Die Frau in den Bäumen Die Frau in den Bäumen - eBook-Ausgabe
Roman
— Eine stimmungsvolle Sommerreise ins Italien der 1970er Jahre„Elisabeth Plessen, die etliche Dramen Shakespeares neu ins Deutsche übertrug, entfaltet sich hier als Meisterin des flüssigen und fulminanten Erzählens. Ihre Dialoge wirken frisch, geradezu beschwingt. Darüber hinaus formuliert sie außerordentlich präzise und bildgewaltig.“ - Freie Presse
Die Frau in den Bäumen — Inhalt
„Wir hatten Zeit, Liebe schafft Zeit.“
Anna ist Ende zwanzig, hat das Studium beendet und steht vor dem Neuanfang, als sie mit Leo gen Italien aufbricht. Nach Tagen der nicht nur hochsommerlicher Hitze geschuldeten Apathie reißt ein Gewitter die beiden aus dem Trott und Anna gleich ganz aus ihrem bisherigen Leben: Die Nachricht vom Tod ihres Vaters fällt zusammen mit dem Kennenlernen von Matteo, einem Regisseur, der sie nach Rom lockt und dann auf eine Insel. Und da ist Robert, zu dem Anna sich aus anderen Gründen hingezogen fühlt. Fest steht allein, dass nichts so bleiben kann, wie es ist, denn das Leben steht offen vor ihr.
Eine literarische Sommerreise ins Italien der 1970er Jahre
Leseprobe zu „Die Frau in den Bäumen“
I.
Aufbruch
1
Anna!
Der Ruf drang durchs offene Fenster zu mir ins Zimmer hinauf. In einer alten Sprache bedeutet Anna Gnade. Ich war dabei, meine Dinge zusammenzusammeln und in die Tasche zu stopfen, unsere Abreise stand bevor. Ferien. Ein leises Zittern durchfuhr mich, ein frühmorgendliches Zittern, das ich gut kannte. Die Nacht war gerade erst vorbei. Ich hatte abends noch lang gelesen, und mir fiel der Satz aus dem elisabethanischen Drama wieder ein, Liebe mit Angst gemischt sei am süßesten oder so ähnlich. Ein Satz, den man im Kopf behält, das große [...]
I.
Aufbruch
1
Anna!
Der Ruf drang durchs offene Fenster zu mir ins Zimmer hinauf. In einer alten Sprache bedeutet Anna Gnade. Ich war dabei, meine Dinge zusammenzusammeln und in die Tasche zu stopfen, unsere Abreise stand bevor. Ferien. Ein leises Zittern durchfuhr mich, ein frühmorgendliches Zittern, das ich gut kannte. Die Nacht war gerade erst vorbei. Ich hatte abends noch lang gelesen, und mir fiel der Satz aus dem elisabethanischen Drama wieder ein, Liebe mit Angst gemischt sei am süßesten oder so ähnlich. Ein Satz, den man im Kopf behält, das große Drama dieser Aussage. Mein Leben schien immer dann erst in Ordnung, wenn ich mich verliebt hatte. In einen Mann, in eine Idee, eine Blume, in eine klare Luft. Augenblicklich wurde ich ganz wach, musste kurz lachen und fühlte mich bereit, bereit für die Reise.
Zwei Minuten noch, mein Herz!, rief ich zurück.
Unten auf der Straße im strahlenden Licht machte sich Leo am Auto zu schaffen. Der schwarz lackierte Zweisitzer, ein MG, hatte rote Ledersitze und eine Rückbank aus feurigem Tuch, einen Hardtop für den Winter, ein abnehmbares Dach im Sommer, alles luxuriös und asozial. Wer auf dem Notsitz landete, eine dritte Person, saß dort zusammengeklappt wie ein Schweizer Taschenmesser. Für größere Gepäckstücke wäre die Anmietung eines Anhängers nötig. Rot und Schwarz, einander anschreiende Farben, gut bei Stendhal, bei einem Zweisitzer nicht so. Aber er fuhr, das war die Hauptsache. Die Welt hatte sich wieder in die alte Ordnung bringen lassen, zumindest provisorisch bis zur nächsten Erschütterung, das Auto würde halten.
Was bedeuten schon zwei Minuten. Wusste Leo das? Wusste ich es? Inzwischen waren sie um. Und ich war noch dabei, den Reißverschluss meiner Reisetasche zuzuziehen. Lange war der Beifahrersitz frei gewesen. Doch nun gab es mich. Die Okkupantin für kürzere und längere Reisen, die Beisitzerin seit einiger Zeit.
Anna!
Ich bin doch da.
Wo da?
Bei dir.
Ich sehe dich nicht.
Ist nicht meine Schuld, sagte ich und schloss das Fenster.
Der Wagen war wirklich nur für zwei gemacht, hinten auf der schmalen Bank reichte der Platz gerade für das Notwendigste, wenn das feste Dach abgenommen und das weiche auf Knopfdruck im Heck verschwunden war. Mein Grammofonkoffer mit den geliebten Schellackplatten, die Olivetti im grünen Kasten, die Querflöte, Noten und Notenständer, Arbeitsbücher landeten darauf neben Leos Akten und Manuskripten, die er für das Herbstprogramm durcharbeiten wollte. Die Bank war schnell voll, sodass der Rückspiegel seine Funktion einbüßte. Nun war es an den Seitenspiegeln allein, den Blick nach hinten zu sichern. Beim Verstauen meiner Heiligtümer schwitzte Leo wie ein gewissenhafter Packer bei besonders kostbaren Kunstgegenständen für eine bevorstehende Ausstellung.
Ein neuer gemeinsamer Sommer begann. Man weiß nie, wie es wird. Wusste es Leo? Wollte ich es wissen? Es wird schön. Es wird nicht schön. Es wird lang. Es wird kurz. Es wird. Ein Spiel, das, einmal aufgenommen, die Grundlage bildet, frei nach Wittgenstein, selber Doktor für das Handeln und das Denken. Das Studium hatte ich erst vor Kurzem, im Frühjahr, abgeschlossen. Den Abschluss hatte ich für ein sportliches Kopfspiel genommen, einfach nur, um einen Punkt in meinem Leben zu setzen. Schüchtern, wie ich war, lief ich am ganzen Körper zitternd im Rigorosum durchs Ziel. Der Doktortitel bedeutete nichts, er war mir sogar peinlich, die Assoziation mit der Rolle im weißen Kittel, Gynäkologin, Pathologin, Kinderärztin und was alles noch. Seltsam, zuweilen auch lustig, wie man im flüchtigen Blick eines anderen schon als Ärztin definiert wird, selbst ohne Kittel. Frau Doktor. Der Sinn dieses Titels langweilte mich, er klang nach Abweg, als Wort jedoch interessant mit der stabilen Kette kerniger Buchstaben, streng, funktional und mächtig, irgendwie auch obskur, nicht ohne eine gewissermaßen präzise Rhythmik. Erst mit der Zeit, Wochen später, wurde mir, als die Prüfungsanspannung längst vergessen war, bewusst, dass der Abschluss doch einen gewaltigen Einschnitt in mein Leben gebracht hatte, einen Schub, einen Sprung in alle möglichen Freiheiten. Freiheiten, die Leo nicht offenstanden, nicht in dieser Weise. Der feste Job beim Rundfunk gab ihm tyrannisch den Rahmen vor, worunter er still litt, und die Pension, selbst die frühzeitige, schien ihm noch aus weiter Ferne zuzuwinken. Ich bin Angestellter, sagte er halb witzig, halb bitter, wobei er seine Arbeit mochte, sie füllte ihn aus, das ständige Werden hin zur ihn nur selten vollends zufriedenstellenden Realisation, während ich, eine Studentin nach dem Studium, meine vom Himmel gefallene potenzielle Unbehaustheit genoss.
2
Ursprünglich hatte ich eine ganz andere Reise geplant, in ein unbekanntes Land, Ortsveränderung, Luftveränderung, Veränderung überhaupt, doch ich blieb bei Leo, und nun saßen wir im Zweisitzer zu zweit und fuhren zu den ansteigenden Bergen Latiums. Ich bin so froh, dich bei mir zu haben, wiederholte Leo alle fünfzig Kilometer. Casa Rossa mit einem weiten Blick aufs Meer, dein geliebtes Meer, du wirst sehen, was ich diesmal für uns gefunden habe.
Eine Garnitur von Cremes, Parfüms und Gesichtswassern, Kämmen, Kopf- und Frotteetüchern besaß ich nicht, auch nicht fünfzehn Paar Schuhe und zwanzig Sommerkleider, nur zwei Paar modische Ohrringe in Schwarz-Weiß. Ich mochte ihre Dreiecke. Ich hatte sie in Paris in einer Drogerie erstanden und brauchte für sie keine Bohrung in den Ohrläppchen wie für den noch zu erbenden Schmuck. Und ich besaß drei Lippenstifte, changierend zwischen Ochsenblut und kühnem Karmesin, nur für Italien, nicht für das strenge, zugleich langmähnige, militante Berlin. Sie lagen in der Handtasche zu meinen Füßen. Leo fuhr schnell und umsichtig, und ich, im Gefühl, geliebt und verwöhnt zu sein, sah nur aus dem Fenster, kilometerweit.
Während vieler schlafloser, von Arbeit nicht erfüllter Nächte hatte Leo sich Gedanken über unsere Route gemacht. Wie er mit mir das königliche Gebirge überqueren wolle, damit es mir fürs Leben unauslöschlich bliebe, in anderen Worten: mit ihm allein verbunden. Und es ist ihm gelungen, schreibe ich freimütig hierhin.
Als folgte er einem inneren Kompass, bog er vor Bellinzona von der stark befahrenen Autobahn unerwartet auf eine kurvenreiche Landstraße ab, die er nun gemächlich entlangfuhr und auf der wir uns höher und höher schraubten bis hinauf auf das vermeintliche Dach Europas. Hier irgendwo begann der Po, in den Süden zu fließen, der Rhein in den Norden, die Rhône gegen Westen. Und je mehr Leo über die Quellflüsse und von der magischen Straße ins gelobte Land Italien erzählte, während wir vorbei an verkrauteten Wiesen, aus denen Felsbrocken aufragten, uns über Serpentinen weiter in die Höhe schraubten, im Abseits von allem und von einer Stille in die nächste Stille, desto tollkühner erschien mir unsere Überquerung des Passes in der schwarzen kleinen offenen Kiste. Keine Tankstelle, kein Hotel in Sicht. Nur die Kantonsstraße weit unten bis zu uns hinauf, eine Schlange mit flacher Haut. Gebügelt. Stumpfer Asphalt. Ich mochte die Berge nicht, auch wenn ihr Anblick gewaltig war, objektiv schön, wie sie sich in unerreichte Höhen reckten, ich aber konnte es kaum erwarten, das Meer zu sehen.
Anders als bei der Reise eines anderen über den Gotthard bei ziehenden Wolken und Vollmond um Mitternacht, von der Leo nun erzählte, und dem der Übertritt in Schnee und Wolken wiederholt nicht gelungen war, hatten wir Glück. Leo hatte den Kalender gewälzt und die Mondphasen studiert. Und vollbrachte nun das, quasi stellvertretend, was der andere, sein großes Vorbild, erst nach drei Anläufen und dann auch noch an anderer Stelle, nämlich über den Brenner hinunter nach Italien, einst geschafft hatte. Wir hielten an, stiegen aus. Kein Schnee, keine Wolken. Tief beeindruckt, sah ich mich oben in der sommerlichen Kälte um, so hoch wie noch nie. Der Wind hatte den Himmel sternhell gefegt, in seiner Mitte stand rund der alles beherrschende Mond.
Schatz!
Wir spielten unser Spiel. Was sah der große Meister damals, was konnten wir sehen? Sahen wir mehr? War seine Fantasie gefräßiger und unerbittlicher gewesen als unsere? Was könnten wir ihm aus der Welt der Technik mitteilen? Lieber Goethe, aus allen Wolken sind digitale Propheten gefallen, und wir stehen hier im eisigen Wind, üben die Flucht vor unzugänglichen Intelligenzen. Würde er es verstehen, könnten wir es ihm überhaupt verständlich machen, was wir selber kaum verstehen? Was weiß die mit der Welt gewandelte Sprache ihm zu sagen? Würde er die Sprache der NASA, der NSA, die Verschlüsselungen des KGB oder nur Einsteins oder Sacharows Formeln verstehen?
Airolo. Fast Ariosto. Ariosto war oben im Himmel, Airolo lag unten im Tal, dort hinab führte jetzt unser Weg.
Wir übernachteten in einem Städtchen an den Ausläufern der Alpen und durchfuhren in aller Frühe eine weit nach Süden sich streckende Ebene, die fast unsichtbar blieb, weil sich die Nebel nicht gehoben oder schon wieder gesenkt hatten, als wir an den Fluss kamen, dem wir vor Stunden fast auf den Scheitel hatten spucken können. Ich wollte ihn sehen, spüren, ihn, dessen Name mit so vielen Bildern durch meinen Kopf zog, wollte ihn riechen und den blassen, watteartigen Dunst, durch den wir fuhren, auf der Haut spüren, im Gesicht, mit den Händen, wollte wissen, ob die kleinen Tropfen, wenn ich sie zwischen den Fingern rieb, zu Wasser zergingen. Leo fuhr sehr langsam. Dass wir nicht im Fluge wie Goethe vorankamen, sondern im Schneckentempo, gefiel sichtlich Leo, wir erlebten ausgefallene Dinge, Neues noch einmal gemeinsam.
Bitte halte an, sagte ich. Hinter der Windschutzscheibe erfahre ich nur die Welt, die sich als bloßes Bild dem Auge zeigt. Ich möchte sie spüren, mit den Wimpern, sie durchrudern mit Händen und nackten Armen. Glück und Freiheit gegen das Gefühl der Beklemmung.
Und so gingen wir eine Weile im uns einhüllenden Dunst, der immer dichter wurde, je tiefer wir beide in ihn eindrangen.
Meinst du, wir finden zum Auto zurück?, fragte ich Leo und ging weiter in die benebelte Natur hinein.
Hallo, rief ich.
Noch bin ich da, Schatz.
Ich blieb stehen und lauschte. Hörte zwei männliche Stimmen, sah aber ihre Inhaber nicht, während sie sich näherten. Konturen, denen die Stimmen gehörten, tauchten nicht auf. Auch später nicht. Ich halluzinierte.
Drehen wir um und gehen an den Fluss?
Wir haben ihn längst passiert, sagte Leo. Erinnerst du dich nicht? Als der weiße Lkw am Straßenrand stand und blinkte. Zwei Männer, ein großer und ein dicker, kleiner, die neben der dunklen Wand rauchten.
Weshalb hast du mir das nicht gesagt?
Die Antwort kam nicht gleich. Ich dachte, du siehst sie so wie ich, sagte er dann.
Auf der Weiterfahrt bei stärker werdendem Sonnenschein erzählte ich Leo von den Nebeln meiner Kindheit im Hamburger Hafen, den Nebeln am Meer und in den Bäumen, nicht nur den Weidepinseln oder nachtmahrhaften Weideköpfen des Erlkönigs. Und wie platt und banal dagegen die letzte Zeile war, in der das Gedicht über den Nebel endete, das ich in der letzten Klasse hatte interpretieren müssen: Leben ist Einsamsein. So deprimierend, sagte ich, zum Gähnen deprimierend. Und sah in den Nebel hinaus, den ich aufregend fand, ein sekündlich sich wandelndes Abenteuer, weil er dich seinen Gesetzen immer wieder von Neuem zu gehorchen zwang, deine Einbildungskraft mobilisierte und sich nicht darum scherte, ob du gehört wurdest oder nichts mehr sahst.
Nebelbänke, Nebelschleier, Nebelschlieren, Nebelwolken, Nebelbäusche, Nebelbäume, Nebelkönige. Undurchdringliche Zonen einer vitalen Fantasie und der sich steigernden Angst, als ein Drittes, das dich in den Armen hält, beschützt oder abschirmt in gleitenden Übergängen ohne jedwedes Netz. Welt, die dich lockt, in der du nicht weißt, wo ein Land endet und ein Meer beginnt, wo Leben und Tod lauern, du weder kletterst noch schwimmst, sondern in der schieren reglosen Luft bist, ohne zu fliegen. Der Tower hat den Flug gestrichen wegen anhaltender Schlechtwetterlage. Und du hast keine Bodenhaftung. Du hast keine Sicht, nur Feuchte um dich.
Das Haus, das Leo uns für diesen Sommer gefunden hatte, war von der Überlandstraße aus nicht zu sehen, die den Hang in vielen sich windenden schmalen Kurven heraufführte. Dabei lag es auf der höchsten Stelle des Bergrückens. Ich wunderte mich jedes Mal, wenn ich oben vor die Tür trat, dass die Sicht bis hinunter zum Meer ganz frei war. Warum war es dann umgekehrt von unten nicht zu sehen? Leo sagte nicht Dummchen, das Wort blitzte nur kurz in seinen Augen auf, und er begann dann, mir die unterschiedlichen Blickwinkel zu beschreiben, aus denen man etwas sehen konnte, und gab mir also Unterricht in Perspektive. Eine Straße führt eng am Bergkörper entlang, eine Straße fliegt nicht wie deine Blicke. Schon fünf hohe Bäume können die Sicht auf ein Haus wie eine Wand komplett verdecken. Und unseres ist doch nur einstöckig. Trotzdem, sagte ich und lachte. Worauf auch er lachte und sein Trotzdem sagte.
3
Es war das letzte Haus an der Straße, früher ein Stall. Niemand im Dorf hielt aber mehr Schafe. Die Männer arbeiteten in der Ebene auf Plantagen, verkauften Obst und Gemüse bis in die Hauptstadt oder in Industriebetrieben, und sie waren auch auf Schifffahrt spezialisiert oder tätig in den zahllosen Autowerkstätten. Hinter unserem Stall fiel die Straße, die auf ihren letzten paar Hundert Metern nicht weiter asphaltiert, sondern ein steiniger Landweg war, in die macchia. Dort war dann Schluss mit allem, der Wildwuchs, der bosco, begann, der für mich weiter den hehren Namen Wald trug, da das wilde Gestrüpp, je weiter entfernt von menschlicher Gegend es wuchs und in unangetastete Bergwelt überging, von Steineichen, Robinien und niedrigen Pinien durchzogen war. Die Wege hier begingen sonst nur Forstarbeiter. Sie kontrollierten und hielten die Schneisen wegen der alljährlichen Waldbrände offen.
Der unwegsame bosco samt seinen Pfaden wurde in diesem Sommer mein Auslauf. Ich liebte es, mich zu verlaufen, meiner tänzelnden Orientierung mehr oder weniger bewusst auf den Leim zu gehen, um dann auf mysteriöse Weise zu einer bekannten Spur zurückzufinden, dorthin, wo ich sie, meinen Ariadnefaden, verlassen hatte und das Gedächtnis seine Arbeit wieder aufnahm. So war es mir auch in der Pariser Métro ergangen, in der U-Bahn in Westberlin, auf der Straße, im Wald. Leo spielte das Spiel nicht mit. Ich weiß nicht, warum, ein schönes Spiel, nichts Gefährliches dran. Plötzlich rückwärtsgehen, das schärft die Sinne. Es war ihm wohl zu kindisch. Er blieb in der Casa am Schreibtisch oder auf der Terrasse davor und arbeitete. Er hatte Ferien, arbeitete aber trotzdem, als fiele er sonst aus dem selbst gesponnenen Netz wie der frisch geborene Messias aus den Puffhosen. Und niemand hätte ihn aufgesammelt, weil er sich selbst nicht zu helfen wusste. Meistens saß Leo am langen Tisch im ersten Raum des Hauses, in der Ecke neben dem Kamin konnte man kochen. Dieser Raum grenzte an unser Schlafzimmer, dort arbeitete ich, wenn ich Lust hatte. Arbeitete? Ich dachte nach, schrieb etwas auf, träumte. Leo von seinem Tisch wegzulocken, kam mir nie in den Sinn. Er würde innerlich ins Wanken geraten, vielleicht fallen, wenn er sich nicht unablässig mit sich beschäftigte, weiterarbeitete, als könnte das Konstrukt seines Lebens einen Knacks kriegen, wenn er dieses Korsett nicht um sich hätte, nicht spürte. Als würden die Haltestangen brechen, falls er einmal los- und sich auf etwas einließe, worüber er nicht verfügte, das sich möglicherweise als Glatteis entpuppte. Wovor fürchtete er sich? War Älterwerden eine Gewohnheit, von der man abhing? War Leo alt? Wieso hatte er sich diese Zwangsjacke angelegt? Wollte er mir beweisen, dass Leben verantwortungsvoll nur auf diese Weise zu bewältigen war? Oder war es ein Affront gegen mich, instinktiv und möglichst diskret, nur weil ich gerade frei geworden war und zwitscherte wie die Schwalbe auf der Stromleitung? Zu frei für seinen Maßstab? Ich hätte Bäume ausreißen, mehrmals um die Welt hetzen können … Ich tat es nicht. In unserem Ferienhaus, das vom Meer her nicht zu sehen war, riss ich keinen Baum aus.
In meinem Alter hatte es für Leo keine Freiheit gegeben, nur den wilden, nervösen Versuch, mit dem Leben davonzukommen. Da waren Vorkrieg, Krieg und Nachkrieg. Sie waren die Lebenserfahrung seiner Jugend, ein Horizont, den ich nicht hatte. Der uns nicht verband.
Die Macchia wurde zu einem Labyrinth für mich, in dem ich mich lustvoll verlief, der Sonnenstand mein Wollfaden. Ich schlug mich durch Hohlwege und Gestrüpp, hatte kein Bedürfnis, zu wissen, wo ich mich gerade befand. Die Zeit existierte nicht, meine Armbanduhr hatte ich extra im Haus zurückgelassen. Niemand hätte gewusst, wohin ich verschwunden war, weder mein Vater, den ich aus meinem Leben getilgt hatte, noch meine Mutter, keiner der Berliner Freunde von der Universität, was mir jetzt große Freude bereitete, und es freute mich, dass selbst Leo mich hier nicht finden würde. Es war ein Spiel mit mir selbst, luxuriöser Auswuchs des Müßiggangs, der Ereignislosigkeit, in der ich etwas herausfinden wollte, irgendein Detail, das meine Neugier festhielt, ein Stachel, der meine Fantasie in Gang setzte, sich meinem Stromern anpasste, genussvolle Blödelei in Form der Wiederholung nach so langer Zeit des konzentrierten Lernens. Ich trank nicht, hatte auch kein Interesse an den Glücksbringerpillen, die Leo schluckte. Die Macchia war mir Rausch genug, mein Darinkreisen, und jedes Mal, wenn ich zum Haus zurückfand, verspürte ich Zufriedenheit. Ein Stachelschwein, ein wilder Feigenbaum mit noch unreifen Früchten, das Blätterdach über mir waren Zeugen meiner Lebenslust, der Lust, den nächsten Schritt zu setzen, ohne zu wissen, wohin. Diese Fülle an Optionen. Die Hunde aus dem Dorf begleiteten mich stets nur bis zum Waldrand aus Angst vor Vipern und Wildschweinen. Krüppel, zumindest die drei, die mich wahrnahmen und eine Zeit lang mitgingen, der eine hinkte, der andere war sehr alt, der dritte schien erblindet. Ein Märchen, in dem es den Faktor Zeit nicht gab, Jahrhunderte vergehen, die Märchen bleiben, und die Hunde kommen wieder. Nur die schiere Gegenwart zählte. All die Pfade, die jemand vor langer Zeit in den Wildwuchs geschlagen hatte, die sich windenden, verschwindenden Pfade, die irgendwann einen neuen Waldarbeiterweg kreuzten. Allein das ergab schon eine Geschichte, ergab Zeit. Und Geschichte und Zeit gingen voran, der Weg der Waldarbeiter wurde für Jeeps und Transporter ausgeweitet, vielleicht bald auch für Landwirtschaftsfahrzeuge, Rodungen. Noch konnte man den Windungen folgen, stundenlang, um plötzlich bei einem vertrauten Unterstand für Ziegen anzukommen. Ein Spiel mit der Zeit, die es sich nicht gefallen lässt, den Spieß umdreht und mit einem spielt. Das Glück dieses Rätsels ließ sich beliebig wiederholen, eine Wiederholung, die keine war, denn jedes Mal stieß ich auf etwas Neues, bisher nicht Entdecktes.
Nach der Rückkehr ins Haus setzte ich mich an die Texte für eine Serie im Rundfunk. Sechs Sendungen in Berlin waren geplant, zwei davon hatte ich fertig; ein paar Monate später im Herbst könnten wir sie uns anhören. Der Drang, im Wald umherzuirren oder mit Leo einmal täglich zum Schwimmen ans Meer hinunterzufahren, war groß. Sonst geschah nichts. Wald und Meer genügten vollkommen. Ins Meer hinausschwimmen mit dem Blick zum leeren Horizont, schwimmend den Traum von der neuen Welt träumen. Ganz konkret.
Ich drängte Leo an frühen Abenden, wenn er geleistet hatte, was er zu leisten vorhatte, zum Autofahren, um die umliegenden Dörfer zu erkunden, die kleinen Ortschaften, die an den Berghängen klebten. Wir saßen dann auf der Piazza bei einem Espresso, einem Glas Wein, und schauten Menschen zu. Mischten uns unter sie. Auf der Suche nach Nähe, die sich nicht ergab, weil beide, die Einheimischen und wir, zu höflich waren, um ins Gespräch zu kommen, die Mischung aus Höflichkeit und Respekt verhinderte es. Mir gefiel das nicht.
Die wahren Abenteuer spielen sich im Kopf ab, sagte Leo, oder sie sind nicht im Kopf.
Dann gibt es sie nicht?, fiel ich in seine Schlussfolgerung.
Und gleich, geradezu unweigerlich hatte ich das Bild vor Augen, das eingefahrene Leben eines alten Paares. Beim allabendlichen Fernsehen, wie unser Steuerberater, und ich war dabei, Wein und Chips zu kredenzen. Wollte ich das? Krochian war klüger gewesen, er hatte in meinem Alter noch mit der Jazzband in einem Westberliner Nachkriegskeller am Klavier gesessen.
Leo gefiel das Treiben um uns herum, er beobachtete gern Menschen aus der Distanz, sprach aber nie jemanden an. Ich wünschte mir, es wäre anders, und so sehr ich auch versuchte, sein Verhalten zu akzeptieren, missfiel es mir doch mehr und mehr. Ich wollte Offenheit, eine Offenheit, die ich selbst nicht durchgehend, aber doch sporadisch suchte, wenn mich der Wunsch nach Kontakt, Verständigung und Austausch erfüllte, alles Fremde gierig in meine Nähe zu holen. An diesem Punkt rieben wir uns, und ich gab meist klein bei, sah ein, dass Leos Art, die Welt zu sehen, sie sich vorzustellen, von der meinen gänzlich abwich. Was mich lähmte, ich fühlte mich wie hinter Glas. Statt mich, wenn wir so dasaßen und Wein tranken, mit einem unbeschwerten Liebling, in einer Stunde bin ich zurück davonzumachen, loszuziehen. Doch ich blieb bei ihm sitzen wie ein dressiertes Hündchen, das vor Kälte bebte, wenn das Herrchen anderer Meinung war. Es rumorte in mir, hatte aber keine Folgen. Ich war unfähig, diesen Zustand zu überwinden. Dazu wäre eine größere Veränderung nötig, die von außen kommen musste, dachte ich. Ein Deus ex Machina (in mir)? Für Erkundungen blieb mir der Wald und beim Schwimmen der Horizont.
So ereignislos Leo die Tage auch verstreichen ließ, so gab er seiner Fantasie, einer ungebunden träumerischen Kombinierkunst, oft freien Lauf, dachte sich Geschichten aus, mögliche wie unmögliche über die Leute, denen er zuschaute. Lustige, dramatische Geschichten voll realistischer Details, auch sehr berührende Geschichten voller Empathie. Wenn er Monate später eine Sendung moderierte, erinnerte er sich haarklein jeder ersten Inspiration bei solchen ereignislosen Reisen, baute sie spontan in die Sendung ein und schmückte sie mit neuen großen Worten aus.
Sein Vater hatte ihm zum zehnten Geburtstag einen Großen Weltatlas und einen leuchtenden Globus geschenkt, ein Barometer, das Leo vor dem Fenster anbrachte, auch einen Kompass, und dem Sohn beigebracht, wie diese Instrumente zu bedienen seien, er wusste um Leos Lieblingsfach: die Geografie. Der Sohn bekam Bücher geschenkt, die sein Fernweh oder die Reiselust zu Wasser, zu Lande und in der Luft weiter stimulierten. Leos Zimmer, erzählte er, war mit den Karten der fünf Weltteile dekoriert gewesen. Er hatte in seiner Jugend so viele Länder und Orte bereist und die Welt der Meere kennengelernt. Nur die gröbsten Sprachkenntnisse, doch ein Schatz von Erlebnissen und Liebesabenteuern in so vielen Häfen der Welt blieben ihm davon übrig. Er hatte wie die meisten Söhne der wohlhabenderen Schicht ein humanistisches Gymnasium besucht. Hatte den Unterricht jedoch abbrechen müssen, als die Firma des Vaters, eine Tabakfabrik in Essen, zur Zeit der Inflation und des Börsenkrachs pleiteging. So war Leo die antike Welt schon in frühesten Jahren nah, personifiziert in der Figur des ersten Weltenseglers und Lügenerzählers Odysseus, dem die Heimkehr nach dem Krieg nicht vordringlich erschien, er war auf Abenteuer aus. Leo verbrachte viel Zeit in Gesellschaft griechischer Götter und verkehrte mit ihnen wie mit Freunden, die Fußball spielten oder Höhlen bauten und Poseidon oder Minos hießen. Himmelhoch entfernte Frauen wie die kluge, kriegerische Athene und die zarte, sitzen gelassene Ariadne schienen ihm zum Anfassen nah. So wie ich jetzt.
Ohne ihn wäre ich nicht hier, weder in der Casa Rossa noch auf diesem Platz, in diesem Café in Giardinello. Würde nicht die alte Turmuhr gegenüber im Rathausgiebel sehen, die wie ein Vollmond einen Spaziergang durch das Städtchen macht, ging mir durch den Kopf, und ich notierte es in mein Heft. Ich war mir nicht sicher, ob Leo ohne mich hier wäre, die Abgeschiedenheit allein genösse, ohne melancholisch zu werden oder gegen die Melancholie antrinken zu müssen, weil er seine Geschichten niemandem erzählen könnte. Ob er nicht nach einem ersten panoplieartigen Eindruck fluchtartig abgereist wäre. Zum Teufel mit der bezahlten Miete für den Stall.
Was hielt zwei Menschen zusammen? Auch dann, wenn es zwischen ihnen knackte, die Holzsubstanz im Feuer verbrannte, welche Hoffnung hatten sie? Auf was hofften sie? Ich kritisierte vieles an ihm, aber noch mehr verdankte ich ihm. Dass es immer komplizierter zwischen uns werden würde, wussten wir beide, je breiter, tiefer der Graben des Altersunterschieds wurde, desto schmerzlicher empfand ich es. Ohne mich bist du nichts, warf er mir im Streit hin, und in ruhigeren Momenten: Ich weiß, wann ich dich wegschicke. Gefährliche Sätze, die mich an Sätze erinnerten, die mir mein Vater entgegengeschleudert hatte: Wir haben dich gezeugt, also halte dich gefälligst an unsere Vorgaben! Tanze nicht aus der Reihe!
Im Milieu von Hamburger Bankern und Reedern hatte ich nichts verloren. Meine Mutter ging in der Welt auf, die sie sich selbst zusammengestellt hatte. Dass ich nicht so war wie sie, es auch nicht zu werden beabsichtigte, gab mir das Gefühl von Freiheit ein, doch auch ein Gefühl der Schuld, das mich lähmte, zur Zurückhaltung im Bedürfnis zwang, ins Leben hinauszuschwimmen wie täglich ins Meer, in die süße, so Angst machende Leere der Zukunft.
Das düstere Gewölk, auch der Wortlosigkeit, in mir löste sich auf, als wir – nur ein Beispiel – zwischen Giardinello und Roccasecca am Straßenrand all’improvviso ein Fest feierten, nonchalant, durch eine Reihe von Zufällen, ergab es sich so, auch das Fest, am Leben zu sein, um das ich meine Eltern nie gebeten hatte. Il Re di Prosciutto hieß das Restaurant am Straßenrand, prompt trat auch Il re di prosciutto durch den Fliegenvorhang der Tür zu uns heraus. Rund, in grüner Schürze, strahlend unter einem Wortschwall den Tisch, bis der auf den Steinen nicht mehr wackelte, zwischen uns schiebend. Eine Karaffe Weißwein, ein kleiner Korb mit frischem Landbrot und eine Platte hauseigener roher Schinken, Tomaten, Gläser, Teller und Besteck landeten auf dem Tisch, ohne dass wir sie bestellt hätten, ein Zauber.
Buon appetito, si serva pure, Signora.
Meine Märchen waren wieder da. Wir lächelten uns an und prosteten uns zu, und ich fühlte mich wie der Sohn des Schneiders in Tischlein deck dich während seiner zweiten Glückssträhne. Doch so sehr ich es auch genoss und mir wünschte, es möge ewig so bleiben, wie es jetzt war, floh das Glücksgefühl viel zu schnell hin zu seinem Pendant, das noch nicht oder nicht schon Unglück war, eher ein Brüten, als habe das Glück gar nicht mir gegolten. Leo registrierte die Verwandlung sofort, er sagte nichts, senkte nur den Blick, dachte kurz nach und lächelte mich dann wieder an.
„Elisabeth Plessen, die etliche Dramen Shakespeares neu ins Deutsche übertrug, entfaltet sich hier als Meisterin des flüssigen und fulminanten Erzählens. Ihre Dialoge wirken frisch, geradezu beschwingt. Darüber hinaus formuliert sie außerordentlich präzise und bildgewaltig.“
„In der Rückschau der Ich-Erzählerin liefert der Roman, ein überaus formbewusster und dicht gewebter Text, das eindrückliche Psychogramm einer sensiblen und feinsinnigen Frau in den Anfangszeiten einer ›großen Freizügigkeit‹: der sexuellen Revolution.“
„Ist man mit Elisabeth Plessens Erzählwerk vertraut, so bietet sich hier ein hochprozentiges Destillat aus früheren Romanen. In jedem Fall aber hält man mit ›Die Frau in den Bäumen‹ ein virtuos erzähltes Stück Autofiktion in den Händen.“
„Schön und interessant zu lesen.“
„Ein brillanter Roman, der über faszinierende Dialoge und szenische Eindrücke Leser*innen in eine literarische und intellektuelle Sommerreise eintauchen lassen.“
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