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Mondän und mörderisch – die Mitford-Schwestern sind zurück

 Die englische Familiensaga aus den Goldenen Zwanzigern

„Eine faszinierende und hoch unterhaltsame Lektüre. Ich liebe es.“


Julian Fellowes, Drehbuchautor von Downton Abbey

Blick ins Buch
Die Schwestern von Mitford Manor – Dunkle ZeitenDie Schwestern von Mitford Manor – Dunkle Zeiten

Roman

Tödliche Flitterwochen – wer trachtet dem jungen Glück nach dem Leben?
Januar 1929: Die Golden Twenties neigen sich langsam ihrem Ende, doch für Diana Mitford, die dritte der legendären Schwestern, geht es jetzt erst so richtig los. Sie heiratet den Brauerei-Erben Bryan Guinness und geht mit ihm auf eine Hochzeitsreise durch ganz Europa. Begleitet wird sie von Louisa Cannon, ihrem ehemaligen Kindermädchen, und einer Entourage von Freunden und Bekannten, die zur Londoner Highsociety gehören. Ihre erste Station: Paris, die Stadt der Liebe. Doch dort stirbt einer ihrer Begleiter unter merkwürdigen Umständen. Im fernen London vermutet Guy Sullivan, dass es sich um Mord handelt und beginnt zu ermitteln, während die Gruppe weiterreist nach Venedig. Ist unter ihnen etwa ein Mörder? Schwebt Diana in Gefahr?

1928

Kapitel 1

Der Tanzball im Stadthaus der Familie Guinness an einem Dienstagabend im Juni, auf dem Höhepunkt der Londoner Ballsaison, begann ganz normal, vorhersehbar. Keiner konnte ahnen, dass er mit einem Todesfall enden würde.

Louisa arbeitete als Aushilfe in der Küche am Grosvenor Place – vorübergehend, wie sie sich häufig in Erinnerung rief. So ehrenhaft eine Anstellung in einem Haushalt wie diesem sein mochte, hatte sie ihre Tage als Dienstbotin eigentlich endlich hinter sich lassen wollen. Aber es ging nun mal nicht anders, von irgendetwas musste die Miete schließlich bezahlt werden. Nach einem scheinbar endlosen Winter stand der Hyde Park mittlerweile in voller Blüte, ganz wie die Debütantinnen, die sich eifrig durch die Saison tanzten, ebenso zart und bezaubernd wie die herrlich bunten Blumen überall in der Stadt. Die Jagd der jungen Damen der besseren Gesellschaft nach einem geeigneten Heiratskandidaten kümmerte Louisa herzlich wenig; dass ihr die damit einhergehenden Anlässe über einige Monate eine zusätzliche Verdienstquelle bescherten, kam ihr dagegen mehr als gelegen.

Die Gastgeberin, Lady Evelyn, hatte für diesen Anlass das Haus im mittelalterlichen Stil geschmückt, mit Wildblumensträußen in Zinngefäßen anstelle der langstieligen Rosen, die normalerweise die Speiseräume der Villen von Mayfair zierten. An die Decken waren rußgeschwärzte Balken genagelt worden, und die Räume wurden von trüben, kerzenförmigen Glühbirnen erhellt. In den Kaminen glomm statt eines lodernden Feuers lediglich eine qualmende Glut, deren warmer Schein selbst dem faltigsten Witwen-Dekolleté noch einen sanften Schimmer verlieh. Von der Haushälterin losgeschickt, begab sich Louisa über die Hintertreppe nach oben und durch die tapetenbespannte Tür, um den Diener zurückzupfeifen, der viel zu früh eines der Tabletts mit den Pflaumen im Speckmantel hinaufgetragen hatte. Die Köstlichkeit sollte als „Frühstück“ um ein Uhr morgens serviert werden. Allerdings war es erst kurz vor Mitternacht, und Louisa bemühte sich, so unauffällig wie möglich den Diener in einem der weitläufigen, schwach erleuchteten Räume rund um die Eingangshalle zu finden, in denen sich unzählige Gäste tummelten. Sie durchquerte gerade die Bibliothek, als sie eine Gestalt ausmachte, die sie innehalten ließ: Nancy Mitford, gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Diana.

Es war mehrere Jahre her, seit Louisa die beiden das letzte Mal gesehen hatte, und während Nancy noch genauso aussah wie damals, war Diana kaum wiederzuerkennen: Ihre Schönheit, die sich in Mädchenjahren allenfalls vage angedeutet hatte, war zu einem wahren Meisterwerk aus sanften Pinselstrichen in Rosé und Crème erblüht. Die beiden unterhielten sich angeregt mit einem Mann und bemerkten ihr einstiges Kindermädchen, das sich hinter der Säule versteckte, nicht. Vielleicht hätte Louisa hinübergehen und die beiden Mitford-Mädchen begrüßen sollen, doch sie wirkten so selbstsicher und strahlend, und Louisa wollte nicht, dass ihre früheren Schützlinge sie in Dienstmädchenuniform sahen. Ihrer Kenntnis nach war Louisa nach London gegangen, um dort als moderne, erfolgreiche, unabhängige junge Frau zu leben – eine Illusion, die sie mit ihren Briefen an Nancy noch untermauert hatte.

„Wären Sie ein Keks“, sagte Nancy gerade zu dem Mann, „dann zweifellos ein Ingwerplätzchen.“

„Wie kommen Sie denn darauf?“

„Auf den ersten Blick wirken Sie bekömmlich und gesund, allerdings knackt es beim Reinbeißen, und der Abgang ist ziemlich scharf.“

Lächelnd nippte er an seinem Gin-Cocktail. „Ich denke, damit kann ich leben. Sie dagegen wären ein Schokoladeneclair. Jeder Bissen ist himmlisch, richtet aber pures Chaos an.“

„Ich weiß nicht recht, ob ich schockiert oder entzückt über diese Einschätzung sein soll.“

„Die perfekte Erwiderung.“

Diana drückte den Rücken durch und hob den Kopf, um ihren Schwanenhals zur Geltung zu bringen. „Und was wäre ich, Mr Meyer?“

Louisa sah zu, wie er sie eingehend musterte, ehe er antwortete: „Ein Florentiner. Schön anzusehen, aber sehr spröde.“

Diana löste sich aus ihrer Pose und trat einen Schritt zurück. „Ich bin wirklich nicht sicher, ob ich …“

„Psst! Sieh nur. Da ist Bryan Guinness.“ Nancy wies mit dem Kinn auf einen schlanken jungen Mann auf der anderen Seite des Raums, der übertrieben betont auf eine Frau mit einem Hörrohr am Ohr einredete.

Diana schnappte sich eine Sektschale vom Tablett eines vorbeikommenden Dieners. „Na und?“

„Sei nicht so begriffsstutzig. Du hast den ganzen Sommer mit ihm getanzt, und jeder Idiot kann sehen, was du für ihn empfindest.“ Nancy nahm Diana das Glas aus der Hand. „Und damit ist jetzt Schluss. Du bist erst siebzehn, und zwei Gläser Champagner sind mehr als genug für dich.“

In gespielter Empörung bleckte Diana die Zähne, gab sich jedoch geschlagen. „In fünf Tagen werde ich achtzehn, und er ist ein hervorragender Tänzer, deshalb steht er so oft auf meinem Kärtchen, aber … na gut, du hast recht. Ich gehe hinüber, um ihn zu begrüßen.“ Sie schlenderte davon. Louisa zog sich tiefer in die Schatten zurück. Eigentlich sollte sie schleunigst von hier verschwinden, dennoch bewog sie etwas, stehen zu bleiben und zu lauschen.

Nancy sah ihrer Schwester mit einem abfälligen Schnauben hinterher, dann hielt sie abrupt inne.

„Was ist los? Schmollen Sie etwa?“ Ein schockierter Ausdruck lag auf Mr Meyers Gesicht, Louisa hatte jedoch den Verdacht, dass er besonders dick auftrug.

„Lassen Sie das. Es ist schon demütigend genug, eine jüngere Schwester zu haben, deren Schönheit ganz London schamlos bewundert, auch ohne einen Ehemann so reich wie Krösus an ihrer Seite – wohingegen mir noch nicht einmal jemand einen Antrag gemacht hat. Aber Muv würde das ohnehin nicht erlauben.“

„Wieso denn nicht?“

„Zu viel Geld. Verdirbt den Charakter.“

„Nun ja, ich wüsste jedenfalls, wie ich …“

„Jaja, wissen wir. Trauben und Chaiselongues. Sie sind so was von provinziell.“

Einen Moment lang herrschte peinliche Stille, ehe er das Thema zu wechseln versuchte. „Ist das nicht eine ganz grauenhafte Party? Was meinen Sie?“

„Ach, ich weiß auch nicht. Die üblichen Verdächtigen eben. Oh, sehen Sie nur, da drüben ist Evelyn Waugh.“ Nancys Züge erhellten sich. „Ein junger, aufstrebender Schriftsteller. Aber das habe ich leider bereits geschrieben. Eigentlich sollten ja die Mulloneys hier sein. Die sind immer für eine Story gut.“

„Wer ist das?“

„Kate und Shaun Mulloney, ein sehr attraktives und sehr amüsantes Paar.“ Sie seufzte. „Allerdings gibt es schon jetzt leider nicht mehr über sie zu erzählen, dabei dauert die Saison noch ein paar Wochen.“ Mürrisch ließ sie die Mundwinkel wieder nach unten sacken.

Seine Körpergröße und seine schlanke Figur in dem gut geschnittenen Anzug mochten zwar durchaus die Blicke auf Mr Meyer lenken, sein Gesicht jedoch war trotz seiner ebenmäßigen Züge nichtssagend und keineswegs erinnerungswürdig. Louisa überlegte, ob sie ihn schon einmal irgendwo gesehen hatte oder ob sein Allerweltsgesicht es sie lediglich glauben machte. Sie verfolgte, wie er den Blick durch den Raum schweifen ließ und die Namen der Gäste herunterratterte. „Prinzessin Mary, Lady Lascelles, der Duke und die Duchess of Abercorn, die Duchess of Devonshire … ihr Kleid ist wunderschön, andererseits sollte es das wohl auch sein, schließlich ist sie …“

„… die Obersthofmeisterin von Königin Mary“, stimmte Nancy mit ein.

Er lachte leise. „Wieso die reichste Frau Englands einer Arbeit nachgehen muss, ist mir ein Rätsel. Die Duchess of Portland, die Duchess of Rutland …“ Er verstummte.

„Was sie tut, ist ja keine Arbeit im herkömmlichen Sinne, sondern es ist schlicht die bedeutendste Aufgabe für eine Frau im königlichen Haushalt.“ In dieser Erwiderung erkannte Louisa auf Anhieb Nancys Vater. So heftig die Unstimmigkeiten zwischen ihnen in manchen Punkten sein mochten, sprachen sie in Fragen des höfischen Protokolls mit einer Stimme.

„Verbindlichsten Dank, Ma’am.“ Mr Meyer zog seinen imaginären Hut. „Wäre ich die reichste Frau Englands, würde ich den ganzen Tag auf besagter Chaiselongue liegen und mich von einem willigen, hübschen Adonis in Toga mit Trauben füttern lassen, statt um eine königliche Dörrpflaume herumzuscharwenzeln.“

Nancy erwiderte nichts darauf. Sie schien all seine Abfälligkeiten längst in- und auswendig zu kennen.

„Ich sollte mich allmählich ans Telefon begeben“, sagte sie stattdessen. „Mein Redakteur scharrt bestimmt schon mit den Hufen. Keine Ahnung, wie wir etwas Brauchbares zu Papier kriegen sollen. Und dann werde ich mit Bryan reden. Vielleicht gelingt es mir ja, ein wenig Sand ins Getriebe zu streuen.“

Sie ging davon, vermutlich um sich nach einem Telefon umzusehen und bei dem Gesellschaftsmagazin anzurufen, das, wie Louisa wusste, sie netterweise ein paar Kolumnen schreiben ließ. Allerdings hatte sie, wie sie Louisa gestanden hatte, bei Weitem noch nicht genug Geld mit ihren Veröffentlichungen verdient, um die gelangweilte Überdrüssigkeit ihrer Freunde zu rechtfertigen, die sich betont verschlossen zeigten, sobald sie in ihre Nähe kam.

Mr Meyer vergrub die Hände in den Hosentaschen und schlenderte sich selbst überlassen ziellos durch den Ballsaal. Louisa folgte ihm nicht, denn sie hatte endlich den gesuchten Diener erspäht.

 

Im Dienstbotenbereich im Untergeschoss des Hauses herrschte nicht minder hektisches Treiben. Zwar waren die leisen Jazzklänge auch hier zu hören, doch niemand vom Personal hatte die Zeit, stehen zu bleiben und ihnen zu lauschen. Ein steter Strom aus eigens für den Abend engagierten Dienern hastete mit Silbertabletts bewaffnet die Treppen hinauf und hinunter, um Champagner zu servieren oder die leeren Gläser in die Küche zurückzubringen. Die zweite Köchin und eine Handvoll Küchenmädchen hatten das Abendessen für die Familie und einige Freunde vor dem Ball zubereitet und wieder abgeräumt, aber auch für sie war der Abend längst nicht vorüber, denn nun galt es, das Frühstück vorzubereiten. Bleche voller Speckstreifen warteten darauf, im Ofen geröstet zu werden, und ein Küchenmädchen stand über einer riesigen Schüssel mit hundertfünfzig Eiern, die sie aufschlagen sollte. Auf dem hohen Holztisch in der Mitte des Raums lagen riesige Butterstücke, die portioniert werden mussten, außerdem Brotlaibe, die in Scheiben geschnitten und getoastet werden würden. Eine der Küchenhilfen rührte ständig in einem riesigen Topf voll safrangelbem Kedgeree, einem Reisgericht mit Fisch und Eiern, damit der Reis nicht am Boden kleben blieb. Im Raum herrschte eine brüllende Hitze, dazu schufen das Klappern der Töpfe und Pfannen, die immer wieder abgewaschen werden mussten, und lautstark gebellte Anordnungen eine ohrenbetäubende Lärmkulisse.

Es war also kein Wunder, dass Louisa als Einzige das Klopfen an der Hintertür wahrnahm. Sie sah sich um, da sie aber weder die Haushälterin noch die Köchin entdecken konnte, trat sie selbst zur Tür und öffnete. Ein Mann stand vor ihr, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, den Porkpie-Hut trotz der frühsommerlichen Wärme fest auf den Kopf gedrückt, und blickte sie eindringlich an. Er schien ein anständiges Bad bitter nötig zu haben, und Louisa überlegte, ob sie eine Münze hatte, mit der sie ihn abwimmeln könnte, doch der Mann bettelte weder um Brot noch um Bares. „Ich bin ein Freund von Ronan“, nuschelte er stattdessen.

Louisa musterte ihn verwirrt. „Wie bitte?“

Auch er schien durcheinander zu sein. „Sind Sie nicht Rose?“

Louisa fragte sich, wer Rose sein mochte – sie kannte nicht jeden der Dienstboten mit Namen –, als sich ein Mädchen an ihr vorbeischob. „Danke, Miss“, sagte sie, „das ist für mich.“ Im ersten Moment rührte Louisa sich nicht von der Stelle, aber das Mädchen sah den Mann an und sagte: „Ich bin Rose“, ehe sie ihr Wort wieder an Louisa richtete. „Danke, Miss.“ Sie war jünger als Louisa und traute sich unübersehbar nicht, sie einfach wegzuschicken, dennoch lag es auf der Hand, dass sie sie nicht hierhaben wollte.

„Natürlich.“ Louisa wandte sich zum Gehen, drehte sich jedoch noch einmal um, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie der Mann Rose ein kleines Päckchen übergab, das sie eilig unter ihrer Schürze verschwinden ließ.

Wenig später rief Mrs Norris, die Haushälterin, zwei Dienstmädchen zu sich, die mit Gläsern voll beladene Tabletts auf ihren dünnen Ärmchen balancierten. Unter ihren Augen lagen dunkle Ringe – die beiden waren bereits seit halb sechs Uhr früh auf den Beinen und hatten das Haus für die Feierlichkeiten vorbereitet. Mrs Norris seufzte. „Ihr beide geht jetzt zu Bett, Mädchen. Ich brauche euch gleich morgen früh wieder, um Ordnung zu machen.“

„Danke, Mrs Norris“, erwiderten sie artig und stellten die Tabletts neben der Spüle ab. Die Haushälterin nickte Louisa als wohlwollendes Zeichen des Respekts kurz zu, ehe sie die Küche verließ. Louisa betrachtete die Schar von Dienstboten, die allesamt ihren Tätigkeiten nachgingen, und lächelte in sich hinein. Ja, der Verdienst kam ihr durchaus gelegen, doch auch die Gesellschaft war ihr durchaus willkommen.

Ihr Blick fiel auf die beiden Mädchen, die ihrer über der Eierschüssel stehenden Kollegin zuzwinkerten, während die eine mehrere Pflaumen im Speckmantel stibitzte. Prompt kassierten sie einen empörten Tadel der zweiten Köchin – „Oi, die sind für den jungen Mr Guinness“ –, ehe sie den Dienstbotenaufgang hinaufstürmten. Ihr Kichern versetzte Louisa einen Stich. Die Tage unbeschwerter Freundschaft mit einer anderen Hausangestellten lagen lange zurück.

 

Trotz ihrer müden Füße sprangen die beiden Mädchen, beflügelt von der Musik und dem Stimmengewirr der Gäste, munter die Hintertreppe hinauf. An einer Stelle konnten sie die Damen in ihren prachtvollen, mit Perlenschnüren besetzten Abendkleidern sehen, die beim Tanzen so schön glitzerten. Dot stieß Elizabeth in die Seite. „Stell dir bloß vor, wie es wäre, so ein Kleid zu haben“, raunte sie und blickte wie gebannt auf ein mit Gold- und Silberlamé verziertes Prachtstück. Grinsend verbiss sich Elizabeth ein Kichern.

Im vierten Stock stießen sie auf ihre gemeinsame Freundin Nora, ein Küchenmädchen, das sich ebenfalls auf dem Weg in die Dienstbotenquartiere machte. Einen Moment lang standen die drei im Treppenhaus und lauschten den gedämpften Klängen der Musik, ehe Elizabeth zu erzählen begann, was Dot und sie im Ballsaal beobachtet hatten. „Ich glaube, wir haben sogar den Prince of Wales gesehen.“

„Im Leben nicht“, erwiderte Nora und knuffte sie in den Oberarm, obwohl ihre weit aufgerissenen Augen verrieten, dass ihr eine Frage auf der Seele brannte. Hatten sie? Oder hatten sie nicht? Vielleicht ja, vielleicht nein. Die Herrschaft war jedenfalls reicher, als sich einer von ihnen vorstellen konnte, und es kamen die feinsten Leute durch die Eingangstür hereinspaziert, die tagtäglich auf Hochglanz poliert werden musste.

„Wir können sie doch beobachten“, meinte Elizabeth mit einer Kopfbewegung auf das breite, von einem Geländer umgebene Oberlicht auf dem Treppenabsatz. „In der Mitte ist ein kleines Loch. Da!“

Die beiden anderen Mädchen beugten sich über das Geländer. „Von hier sehen wir jedenfalls nichts.“ Nora schmollte. Sie war müde und hungrig, außerdem ärgerte sie sich, weil sie vom Geschehen nichts mitbekommen hatte, so als wäre sie zum Regal Cinema in Marble Arch gegangen und gezwungen worden, vor der Tür zu warten, während sich drinnen alle vor Vergnügen über den Kinofilm auf die Schenkel schlugen.

Mit ihren achtzehn war Dot älter als die anderen Hausmädchen und fühlte sich ein wenig verantwortlich für sie. Einige waren gerade einmal vierzehn, wenn sie in den Haushalt kamen, und vermissten ihre älteren Schwestern schmerzlich – zumeist hatten die sie großgezogen, während ihre Mütter mit den Babys beschäftigt waren. Dot gefiel sich in der Rolle der Älteren, Erfahrenen, die ihnen Disziplin, aber auch Zuneigung entgegenbrachte und beim Erwachsenwerden zur Seite stand. Sie öffnete das Geländertürchen.

Nora schlug sich die Hand vor den Mund und rief: „Was machst du da?“

„Keine Angst“, erwiderte Dot. „Ich halte mich einfach am Geländer fest. Wir können uns ein Stück hinauslehnen und durch das Loch gucken. Willst du denn nicht den Prince of Wales sehen?“

„Aber er ist doch gar nicht da“, stieß Nora hervor, die den Tränen nahe war. „Was, wenn Mrs Norris hochkommt?“

„Tut sie nicht“, wiegelte Elizabeth ab. „Sie ist beschäftigt.“

Die Hände fest um das Geländer gelegt, trat Dot auf Zehenspitzen durch das Türchen. Plötzlich wurde ihr heiß. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn, die sie mit dem Ärmel abwischte. Ihr Gesicht war blasser als das elfenbeinfarbene Seidenband ihrer Haube. Mit entschlossener Miene folgte Elizabeth ihr. Nora hoffte inbrünstig, dass eine der beiden einen Rückzieher machte, damit auch sie unbeschadet aus dieser Zwickmühle herauskam. Ein Geräusch ließ sie aufmerken. Sie wandte sich um und sah ein weiteres Dienstmädchen heraufkommen, das jedoch nicht dem Haushalt angehörte. Sie konnte nur hoffen, dass es das Trio nicht verraten würde.

Dot ging in die Hocke und drehte sich, eine Hand immer noch um das Geländer, die andere auf das Oberlicht gelegt, nach vorn. Die Schemen unter dem Milchglas bewegten sich, schienen umherzuflattern wie Glühwürmchen im Dunkeln. Ein winziger Schrei entfuhr ihr, als sich ihre Hand für einen Moment vom Geländer löste, doch sie verstummte sofort und umfasste es fester, so resolut, als würde sie ein Ofengitter schrubben.

Elizabeth war an ihrer Seite, kurz davor, sich mit einer Hand auf dem Glas abzustützen. Die Musik vibrierte in ihren Ohren, als sie sich vorbeugten, um einen Blick auf die Männer und Frauen unter ihnen zu erhaschen, die rauchten und lachten, lauter als die Hyänen im Londoner Zoo.

 

Um halb eins hieß es in der Küche, das Frühstück sei bald fertig. Die zweite Köchin schickte Louisa ein weiteres Mal nach oben, damit sie die Diener informierte, dass sie gebraucht würden, denn das Kedgeree sollte gemeinsam mit dem Rührei serviert werden.

In der Eingangshalle, in der sich auch die Treppe zur Küche und den anderen Dienstbotenräumen im Untergeschoss befand, herrschte ein stetes Kommen und Gehen von Gästen, die entweder von anderen Partys in Mayfair und Knightsbridge eintrafen oder sich auf den Weg dorthin machten – das typische bunte Treiben eines Abends auf dem Höhepunkt der alljährlichen Ballsaison. Kaum oben angekommen, erblickte Louisa zu ihrer Überraschung Rose, das Dienstmädchen von vorhin, das kurz mit jemandem sprach, den sie kannte: Clara Fischer, eine von Nancys Freundinnen von früher. Die bildhübsche Schauspielerin im Stil einer Clara Bow gehörte zu den wenigen Menschen aus Nancys Dunstkreis, die stets ganz normal mit Louisa geredet und ihr nicht nur Anweisungen entgegengebellt hatten. Louisa sah zu, wie Rose zwischen den Gästen verschwand und Clara ihr Glas einem Mann reichte, während sie in ihrem Abendtäschchen kramte. Er hatte aus dem Gesicht frisiertes Haar und strahlend saphirblaue Augen, die er jedoch kein einziges Mal auf Clara richtete; stattdessen ließ er den Blick unablässig umherschweifen. Louisa beschloss, dass dies nicht der richtige Moment war, um Miss Fischer zu begrüßen: Die Amerikanerin hätte zwar gewiss nichts dagegen gehabt, von einer Dienstbotin angesprochen zu werden, bei ihrem Begleiter war Louisa sich jedoch nicht ganz so sicher. Gerade als sie sich auf die Suche nach weiteren Hausdienern machen wollte, sah sie, dass Nancy auf die beiden zutrat. Louisa hörte sie „Shaun, Darling!“ rufen, woraufhin er um ein Haar die beiden Gläser in seinen Händen fallen ließ. Er musste dieser zuvor erwähnte glamouröse Gentleman sein.

Auch jetzt erschien es Louisa unpassend, von ihrem einstigen Schützling entdeckt zu werden. Daher wandte sie sich ab und ging durch den Ballsaal, wo sie einen oder zwei Diener fand und nach unten schickte, ehe sie einen Salon betrat, der den Damen als eine Art Warteraum diente, wenn ihre Kärtchen für die nächsten Tänze noch nicht voll waren. Dank der cremefarben gestrichenen Wände und der Milchglasscheibe des Oberlichts war es hier heller als im Rest des Hauses. Von der Decke hing ein Kronleuchter an einer langen Kette, dessen Glasverzierungen aussahen, als würden sie in der Luft schweben.

Trotz des Stimmengewirrs und der Musik glaubte Louisa ein Knacken von oben zu hören, gefolgt von einem spitzen Schrei. Sie hob den Blick, und zu ihrer Verblüffung nahm sie Schatten durch das Milchglas wahr, mehr als einen, noch dazu zu große, als dass es sich um die Hauskatzen hätte handeln können. Waren das etwa Menschen? Das Glas wäre doch kaum dick genug, um das Gewicht eines Erwachsenen zu tragen. Hektisch sah Louisa sich um, ohne genau zu wissen, was sie zu erspähen hoffte – etwas, um die Gestalten im Notfall aufzufangen? Sollte sie eine Warnung rufen? Sie wollte keine Szene machen, vielleicht war es ja ein Diener, der etwas reparierte, und es wäre furchtbar peinlich, wenn sie …

Unwillkürlich war Louisa einen Schritt nach hinten getreten, als jemand ihren Arm packte. Es war Mr Meyer, der ihren Namen natürlich nicht kannte. „Vorsicht“, warnte er, ehe er, ihrem Beispiel folgend, nach oben schaute und einen erschrockenen Laut ausstieß. „Was ist das?“

„Ich weiß es nicht.“ Louisas Puls raste.

Bevor einer von ihnen noch etwas sagen konnte, gab es einen berstenden Knall, gefolgt von einem Regen aus Glasscherben, während Hände hochgerissen wurden, Männer schützend die Arme um nackte Damenschultern schlangen, ehe das grauenvollste Geräusch ertönte – der dumpfe Knall eines menschlichen Körpers, der auf dem Boden aufschlug.

Ein junges Dienstmädchen. Tot.

Über ihnen klammerte sich ein zweites Hausmädchen an den Kronleuchter, die Augen fest zusammengekniffen, den Mund zu einem stummen Schrei aufgerissen, während ihr das Blut über das kreidebleiche Gesicht strömte.

Kapitel 2

Im ersten Moment standen alle wie versteinert da und blickten erschüttert auf das reglos inmitten der Glasscherben liegende Dienstmädchen, den grotesk verdrehten Körper, das Blut, das aus einer tiefen Kopfwunde auf den Fußboden strömte. Minutenlang war der Salon noch immer erfüllt von der Musik und dem Stimmengewirr der anderen Gäste, das in ungeminderter Lautstärke aus dem Ballsaal herüberwehte, ehe der Lärm allmählich verebbte und schließlich vollends erstarb, als sich die ersten Umstehenden aus ihrer Erstarrung lösten. In der nachhallenden Stille stürzten mehrere Personen zu dem Dienstmädchen, jemand breitete einen Mantel über ihm aus, Rufe nach einem Krankenwagen wurden laut, außerdem solle jemand nach oben laufen, die Haushälterin rufen und Mr Guinness informieren. In all dem Aufruhr und Chaos rannten Dienstboten und Gäste nach oben, um das andere Dienstmädchen zu retten – es hatte sich an den Scherben verletzt und krallte sich mit vor Angst steifen Fingern an der Kette des Kronleuchters fest. Vereinzelt waren Frauen in Tränen ausgebrochen, eine musste in ein angrenzendes Zimmer geführt werden, wo sie sich von einem hysterischen Anfall erholen konnte. Das Geschnatter setzte wieder ein, lauter sogar als zuvor, nur die Musik blieb gedämpft.

Bryan Guinness, ein schmal gebauter Mann im Smoking mit dunklen Augen und einer auffallend hohen Stirn in einem ansonsten wohlproportionierten Gesicht, war das erste Familienmitglied, das auf die Hilferufe aus dem Salon reagierte. Er kam angelaufen, drückte einem Freund sein Glas in die Hand und kniete neben der Leiche nieder, anscheinend ohne sich darum zu sorgen, dass sich die Scherben durch seine Hosenbeine bohren und er sich die Knie verletzen könnte. „Was ist passiert? Was ist passiert?“, fragte er wieder und wieder und musterte nacheinander die bleichen Gesichter der umstehenden Frauen und Männer.

Ein älterer Herr packte ihn entschlossen beim Ellbogen und zog ihn auf die Füße. „Es scheint, als sei das Oberlicht zerbrochen, als die beiden Mädchen darauf traten, um einen Blick auf die Party zu werfen.“

„Ist sie tot?“

Der Mann nickte.

„Armes Mädchen.“ Bryan verzog schmerzerfüllt das Gesicht.

Wenige Minuten später waren auch seine Eltern zur Stelle, begleiteten ihn hinaus und ermunterten die anderen Gäste, ihnen zu folgen. Zwei Diener wurden angewiesen, bei der Toten auszuharren, bis der Krankenwagen eintraf, was zum Glück nicht allzu lange dauerte. Sie sollten dafür sorgen, dass die Leiche weggebracht wurde, ebenso wie das verletzte Dienstmädchen, das trotz der dicken Decke, die man ihm um die Schultern gelegt hatte, am ganzen Leib zitterte. Lady Evelyn und Walter Guinness standen unterdessen an der Tür, um die Gäste unter wortreichen Entschuldigungen für die unglücklichen Umstände und den verursachten Schrecken zu verabschieden.

 

Guy Sullivan konnte über die Atmosphäre kühler Gelassenheit nur staunen, als er den Salon mit dem schwarz-weißen Marmor am Ort des Geschehens im Haus am Grosvenor Place betrat. Obwohl ihm zumindest die Schmach erspart blieb, wie seine Kollegen in der wollenen Ganzjahresuniform während der heißen Sommermonate schmoren zu müssen, war ihm auch in seinem Anzug mächtig warm geworden. Über ihm waren die Spuren des zerborstenen Oberlichts immer noch deutlich zu sehen, nur der Kronleuchter war mittlerweile abgenommen worden, weshalb die Kette lose von der Decke baumelte. Ansonsten wirkte alles, als wäre nichts passiert, schon gar kein tragischer Todesfall. Das Haus war blitzsauber, die Sonne schien durch die Fenster, und überall standen Blumenarrangements. Während sein Vorgesetzter, Detective Inspector Stiles, Mr Guinness befragte, wurde Guy durch die Dienstbotenquartiere im Untergeschoss und über die Hintertreppe hinauf in den vierten Stock geführt. So ein Dienstbotenleben bestand im Grunde aus nichts als einem endlosen Treppauf, Treppab, dachte er. Eine eingehendere Untersuchung des Geländers um das Oberlicht hatte nichts Verdächtiges ergeben, vielmehr machte es einen stabileren Eindruck als jedes Gefängnistor. Guy studierte die Liste der Gäste, die am Abend des Vorfalls anwesend gewesen waren, als sein Blick auf zwei Namen fiel – die ehrenwerten Nancy und Diana Mitford, wohnhaft 26 Rutland Gate.

Mehr als zwei Jahre waren vergangen, seit er sie zuletzt gesehen hatte, damals im Zuge der Ermittlungen in einem Mordfall im Haus ihrer Eltern in Oxfordshire. Eigentlich war er nicht in offizieller Funktion dort gewesen, hatte aber den Übeltäter entlarvt, und der Erfolg hatte ihm zur raschen Versetzung ins Morddezernat der Londoner Polizei verholfen. Diana war damals ein fünfzehnjähriges Mädchen gewesen, Nancys Bekanntschaft hatte er hingegen bereits einige Jahre zuvor gemacht, als sie als Debütantin erste Schritte auf dem gesellschaftlichen Parkett unternommen hatte, in Begleitung ihrer Anstandsdame, dem Kindermädchen der Redesdales, Louisa Cannon.

Louisa. Obwohl er lange nichts mehr von ihr gehört hatte, stockte ihm beim Gedanken an sie der Atem. Er verstand nicht ganz, wie sie sich aus den Augen verlieren konnten. Über Jahre hinweg waren sie Freunde, wobei er stets darauf gehofft hatte, es würde sich mehr daraus entwickeln. Dabei hatten sie sich unter reichlich unseligen Umständen kennengelernt, als Louisa aus einem fahrenden Zug gesprungen war, um ihrem Onkel Stephen, einem brutalen Rohling und Ganoven, zu entkommen. Dabei hatte er auf Anhieb erkannt, was für ein bildhübsches Geschöpf sich unter den schäbigen Kleidern und dem zerknautschten Hut verbarg, selbst in ihrer misslichen Lage. Auch den bemerkenswerten Kampfgeist der jungen Frau bewunderte er. Ein Mordfall hatte sie einander nähergebracht, und dann hatte sie das Schicksal ein zweites Mal zueinandergeführt. Obwohl sie ihn schier zur Verzweiflung getrieben hatte und er sich auch nach Jahren der Freundschaft nie ganz darüber im Klaren gewesen war, was er ihr bedeutete, hatten sie doch nie gänzlich die Verbindung verloren, zumindest bis vor Kurzem.

Soweit Guy wusste, hatte Louisa vorgehabt, ihre Stellung im Haushalt von Lord und Lady Redesdale aufzugeben, um nach London zurückzukehren und dort ihr Glück zu versuchen. Sie war zu ehrgeizig gewesen, um sich mit einem Leben als Dienstbotin abzufinden. In Ermangelung einer anderen Adresse hatte Guy ihr nach Mitford Manor, dem Mitford’schen Familiensitz, der eigentlich Asthall Manor hieß, geschrieben, in der Hoffnung, dass seine Briefe an sie weitergeleitet werden würden, sollte sie sich dort nicht mehr aufhalten. Doch er erhielt nie eine Antwort, daher musste er davon ausgehen, dass sie seine Briefe entweder nicht erhalten oder aber beschlossen hatte, sie zu ignorieren. Wahrscheinlich hatte sie längst einen anderen kennengelernt und war verheiratet, wollte es ihm aber nicht sagen. Das wäre verständlich, schließlich hatte er keinen Hehl aus seinen Gefühlen für sie gemacht, ohne sicher sein zu können, dass sie sie erwiderte.

Ein kräftiger Schlag auf die Schulter riss ihn aus seinen Grübeleien. „Nun gut, zurück aufs Revier. Wir sollten schleunigst einen Bericht verfassen und alles für die offizielle Untersuchung vorbereiten. Mehr als zwei, drei Tage wird es nicht dauern, schätze ich.“

Obwohl sich DI Stiles’ Hand wie die Pranke eines Bären anfühlte, war er groß und sehr schlank. Er trug stets einen hellgrauen Anzug mit einem pastellfarbenen Hemd dazu. Der Kontrast zwischen ihnen hätte nicht größer sein können: Zwar waren beide Männer etwa gleich groß und von ähnlicher Statur, das war aber auch schon alles an äußerlicher Übereinstimmung. Guy trug eine runde Brille mit dicken Gläsern und hatte ein herzliches Lächeln, Stiles frisierte sein silbergraues Haar mit so viel Pomade aus dem Gesicht, dass es glänzte, und sein Schnäuzer sah wie aufgemalt aus. Es ging das Gerücht, der Mann, mit dem er zusammenlebe, sei gar nicht sein Bruder. Guy konnte ihn gut leiden, hauptsächlich, weil er kein arroganter Schnösel war, obwohl er durchaus so aussah. Tatsächlich hegte Stiles für alles eine Abneigung, was auch nur annähernd nach Snobismus roch, und er hatte Guy ins Herz geschlossen. Während der vergangenen Monate hatte sich so etwas wie eine inoffizielle Partnerschaft zwischen den beiden entwickelt, wobei Guy nicht sicher war, ob dieser Umstand hauptsächlich daher rührte, dass er größere Bereitschaft zeigte als Stiles, die lästige Laufarbeit zu erledigen, vor allem wenn Stiles Pläne für die Abendgestaltung hatte.

„Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich Ihnen meine Notizen überlasse, oder, alter Knabe? Ich muss in einer halben Stunde im Dog and Duck sein. Pflichtprogramm“, sagte Stiles in dieser Sekunde prompt.

„Kein Problem, Sir.“ Guy wusste, dass dies sein Stichwort war, den Ort des Geschehens zu verlassen und alleine in ihr Büro zurückzukehren.

 

Am nächsten Tag saß Guy an seinem Schreibtisch im Revier in der Pavilion Road in Knightsbridge, wohin er mit seiner Beförderung zum Detective Sergeant versetzt worden war, und tippte pflichtschuldig seine eigenen und Stiles’ Notizen ab. Alles deutete auf einen tragischen, aber eindeutigen Unglücksfall hin. Früher am Morgen hatte Guy das zweite Dienstmädchen, Elizabeth, befragt, das den Unfall überlebt hatte. Die junge Frau wirkte immer noch völlig verstört, allerdings konnte ihr nichts vorgeworfen werden. Sie hatte geschildert, dass sie und Dot unbedingt einen Blick auf die prachtvollen Roben der anwesenden Damen hatten werfen wollen und daher auf das Oberlicht geklettert waren, um durch ein Loch zu spähen. Normalerweise wären sie gleich wieder zurückgeklettert und hätten ihren Spaß gehabt, aber nun hatte ihr kleines Abenteuer einen tödlichen Ausgang genommen. Nora, das dritte Mädchen, bestätigte Elizabeths Aussage. Allerdings erwähnte sie etwas, was Guy nicht mehr aus dem Sinn gehen wollte: Sie hatte ein viertes Dienstmädchen die Treppe heraufkommen sehen, welches sie nicht gekannt habe. „Sie hat nicht zum fest angestellten Personal gehört“, erklärte Nora. „Wahrscheinlich gehörte sie zu dem Personal, das von einem anderen Haushalt für den Abend ausgeliehen wurde. Aber deshalb verstehe ich nicht, was sie dort oben zu suchen hatte. Danach habe ich sie nicht mehr gesehen.“ Wer auch immer das Mädchen gewesen sein mochte, sie könnte eine wichtige Zeugin sein. Guy würde noch einmal sämtliche Namen auf der Liste durchgehen, die die Haushälterin ihm gegeben hatte, was einiges an Zeit in Anspruch nehmen würde. Mehr als sechzig Hausangestellte hatten an dem Abend bei den Guinness gearbeitet, die Hälfte davon lediglich für diesen speziellen Anlass. Andererseits bekäme er wohl kaum die Genehmigung für eine genauere Untersuchung, da der Vorfall höchstwahrscheinlich als gewöhnlicher Unfalltod ohne Hinweis auf verdächtige Umstände deklariert werden würde.

DI Stiles trat zu ihm, einen Zettel mit der Telefonnummer eines Pubs namens Queen Victoria in Yorkshire in der Hand, und meinte, er solle dort anrufen und eine Nachricht für Mr Albert Morgan unter Angabe einer Uhrzeit hinterlassen, zu der jener Herr ihn zurückrufen sollte. „Ich habe die Nummer bekommen, weil ich ja die Ermittlungen im Todesfall des Dienstmädchens leite, habe aber jetzt einen Termin außer Haus“, erklärte Stiles zwinkernd. „Sie übernehmen das doch für mich, oder?“

Guys Neugier war geweckt. Er rief die Nummer an, und um zwölf Uhr hatte er Mr Morgan an der Strippe. Der erklärte ihm wortreich und mit ausgeprägtem Akzent, dass er bloß ein einfacher Bauer sei, der mit den Londonern nichts weiter am Hut habe, bis Guy ihn drängte, ihm zu verraten, worum es denn gehe.

„Um meine Tochter. Rose. Sie ist verschwunden. Ihre Mum und ich haben nichts von ihr gehört, und bei der Arbeit ist sie auch nicht erschienen. Jemand aus diesem großen Haus, wo sie arbeitet, hat angerufen und wollte wissen, ob sie heimgekommen sei, aber das ist sie nicht.“

Guy notierte sich die Einzelheiten: Rose stand seit einem Jahr im Dienst bei einer gewisse Lady Delaney in deren Haus am 11 Wilton Crescent, allerdings war sie vor ein paar Tagen weggegangen, um bei der großen Feier einer anderen Familie auszuhelfen. „Die Haushälterin hat uns gesagt, bei der Party sei es zu einem tragischen Unfall gekommen, bei dem ein Dienstmädchen verunglückt sei. Es ist zwar nicht unsere Rose, das wissen wir schon, aber seitdem wurde sie nicht mehr gesehen.“ Die Stimme des Vaters klang brüchig, doch er fing sich rasch wieder. „Es sieht ihr gar nicht ähnlich, dass sie uns nicht Bescheid gibt, wo sie steckt. Sie weiß, dass wir uns immer Sorgen um sie machen, weil sie jetzt in der Großstadt lebt. Sie soll nur erfahren, dass sie jederzeit nach Hause kommen kann und wir nicht böse auf sie sind. Sie ist ja erst siebzehn, noch ein halbes Kind.“

Guy beteuerte, er werde alles daransetzen, seine Tochter wiederzufinden. „Bestimmt geht es ihr gut, Mr Morgan. Ich melde mich. Kann ich unter dieser Nummer anrufen, wenn ich Sie erreichen will?“

„Aye. Jemand gibt mir Bescheid, und ich oder die Missus rufen dann zurück. Auf dem Hof haben wir kein Telefon. Normalerweise hab ich nicht viel am Hut mit den Dingern, aber jetzt bin ich doch froh drum.“

Guy dankte ihm und versicherte noch einmal, alles in seiner Macht Stehende zu unternehmen. Insgeheim fragte er sich, ob seine Zuversicht, dass Rose in Sicherheit war und es ihr gut ging, tatsächlich gerechtfertigt war. Betrübt schüttelte er den Kopf und legte den Hörer auf. Der Alltag als Polizist hatte ihn gelehrt, dass das Leben kurz und überaus brutal sein konnte. Obwohl er stramm auf die dreißig zuging, war Guy immer noch unverheiratet und wohnte in seinem Elternhaus; zu groß war die Sorge um die Frage, wie seine Mutter den Alltag alleine bewältigen sollte. Sein Vater lebte zwar noch, litt jedoch unter einer zunehmenden geistigen Umnachtung, sodass sie ihn, halb verrückt vor Angst, kaum eine Minute alleine lassen konnte, weil die Gefahr bestand, dass er unbemerkt das Haus verlassen und alleine draußen durch die Straßen irren würde. Guy war als letzter der vier Söhne noch zu Hause und verschaffte ihr dadurch die eine oder andere Verschnaufpause, um Einkäufe zu erledigen oder mal eine Nachbarin zu besuchen.

Seine Mutter liebte ihn von Herzen und wünschte sich nur das Beste für ihn. Vielleicht war es an der Zeit, etwas gegen die Leere in seinem Innern zu unternehmen und sich seinen Platz im Leben zu suchen. Es war höchste Zeit, endlich zu heiraten. Und er wusste genau, wen er bitten wollte, seine Frau zu werden.

Blick ins Buch
Die Schwestern von Mitford Manor – Gefährliches SpielDie Schwestern von Mitford Manor – Gefährliches Spiel

Roman

Band 2 der großen Mitford-Familiensaga!
Es ist ihr großer Tag: Pamela Mitford wird 18. Doch die Party endet in einer Tragödie, als der charismatische Adrian vom Kirchturm auf dem Anwesen der Mitfords in den Tod stürzt. Die Polizei hält das Dienstmädchen Dulcie für die Täterin. Louisa Cannon, Anstandsdame und Vertraute der Mitford-Schwestern, hält ihre langjährige Freundin allerdings für unschuldig. Aber welcher Gast wurde dann an diesem Abend zum Mörder?

Kapitel 1

1925

Im Leben jedes Menschen gibt es jenen Moment, der den endgültigen Übergang ins Erwachsenendasein kennzeichnet. Für Pamela Mitford war dieser Moment noch nicht gekommen. Mürrisch stand sie auf den Stufen vor einem schmalen Haus in Mayfair, doch es war nicht nur die kalte Abendluft, die sie zittern ließ, sondern vor allem ihre flatternden Nerven. Louisa Cannon war sehr wohl bewusst, dass Pamela sich vorkam, als stünde sie vor der Höhle der Löwen, die nur darauf warteten, sich auf das blonde Mitford-Mädchen zu stürzen.

„Sag Koko, sie soll rauskommen und mich holen“, sagte Pam, den Rücken zur Tür gekehrt. „Wenn du mich hineinbegleitest, glauben alle, ich wäre ein Baby.“

„Das muss ich aber tun, weil ich es Ihrer Mutter versprochen habe. Außerdem weiß sowieso keiner hier, dass ich Euer Kindermädchen bin“, erinnerte Louisa sie nicht zum ersten Mal an diesem Tag. Die Fahrt vom Familienwohnsitz in Oxfordshire, der eigentlich Asthall Manor hieß, aber von allen Mitford Manor genannt wurde, nach London war lang gewesen, obwohl sie den üblichen Zug nach Paddington Station genommen und praktisch sofort ein Taxi gefunden hatten, sobald sie aus dem Bahnhofsgebäude getreten waren.

„Bitte. Geh rein und hol Koko.“

Koko war der Spitzname von Nancy, des ältesten der sieben Mitford-Kinder – sechs Schwestern und ein Bruder. Seit fünf Jahren arbeitete Louisa mittlerweile für die Familie und konnte die Spitznamen wie einen französischen Vokabeltest im Schlaf herunterbeten. Sie läutete widerstrebend, und erschreckend schnell wurde die Tür von einer jungen Frau geöffnet, die wie ihr Abziehbild aussah: Sie war ähnlich groß, ihr Haar hatte einen ähnlichen Braunton wie Louisas, wenngleich sie es unter einem Häubchen zusammengesteckt hatte, und sie trug ein solide gearbeitetes Kleid, das jedoch aufgetragen aussah, so wie sie selbst häufig Nancys aussortierte Kleider anhatte. Das Mädchen wirkte müde, aber die Sommersprossen auf ihrer kleinen Nase verliehen ihrem Gesicht etwas Lebhaftes. Ihr Blick fiel auf Pamela, die immer noch mit dem Rücken zur Tür stand. Louisa und das Dienstmädchen tauschten einen Blick, der ihr Wissen bestätigte, dass sie im selben Boot saßen.

„Guten Abend“, sagte Louisa. „Könnten Sie mir bitte sagen, ob sich Miss Nancy Mitford hier aufhält?“

Das Dienstmädchen sah aus, als würde sie gleich in Gelächter ausbrechen. „Zuerst sollte ich wohl fragen, wer das wissen möchte.“ Ihr Tonfall verriet Louisa, dass sie wohl aus einem der Viertel südlich der Themse stammte.

„Ihre Schwester, Miss Pamela“, antwortete Louisa. „Sie will nicht, dass ich sie begleite, und ich möchte sie nicht alleine hineingehen lassen. Darf ich vielleicht reinkommen und kurz mit Miss Nancy sprechen?“

Das Mädchen nickte und hielt die Tür auf. „Folgen Sie mir, bitte.“

Das Mädchen führte sie einen Korridor entlang, deutete auf eine Tür und verschwand durch eine andere. Louisa wunderte sich ein wenig, dass sie sie nicht formell hineingeführt hatte, verstand jedoch sehr schnell, warum. Im spärlich beleuchteten Salon standen zwei große, abgenutzte Sessel vor einem knisternden Kamin, mit den Rückenlehnen zu Louisa. Über die eine Armlehne ragte ein Frauenarm, der in einem schwarzen, bis über den Ellbogen reichenden Seidenhandschuh steckte, über die andere ein Männerarm in einer steifen weißen Manschette und dem Ärmel eines Dinnerjackets. An einem Finger des Mannes steckte ein schwerer goldener Siegelring. Ihre Hände schienen in einer Art Spiel miteinander vertieft zu sein; immer wieder schnellte die Männerhand nach vorn, wich aus, während die Frauenhand sich vorsichtig herantastete, wieder zurückzog, nur um sich gleich danach bereitwillig wieder umfangen zu lassen.

Louisa hatte dem Treiben eine Sekunde zu lange zugesehen, als sich die zu dem schlanken Frauenarm gehörende Gestalt im Sessel umwandte und ein Gesicht erschien. Der Schock über Nancys neuen Bob war inzwischen verflogen, und Louisa bewunderte die Frisur sogar. Nancy mochte nicht hübsch im konventionellen Sinne sein, hatte jedoch durchaus ihren Reiz mit einem dunkelrot geschminkten „runden Schmollmund“, wie es in Filmstarkreisen bezeichnet wurde, der kecken Stupsnase und großen runden Augen, die nun auf ihr einstiges Kindermädchen gerichtet waren. Ihre Miene verriet die vertraute Mischung aus Zuneigung und leiser Verärgerung.

„Ich bitte um Entschuldigung, Miss Nancy“, sagte Louisa, „aber ich bin hier, um Sie darüber in Kenntnis zu setzen, dass Miss Pamela vor der Tür steht.“

Nun erschien auch das Gesicht des Mannes hinter der Sofalehne; es war markant geschnitten, und sein blondes Haar war so glatt gekämmt, dass es aussah, als hätte jemand flüssiges Gold über seinem Kopf ausgekippt. Sebastian Atlas. Er hatte Mitford Manor bereits mehrmals in Nancys Begleitung besucht, obwohl Lord Redesdale bei seinem Anblick jedes Mal puterrot anlief, sehr zur Belustigung seiner Tochter und zum Missfallen Lady Redesdales, die ihre Gefühle jedoch weit weniger offensichtlich zur Schau trug. Wo Lord Redesdale zu hitzigem Temperament und Zornanfällen neigte, zeigte seine Gattin eiserne Härte und kalte Wut.

„Wieso kommt sie dann nicht einfach herein?“, fragte Sebastian gedehnt, schob mit der einen Hand Nancys Finger weg und ließ sich in den Sessel zurücksinken, während er die andere nach einem Whiskyglas ausstreckte.

Nancy erhob sich mit einem dramatischen Seufzer und schüttelte ihr zerknittertes Seidenkleid zurecht, dessen Saum mit Hunderten in schwarz-weißem Zickzackmuster angeordneten Perlenschnüren besetzt war. Es war das modischste, vielleicht das einzig wirklich schicke Kleid, das sie hatte und mit einer Häufigkeit trug, die Nanny Blor schier um den Verstand brachte.

„Es tut mir leid, Miss Nancy“, sagte Louisa und beschloss, lieber bei der förmlichen Anrede zu bleiben, obwohl sie darauf verzichtete, wenn sie unter sich waren. „Aber Miss Pamela will nicht, dass ich sie hereinbegleite. Sie findet, es wirkt kindisch, in Begleitung eines Kindermädchens aufzutauchen.“

Augenblicklich entspannten sich Nancys Züge, und ein angedeutetes Lächeln breitete sich darauf aus. „Was für ein Dummchen“, sagte sie. „Anstandsdamen sind inzwischen fast wieder in Mode, aber natürlich weiß sie das nicht.“

 

Nancy war diejenige gewesen, die ihren Eltern vorgeschlagen hatte, dass Pamela nach London kommen sollte. Dahinter steckte die Idee, sie zu ein paar Partys zu begleiten und neue Leute kennenzulernen, von denen Pam wiederum einige zu ihrer Geburtstagsfeier im nächsten Monat einladen könnte.

„Sonst kriegen sie eine Einladung zum Geburtstag einer Wildfremden, noch dazu an einem Ort, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen, und denken am Ende, wir hätten es nötig. Es ist nicht mehr wie früher. Wir schreiben das Jahr 1925, Farve“, hatte sie gesagt.

„Ich verstehe nicht, inwiefern die Jahreszahl eine Rolle spielen soll“, hatte ihr Vater knapp erwidert.

„Tut es aber, und zwar gewaltig. Man muss zur richtigen Clique gehören. Kein Mensch geht zu irgendeiner x-beliebigen Feier.“ Was, wie sie Louisa heimlich anvertraute, nicht ganz der Wahrheit entsprach. Nichts tat „die Clique“ lieber, als bei irgendeiner Party aufzutauchen, wo der Alkohol in Strömen floss und die Chance bestand, eine heiße Sohle aufs Parkett zu legen. Sie wussten nur zu gut, dass sie diejenigen waren, die erst so richtig Leben in die Bude brachten und alle anderen in ihrem Glanz verblassen ließen. Louisa war sich im Klaren, dass es zwar offiziell Pamelas Geburtstagsfeier war, Nancy jedoch alles daransetzen würde, die Party zu ihrer eigenen zu machen.

 

An diesem Abend stand ein Dinner im Haus von Lady Curtis, Adrians und Charlottes Mutter, auf dem Programm. Nancy hatte Adrian über Sebastian im Zuge der sogenannten Eights Week in Oxford kennengelernt, der alljährlichen Ruderregatta und einzigen Gelegenheit, bei der dem weiblichen Geschlecht gestattet wurde, den Studenten innerhalb der Steinmauern der altehrwürdigen Universität beim Abendessen Gesellschaft zu leisten. Nancy hatte wenige Monate zuvor angefangen, Ukulele zu spielen, und Louisa von der fast magischen Wirkung des Instruments auf die jungen Männer vorgeschwärmt … Sie sei sich wie ein Schlangenbeschwörer auf einem Basar in Marrakesch vorgekommen, hatte sie gemeint.

Nachdem sie Pamela an der Haustür abgeholt hatten, stand das Trio in der Eingangshalle. Von dem Dienstmädchen war nichts zu sehen, doch aus dem oberen Stockwerk wehten Jazzklänge aus einem Grammofon durchs Haus.

„Musst du unbedingt mitkommen?“, flüsterte Pamela Louisa zu, als sie Nancy die Treppe hinauf folgten. „Ich bin doch mit Nancy hier.“

„Ich habe es Lady Redesdale versprochen“, erinnerte Louisa sie ein weiteres Mal. Sie empfand beinahe Mitleid mit ihrem Schützling. Bevor sie aufgebrochen waren, hatte sie Pamela leise im Badezimmer weinen hören, ehe das Mädchen schließlich mit einem abgeplatzten Knopf an ihrem Rockbund in der Hand herausgekommen war. Wortlos hatte Pamela ihn Louisa in die Hand gedrückt, die ebenso kommentarlos Nadel und Faden geholt hatte, um ihn wieder anzunähen, während sich das Mädchen allmählich beruhigt hatte.

Louisa wappnete sich innerlich für den Abend. Zwar hatte sie in Mitford Manor den einen oder anderen Blick auf Nancys Freunde erhascht, doch das war nicht dasselbe, als sie in ihrem gewohnten Umfeld zu erleben, wo sie sich hemmungslos den Freuden der neuen Zeit hingaben. Den Raum zu betreten fühlte sich an, als würde sie Teil der Gesellschaftsseiten des Tatler werden, bloß in Farbe. Louisa brauchte einen Moment, bis sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten und sie die dicht beisammenstehenden jungen Männer und Frauen ausmachen konnte, deren Gesichter das Flackern des Kaminfeuers und der Schein der Tiffany-Lampen in weiches Licht tauchte. Es waren vor allem die Details, die ihr ins Auge stachen: ein dunkelroter Lippenstiftabdruck auf einem Glas, in langen Spitzen steckende Zigaretten, die das Haar der Umstehenden zu versengen drohten, mit Federn besetzte Haarbänder und gewagte lila Socken, die unter den Hosenbeinen hervorblitzten, als einer der jungen Männer die Knöchel kreuzte. Pamela war regelrecht von der Menge verschlungen worden, wie Jona vom legendären Walfisch, also suchte Louisa sich einen Stuhl an der Wand, von wo aus sie ihren Schützling und Nancys Freunde im Blick hatte.

Neben dem ausladenden Kamin, die Fingerspitzen um den Sims gelegt, stand Adrian und streckte sein Glas vor, ohne dem anderen jungen Mann Beachtung zu schenken, der es mit einem weiteren Whisky füllte. Louisa kannte ihn von den Fotografien aus der Zeitung, für gewöhnlich im Zusammenhang mit einer Skandalmeldung über die jüngsten Eskapaden der sogenannten „Bright Young Things“, und von Nancys Beschreibung. Seine sonore Stimme war ein echter Schock – sie schien so gar nicht zu seiner mageren, heuschreckenartigen Gestalt zu passen. Er hatte dunkles, gewelltes Haar, das sich auch mit der Pomade nicht vollständig bändigen ließ, und seine hellblauen Augen hefteten sich trotz einer gewissen Glasigkeit sofort auf Nancys Schlüsselbein, als sie näher trat. Seine Fliege hatte sich gelöst, und auf seinem Hemd prangte ein nasser Fleck von einem verschütteten Drink. Louisa wusste, dass Adrian als guter Fang galt – sollte er zu Pamelas Party kommen, wäre er der entscheidende Dominostein, dessen Zusage dafür sorgen würde, dass alle anderen folgten.

„Wen bringst du mir denn da Schönes, Süße?“, fragte er Nancy, richtete den Blick jedoch auf Pamela. „Das arme Ding sieht ja aus wie das Lamm auf dem Weg zur Schlachtbank.“ Lachend leerte er sein Glas.

„Das ist Pamela“, sagte Nancy. „Sie ist erst siebzehn und tatsächlich noch ein Lämmchen. Sei also bitte nett zu ihr, Adrian.“ Sie warf ihm einen Blick zu, der Louisa verriet, dass sie genau das Gegenteil meinte.

Pamela streckte die Hand aus und sagte mit betont erwachsener Stimme: „Guten Tag, wie geht es Ihnen, Mr Curtis?“, woraufhin er nur noch lauter lachte.

„Wie altmodisch“, sagte er und schlug ihre Hand weg. „So reden wir hier nicht, Kleine. Du kannst Adrian zu mir sagen. Was möchtest du gern trinken?“ Er drehte sich um und tippte dem Mann mit der Whisky-Flasche auf die Schulter, als eine Frau auf dem Stuhl neben ihm laut aufstöhnte. Sie hatte noch wildere und wesentlich längere Locken als er und braune Augen, in denen ein ähnlich mürrischer Ausdruck lag. Auch sie war dünn, mit Wangenknochen, die von selektiver Fortpflanzung über die Jahrhunderte hinweg kündeten.

„Bitte beachte meinen Bruder gar nicht“, sagte sie. „Er ist ein Langweiler und unverschämt noch dazu. Ich bin übrigens Charlotte.“

„Pamela“, erwiderte das Mädchen und verstummte wieder. Abgesehen von ein paar Monaten in Frankreich hatte Pamela ihr ganzes bisheriges Leben in der Gesellschaft ihrer Geschwister und ihrer Kindermädchen Louisa und Nanny Blor im Haus ihrer Eltern verbracht. Dies war unbekanntes Terrain für sie.

„Komm, setz dich.“ Charlotte erhob sich und nahm zwei Gläser von einem Tablett, von denen sie ihr eines reichte. Pamela bedankte sich und nahm einen kräftigen Schluck, nur um ihn gleich wieder auszuspucken. Sie wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, wobei sie prompt den Lippenstift verschmierte, den sie in einem Anfall von Wagemut im Taxi aufgelegt hatte.

„Verflixt und zugenäht!“, stieß sie hervor, was Charlotte ein Kichern entlockte.

„Du bist wirklich niedlich. Moment, ich habe ein Taschentuch. Wir müssen dein Gesicht erst ein bisschen sauber machen. Das war wirklich drollig, was?“

Pamela nickte erleichtert und kicherte ebenfalls.

Bevor Charlotte die Tropfen von Pamelas Kinn wischen konnte, hielt sie inne und sah zu Nancy hinüber. Louisa folgte ihrem Blick und beobachtete, wie Pamelas Schwester die Standuhr auf dem Kaminsims aufzog. „Ist sie stehen geblieben?“, fragte Charlotte.

Nancy unterbrach ihre Tätigkeit und zwinkerte ihr übertrieben zu. „Partyzeit“, erklärte sie. „Ich stelle die Uhren eine halbe Stunde zurück, damit wir noch ein bisschen länger feiern können.“

„Wie witzig“, bemerkte Charlotte und widmete sich wieder Pamela.

In diesem Moment sah Louisa zu ihrer Freude Clara Fischer auf die beiden zusteuern. Mit ihren knapp einundzwanzig war Clara, von den Mitfords nur „die Amerikanerin“ genannt, eher in Nancys Alter, verhielt sich Pamela gegenüber jedoch immer sehr freundlich. Die beiden hatten in Mitford Manor schon häufiger zusammen mit den Hunden gespielt, über deren Eigenschaften und Besonderheiten geplaudert und gerätselt, was sie wohl sagen würden, wenn sie sprechen könnten – etwas, das sich beide sehnlich wünschten. Clara war ein offenes, unkompliziertes Mädchen und sehr hübsch mit ihrem blonden, in perfekte Wellen gelegten Haar und einem üppigen rosigen Mund. Sie trug stets Kleider in hellen Farben aus zarten, durchscheinenden Stoffen, die ihr eine chiffonartige Leichtigkeit verliehen.

Sie kam auf Pamela zu. „Hallo, ich wusste ja gar nicht, dass du heute Abend auch hier sein würdest.“

„Es kam ganz kurzfristig zustande“, erwiderte Pamela. „Farve war nicht allzu begeistert davon.“

„Das kann ich mir vorstellen.“ Clara lächelte ironisch. „Und wenn ich mir diese dekadenten Gestalten hier ansehe, muss ich sagen, dass ich es ihm nicht verdenken kann.“

Pamela sah sich um. „So schlimm sehen sie eigentlich nicht aus, finde ich.“

„Lass dich nicht täuschen. Los, rück mal ein Stück.“

„Clara“, sagte Charlotte nicht gerade freundlich, „hast du Ted gesehen? Er verdrückt sich pausenlos … nur um mit dieser fürchterlichen Dolly zu telefonieren, hab ich recht?“

„Ja. Dort drüben steht er.“ Clara zog eine ihrer sorgfältig gezupften Brauen hoch und blickte zum Kamin hinüber. „Ich frage mich, worüber sich die drei vor Lachen ausschütten.“

Nancy stand am Kamin mit Adrian und einem etwas kleineren, dunkelhaarigen Mann mit länglichem Kinn und so tief liegenden Augen, dass sie kaum zu erkennen waren. Clara und Charlotte hatten ihn Ted genannt, doch Louisa erkannte ihn unter seinem richtigen Namen aus der Zeitung: Lord De Clifford. Die drei schienen ein klein wenig unsicher auf den Beinen zu sein und brachen in johlendes Gelächter aus, noch bevor der jeweils andere seinen Satz zu Ende gebracht hatte. Nancy, die die Blicke offenbar gespürt hatte, drehte sich um und winkte ihnen zu.

„Kommt doch rüber“, rief sie. „Wir schmieden gerade einen wunderbaren Plan.“

Charlottes Widerstreben spiegelte sich in der Langsamkeit, mit der sie zum Kamin schlenderte; Clara folgte ihr, ehe sie sich noch einmal umwandte und Pamela auffordernd anstieß. „Du bist auch gemeint.“

„Los, kommt rüber, Leute“, rief Adrian. Auf seine Anweisung hin erschien Sebastian wie aus dem Nichts und trat neben Charlotte. Er wirkte zutiefst gelangweilt, doch Louisa wusste, dass er vor Nancy und ihren Freundinnen nur so tat. Sie spitzte die Ohren, als die jungen Leute sich vor dem Kamin zu einem Kreis formierten. Adrians Stimme hatte zwar nichts von ihrer Lautstärke eingebüßt, allerdings begann er zu nuscheln und redete plötzlich ganz langsam, wie eine Schallplatte, die bei falscher Geschwindigkeit abgespielt wurde.

„Ted hat eine super Idee“, sagte er. „Wir veranstalten eine Schnitzeljagd.“

„Was? Jetzt?“ Charlottes Mundwinkel sackten noch weiter nach unten. „Ich habe keine Ahnung, wieso ihr euch wie Idioten …“

„Nein, nicht jetzt“, unterbrach Adrian. „So etwas muss geplant werden. Ich rede von Pamelas Geburtstagsparty nächsten Monat.“ Er grinste breit und riss die Hände hoch wie ein Zirkusdirektor, der gerade verkündet hatte, dass nach den Trapezkünstlern die Tigernummer folgen würde.

Pamela wurde blass. „Oh, ich glaube nicht, dass Farve …“

„Halt den Mund, Mollie!“ Louisa zuckte zusammen, als sie Nancys fiesesten Spitznamen für ihre Schwester hörte, den sie vor Jahren ersonnen hatte, um sie mit ihrer üppigen Figur aufzuziehen. „Er braucht es ja nicht zu erfahren. Wir warten einfach, bis die alten Herrschaften in ihren Betten liegen. Dann können wir uns im ganzen Haus ausbreiten. Und sogar im Dorf, wenn wir wollen.“

„Wir sollten aber dafür sorgen, dass uns keiner dieser lächerlichen Zeitungsschreiberlinge auf den Fersen ist“, warf Sebastian mit einem Seitenblick auf Ted ein. Es war ein gefundenes Fressen für die Zeitungen, wenn ein junger Adliger bei einer der berüchtigten Londoner Schnitzeljagden erwischt wurde. Die Journaille stürzte sich mit Begeisterung darauf; Louisa konnte sich erinnern, dass sogar Lord Rothermere höchstpersönlich im Evening Standard einen Hinweis veröffentlicht hatte.

Clara klatschte in die Hände. „Draußen auf dem Land, meinst du? Oh, da ist es so dunkel, dass man die Hand nicht vor Augen sieht. Richtig schön gruselig! Perfekt, absolut perfekt!“

„Genau“, meinte Adrian. „Und Nancy hat gerade erzählt, hinter der Gartenmauer sei sogar ein Friedhof!“ Er gluckste vor Vergnügen und taumelte ein paar Schritte rückwärts, ehe er sich fing. Nancy lachte, als sie das sah.

„Und keine wilde Herumkurverei mit quietschenden Reifen. Das Ganze geht ausschließlich zu Fuß vonstatten. Jeder darf einen Hinweis zu einem Gegenstand schreiben, den man für gewöhnlich in einem Haus finden kann. Also, wenn alle mit von der Partie sind, können wir uns immer paarweise zusammentun.“ Eine schlaue Idee, um sich die Zusagen zu sichern, dachte Louisa.

„Und wer gewinnt?“, fragte Clara.

„Logischerweise derjenige, der als Einziger zum Schluss alle Lösungen parat hat“, warf Adrian ein.

Und so kam es, dass Adrian Curtis, zweiundzwanzig Jahre alt, seinen eigenen Tod plante, der ihn drei Wochen später ereilen sollte.

Kapitel 2

Guy Sullivan saß bereits seit acht Uhr morgens am Empfang des Polizeireviers und hatte gerade einmal drei Fälle aufgenommen: Eine alte Dame war hereingekommen, um sich bei dem reizenden jungen Sergeant zu bedanken, der ihr am Vortag geholfen hatte, ihren geliebten Kater Tibbles vom Dach herunterzuholen; ein Mann war wegen Trunkenheit und Erregung öffentlichen Ärgernisses festgenommen worden und schlief nun in der Ausnüchterungszelle seinen Rausch aus; außerdem war, ausgerechnet am Golden Square, ein goldener Ring gefunden worden. Guy hatte pflichtschuldig die Meldungen auf- und das Fundstück entgegengenommen und alles ordnungsgemäß abgezeichnet und abgeheftet. Nun hatte er nichts mehr zu tun, außer sich zu bemühen, aufrecht dazustehen und nicht zum fünften Mal hintereinander zu gähnen. Es war halb elf Uhr vormittags und damit noch mindestens zwei Stunden bis zur Mittagspause und sieben bis Dienstschluss. Aber er wollte nicht undankbar sein; war es nicht sein größter Wunsch gewesen, zur Londoner Metropolitan Police zu gehören? Es erfüllte ihn immer noch mit Stolz, die Marke an seinem Helm zu polieren, und er achtete stets darauf, dass seine schwarzen Stiefel glänzten, allerdings war es manchmal schwer zu sagen, ob seine Arbeit wirklich etwas nützte oder wie er jemals die Karriereleiter erklimmen sollte. Inzwischen war Guy seit drei Jahren Polizist – ein richtiger Polizist, nicht länger im Dienst der Eisenbahngesellschaft wie zuvor – und konnte es kaum erwarten zu erfahren, wann er endlich seine Laufbahn als Detective in Angriff nehmen durfte.

Das Gespräch mit seinem Vorgesetzten, Inspector Cornish, war in die Hose gegangen, noch bevor es richtig angefangen hatte. Cornish hatte den jungen Sergeant nur allzu gern daran erinnert, dass er für die beste Polizei der Welt arbeitete und schon einen guten Grund liefern musste, wenn er eine Beförderung anstrebte; so etwas bekäme man nicht vom Herumstehen, hatte er erklärt. Aber solange er bloß auf der Wache herumsaß, so wie in den vergangenen sieben Monaten auf diesem Revier, konnte Guy schlecht Initiative an den Tag legen und zeigen, was in ihm steckte. Die Polizisten, die die echten Fälle an Land zogen, ließen nicht zu, dass ein Anfänger wie er mitmischte, und wenn jemand aufs Revier kam, um eine Straftat zu melden, wurde derjenige automatisch einem anderen Sergeant zugeteilt, weil er seinen Posten nicht verlassen durfte.

Guy strich sich das Haar glatt und putzte zum hundertsten Mal an diesem Morgen seine Brille, während er sich fragte, ob seine mangelnde Sehkraft – schlimm genug, dass er deswegen aus dem Kriegsdienst ausgemustert worden war und nicht an die Front hatte ziehen dürfen – der Grund war, weshalb ihm der Superintendent keine richtigen Fälle anvertraute. Er hatte einiges an Spott über sich ergehen lassen müssen, nachdem er den Chief Inspector des Reviers nicht erkannt hatte, als dieser eines Morgens in Zivilkleidung zur Tür hereingekommen war. Guy hatte sich verteidigt, nicht sein schlechtes Sehvermögen sei schuld daran, sondern die Tatsache, dass er schlicht nicht daran gewöhnt sei, den Mann in Straßenkleidung zu sehen, wodurch er jedoch nur Öl ins Feuer gegossen hatte. Wie um alles in der Welt wolle er einen stadtbekannten Verbrecher erkennen, wenn dieser sich maskiere?, hatten die Kollegen ihn gefoppt. Cornish, der das Gefrotzel mitbekommen hatte, war zu ihnen getreten und hatte wissen wollen, was los sei, und seit diesem Tag war Guy unten durch. Zumindest hatte es den Anschein.

Während er noch überlegte, ob er die Ausgangspost alphabetisch sortieren oder lieber die Pflanze neben der Tür gießen sollte, bemerkte er eine junge Frau in Uniform, die auf ihn zukam. Es war ein recht seltener Anblick; Gerüchten zufolge gab es gerade einmal fünfzig Frauen bei der gesamten Londoner Polizei. Erst vor wenigen Jahren war es ihnen überhaupt gestattet worden, Festnahmen vorzunehmen, was unter den Männern für einigen Aufruhr gesorgt hatte. Doch normalerweise wurden den weiblichen Beamten die leichteren Fälle zugeteilt; sie wurden beispielsweise losgeschickt, um kleine Kinder oder ausgerissene Katzen aufzustöbern. Guy hatte kaum ein Wort mit seinen Kolleginnen gewechselt. Die, die gerade hereinkam, hatte er schon einmal gesehen, und auch ihr reizendes Lächeln war ihm nicht entgangen, aber an diesem Tag galt seine Aufmerksamkeit dem zappelnden Jungen, den sie am Ohr gepackt hatte. Sie marschierte geradewegs auf Guy zu und blieb schwer atmend stehen; sie schien zu allem entschlossen und gleichzeitig überaus zufrieden mit sich zu sein.

„Ich hab ihn erwischt, als er Äpfel von einem Karren auf dem St James’s Market geklaut hat“, sagte sie in einem Tonfall, mit dem sie andeuten wollte, dass sie alle naslang unbelehrbare Missetäter auf das Revier in der Vine Street schleppte. Guy beschloss spontan mitzuspielen.

„Ich gehe jede Wette ein, dass er das nicht zum ersten Mal getan hat, stimmt’s?“

Die Polizistin lächelte dankbar. „Nein. Ganz gewiss nicht.“ Allmählich beruhigte sich ihre Atmung, doch sie machte keine Anstalten, ihren Griff zu lockern. Der Junge – er musste etwa vierzehn sein – war recht klein für sein Alter und drahtig, hätte sich aber jederzeit losreißen können. Das legte den Verdacht nahe, dass er in Wahrheit sogar auf eine Nacht in der Arrestzelle hoffte, wo ihn eine warme Suppe und ein Stück Brot erwarteten. „Ich denke, wir sollten seine Personalien aufnehmen und dann den Superintendent fragen, wie es weitergehen soll.“

„So machen wir es, Constable“, sagte Guy, woraufhin sie erneut das Gesicht zu einem – ausnehmend anziehenden – Lächeln verzog. Er richtete sich zu voller Größe auf, wie ein Kater mit stolz geschwellter Brust. Seit Louisa Cannon hatte niemand mehr diese Wirkung auf ihn gehabt. Beim Gedanken an sie schüttelte er den Kopf und beschloss, sich lieber wieder seiner Arbeit zuzuwenden. Er nahm den Namen und die Adresse des Jungen auf, beides vermutlich falsch, und rief einen Kollegen herbei, der den jungen Übeltäter zu den Arrestzellen bringen sollte. Guy bemerkte die enttäuschte Miene der Polizistin, als sie entlassen und an die Arbeit zurückgeschickt wurde.

„Sie haben Ihre Sache wirklich gut gemacht“, meinte er. „Eine Verhaftung, dabei ist es noch nicht einmal Mittag.“

„Ja, wahrscheinlich haben Sie recht“, gab sie wehmütig zurück. Guy betrachtete ihre schlanke Figur in der gut sitzenden Uniform und ihre hübschen, wohlgeformten Beine, die so gar nicht zu den schweren schwarzen Schnürstiefeln passen wollten. Sie ließ den Blick umherschweifen, um sicherzugehen, dass niemand sie hören konnte. „Es ist nur …“

„Was denn?“

„Nie kriege ich einen richtigen Fall zugeteilt. Sie wissen schon, etwas, das echte Polizeiarbeit erfordert. Ich dachte, ich dürfte ihn wenigstens zu den Zellen bringen, auch wenn sie ihn heute Nachmittag bestimmt schon wieder laufen lassen, stimmt’s?“

Guy zuckte mit den Schultern und beschloss, sie mit gönnerhaftem Gefasel zu verschonen. „Ja“, räumte er ein. „Wahrscheinlich. Es liegt nicht genug gegen ihn vor, um Anklage zu erheben. Trotzdem war es richtig, was Sie getan haben. Nächstes Mal überlegt er es sich bestimmt zweimal, bevor er zugreift.“

„Ja, das wird er wohl. Danke.“ Sie wandte sich zum Gehen, drehte sich jedoch noch einmal zu Guy um. „Wie heißen Sie eigentlich?“

„Sergeant Sullivan“, antwortete er, ehe er ein wenig sanfter hinzufügte: „Aber Sie können Guy zu mir sagen.“

„Gern“, gab sie zurück, „aber nur, wenn Sie mich Mary nennen. Ich bin Constable Moon.“

„Mary Moon?“

„Ja, aber sparen Sie es sich. Ich habe bereits jeden erdenklichen Witz über meinen Namen gehört, den Sie sich vorstellen können … und ein paar mehr.“

Sie lachten beide schallend, als ein weiterer Sergeant erschien und neben Guy trat. „Wenn Sie beide nichts Besseres zu tun haben, als hier herumzustehen und zu kichern, können Sie ebenso gut zur Einsatzbesprechung kommen. Cornish will jeden dabeihaben, der noch nicht zur Streife eingeteilt wurde.“ Damit ging er davon und suchte sich das nächste Opfer.

Marys Miene erhellte sich. Sie wandte sich zum Gehen, blieb jedoch stehen und sah über die Schulter. „Kommen Sie nicht mit?“

„Nein, ich darf hier nicht weg.“

„Nicht mal für fünf Minuten?“

Guy kam sich wie ein Narr vor, als er den Kopf schüttelte.

Mary kam zurück. „Vorschlag – Sie gehen, und ich bleibe so lange hier. Das kann ja nicht so schwer sein, eine Weile Wache zu schieben.“

„Aber was ist …?“

„Die geben mir sowieso nichts Anständiges. Gehen Sie hin, und erzählen Sie mir dann, wie es war.“

Guy bemühte sich, noch ein wenig zu zögern, um ihr Gelegenheit zu geben, ihr Angebot zurückzuziehen, doch in Wahrheit konnte er es kaum erwarten.

 

Im Versammlungsraum war es rammelvoll. Inspector Cornish stand vorn und richtete das Wort bereits an die aufmerksam lauschenden Polizisten. Guy schlich sich hinein und stellte sich ganz hinten an die Wand. Er konnte seinen Eifer nur mit Mühe bezähmen. Cornish galt als beinharter Typ, stand jedoch zugleich in dem Ruf, Ergebnisse zu liefern, daher wurde seine derbe Ausdrucksweise toleriert und von vielen sogar als angemessen für die zu bewältigenden Aufgaben empfunden. „Wenn du das nicht aushältst, bist du bei der Met fehl am Platz“, war ein Spruch, den Guy schon mehrmals gehört hatte, wenngleich glücklicherweise nie an ihn gerichtet. Cornishs Anzug saß besser, als man es für einen Inspector erwarten würde, zudem fuhr er einen schicken neuen Chrysler, was für jemanden seiner Gehaltsklasse ebenfalls ungewöhnlich erschien. Immer wieder kamen Gerüchte über Schmier- und Bestechungsgelder auf, Beweise gab es jedoch keine dafür, und wenn, dann wurden sie häufig von Achselzucken à la „Wieso auch nicht?“ begleitet, was Guy reichlich deprimierend fand. Doch nach drei Jahren bei der Londoner Polizei war von seinem Glauben an das Gute im Menschen nicht mehr allzu viel übrig geblieben.

„Für euch Jungs bedeutet Weihnachten, dass ein Fettsack durch den Kamin klettert, um euch warme Handschuhe in den Strumpf zu stecken“, bellte Cornish, „oder ein riesiger, gefüllter Truthahn für Tiny Tim“ – er hielt inne, um sich über seinen eigenen Scherz auszuschütten –, „aber für dieses elende Pack da draußen geht es nur ums Nehmen und nicht ums Geben. Und die warten nicht, bis wir das erste Türchen am Adventskalender aufmachen dürfen“, fügte er hinzu, woraufhin ein paar Polizisten höflich lachten. „Nun, meine Herren, wir haben Grund zur Annahme, dass Miss Alice Diamond und ihre Forty Thieves in der Oxford Street, der Regent Street und der Bond Street ihr Unwesen treiben werden. In den vergangenen zwei, drei Jahren hat sie unseren heißen Atem im Nacken gespürt und sich daher auf die Provinzen und Kleinstädte konzentriert. Aber es sieht so aus, als würde sie zu Weihnachten nach Hause kommen, daher müssen wir unser Netz auswerfen, um sie endlich zu schnappen. Deshalb will ich, dass so viele von euch wie möglich Streife gehen und mir zu Schichtende Bericht erstatten. Verstanden?“ Er ließ den Blick über die Anwesenden schweifen. „Gut, Jungs. Stellt euch auf, damit Sergeant Cluttock die Instruktionen erteilen kann. Ihr werdet paarweise und in Zivil arbeiten.“ Mit einem letzten finsteren Blick auf die Mannschaft verließ er den Raum.

Hilflos sah Guy sich um. Die anderen hatten im Handumdrehen ihren Partner gefunden … manchmal genügte schon ein flüchtiges Zwinkern oder ein Nicken, um ein festes Gespann zu bilden. In Momenten wie diesem vermisste Guy seinen einstigen Partner Harry schmerzlich. Nachdem Guy zur Met gewechselt war, hatte der zwar weiterhin für die London, Brighton and South Coast Railway Police gearbeitet, vor ein paar Monaten jedoch hatte er gekündigt, um endlich als Musiker in einem der vielen Jazzclubs auftreten zu können, die wie Pilze aus dem Boden schossen. Guy mochte durchaus den einen oder anderen Freund auf dem Revier haben oder sich zumindest auf kollegialer Ebene gut verstehen, doch hier ging es um mehr als belanglose Plaudereien bei Fleischpastete und Kartoffelbrei in der Kantine. Es ging darum, wer einem helfen könnte, einen Fall an Land zu ziehen, der einem Cornishs Aufmerksamkeit, ein Lob und damit über kurz oder lang eine Beförderung einbrachte. Sieben Monate am Empfangstresen hatten nicht dazu beigetragen, Guy als ehrgeizige Spürnase dastehen zu lassen. Wie gelähmt sah er zu, als die Männer in Zweierteams den Raum verließen, wie die Pärchen auf dem Weg in Noahs Arche. Sobald das letzte Gespann, das eher an zwei lachende Hyänen erinnerte, verschwunden war, sammelte Sergeant Cluttock seine Unterlagen zusammen und wollte ebenfalls aufbrechen. Guy trat zu ihm, aber sein Mund war so trocken, dass nur ein Krächzen herauskam.

„Entschuldigen Sie, Sir.“

Cluttock sah auf, sein Schnurrbart zitterte. „Was gibt’s?“

„Ich habe mich gefragt, ob ich vielleicht auch eingeteilt werden könnte.“

Cluttock machte eine übertriebene Geste um sich herum. „Ich sehe keinen Partner. Sie haben doch gehört, was der Boss gesagt hat. Paarweise.“

„Aber ich habe eine Partnerin, Sir. Sie ist nur gerade …“ Er unterbrach sich und überlegte kurz. „Sie ist mit etwas anderem beschäftigt und sollte gleich fertig sein. In ein paar Minuten könnten wir los.“

„Name?“

„Meiner, Sir?“

„Nein, der vom Schuhputzer des Königs. Natürlich Ihrer.“

„Sergeant Sullivan, Sir. Und mein Partner ist Constable Moon.“

Cluttock blickte auf seine Liste. „Sie können die Great Marlborough Street nehmen. Dort gibt es kleinere Geschäfte. Die werden zwar weniger häufig überfallen, aber man weiß ja nie. Um Punkt sechs will ich Ihren Bericht haben. Halten Sie alles fest, was Ihnen verdächtig vorkommt, reden Sie mit Verkäuferinnen und so weiter. Sie wissen ja, wie das geht.“ Er zog eine Braue hoch. „Das tun Sie doch, oder?“

„Natürlich ja, Sir. Vielen Dank, Sir.“ Guy strahlte, als hätte er gerade seinen Weihnachtsstrumpf vom Kamin genommen und darin echte Goldmünzen statt welche aus Schokolade gefunden. Erst jetzt merkte er, dass Cluttock ihn ansah. „Ich bin immer noch hier, stimmt’s?“

„Sieht ganz so aus, Sergeant Sullivan.“

„Aber nicht mehr lange, Sir.“ Guy stürmte hinaus und zurück zum Empfang.

 

Mary war vor Freude völlig aus dem Häuschen, als Guy ihr die Neuigkeiten überbrachte. „Sie haben ihm meinen Namen genannt?“, fragte sie zum dritten Mal. „Und er hat nicht gesagt, ich soll hierbleiben?“

„Ja, genau das habe ich getan“, beteuerte Guy. „Und nein, er hat nichts dergleichen gesagt. Aber es gibt ein anderes Problem.“

„Und zwar?“

„Ich soll eigentlich am Empfang bleiben.“

„Aber wieso sagen Sie nicht demjenigen, der Sie eingeteilt hat, dass Sie anderweitig gebraucht werden. Dann muss eben ein anderer Kollege übernehmen.“ Sie riss die Augen auf und legte die Hände zum Gebet zusammen. „Bitte, Sie müssen es versuchen. Das ist meine einzige Chance, mich zu beweisen. Es muss klappen!“

Guy wusste nur zu gut, wie sie sich fühlte. Er nickte und machte sich auf den Weg, bevor ihn der Mut verlassen konnte. Zu seiner Verblüffung ließ sein Vorgesetzter ihn ohne viele Fragen ziehen. Offensichtlich hatte sich herumgesprochen, dass jede verfügbare Kraft benötigt wurde, um Alice Diamond und ihre Spießgesellinnen zu schnappen. In Rekordzeit waren Mary und Guy jeweils nach Hause gefahren, um sich umzuziehen. Nun gingen sie die Great Marlborough Street entlang, und es galt nichts weniger, als die dreisteste Verbrecherin Englands und ihre Bande zu schnappen.

Die Schwestern von Mitford Manor – Unter VerdachtDie Schwestern von Mitford Manor – Unter Verdacht

Roman

London, 1920: Für die 19-jährige Louisa geht ein Traum in Erfüllung. Sie bekommt eine Anstellung bei den Mitfords, der glamourösen und skandalumwitterten Familie aus Oxfordshire. Endlich kann sie der Armut und dem Elend der Großstadt entfliehen und dafür auf ein herrschaftliches Anwesen ziehen. Louisa wird Anstandsdame und Vertraute der sechs Töchter des Hauses, allen voran der 17-jährigen Nancy, einer intelligenten jungen Frau, die nichts mehr liebt als Abenteuer und gute Geschichten. Als Florence Nightingale Shore, eine Krankenschwester und Freundin der Familie, am helllichten Tag ermordet wird, beginnen Nancy und Louisa eigene Ermittlungen anzustellen. Schnell erkennen sie, dass nach den Wirren des Krieges jeder etwas zu verbergen hat.

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Der historische Hintergrund der Reihe

Wer waren die Mitford-Schwestern?

Die „Mitford Schwestern“ faszinieren – jede für sich, aber auch gemeinsam –, seit sie in den 1920er Jahren in der Gruppe der Bright Young Things auftauchten. Diese Gruppe junger Künstler und Aristokraten mischte die Londoner Szene gehörig auf. Die sechs Schwestern wuchsen in der Zeit zwischen den Weltkriegen auf und verkörpern zusammengenommen alles, wofür diese Epoche steht – im Guten wie im Schlechten.

Ihre Eltern, Lord und Lady Redesdale, sahen sich selbst als durchschnittliche Familie der Oberschicht und waren ob der Eskapaden ihrer Töchter „not amused“. Lady Redesdale bemerkte sogar: „Immer wenn ich in einer Schlagzeile ‚Tochter aus gutem Hause‘ las, wusste ich, dass eine von euch gemeint ist.“ Hauptsächlich wuchsen die Schwestern in Oxforshire, England, auf und genossen die Privilegien der Oberschicht, von Bediensteten bis hin zu Jagdausflügen. Ihre Schulbildung ging kaum über die Lektionen von wechselnden Gouvernanten und die eigene Bibliothek hinaus.

Hörprobe

Das Hörbücher erscheinen bei Random House Audio

Dürfen wir vorstellen: die sechs Mitford-Schwestern

Nancy Mitford, die älteste Tochter, wurde 1904 geboren. Sie war unverbesserlich, wenn es darum ging, andere zu foppen und auf den Arm zu nehmen, was ihr mit ihrem bissigen Scharfsinn stets gelang. Später als Autorin waren ihre Werke gekennzeichnet vom scharfsichtigen Blick auf ihre Gesellschaftsschicht und ihre Geschlechtsgenossinnen.

Die nächste im Bunde, Pamela, wurde drei Jahre später geboren. Sie war die beständigste der Schwestern und widmete ihre Zeit den Tieren und dem Essen (sie konnte über die Feinheiten einer Mahlzeit mit genauso viel Genuss berichten wie beim Verzehr des eigentlichen Gerichts).

Diana war bekannt als die kühle Schönheit, die sich bereits mit achtzehn verlobte und den reichen Bryan Guinness heiratete. Doch die Ehe hielt nicht lange – sie verließ ihn und die beiden Söhne für Oswald Mosley, ein führendes Mitglied der faschistischen Partei in Großbritannien.

Die vierte Schwester, Unity, wurde in Swastika, Kanada, gezeugt, als ihre Eltern dort nach Gold suchten. 1933, im Alter von neunzehn Jahren, ging sie nach Deutschland, um am Reichsparteitag in  Nürnberg teilzunehmen. Dabei verliebte sie sich in Hitler. In der Nacht der Kriegserklärung richtete Unity eine Waffe gegen sich selbst. Sie überlebte, musste jedoch den Rest ihres Lebens von ihrer Mutter umsorgt werden.

Ihre Schwester Jessica war das genaue Gegenteil. Sie brannte mit Esmond Romilly durch, der im spanischen Bürgerkrieg gegen Franco gekämpft hatte, und ging nach Spanien. Allerdings zog er in den Zweiten Weltkrieg und kehrte nie mehr zurück.

Mit ihrem zweiten Ehemann, einem Amerikaner, schloss sie sich der Kommunistischen Partei an und war jahrelang ein aktives Mitglied.

Zu guter Letzt gab es noch die Jüngste, Deborah. Die Familie hoffte lange auf einen zweiten Sohn, sodass mit ihrer Geburt im Jahr 1920 bittere Enttäuschung einherging. Dennoch kann man sie durchaus als die gescheiteste und erfolgreichste der Mitford Schwestern betrachten.

Sie heiratete Andrew, den zweiten Sohn des Duke of Devonshire. Als sein Bruder im Krieg umkam, erbte er überraschend den Titel und das riesige Anwesen. Das Ehepaar machte Chatsworth zu einem der herrschaftlichsten Anwesen Großbritanniens und lebte dort mehr als sechzig Jahre glücklich verheiratet.

Über die Autorin

Jessica Fellowes, bekannt durch ihre Begleitbücher zur weltberühmten Serie „Downton Abbey“, arbeitet als Journalistin und Referentin und war früher als stellvertretende Chefredakteurin von Country Life tätig. Sie ist die Nichte von Julian Fellowes, Schauspieler, Romanautor und Verfasser der „Downton Abbey“-Drehbücher. Jessica Fellowes lebt mit ihrer Familie, einem Labradoodle und zwei Hühnern in Oxfordshire.

Freitag, 24. August 2018 von Piper Verlag