lagen weit zurück. Strahlendes Frühlingswetter beherrschte die zweite Aprilhälfte und versetzte die Natur in Vorpommern in einen unwiderstehlichen Aufbruch. Junges Grün stand auf den Wiesen und in den Bäumen, auf warme Tage folgten mildkühle Nächte. Regen fiel nur noch vereinzelt. Zusammen mit vielen anderen waren Irene Bröker und das Ärztepaar die Nacht über stockend vorangekommen. Als sie am Morgen mit ihrem Wagen den östlichen Rand von Demmin erreichten, waren sie mit ihren Kräften am Ende.
In einem Sandweg blieben wir dann stecken und mußten einige Gepäckstücke liegen lassen, um weiter zu kommen. Viele, viele Werte lagen schon an den Straßenrändern und Wiesen. Wir blieben in Demmin am Stadtrand in einer größeren Villa neben dem Friedhof. Die Bewohner des Hauses waren in der Nacht auf die Fluchtstraße gegangen. Wir konnten vor Erschöpfung nicht mehr weiter und gönnten uns eine Nacht zum Ausruhen. Hinter ihr lagen durchwachte Nächte, unterbrochen nur von gelegentlichem Sekundenschlaf in der Kühle am Wegrand, wenn der Treck gerade stockte. Sie hatte darüber jedes Zeitgefühl verloren. Sie sehnte sich nach einem Ort zum Ausruhen. Die Station Demmin sollte nicht mehr sein als ein Innehalten zum Verschnaufen. Aber der Ort war ein Nadelöhr. Drei Flüsse lagen auf dem Weg nach Westen.
Ein paar hundert Meter weiter, in der Reit- und Fahrschule des Wehrkreises II Stettin, ehedem eine preußische Kavallerie-Kaserne, hatte die Einheit des Wehrmachtssoldaten Gustav Adolf Skibbe Quartier bezogen. Er war spät in diesen Krieg geraten. Skibbe war vor 53 Jahren im westpreußischen Elbing auf die Welt gekommen. Wenn der Volkssturm der alten Männer und Hitlerjungen das letzte Aufgebot war, dann zählte er im besten Fall zum vorletzten. Bis vor wenigen Monaten hatte er hoffen können, den Krieg bei seiner Familie zu überstehen. Doch das Sieb, mit dem die Armee im Zuge der totalen Mobilmachung die zivile Bevölkerung nach Lückenfüllern durchkämmte, wurde immer engmaschiger, bis auch Skibbe darin hängen blieb. Im Dezember 1944 rückte er ein, knapp zwei Monate darauf ging seine Geburtsstadt Elbing in einem verbissenen Endgefecht unter. Die folgenden Wochen verbrachte er jenseits von jedem Kampfgeschehen meist rund um Berlin und, seit dem 14. März, in Demmin. Der Krieg bestand für ihn in dieser Phase aus Warten, Schleppen und Herumstehen auf zugigen Bahnsteigen: „Elende Nacht, wehe Füße“, er spürte sein Alter und seine Knochen, „gottseidank bekam ich in Oranienburg Einlagen“.
In seinem Kriegstagebuch, einer schmalen Kladde, notierte Skibbe in knappen Stichworten seine Etappen, sein körperliches Befinden und, bei seltenen Anlässen, seine Gefühlsverfassung. Die große Kriegslage würdigte er mit kaum einer Zeile. Noch weniger die Politik. Seine Familie hatte er vier Wochen zuvor zum letzten Mal gesehen.
In Demmin richtete sich seine Einheit in der früheren Ulanenkaserne in der Jarmener Straße ein. Hier bekam er viel zu tun. Seinen Andeutungen zufolge ging es dabei um das Warten und Reparieren von Maschinen. Ihm entging nicht die nervöse, ahnungsvolle Stimmung, die die Menschen in der Stadt, Bewohner wie Flüchtlinge, in diesen Tagen Mitte März erfasst hatte. Auch nicht ihr wachsendes Misstrauen gegen die Truppe, die sie verteidigen sollte:
Alles drunter + drüber. Strohsäcke mit Holzwollefüllung besorgt, im Hinterzimmer schlafen wir, 3 Mann. Möller, Schink und ich. Sehr primitiv. Bevölkerung wegen der Überfüllung der Stadt sehr zurückhaltend, fast kopflos.
Die Tage verstrichen mit viel Arbeit, „ohne wesentlich bemerkenswertes“. Skibbe konzentrierte sich auf seine Maschinen und genoss ansonsten die schönen Frühlingstage. Im Osten der Stadt hoben Frauen und Schüler kilometerlange steile Panzergräben aus und errichteten Panzersperren mit Holzpfählen, während zwischen ihnen die nicht mehr abreißenden Flüchtlingstrecks in dichten Trauben in die Stadt drängten. Die Rote Armee, die ihren Vorstoß nach Vorpommern begonnen hatte, trieb sie wie eine Bugwelle vor sich her.
Marie Dabs, gebürtige Demminerin, Tochter eines Schiffskapitäns und Ehefrau des Pelz- und Herrenartikelhändlers Walter Dabs, kannte sich aus mit Flüchtlingen. In mehreren Wellen waren sie seit Februar durch die Stadt gezogen, einige schlüpften unter bei Verwandten, andere bekamen vom Quartieramt Zimmer oder einen Platz im Massenlager zugewiesen. Die meisten zogen weiter nach Westen, doch an ihre Stelle rückten bald die nächsten. Marie Dabs lebte mit ihren Kindern Nanni und Otto seit der Einberufung ihres Mannes allein in ihrer Wohnung hinter dem Laden in der Luisenstraße. Das Quartieramt wies ihr eine ältere Flüchtlingsdame aus dem Memelland zu, die sich fortwährend beschwerte und die Küche mit Beschlag belegte. „Ihr Braten und Brutzeln, meistens abends, nahm kein Ende.“ Sie stellten ihr Ottos Kinderzimmer zur Verfügung, das sie in kurzer Zeit verwohnte. Als die Frau nach einer Weile zusammen mit ihrer Tochter weiter nach Westen zog, besetzten zwei junge Schwestern aus einer anderen Flüchtlingsfamilie Nannis neu eingerichtetes Mädchenzimmer.
Mit ihren 42 Jahren war Marie Dabs von klein auf an ein Leben im bürgerlichen Milieu der kleinen Kreisstadt gewöhnt. Auf einem kunstvoll komponierten Porträtfoto spricht ihr Mienenspiel unter sorgfältig gesteckter Frisur vom Stolz auf ein erfolgreiches Leben. Nun musste sie dieses mit wildfremden Menschen aus dem Osten teilen. Das Schicksal der Geflohenen vor Augen, quälte sich Marie Dabs mit der Frage, was ihnen selbst bevorstand. Mehrmals rang sie sich zu dem Entschluss durch, mit den Kindern die Stadt zu verlassen. Die befreundete Gutsbesitzerfamilie Hansen bei Flensburg drängte sie per Telegramm, doch zu ihnen zu kommen. Die Koffer waren gepackt. Aber Marie Dabs ließ sich durch Behördenvertreter und Offiziere dazu überreden, zu bleiben und ihren Laden nicht zu schließen, denn das Geschäft mit den Militäreffekten und Ordensdekorationen, das sie mit offizieller Genehmigung neben dem Pelzhandel betrieb, erfuhr in diesen Wochen einen außergewöhnlichen Schub. Ein Wehrmachtsgeneral kaufte ihr die ganze Ordenskiste leer, da ihm selbst, wie er erklärte, in den vielen Kämpfen die Orden ausgegangen seien. Marie Dabs konnte spüren, wie nahe ihr die Front rückte.
Sie ließ sich jedoch wiederum beruhigen, als der Polizeioberst von Demmin ihr versprach, im Fall einer Flucht ihre Familie persönlich in Sicherheit zu bringen. Bis dahin jedoch müsse sie im Gegenzug Frau und Kind eines befreundeten SS-Offiziers in ihrer Wohnung unterbringen. An diesen Strohhalm wollte sie sich klammern. Immer noch vertraute Marie Dabs den Amtsträgern des Regimes mehr als ihrer inneren Stimme.
Obgleich sie bei allen Mahlzeiten unsere Gäste waren, gab mir der hohe SS-Offizier keinerlei Rat. Doch die vielen Trecks, die durch unsere Straßen gen Westen zogen und die Schiffe mit Flüchtlingen im Hafen mußten uns ja zu denken geben. Ich hoffte fest auf das Versprechen unseres Polizei-Oberst, der uns ja zusammen mit seiner Frau und Tochter in Sicherheit bringen wollte!
Den Krieg kannten die Demminer bis dahin nur aus den Berichten in der Zeitung, dem Rundfunk und der Wochenschau. Oder aus Erzählungen anderer. Zwar trieben die Sirenen des Fliegeralarms sie ab und zu in die Keller, aber die Bomberverbände flogen stets weiter, nach Stettin oder Berlin. In bestimmten Nächten konnten die Bewohner aus ihren Dachfenstern heraus am östlichen Horizont den Glutschein des brennenden Anklam sehen. Ein paar Mal hatte die US-Bomberflotte den nur zehn Kilometer östlich gelegenen Militärflugplatz Tutow angegriffen. Aber auf Demmin selbst war nie eine einzige Bombe gefallen. Eine Insel mitten im Krieg.
Ursula Strohschein, die mit ihren Eltern in der Luisenstraße nicht weit vom Pelzgeschäft Dabs in der Altstadt wohnte, war kurz zuvor von einem Besuch in der Ruinenwüste des völlig zerbombten Hamburg in ihre Heimatstadt zurückgekehrt. Nach diesen Eindrücken, die schwer auf ihrer Seele lagen, gab ihr der Anblick der unversehrten Stadt wieder einen Augenblick lang Luft zum Atmen und Hoffen. „Nicht nur Wiedersehensfreude, es war auch eine Wohltat.“ Die Bürgerfassaden mit den Ziergiebeln und Sprossenfenstern, die alten Fachwerkhäuser, die Turmstraße mit dem Pulverturm und dem Luisentor dahinter, die sacht fließende Peene konnten das Gefühl erwecken, dass die Zeit vielleicht einfach an Demmin vorübergehen würde. Ursula war jedoch weder dumm noch taub noch blind. Sie wusste, was sie gesehen hatte in Hamburg. Sie kannte die Berichte der Soldaten, die auf Heimaturlaub gekommen waren, und jener, die jetzt in Demmin Stellung bezogen hatten. Sie kannte das Schicksal der Flüchtlinge, deren Städte und Dörfer die Russen erobert hatten und die jetzt noch zahlreicher als zuvor hereinfluteten. Es waren stachelbärtige alte Männer mit verbeulten Hüten, gebeugte Großmütter, hohläugige junge Frauen mit Kopftüchern und Hetze im Blick, Kinder mit rotzverschmierten Nasen und stinkenden Hosen. „Vollgestopft mit Fremden“, so beschreibt Ursula Strohschein das Demmin dieser Tage. Sie schoben sich in stockenden Kolonnen aus Pferdefuhrwerken, Handkarren und Kinderwagen durch die Straßen. Oben drauf hatten sie zu schwankenden Türmen gestapelt, was ihnen von Haus und Hof geblieben war. Bettdecken und Kissen, Wäschekörbe, Koffer, Rucksäcke, verkeilt und mit Schüren festgezurrt. Eine Elendsprozession, die der Druck der heranrollenden Front in die Straßen, auf die Plätze und Wiesen der Stadt spülte. Ende April wussten die Quartiermeister der Partei nicht mehr, wohin mit ihnen. Alle Wohnungen und Schulen waren überbelegt, ebenso die Gutshöfe und Gehöfte im Umland. Wer jetzt kein Dach hatte, blieb im Treckwagen und verbrachte die Nächte auf der Straße. Die Demminer, bis dahin Zuschauer, mussten sich selbst die Frage stellen: bleiben oder gehen?
Unruhe und Angst geisterten durch die alte Hansestadt. „Was wird aus Demmin?“, fragte meine Tante, die in dem schönen Bürgerhaus am Markt 22 wohnte, den dort einquartierten Bannführer der HJ. „Wir verteidigen Demmin!“ war seine stramme Antwort. Wir, das waren einige Hitlerjungen und Volkssturmmänner. Der Herr Bannführer eilte nach oben, zog sich um und verschwand.
Am Samstag, dem 28. April, machte Dr. Wilhelm Damann einen Rundgang durch die Stadtknabenschule in der Frauenstraße, den tiefroten Backsteinbau mit dem spitzen Dachreiter. Damann war selbst Lehrer gewesen, nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten aber aus dem Dienst entfernt worden. In der roten Schule war der Unterricht, wie überall in der Stadt, eingestellt. Die Wehrmacht hatte darin ein Lazarett eingerichtet, in dem Verwundete und Sterbende die Gänge belegten. In der Aula, in der sich sonst angehende Erwachsene in feierlicher Steifheit mit Lebensweisheiten zum Abschlusszeugnis erbauen ließen, schnitten Ärzte jetzt den angehenden Erwachsenen Kugeln und Splitter aus dem Fleisch und sägten ihnen Arme und Beine ab. Heute jedoch sah Wilhelm Damann vom Gang aus, wie die Aula von Verwundeten geräumt wurde. Wer von ihnen nicht in einem Lastwagen oder requirierten Möbelwagen unterkam, für den blieb nur der Platz in einem Pferdefuhrwerk. Als Damann vor die Tür auf die Frauenstraße trat, war diese voller deutscher Soldaten, die alle Richtung Peenebrücke strebten. Gegen diesen Strom kämpften sich Menschen mit Kartons und Taschen, die sie in den geöffneten Magazinen und Depots der Armee mit Lebensmitteln vollgestopft hatten. „Die Auflösung war im Gange.“ Die Wehrmacht machte kein Geheimnis daraus, dass sie die Stadt aufgeben und hinter sich die Brücken nach Westen sprengen würde. Es war die letzte Gelegenheit für alle Zweifler und Schwankenden, sich auf die Flucht zu machen. Andere hatten sich auf diesen Moment längst vorbereitet. Die Spitzen der NSDAP und ihrer Organisationen, der Landrat, Bürgermeister, Gymnasialdirektor, die Vertreter von Behörden und Verwaltung ließen zurück, was sie ohnehin nicht retten wollten. Vom Pelzgeschäft der Marie Dabs zum weitläufigen Marktplatz waren es nur ein paar Schritte.
Ich lief zum Rathaus, um unseren Polizei-Oberst zu sprechen, der mir ja das Versprechen gab. Aber was ich da vor dem Rathaus erleben mußte, war für mich unvorstellbar. Auf einem Lastwagen saß unsere gesamte Polizei und neben dem Wagen stand der Polizei-Oberst, bereit, auf den Wagen zu steigen. Er rief mir zu: „Wollen Sie mit, dann steigen Sie auf!“ Ich habe fassungslos dagestanden, keines Wortes mehr mächtig.
Ohne die Kinder - niemals! So musste Marie Dabs dem Wagen hinterhersehen und damit ihrer letzten Hoffnung, Demmin rechtzeitig zu verlassen. Zwei Dinge brachen in diesem Augenblick über sie herein. Da war der Verrat des Polizeiobersten, auf dessen Versprechungen sie bis zum Schluss blindlings vertraut hatte. „Unvorstellbar“ war dieser Bruch deshalb, weil ja nicht nur der Polizeioberst auf den Lastwagen sprang, sondern auch die anderen Polizisten ihrer Heimatstadt, die sie beschwatzt hatten zu bleiben. Sie dachte auch an jenen hohen SS-Offizier, dessen Frau und Kind bei ihr wohnen durften, der gelegentlich von irgendwoher bei ihnen zum Abendessen hereingeschneit war, der wenig sagte, aber vieles wusste, und der mitsamt seiner Frau eines Tages weg war. Und dann war da der General der Wehrmacht, der die ganze Ordensauslage leergekauft und ihr geschworen hatte: „über die Oder kommen die Russen nicht!“ Ihn hatte sie nie wieder zu sehen bekommen. Und all die Leute aus der Partei, Ottos Jungvolkführer, der Ortsgruppenleiter, hatten Hoffnung verbreitet, hatten von Flucht nichts wissen wollen und waren doch selber geflohen.
Schlimmer als der Verrat dieser Leute aber war, dass sie, Marie Dabs, ihnen allen eher hatte glauben wollen als sich selbst. „Ich ahnungsloser Mensch.“ Ihre leichtgläubige Dummheit, ihr kraftloses Abwarten erschreckten sie selbst. Obwohl sie gespürt hatte, was um sie herum geschah und dass es ums Leben ging, hatte sie sich immer wieder beschwichtigen lassen und die Wahrheit vor ihrer Ladentür gelassen. Bis es zu spät war. Von da ab durchzieht der Vorwurf, vor sich und ihren Kindern versagt zu haben, ihren Bericht als wiederkehrendes Motiv. »Warum tat ich es nicht? Warum bin ich nicht abgefahren, als Hansens mir das Telegramm schickten? Ich habe alles verkehrt gemacht, und das grausige Schicksal nahm seinen Lauf.«
Bestürzt ging sie zurück ins Pelzgeschäft und rief die Kinder zu sich. Gemeinsam packten sie ihr Fluchtgepäck. Ein Handkoffer mit Lebensmitteln, Kognak, Zigaretten als Tauschware. Ein größerer Koffer für bessere Kleidung, ein Daunenbett und die beiden Fotoalben der Kinder. Wertsachen, die sie nicht mitnehmen konnten, die Orden und Ehrenzeichen aus dem Geschäft, versteckten sie im Keller. Dann verteilten sie ihre Sachen auf den Gepäckträgern der Fahrräder. Auch jetzt vergaß Marie Dabs nicht, dass sie die Frau des Pelzhändlers war. „Ich hatte mein dunkelgraues Kostüm und eine rotweiße Hemdbluse und ein Paar derbe Schuhe an und meine beiden Pelzmäntel über dem Arm.“ Ein letzter Blick in die vertrauten Räume, die weißlackierten Ladenschränke, die Kleiderstangen mit den Oberhemden, Krawatten und Mützen. Der Pelzraum mit dem weißen Schrank, darin die Pelzmäntel und Muffs.
Im Moment des Aufbruchs rannte ihnen die jüngste Tochter von Herrn Feindt entgegen, dem Kinobetreiber aus der Nachbarschaft. Ihr Vater hatte nach einem Herzanfall im Sterben gelegen. Keiner hatte ihm helfen können. Frau Feindt und die drei Töchter ließen den Toten schließlich in der Wohnung zurück und flohen Richtung Kummerower See. Währenddessen schoben Marie, Nanni und Otto Dabs ihre Fahrräder im Strom der Flüchtenden und Soldaten über die Kahldenbrücke am Hafen.
Am selben Tag notierte Gustav Skibbe in sein Kriegstagebuch, dass seine Einheit den Standort aufgeben würde. Kein Endkampf in Demmin. Die Wehrmacht räumte sämtliche Positionen. Skibbe bekam zu seiner Freude ein zusätzliches DKW-Fahrzeug, „zwecks Absetzung“. Nach einer Nacht ohne Schlaf fuhr er zum Heeresverpflegungslager, wo die Liquidierung des Stützpunktes in vollem Gange war. Überall aufgebrochene und leergeräumte Kisten. Fleisch. Zigarren. Schnaps. Soldaten und Zivilisten schleppten Säcke mit Kartoffeln und stangenweise Zigaretten davon, blafften und brüllten sich an, rissen sich die Beute aus den Händen und droschen aufeinander ein. „Mord. Totschlag.“ Skibbe packte, was er kriegen konnte für sich und seine Leute. Kein geordneter Rückzug, sondern „fluchtartiges Absetzen“. Die ersten Tiefflieger, die ersten Toten. So kam der Krieg schließlich doch nach Demmin. Es war der 29. April.
Muttis Geburtstag. Welche schwermütigen Gedanken schweifen hinaus. Unser Büro wird geräumt unter Fliegerbeschuß, Tiefflieger, verschiedene Tote unter den Flüchtlingen. Hochbetrieb, eine Armee flutet zurück, ein grausiges Schauspiel. Nachts Verlagerung nach der Hafenbrücke, niemand soll heraus aus Demmin.
Die kampflose Räumung der Stadt hatte ihren Preis. Die Menschen wurden schutzlos dem Feind übergeben. Kein Bewohner, kein Flüchtling sollte mehr die Stadt nach Westen verlassen, um das Heer auf seinem Rückzug nicht zu behindern. Die Soldaten begannen ihren Rückzug über die Peene. Anschließend wollten sie die Brücken in die Luft sprengen. Irene Bröker und ihre Gefährten hatten sich für ihre Fluchtpause den schlechtesten Moment ausgesucht. Der Erholungstag in der verlassenen Villa am Friedhof, in der sie sich eingerichtet hatten, wäre ihnen beinahe zum Verhängnis geworden. Häuserkontrolle durch die Waffen-SS, Suche nach Männern, Drückebergern, Verrätern. Dr. P. gelang es im letzten Moment, sich unter dem Bett zu verstecken. Die „Kettenhunde“ mit dem großen Metallschild auf der Brust sahen sich nur flüchtig um.
Das Telefon ging plötzlich im Hause nicht mehr. Es war merkwürdig still geworden. Wir wollten weiterziehen und hofften, daß nach der Häuserkontrolle niemand mehr auftauchen würde, der uns in die Gräben schicken konnte, die rund um die Stadt angelegt waren.
Gerade als sie ihre Koffer wieder in das Auto stopften, kamen ein paar Frauen vorbei und erzählten, dass die SS die Brücken gesperrt habe. Jetzt spürte Irene Bröker auf einmal die Kälte im Magen. Sie verfluchte die Militärs, dass sie die Hauptstraßen nach Westen für ihr Kriegsgerät reserviert hatten. So hatten sie hinter Stettin auf verstopften Nebenwegen schräg nach Norden in Richtung Ostsee ziehen müssen. Wären sie geradeaus nach Westen gefahren, so glaubte sie, hätten sie heute schon in Mecklenburg sein können, wo sie die Engländer vermuteten. In Sicherheit. „Wir aber saßen Ende April wie in einer Falle in Demmin fest.“
Demmin, das „Dreistromland“. Die Stadt drängt sich wie eine Halbinsel an das Ostufer der Peene, die sich hier zu einer Schleife ausbeult. Sie kommt von den Hügeln der Mecklenburgischen Schweiz und schlängelt und windet sich noch weitere fünfzig Kilometer durch die Vorpommersche Ebene bis zur Ostsee. Die Peene ist keine reißende Wilde. Ihr Ufer liegt in Demmin kaum zwei Meter über dem Meeresspiegel. Ihr Gefälle ist sacht, ihr Fließen träge. Bei anhaltend starkem Ostwind gibt sie irgendwann nach und strömt bergauf. Aus der Luft betrachtet, umfasst die Peene in einem halbkreisförmigen, schwarzgrünen Bogen die Demminer Altstadt, die darüber auf einer kleinen Anhöhe liegt. Der Marktplatz mit dem freistehenden Rathaus in der Mitte, die stolze Backsteinkirche St. Bartholomaei, das Luisentor mit seinem Treppengiebel. Im Verlauf dieses Bogens münden zwei Zuflüsse in die Peene, von links die Trebel, von rechts die Tollense, beide ebenfalls stark mäandernde Flüsschen. In und um Demmin bilden Peene, Trebel und Tollense ein schwer überschaubares Netz von Seitenarmen und Torfkanälen, Becken und Gräben, Teichen und Sumpfwiesen. Seiner Lage an diesem Drei-Flüsse-Kreuz mit Wasserstraße zur Ostsee verdankte die Kreisstadt einmal eine gewisse Bedeutung als Seehafen. Die Lagerspeicher aus Rotklinker können es mit dem Kirchturm aufnehmen.
Demmin, Dreistromland, Ende April 1945. 15 000 Einwohner. Einige tausend Flüchtlinge. Die Brücken von den eigenen Soldaten abgesperrt, zur Sprengung bereit. Aus der Luft betrachtet, schnitt das schwarzgrüne Band der Peene die Fluchtwege nach Westen ab. Aus der Luft betrachtet, war zu erkennen: Sie saßen alle in der Falle.
Seit dem 25. April war die 65. Armee der Zweiten Weißrussischen Front von Stettin aus unterwegs auf ihrer letzten Etappe durch Vorpommern und Mecklenburg-Strelitz bis zur Demarkationslinie zu den Westalliierten. Ihr Auftrag lautete, innerhalb von 14 Tagen das deutsche Territorium nördlich von Berlin bis zur Linie Demmin–Malchin–Waren zu erobern. Dabei trafen sie auf die dahinschmelzenden Reste des XXXII. Armeekorps, eine zu großen Teilen aufgeriebene Division flämischer SS-Legionäre und ein paar Volkssturmeinheiten von erbärmlicher Gestalt. Diese Streitkräfte waren zwar längst nicht mehr in der Verfassung, die sowjetischen Panzer und Einheiten zurückzuschlagen, doch sie verwickelten sie immer wieder in Gefechte und brachten ihnen spürbare Verluste bei, sodass die sowjetischen Soldaten keinerlei Anlass hatten, das Kämpfen und Töten etwa als beendet anzusehen. Sie verschärften sogar noch einmal das Tempo ihres Vormarsches, um den sich zurückziehenden Deutschen nicht den Atem zu lassen, an der Küste der Ostsee nochmals eine Verteidigungslinie aufzuziehen.
So rollten ihre schweren Panzer und Schützenpanzerwagen zügig in Richtung Nordwesten, über die Landstraßen und Wiesen, die wegen der vielen Bäche und Kanäle schwer zu befahren waren. Sie kamen durch kleine und kleinste vorpommersche Ortschaften. Altentreptow. Letzin. Alt Teterin. Hohenmocker. Dort, im Ortsteil Sternfeld, verbrachte die vorderste Brigade die Nacht. Am nächsten Tag sollten die Rotarmisten Demmin einnehmen und dem Feind unverzüglich weiter Richtung Nordwesten nachjagen. So lautete ihre Aufgabe am Morgen des 30. April.
Ein suuuuper Buch!! Leichte Lektüre, liest sich schnell weg. Ich habe mich als ebensolche Erzieherin immer wieder erkannt und lauthals gelacht. Auch die unterschiedlichen Typen Eltern und natürlich die vielen Kleinen mit ihren individuellen Merkmalen sind wieder erkannt. Es macht einfach nur Spaß das Buch zu lesen. Jetzt liest gerade meine zweite Kollegin; weitere werden folgen!!!!!
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