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Herr Jensen steigt ausHerr Jensen steigt aus

Herr Jensen steigt aus

Jakob Hein
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Roman

Ein wunderbares Buch. Das müssen Sie lesen! - Hape Kerkeling in Lesen!

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Herr Jensen steigt aus — Inhalt

Ist es die hohe Kunst des Nichtstuns, die Herrn Jensen treibt, oder verfolgt er nicht doch einen geheimen Plan? Als Briefträger schiebt er tagtäglich liebevoll Post in die Schlitze der Kästen. Eines Tages freigestellt, verlässt er seine Wohnung immer seltener. – Nicht das Alltägliche, nicht der Wahnsinn interessieren Jakob Hein, es ist der schmale Grat dazwischen. Seine kurze Geschichte von Herrn Jensen lotet mit großer Konsequenz die Tragik eines wunderlichen Lebens ebenso aus wie dessen unerhörte Komik.

€ 11,00 [D], € 11,40 [A]
Erschienen am 01.12.2007
144 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-25076-4
Download Cover
€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 06.10.2014
144 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-96886-7
Download Cover

Leseprobe zu „Herr Jensen steigt aus“

001

Herr Jensen wird vorgestellt

Der Brief in seiner Hand war wie üblich nicht für ihn. Herr Jensen strich mit dem Umschlag knapp unterhalb der Schlitze über die Türen der Briefkästen, so daß sich das vordere Drittel des Umschlags an die Metallgehäuse drückte. An jeder Lücke zwischen zwei Kästen gab es einen kleinen Sprung, und das Adreßfeld schien vor seinen Augen leicht zu tanzen. Dabei murmelte Herr Jensen immerfort den Namen auf dem Briefumschlag fast unhörbar vor sich hin. Stimmte der Name in dem Adreßfeld schließlich mit dem Namen auf dem Kasten [...]

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001

Herr Jensen wird vorgestellt

Der Brief in seiner Hand war wie üblich nicht für ihn. Herr Jensen strich mit dem Umschlag knapp unterhalb der Schlitze über die Türen der Briefkästen, so daß sich das vordere Drittel des Umschlags an die Metallgehäuse drückte. An jeder Lücke zwischen zwei Kästen gab es einen kleinen Sprung, und das Adreßfeld schien vor seinen Augen leicht zu tanzen. Dabei murmelte Herr Jensen immerfort den Namen auf dem Briefumschlag fast unhörbar vor sich hin. Stimmte der Name in dem Adreßfeld schließlich mit dem Namen auf dem Kasten überein, murmelte Herr Jensen diesen Namen ein klein wenig lauter. „Meyer, Meyer, Meyer, Meyer … MEYER!“ Dann schob er den Brief durch den Schlitz in den Kasten und nahm den nächsten Brief zur Hand. Das war sein System, das System Jensen.

Schon seit mehr als zehn Jahren stellte Herr Jensen im gleichen Viertel die Post zu. An den Tagen, an denen er die Ratgeberzeitschriften in die Briefkästen warf, dachte er jedesmal, daß andere mehr Sorgfalt auf die Wahl ihrer Waschmaschine verwendeten, als er das bei der Wahl seines Berufs getan hatte. Wenn seine Mitschüler früher davon geredet hatten, daß sie später Berufsfußballer, Rockstars oder Robotertechniker werden wollten und mit ernsthafter Miene ihre Chancen und Möglichkeiten diskutierten, man mußte nicht in der ersten Liga spielen, auch in der zweiten wurden Leute gebraucht, dann konnte Herr Jensen nicht mitreden. Er hatte keinen Traumberuf. Er ging jeden Tag in die Schule, weil man das mußte, und er hatte die vage Vorstellung gehabt, daß es immer so weitergehen würde.

In den Sommerferien zwischen der achten und der neunten Klasse arbeitete er zum ersten Mal bei der Post. Den Job hatte er damals über Matthias Gertloff aus seiner Klasse bekommen. Herr Jensen allein hätte überhaupt nicht gewußt, wie er sich nach einem Ferienjob auch nur hätte erkundigen sollen. Aber eines Tages verkündete Matthias, daß er einfach zur Post gegangen sei, eine Bewerbung abgegeben habe und nun im Sommer dort jobben werde. Bald darauf gab Herr Jensen eine Bewerbung bei der Post ab.

Als der Job dann anfing, arbeiteten Matthias und er in verschiedenen Bereichen, so daß man sich selten sah. Matthias hatte sich in die Paketabteilung setzen lassen, weil dort öfter mal etwas abfiel, wie er grinsend meinte. Bei Herrn Jensen fiel nichts ab, er holte morgens seine Post ab, verteilte sie in die entsprechenden Briefkästen und fertig. Das war besser, als in den Ferien zu Hause herumzusitzen, und er bekam am Ende sogar noch Geld dafür.

Im folgenden Frühjahr ging Herr Jensen wieder zum selben Büro und bewarb sich für den Sommer. Er hatte immer noch keine Ahnung, wo sonst man sich nach einem Ferienjob erkundigen sollte.

Er kannte die, die kannten ihn, er konnte wieder bei der Post arbeiten. Später, als Student, hatte er den Job natürlich auch nicht aufgegeben, wo er so gut eingearbeitet war und das Geld noch besser gebrauchen konnte. Und als Herr Jensen mit dem Studium dann so abrupt aufhörte, wie andere sich das Rauchen abgewöhnen, brauchte er das Geld noch dringender. Und genau deshalb trug er inzwischen schon seit mehr als zehn Jahren hier die Post aus.

Matthias, der machte längst etwas anderes. Der hatte damals nicht einmal in den Sommerferien darauf wieder bei der Post gearbeitet. Das ist mir dann doch zu langweilig, hatte er zu Herrn Jensen gesagt und in irgendeinem Hotel in den Bergen gekellnert. Hätte Matthias rechtzeitig etwas gesagt und ihn damals mitgenommen, möglicherweise würde Herr Jensen jetzt dort ein Tablett voller Kaffeetassen auf die Terrasse tragen.

„Düring, Düring, Düring, Düring, … DÜRING!“

Mitnehmen war ein wichtiges Thema für seine Mutter. Frau Jensen war der Ansicht, daß ihr Sohn schon immer jemanden gebraucht habe, der ihn mitnahm, in jeder Hinsicht. Du bist nicht einmal im Hochsommer allein ins Freibad gegangen, wenn nicht auch jemand anderes dorthin ging. Wenn du in der Schule mit einem schlechten Schüler befreundet warst, hattest du die zweitschlechtesten Noten, warst du mit dem Klassenbesten befreundet, warst du der Zweitbeste, sagte sie. Aber das bildete sie sich nur ein. Herr Jensen war niemals der Zweitbeste oder der Zweitschlechteste bei irgendwas gewesen. Außerdem hatte Herr Jensen an dieser Stelle immer gedacht, daß er ohnehin nie besonders viele Freunde gehabt hatte. Er war zufrieden damit gewesen, sich unbehelligt im Mittelfeld aufzuhalten, ohne daß ihn jemand störte. Als Kind hatte er viele Selbstgespräche geführt, so daß sich die anderen oft über ihn lustig machten. In späteren Jahren bekam er das Problem der Selbstgespräche besser in den Griff, er ließ die anderen nicht mehr merken, wenn er mit sich selbst sprach. Aber neue Freunde gewann er dadurch auch keine. Herr Jensen nahm an, daß er einfach den richtigen Zeitpunkt dafür verpaßt hatte. Wer in der Grundschule keine Freunde gefunden hatte, der fand wahrscheinlich so schnell keine mehr.

Jedenfalls dauerte es nie lange, bis Frau Jensen auf den eigentlichen Punkt ihrer Rede kam, nämlich daß ihr Sohn wohl auch darauf hoffte, daß ihn jemand zu einer Frau mitnehmen würde. Worauf wartest du nur? Glaubst du, daß irgendwann einmal einer von deinen Freunden kommt und sagt, heute gehen wir mal nicht ins Kino, heute werde ich dich mal mit deiner zukünftigen Frau bekannt machen. Das glaub mal nicht. Ich kann auch nicht losgehen und jemanden für dich aussuchen. Du mußt dir selbst etwas einfallen lassen, beschwor sie ihn. Seine Mutter war der Überzeugung, daß Menschen im allgemeinen und sie im besonderen nur aus einem Grund Kinder in die Welt setzten: um baldmöglichst Enkelkinder zu bekommen, und daß alles dazwischen nur der unvermeidliche, entbehrungsreiche und qualvolle Weg zu diesem Ziel war. Weil Herr Jensen das einzige Kind seiner Eltern war, konnte er diese Bürde, von der seine Mutter im Verlauf der Zeit immer eindringlicher sprach, auch mit niemandem teilen.

Der alte Herr Jensen saß in seinem Sessel und sagte dankenswerterweise meistens nichts. Gelegentlich verschwand er in der Küche und holte zwei Flaschen Bier, von denen er eine wortlos seinem Sohn reichte. Dann setzte er sich wieder hin. So dankbar der junge Herr Jensen seinem Vater für dieses Schweigen war, so genau wußte er, daß auch sein alter Herr von ihm enttäuscht war. Als er damals mit dem Studium angefangen hatte, schien es, als würde der Brustumfang seines Vaters um mehrere Zentimeter wachsen. Der alte Herr Jensen hatte sich dann bei jedem Besuch seines Sohnes ausführlich über den Fortgang des Studiums erkundigt und sogar seiner Frau den Mund verboten, wenn die wieder von irgendwelchen Frauengeschichten anfangen wollte. Er hatte nie viele Ideen in bezug auf seinen Sohn gehabt, aber doch den Wunsch, daß er unbedingt einmal studieren sollte. Der alte Herr Jensen selbst hatte nur das Abitur machen dürfen, bevor er im Betrieb seines Vaters angefangen hatte. Die Zeiten seien andere gewesen.

Jensen Hydraulik KG hatte Hydraulikzylinder für Großfahrzeuge hergestellt. Hydraulikzylinder für Dreiseitenkipper, Hochlöffelbagger und Planierraupen. Große, mit Hydrauliköl gefüllte, kommunizierende Röhrensysteme, die abhängig von ihrer Größe so ziemlich jede Last nach oben drücken konnten. Die Firma Jensen Hydraulik hatte einen Namen auf dem Markt. Aber die Konkurrenz aus Asien war im Lauf der Jahre erdrückend geworden. Ihre Preise konnte Jensen Hydraulik nicht unterbieten. Der alte Jensen war ein zu guter Geschäftsmann, um auch nur daran zu denken, seinem Sohn die Firma zu übergeben. Er schloß Jensen Hydraulik, als sie anfing, unrentabel zu werden. Dadurch hatte sein Ruhestand zwar ein paar Jahre früher als geplant eingesetzt, aber der alte Herr Jensen bewahrte sich und seine Familie damit vor einem finanziellen Verlust. Falsche Sentimentalität war ihm fremd.

Um so interessierter war er nun daran gewesen, daß der Junge studierte. Nach dem Studienabbruch schien der Vater schlagartig um zehn Jahre gealtert und um zwei Zentimeter geschrumpft zu sein. Seitdem saß er nur noch in seinem Sessel und brachte seinem Sohn gelegentlich ein Bier. Er trank in kleinen Schlucken aus seiner Tulpe, und er trank niemals viel. Er hielt das Glas beim Eingießen etwas schräg und zum Schluß ganz senkrecht, damit eine kleine Blume auf dem Bier entstand. Es schien beinahe, als wolle er sich die Zeit vertreiben, während seine Frau auf seinen Sohn einredete, der seinerseits aus der Flasche trank.

Herr Jensen hatte damals kein Ziel verfolgt mit dem Abbruch seines Studiums. Es war einfach passiert. Er hatte in dem betreffenden Sommer wie immer bei der Post gearbeitet, und eines Tages war ihm aufgefallen, daß in einer Woche die Frist für die erneute Anmeldung an der Universität ablaufen würde. Herr Jensen holte sich sogar noch am selben Tag das dicke Kursbuch und fing an, sein nächstes Semester zu planen. Aber zwei Kurse, die er belegen wollte, fanden zur gleichen Zeit statt, deshalb war er mit seiner Planung nicht weitergekommen, die Woche war verstrichen, und schließlich hatte er auch die Nachmeldefrist verpaßt.

Es war für ihn jedes Halbjahr eine Qual gewesen, sich seine Kurse zusammenzusuchen. Es gab genaue Vorschriften, welche Kurse ein Student seines Faches für einen erfolgreichen Abschluß absolvieren mußte. Aber wenn das klar war, warum mußten sie sich trotzdem zweimal im Jahr einen eigenen Stundenplan basteln und mit anderen um die Kursplätze konkurrieren, fragte sich Herr Jensen. Warum gab man ihm nicht zweimal im Jahr einen Stundenplan, so wie das in der Schule gemacht wurde? Grundkurs Biochemie, Einführung in die Thermodynamik, Algebraische Geometrie, Hegelianische Logik. Herr Jensen hatte sich einfach einmal zu oft durch das dicke Buch quälen müssen. Er gab auf. Als das Schreiben der Universität kam, in dem ihm offiziell seine Exmatrikulation mitgeteilt und er ausführlich über sein Einspruchsrecht gegen diesen Beschluß informiert wurde, nahm Herr Jensen den dicken Aktenordner, in dem er alle Studienunterlagen abheftete, aus dem Regal, faltete das Schreiben in der Mitte, lochte es sorgfältig und heftete es mit den anderen Studienunterlagen ab. Es blieb das letzte Schriftstück, das in diesen Ordner kam.

Im Grunde war Herr Jensen damals erleichtert gewesen. Das einzige, was ihn bedrückte, war, daß er seinem Vater von der Exmatrikulation berichten mußte. Denn warum er studierte, war Herrn Jensen selbst nie klar gewesen. Lustlos hatte er in den Seminaren gesessen und die empfohlene Literatur gelesen. Die Formeln der Naturwissenschaftler waren ihm fremd geblieben. Trotz aller Experimente, die vorgeführt wurden oder die er in den Praktika selbst machen mußte, blieben die Formeln für ihn nur Tinte auf kariertem Papier. Ob der eine Buchstabe und der andere Buchstabe miteinander zu multiplizieren oder voneinander zu subtrahieren waren, ob Natrium und Molybdän miteinander einen neuen Stoff bildeten oder ohne jegliche Reaktion aneinander vorbeiflossen, alles mußte er auswendig lernen. Seinen Mitstudenten schien es anders zu gehen. Gespannt lauschten sie der Vorlesung und diskutierten mit Feuereifer strittige Fragen. Selbst in die Atome und Moleküle schienen sie sich hineinversetzen zu können, weil sie schon beim Anblick der mit Kreide an die Tafel geschriebenen Summenformeln errieten, welche chemische Reaktion folgen würde. Herr Jensen war ihnen dankbar, daß sie sich so unermüdlich meldeten und mitdiskutierten, weil er dadurch in Ruhe gelassen wurde, aber er verstand weder seine Mitstudenten noch die Atome.

Schlimmer war nur der Grundkurs Philosophie gewesen, den er aus Neugier zu Beginn des Studiums gewählt hatte, weil er genau zwischen zwei Pflichtvorlesungen stattfand und Herr Jensen ohnehin nichts Besseres zu tun gehabt hatte. Er las dort den ersten alten Griechen, der die Welt sehr schön erklärte. Es gab Moral, moralisch richtiges und moralisch falsches Handeln. Es gab den wertvollen Menschen, der durch sein Handeln bestimmt war.

Genau aus diesem Grund hatte Herr Jensen diesen Kurs belegt. Wenn ein kluger Mensch über die Schwerkraft nachdachte und dann eine allgemeingültige Formel entwickelte, dann mußte es doch auch möglich sein, daß jemand über die Welt nachdachte und dann ein Buch darüber schrieb, das zum Beispiel Herr Jensen lesen und damit die Welt verstehen konnte. Doch gleich nach jenem ersten Griechen war der zweite Grieche gekommen, der zwar auch eine sehr schöne Erklärung für die Welt präsentierte, die plausibel und richtig klang, aber vollkommen anders als die Erklärung des ersten Griechen war. Sie hatten dann noch ein paar Römer und Franzosen durchgenommen, die alle andere Meinungen vertraten, und zum Schluß verstand Herr Jensen die Welt noch weniger als vorher. Ihr Dozent konnte oder wollte keine Empfehlung aussprechen, welcher der Herren recht hatte. In schriftlichen Arbeiten sollten sie eine Frage philosophisch diskutieren. Herr Jensen wußte, daß er kein Philosoph war, daher fühlte er sich von diesen Übungen überfordert. Er war froh, als das Semester vorüber war, und belegte danach ausschließlich naturwissenschaftliche Kurse, in denen er sein Unverständnis durch Auswendiglernen ausgleichen konnte.

Aber warum er sich das Gehirn mit diesen Fakten verstopfen sollte, verstand er deshalb keines-wegs.Wenn er sich irgendwann für den spezifischen Wärmequotienten von Wasser oder die Induktionsstärke eines Magnetfeldes interessieren würde, würde er die Information schon irgendwo finden können oder notfalls jemanden fragen. Herr Jensen war überzeugt davon, daß er etwas viel Sinnvolleres mit seinem Gehirn machen konnte, er wußte nur noch nicht genau, was.

Wenn er hingegen die Post zustellte, dann war es absolut klar, daß er nichts machte, was sein Gehirn besonders beanspruchte. Briefe austragen war mit Sicherheit das Falsche. Das beruhigte ihn, denn so konnte er besser darüber nachdenken, worin die große Sache bestand, was das Richtige für ihn war, ohne durch etwas anderes abgelenkt zu werden.

Seine Eltern verkauften irgendwann ihr Haus und zogen in eine altersgerechte Wohnung in dem Ort in den Bergen, in dem sie mehr als zwanzig Jahre ihren Sommer- und Winterurlaub verbrachten. Dort gebe es gutes Essen, gute Luft und gute Kliniken, ein Traum, hatte seine Mutter gesagt. Sie schickten ihm einen Ausschnitt aus der Lokalzeitung, mit einem Foto, auf dem der Bürgermeister die Jensens mit Handschlag in ihrer neuen Wohnung willkommen heißt.

Herr Jensen hatte nichts gegen diesen Umzug. Das Haus war ihm egal, er hatte nie vorgehabt, dort einzuziehen. Kurz nachdem er damals mit dem Studium angefangen hatte, bot ein Kollege von der Post seine Wohnung am schwarzen Brett an. Zusammen mit seinem Vater ging er zur Besichtigung, weil er nicht gewußt hätte, worauf er achten sollte. Die Wohnung war nicht besonders groß und auch nicht besonders hell, aber die Miete war niedrig, die Post lag gleich um die Ecke, und Herr Jensen hatte schon lange den Reden seiner Mutter entkommen wollen. Sein Vater half ihm beim Umzug. Der kleine Laster, den sie gemietet hatten, war kaum halb voll, als sie alles, was Herr Jensen besaß, eingeladen hatten. Noch leerer sah die neue Wohnung aus, nachdem Herr Jensen seine Sachen aus den wenigen Kisten in die wenigen Möbelstücke sortiert hatte. Aber er war an jenem Abend sehr zufrieden gewesen und hatte sich keinen Grund vorstellen können, jemals wieder aus dieser Wohnung auszuziehen.

Der neue Wohnort seiner Eltern lag weit genug entfernt, und dort gab es keinen Platz für ihn. So konnte Herr Jensen die Besuche, die für ihn in letzter Zeit vor allem mit einem Gefühl peinlicher Berührtheit verbunden gewesen waren, auf ein Minimum reduzieren.

Jakob Hein

Über Jakob Hein

Biografie

Jakob Hein, geboren 1971 in Leipzig, wuchs in Berlin auf, wo er heute als praktizierender Arzt mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen lebt. Neben den Bestsellern „Mein erstes T-Shirt“, „Formen menschlichen Zusammenlebens“ und „Herr Jensen steigt aus“ erschienen unter anderem von ihm sein...

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