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Hjalmar Johansens Hundejahre

Ein äußerst lesenswertes Anti-Helden-Epos. - Süddeutsche Zeitung

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Pol — Inhalt

„Ein äußerst lesenswertes Anti-Helden-Epos.“ Süddeutsche Zeitung Auf den legendären Wettfahrten zu beiden Polen spielte er eine Schlüsselrolle – und ist heute ein Unbekannter: Hjalmar Johansen. Während Fridtjof Nansen mit seinem Vorstoß den Nordpol Weltruhm erlangte, Roald Amundsen zum Eroberer des Südpols aufstieg, blieb Johansen als dritter Mann im Abseits. Wer war der exzellente Sportler, dessen Loyalität sogar die Expeditionsleiter bloßstellte? In Reinhold Messners Einfühlung in die Schattenseiten eines Abenteurerlebens wird der Wettlauf zu den Polen zur zeitlosen menschlichen Tragödie.

€ 14,99 [D], € 15,50 [A]
Erschienen am 17.09.2013
304 Seiten, Klappenbroschur
EAN 978-3-492-40475-4
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€ 14,99 [D], € 14,99 [A]
Erschienen am 26.06.2014
304 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-95695-6
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Leseprobe zu „Pol“

Tod ohne Todfeind

Hjalmar Johansen wollte die Hand, die ein Passant ihm gereicht hat – ein Fremder, oder kannten sie sich? –, nicht mehr loslassen. Dieser Händedruck schien ihm die letzte Verbindung zwischen sich und der Welt zu sein. Schon seit Tagen konnte er nichts mehr riechen oder schmecken, auch kaum noch hören, und zu sehen gab es im Zwielicht des Abends im winterlichen Norwegen ohnehin nichts. Auch kein Bedürfnis nach Sonnenaufgang mehr, keine Erinnerung an irgendetwas, keinen Sinn. Sogar der Tod war ihm kein Todfeind mehr. Als wäre ihm nur sein [...]

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Tod ohne Todfeind

Hjalmar Johansen wollte die Hand, die ein Passant ihm gereicht hat – ein Fremder, oder kannten sie sich? –, nicht mehr loslassen. Dieser Händedruck schien ihm die letzte Verbindung zwischen sich und der Welt zu sein. Schon seit Tagen konnte er nichts mehr riechen oder schmecken, auch kaum noch hören, und zu sehen gab es im Zwielicht des Abends im winterlichen Norwegen ohnehin nichts. Auch kein Bedürfnis nach Sonnenaufgang mehr, keine Erinnerung an irgendetwas, keinen Sinn. Sogar der Tod war ihm kein Todfeind mehr. Als wäre ihm nur sein Tastsinn geblieben, bemühte er sich, an diesem zufälligen Handschlag hängen zu bleiben, vielleicht nur, um ein paar Augenblicke länger am Leben bleiben zu können. Auch die beiden sein Leben bestimmenden Menschen – Nansen und Amundsen, der Freundfeind und der Todfeind – sind ihm gleichgültig geworden. Wer immer ihn nach ihnen fragte, bekam keine Antwort. Nicht weil Johansen sein Lallen peinlich gewesen wäre, nein, er konnte sich an die beiden nicht mehr erinnern, hatte sie vergessen und mit dem Hass seinen letzten Lebenssinn aufgegeben.

Wie sind doch die Geschichten der großen Abenteuer an Nord- und Südpol geschönt worden! Als wäre es dabei immer nur um das stolzgetriebene Bewusstsein gegangen, alles für die Wissenschaft oder das eigene Land gegeben zu haben. Viel mehr aber ist es dabei immer schon ums Habenwollen gegangen und um das mangelgetriebene Begehren, Erster zu sein. Vor allem deshalb geriet so mancher Grenzgänger mit seinem polsüchtigen Expeditionsleiter in Konflikt. Wie Hjalmar Johansen zum Beispiel. Denn der Einsatz, der zu jener Zeit von einem Polfahrer gefordert wurde, war hoch. Man konnte damals ja nicht mit nichts berühmt werden. So wie heute. Nur weil man es will oder allein deshalb, weil man existiert und Glück hat. Gratis „in“ zu sein, reich und viele Fans zu haben, ist eine Erscheinung der Moderne. Nansen, Peary und Amundsen hätten ihr Leben gegeben für den Erfolg! Es war ihr Recht, die Frage ist: Stand nicht auch das Leben ihrer Männer mit auf dem Spiel? Das Risiko, das die Chefs eingingen, trugen alle Teilnehmer gemeinsam.

Nein, vor hundert Jahren träumte kein Abenteurer vom risikolosen Erfolg. Man musste schon etwas Außergewöhnliches tun, sehr viel wagen, noch mehr können, um sein Ziel zu erreichen: zuerst der Pol, dann der Ruhm, zuletzt der Reichtum.

Weil damals aber einer allein nicht so weit hätte kommen können, gab es zuletzt so viele Deutungen über Zielsetzung und Erfolg einer Polexpedition wie Expeditionsteilnehmer. Auch lieferten solche Reisen keinen allgemeingültigen Sinn. Und gab es am Anfang einer solchen Polfahrt immer auch einen Zusammenhang zwischen Ziel und Mannschaft, am Ende blieb meist nur der Expeditionsleiter in Erinnerung. Als gelte der Grundsatz: Ein Ziel, ein Team, eine Heldenfigur. Alle anderen Mitstreiter standen in ihrem Schatten; Hjalmar Johansen zuletzt sogar zwischen den Schatten zweier unverwechselbarer Berühmtheiten: eingeklemmt zwischen Nansen und Amundsen.

Die beiden berühmtesten Polfahrer ihrer Zeit füllen noch heute Lexika- und Internetseiten, ihr erfahrenster Mitstreiter hingegen ist vergessen.

Johansen aber wollte nicht vergessen werden. Er lehnte sich dagegen auf, suchte nach seiner Position im Leben. In Nansen fand er einen Förderer, wenigstens zunächst, in Amundsen sah er fast bis zuletzt sein Feindbild, mit dem er nicht aufhören konnte zu hadern. Beide verhalfen ihm, vielleicht ohne dass sie es wollten, zu einem starken Zusammenhang, zu seiner Art Sinn. War er doch mit dem einen in der Arktis und mit dem anderen in der Antarktis unter absoluter Lebensgefahr unterwegs gewesen. Immer den Pol als Ziel vor Augen. Nach und nach aber, und wieder daheim, fühlte er sich verlassen, ausgegrenzt, einsam. Und doch blieb er abhängig von der Anerkennung, die ihm im Zusammenhang mit seinen Polabenteuern zustand. Mehrmals und zuletzt unwiderruflich aber verlor er all seine Illusionen! Das Wichtigste im Leben, die Erfahrung von Selbstwert, wollte sich auch mit den herbeigezauberten Bildern aus der Erinnerung nicht mehr einstellen. Ihm war der Sinn des Lebens abhandengekommen.

Johansens Pole waren nicht mehr geteilt, sie waren zu einem einzigen leeren Gestern geworden: Kein Ziel mehr, an das er hätte denken können; kein Zweck, für den es zu leben lohnte; kein Gefühl, das ihn wärmte; der Verantwortungssinn war ihm seit Langem schon entschwunden: mit dem Verlust der Familie. Wie war es damals, fragte sich der kranke Johansen in einem letzten nüchternen Augenblick, damals, als sie zum ersten Mal aufs Eis hinausfuhren – 1894 – er und Nansen? In der Polarnacht, viele Monate später, als ihm derselbe Nansen das „Du“ anbot? Oder 1911, als Amundsen ohne ihn zum Südpol aufbrach? Seine Welt sah jetzt so unendlich trostlos aus, sein Leben würde nie mehr selbstverständlich sein wie mitten im Eismeer an den Enden der Welt.

Als wäre ihm all seine Überlebenskunst für immer genommen, vegetierte Johansen seit Scotts Todesnachricht in einem Bretterverschlag dahin. Zuletzt zu keinem positiven Sinnerlebnis mehr fähig, wollte er nur noch sterben. An jedem Morgen – es war Ende 1912, Anfang 1913 – sehnte er sein Ende herbei. Es wurde so kalt in ihm, dass jeder Bezug zur Welt und jede Beziehung zu den Menschen absterben mussten. Wie die gefühllosen Gliedmaßen erfrierender Polfahrer.

Johansens Sterben in der Winternacht von Oslo aber war anders als Scotts Tod auf dem Weg zurück vom Pol, wo Rettung ausbleiben musste und die drei Überlebenden physisch zur Selbsthilfe nicht mehr fähig waren. Dieses Ende hatte mehr mit dem Schrecken der Hinterbliebenen zu tun und mit der insgeheimen Hoffnung, Scott würde nicht als pathologischer Fall gesehen, sondern sei als Held gestorben. Aber auch für Johansen gab es keine Rettung mehr. Weil auch er zur Selbsthilfe nicht mehr fähig war. Psychisch am Ende, konnte auch er sich nicht mehr helfen lassen. Eigenverantwortung und Sinn waren ihm immer nur im Tun zugewachsen.

Wie die Eroberer von Süd- und Nordpol, deren Namen heute noch leuchten, ihren jeweils zweiten Mann gebrochen haben, lasse ich einen dieser „Helden“ nun selbst erzählen: Hjalmar Johansen. Auch weil er die Heldentaten seiner „Chefs“ so lebensnah schildert. Nur im Zusammenspiel des Ganzen, aus vielen einzelnen Zusammenhängen komponiert, können wir sein Glück, sein Hundeleben und seinen Untergang begreifen. Aber nur wer zum Mitfühlen fähig ist, das solcherart Abenteuer zwar nicht rechtfertigt, aber doch nachempfinden lässt, erfasst seine menschliche Dimension.


1) Mit der Fram nach Osten

Der kleine Militärrevolver, den ich, Hjalmar Johansen, vor der Abreise vom Vorschuss meiner Heuer – 240 Kronen! – kaufe, ist vermutlich das Letzte, was ich brauche. Aber man kann nie wissen. Sorgfältig lege ich ihn und ein paar Patronen dazu in die kleine Schiffskiste, die ich eigens habe anfertigen lassen. Irgendwo muss ja auch ein Heizer seine privaten Dinge – Tagebuch, ein Foto der Liebsten, Briefe – aufbewahren.

Am 24. Juni 1893, einem trüben Tag, ist es so weit: In der Bucht von Piperviken werden die Anker gelichtet, und die Reise ins Eismeer beginnt. Fridtjof Nansen steht auf der Brücke und kann im Fernglas Eva, seine geliebte Frau, sehen. Ich bin nur für diesen kurzen Moment oben und schaufle dann wieder Kohlen. Der Kessel der Fram muss unter Dampf gehalten werden. „Halt!“ Im allerletzten Augenblick zögert der Chef, es fehlt etwas: Eis? Eis für die Küche? Oder ist Nansens „Halt!“ nur eine Ausrede? Hat ihn die Sehnsucht gepackt? „Eis bekommen wir später umsonst und genug“, meint der Koch. Das Warten ist also vergeblich, wie Nansens trauriger Blick auch, und wir reisen ohne … ab: ohne Eis und ohne Trost.

Ruhig und majestätisch gleitet die Fram durch den Fjord von Kristiania. Ihre Maschine arbeitet hervorragend, was mir eine Art Trost ist. Musik und Hurrarufe sind zu hören. Von einem Schwarm Dampfern und Segelbooten flankiert, geht es volle Kraft nach Norden. In vier Stunden legen wir 37 Kilometer zurück, und in Horten, dem Haupthafen der norwegischen Marine, nimmt unser Schiff Pulver und Kanonen auf. Zum Salutschießen! In Raekvik dann kommen die Großboote an Bord.

Seit Frühling 1893 sind wir, die zwölf Teilnehmer der Nansen-Expedition, ein Team. In Kristiania waren wir zuerst noch Fremde, bald aber wurden wir eine Mannschaft, die „Fram-Leute“ genannt. Es ist der Glaube an den Erfolg unserer Mission, der uns verbindet. Auch wenn die Meinungen über die Dauer der Expedition auseinandergehen, untergehen werden wir nicht. Wir können auch nicht verhungern. Proviant und Brennstoff reichen für fünf Jahre.

Es ist schon erstaunlich, wie viel in dieses Schiff hineingeht: Im unteren Raum, zu beiden Seiten der Maschine, auch im Zwischendeck sowie an Deck sind Kohle und schwere Eisentonnen mit Teeröl gelagert. Im Großraum befindet sich der meiste Proviant. Die Hohlräume zwischen den Kisten sind mit Holzkloben ausgefüllt, die unsere Fram bei Eispressungen stützen sollen. Nansen wollte den gesamten Raum genutzt sehen. Sogar ein Windrad zur Stromgewinnung gibt es an Deck, und das ganze Schiff ist bestens isoliert. Uns allen ist klar, welche Bedeutung die erstklassige Ausrüstung hat: Niemand soll sich Sorgen machen.

In den Jahren der Vorbereitung stand dem Expeditionsleiter Nansen Kapitän Sverdrup zur Seite. Sowohl beim Schiffbau als auch bei der Wahl des Proviants. Dieser ruhige Mann geht nun an Bord umher: Meist ist er still. Aber er sieht alles und richtet umso mehr aus. Er will nur unser Bestes.

Ich weiß, Kapitän De Long hat eine ähnliche Reise gewagt wie die unsere und ist untergegangen. Sein Schiff, eine Schönheit, hieß Jeannette und kam aus Amerika. Sie segelten damals durch die Beringstraße, durchquerten auf dem Weg nach Norden die Sibirische See und gerieten dort ins Packeis. Zwei Winter später sank die Jeannette mit eingedrückten Bordwänden. Kapitän De Long stand mit seiner Mannschaft zuerst nur stumm da. Sie marschierten dann über das Eis zurück, südwärts, immer südwärts, der rettenden Küste Sibiriens zu. Am Ufer der Lena aber war nichts: Das größte Stück Leere, das man sich vorstellen kann. Das verschneite Land erschien weiter als der freie Himmel darüber, und bald gab es nichts mehr zu essen. Die unbegrenzte leblose Tundra vor sich, taumelte De Longs Mannschaft zwischen Hoffnung und Verzweiflung dahin, fast alle starben.

Ich habe mich trotzdem für die Fram-Expedition beworben. Dreimal sogar. Zuerst schriftlich, dann in einem kurzen Gespräch mit Nansen – er trug einen Bart, ich sah in diese stahlblauen Augen! – und nochmals schriftlich: Als Proviantverwalter und Heizer bot ich mich an. Alles war ich bereit zu tun! Wenn ich nur mitkommen könne. Als ich mich endlich vorstellen soll, bin ich genommen. Ich bin dabei! Als Letzter zwar, aber nicht als Ersatzmann. Und ich bin glücklich, nur glücklich! Als habe ich meine Bestimmung gefunden. Mein dumpfes Gefühl der Untauglichkeit, seit damals ist es weg. Ich bin als Heizer auf der Fram! Auf meinem Posten! Ich bin bereit, alle geforderten Dienste zu leisten.

26 Jahre bin ich jetzt alt. Von kräftigem Körperbau, als guter Skiläufer und Turner auch praktisch veranlagt, glaube ich im Notfall auch als Jäger, Hundeschlittenführer oder Messgehilfe Nansen nützlich sein zu können. Ich kann alles lernen.

Beim ersten starken Seegang sind bei einigen von uns Symptome der Seekrankheit zu beobachten, ich aber bleibe gesund. Die Stimmung an Bord ist bald wieder gut, die anderen Männer sind lebhaft und alle auf ihren Posten. Bei den gemeinsamen Mahlzeiten musiziert Nansen manchmal, allenthalben ist Zuversicht zu spüren. Nur der Koch schimpft: „Gott steh mir bei“, klagt er, „der Kaffee reicht nicht länger als bis Tromsø!“

Während der Reise entlang der nördlichen Küste Norwegens wohne ich meist im Grand Hotel, einem der beiden Großboote, die wir mithilfe von Rentierfellen und Schlafsäcken zu gemütlichen Schlafplätzen umfunktioniert haben.

Überall, wo die Fram hinkommt, zeigen die Menschen großes Interesse an unserer Expedition. Nur einmal, in Bergen, fragt mich ein Schiffer nach unseren Plänen:

„Woher?“
„Kristiania“, ist die Antwort.
„Und die Last?“
„Essen und Kohlen.“
„Wofür?“
„Forschungsreise.“
„Wohin?“
„Ins Eismeer, zum Nordpol.“
„Wozu?“

Keiner von uns gibt eine Antwort.

In Tromsø hagelt und schneit es. In Vardø, dem letzten Ort, den wir anlaufen, wird uns zu Ehren sogar ein Fest gegeben. Am 21. Juli, um vier Uhr morgens, verlassen wir Norwegen. Verstohlen klettere ich in den Ausguck. Vielleicht nur, weil ich nicht weiß, ob oder wann ich mein Vaterland wiedersehen werde.

Drei Tage später wird der Geburtstag von Scott-Hansen gefeiert. Mit Marmelade zum Frühstück, Tischreden zu Mittag und ausgewählten Gerichten am Abend. Seine Hündin Kvis, der Liebling aller an Bord, feiert mit und verspeist alles, was sie erwischen kann.

Manchmal frage ich mich, was Nansen mit seiner Expedition eigentlich will. Die Engländer sagen doch, sein Plan sei der reine Wahnsinn: das Schiff einfrieren lassen und mit dem Packeis über den arktischen Ozean treiben sehen. Ich bin mir aber nicht ganz sicher, ob ihm das genug ist. „Was will der Chef wirklich?“, frage ich in die kleine Runde, als er draußen bei seinen Messungen ist.

„Wissenschaft“, sagen die einen.
„Und die Schlittenhunde an Bord?“, fragt einer.
„Die gehören in der Arktis dazu.“
„Aber sie leiden doch nur.“
„Vielleicht leidet Nansen noch mehr.“
„Woran?“
„An Fernweh, ein unerträglicher Gedanke, dass noch niemand am Nordpol war.“
„Unerträglich?“
„Ja, für einen, der seine Chance sieht.“
„Die Möglichkeit muss ihn doch freuen“, meine ich.
„Seine Lieblingsvorstellung könnte es wirklich sein, dass der Nordpol mit dieser Expedition entdeckt wird.“
„Am Nordpol gibt es nichts zu entdecken“, sagt einer der Skeptiker.
„Das ist auch meine Meinung.“
„Der Nordpol ist nur eine Vorstellung, eine Erfindung von uns.“
„Nansen aber genügt die Vorstellung nicht!“
„Für ihn bleibt es eine persönliche Blamage, dass der Pol nicht erreicht ist?“
„Deshalb also gilt es, ihn endlich zu finden.“
„Und noch etwas, wir Norweger, denen der Norden ja gehört, dürfen uns den Pol nicht nehmen lassen.“
„Als ginge es dabei um Land.“
„Was sonst?“
„Ja, Raum, seit der Entdeckung Amerikas muss der Nordpol nicht nur als Phantom herhalten!“
„Phantom?“
„Ja.“
„Seien wir doch froh, dass wir einen ›Nordpolentdecker‹ an Bord haben! Wir alle wären sonst nicht hier.“
„Die Entdeckung des Nordpols wird sich diesmal also nicht vermeiden lassen“, meint einer.
„Weil wir zufällig daran vorbeikommen?“
„Weil wir Glück haben“, sage ich.
„Ja, der Moment könnte günstiger nicht sein.“
„Und Nansen hat alles berechnet.“
„Maschine und Eis sind sein Geheimnis, das ›Vorwärts‹ der Fram unser aller Fortschritt.“
„Trotzdem, muss man den Nordpol entdecken, wenn man über das Eismeer fährt?“
„Das bezweifle auch ich.“
„Warum dann die Mühe, das Risiko …?“
„Weil Nansen ein Eroberer ist!“
„Und wo ist die Stange, an der Nansens Fahne flattert?“
„Nansen braucht sie noch nicht.“
„Alle Polfahrer haben doch ihre Flaggen dabei.“
„Nansen zeigt erst als Sieger sein wahres Gesicht.“

Die Zeit an Bord vergeht schneller als gedacht. Zwischen Tagträumen und allerlei Gesprächen stehen sich Fragen und Antworten manchmal starr gegenüber. Stumm wie Eisberge. Am 27. Juli schon stoßen wir auf erstes Packeis. Mit Eleganz windet sich die Fram – in ihrem Element jetzt – zwischen den bläulichen Eistrümmern hindurch. Nur der Rudermann hat es schwer, denn die Eisblöcke sind von unterschiedlichster Größe und Gestalt und der Teil unter Wasser manchmal von unberechenbarer Ausdehnung.

Zwei Tage später, es ist Abend, werfen wir vor Chabarowa Anker. Trontheim, ein Freund von Nansen, der durch halb Sibirien gereist ist, um Hunde für die Expedition zu kaufen, kommt an Bord. Alle haben zu tun. In den folgenden Tagen gilt es, den Kessel von abgelagertem Salz zu reinigen. Pettersen und ich kriechen also in die engen Röhren und sehen dann dementsprechend aus, was Nansen veranlasst, eine Fotografie von uns zu machen. Ausgucktonne und Maschinenraum müssen noch schnell mit einer elektronischen Klingelleitung ausgestattet werden. Derweil prüfen Nansen, Sverdrup sowie Hendriksen, auch „das Büblein“ genannt, in einem Petroleumboot die Eisverhältnisse.

Am 3. August sind wir mit allen Arbeiten fertig. Die Hunde kommen an Bord, und damit sind wir komplett. Es ist neblig, als wir in der Nacht die Anker lichten. Nansen fährt mit dem Petroleumboot voraus und weist der Fram den Weg, wobei er sich beinahe verbrennt, weil das Öl sich entzündet.

Am 6. August stecken wir wieder im Nebel, ein Teil der Mannschaft macht einen Landausflug, mich lädt Nansen zur Entenjagd ein. Wir verstehen uns von Anfang an gut. Während er mir von früheren Expeditionen erzählt, werden Zusammenhänge deutlich und auch seine Motive nachvollziehbar. Eines ist mir dabei bald klar: Wenn einer in der Arktis triumphiert, dann Nansen.

„Die Jeannette segelte damals im Auftrag von Gordon Bennett, dem Verleger des New York Herald. Das Schiff aber, nach Gordons Schwester getauft, kam mit dem Packeis nicht zurecht. Nein, der Kommandant De Long war kein Greenhorn, er kannte sich aus, war erfahren, verwegen und zäh. Vielleicht ein bisschen zu ehrgeizig. Von San Francisco aus sollte er damals den berühmten Forscher Nordenskiöld retten, der mit der Vega irgendwo im Eismeer verschollen war“, erzählt der Chef.

„Sein Auftrag: die Rettungsgeschichte auf direktem Weg nach San Francisco kabeln“, betont Nansen.
„Über die Beringstraße?“, frage ich.
„Ja.“
„Die Vega war in der Nordostpassage?“
„Wahrscheinlich.“
„Und was hatte Bennett davon?“
„Den Bericht, die Sensation!“
„Deshalb sollte De Long sofort nach Hause?“
„Ja, aber De Long wollte über den Nordpol zurück.“
„Die Zeitung aber interessierte der Verbleib Nordenskiölds?“, frage ich.
„Sonst nichts.“
„De Long sollte also Nordenskiöld finden.“
„Ja, aber er wollte auch den Nordpol erreichen.“
„Wie Sie auch?“, frage ich vorsichtig.

Nansen sieht mich an, weicht der Frage aus und fährt fort: „Nachdem er geklärt hatte, dass Nordenskiöld lebt, war seine Mission erfüllt.“

„Also auf dem umgekehrten Heimweg auf zum Pol?“
„Er wusste, dass Nares zwei Jahre vorher eine interessante Beobachtung gemacht hatte: Eine mächtige Strömung treibt quer durch das Eismeer.“
„Von Ost nach West?“
„Ja.“
„War es nicht Nares, der dann sein ›North Pole impracticable‹ nach London gekabelt hat?“
„Allerdings! Aber er war damals auf einer anderen Route unterwegs. Von Grönland aus nach Norden.“
„Wie zuverlässig sind solche Messungen?“
„Mc Clintock, Mc Clure, Collinson – alle haben ähnliche Beobachtungen gemacht.“
„Wenn also ein Schiff mit der Eisdrift von Ostsibirien nach Grönland triebe, es käme am Nordpol vorbei.“
„So ungefähr.“
„De Long hat es also gewagt, sich dieser Eisdrift anzuvertrauen?“
„Ja, diese Drift treibt polwärts.“
„Zuverlässig?“
„Man kann nie genau wissen, muss es wagen, muss es versuchen, sich treiben lassen.“
„Wie lange?“
„Drei Jahre, denke ich.“
„Trotzdem, die Jeannette ging bei einem solchen Manöver verloren, die Expedition ging unter.“
„Es kam so: Als für De Long klar war, dass es nichts zu retten gab, weil Nordenskiöld die Nordostpassage geschafft hatte und in Sicherheit war, nahm die Jeannette Nordkurs.“
„Und? Weiter!“
„De Long steuert also ins Packeis hinein und treibt zwischen ungezählten Schollen langsam nach Norden. Später Richtung Nordwest. Im November aber hält die Jeannette den ungeheuren Eispressungen nicht mehr stand. Im Kielraum des Schiffs steht Wasser. Achtzehn Monate lang wird es abgepumpt. Mitte Februar 1880 geht die erste Polarnacht zu Ende und bald auch die Hoffnung auf Rettung. Quälend langsam verläuft die Fahrt durch die Polarnacht des zweiten Winters. Am 17. Mai 1881 ist Land in Sicht, ein paar Felsen nur, aber die Landung misslingt. Die Drift treibt die Jeannette vorbei. Unaufhaltsam. Auch spätere Landemanöver – Henrietta-Insel, Gordon-Bennett-Insel – bringen nichts. Da geschieht ein Wunder: Das Eis treibt auseinander, das Schiff kommt frei. De Long aber will nicht nach Süden, er steuert die marode Jeannette weiter nach Norden. Kurs Nordnordwest! Wenig später ist das Schiff verloren. De Long aber, der auch für diesen Fall vorgesorgt hat, wagt die Selbstrettung übers Packeis. Er übernimmt also das Kommando auf den treibenden Eisschollen. Schlitten und Hunde, Brennstoff, Pelzschuhwerk, Schlafsäcke und nicht zu wenig Alkohol stehen bereit. Vorräte – Proviant für sechzig Tage – sind aufs Eis geschafft. Die Rückkehr, der Marsch nach Süden, beginnt. 33 Mann und 23 Hunde schleppen die Lasten. Auf nach Süden! Sie gehen und gehen vergeblich, weil gegen die Drift. Oft durch fußhohen Schneeschlamm. De Longs Berechnungen, die seiner Fahrt zugrunde liegen, sind zwar richtig, wie aber will er in zwei Monaten, vor Beginn des Winters, das sibirische Festland erreichen? Wenn die Drift sie Tag für Tag zurückwirft. Wenn die Expedition nach zehn Stunden Fußmarsch im Schneematsch, statt vorangekommen zu sein, zwei Meilen zurückgetrieben worden ist, bleibt nur noch Kopfschütteln. Dazu herrscht jetzt Verzweiflung, physische Erschöpfung, Hoffnungslosigkeit. Mit der Zahl der Kranken wachsen die Leiden, und De Long blickt ins Nichts, ehe die Expedition eine der Neusibirischen Inseln vor der Lena-Mündung erreicht! Aber auch in Fadjejew ist nur Öde: Eis, Fels und Schnee, eine Wüste und Stürme. Man zieht und segelt weiter. Dreizehn von ihnen sind übrig. Auf den Krücken ihres Willens humpeln sie zurück ins Leben. Die anderen sterben.“

„Und Sie wollen es trotzdem wagen, mit der Drift über den Pol zu treiben?“, frage ich nach langem Schweigen.
„Man kann nur siegen, wenn man es wagt“, sagt Nansen leise.
„Aber nicht wie De Long.“
„Zu sterben wie De Long ist nicht nach meinem Geschmack“, antwortet Nansen mit fester Stimme.

Dankbar für das Vertrauen, das mir Nansen entgegenbringt, komme ich zurück zum Schiff. Wie viel Erfahrung, Hintergrundwissen und Mut dieser groß gewachsene Mann doch mitbringt! Ich komme mir daneben klein und unbedeutend vor, fast so als sei ich unnütz. Natürlich, das Schiff läuft nur, wenn einer Kohlen nachfüllt, für das große Ziel aber fehlen mir alle Voraussetzungen. Erstmals bei dieser Expedition spüre ich Selbstzweifel, bin ich doch zerrissen zwischen der Bewunderung für Nansen, dem ich all mein Vertrauen schenke und einem Ego, das ihm nacheifert.


Reinhold Messner

Über Reinhold Messner

Biografie

Reinhold Messner, Grenzgänger, Autor und Bergbauer, wurde 1944 in Südtirol geboren und wuchs in einem Bauerndorf auf. Bereits 1949 ging er zum ersten Mal in Begleitung seines Vaters auf einen Dreitausender. Nach seinem Technik-Studium arbeitete er kurze Zeit als Mittelschullehrer, ehe er sich ganz...

Pressestimmen
Freundin

„Reinhold Messner zeigt Glanz- und Schattenseiten der ersten Pol-Reisen – mit viel Einfühlungsvermögen.“

Anzeiger (A)

„Glänzend rekonstruiert beleuchtet Reinhold Messner eines der größten Abenteuer der Entdeckungsgeschichte aus der Sicht des Verlierers.“

Süddeutsche Zeitung

Ein äußerst lesenswertes Anti-Helden-Epos.

Neue Zürcher Zeitung

Ein mitreißendes Buch.

Alpin

„Die besten Bücher sind die, die man in einem Zug durchliest, nein, durchlesen muss! Und genau das schafft ›Pol‹, das neue Buch von Reinhold Messner! (...) Messner erzählt doppelt spannend: als Abenteuergeschichte und als Psycho-Krimi. Ein tolles Buch!“

Bayerischer Rundfunk

Mit dem literarischen Trick, aus Johansens Perspektive in der Ich-Form zu erzählen, lässt Reinhold Messner das Geschehen an den Polen hautnah miterleben. (...) So erzählt er dich an der Realität und einfühlsam auf der Basis seiner eigenen Erfahrungen.

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