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Jagdgeflüster

Jagdgeflüster

Sabina Altermatt
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Kriminalroman

„Ein spannender Krimi mit unerwarteten Wendungen (...) Einmal in die Hand genommen, legt man dieses Buch nicht wieder weg.“ - Ostthüringer Zeitung

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Jagdgeflüster — Inhalt

Rea arbeitet noch nicht lange als Försterin in den Bündner Bergen, als sie im Wald die ausgeweidete Leiche des Gemeindepräsidenten findet. Dieser hat im Vorjahr eine weiße Gämse geschossen, und der Sage nach stirbt, wer eine solche tötet, binnen eines Jahres. Am nächsten Tag wird Reas Forstwart Mario verhaftet; die tödliche Kugel stammt aus seinem Gewehr. Rea glaubt als Einzige an Marios Unschuld, doch dann flieht er und steht plötzlich vor ihrer Tür …

€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 14.09.2015
240 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-96918-5
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Leseprobe zu „Jagdgeflüster“

Prolog

Im Wald war es still. Das Licht arbeitete allmählich die Konturen aus der Landschaft. Was vorher flach wie ein Gemälde erschien, wurde greifbar. Tiefe tat sich auf. Die Bäume standen nicht mehr aufgereiht, sondern zueinander im Raum. Die Stämme wurden rund. Das eintönige Grau löste sich in Grün- und Brauntöne auf.

Ein schriller Pfiff durchbrach die Stille. Ein Vogel flog auf. Luft rauschte, die durch seine Flügel zog.

Der Boden war mit Lärchennadeln vom Vorjahr bedeckt. Tautropfen klebten an den Grasbüscheln und reflektierten das erste Licht. Eine [...]

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Prolog

Im Wald war es still. Das Licht arbeitete allmählich die Konturen aus der Landschaft. Was vorher flach wie ein Gemälde erschien, wurde greifbar. Tiefe tat sich auf. Die Bäume standen nicht mehr aufgereiht, sondern zueinander im Raum. Die Stämme wurden rund. Das eintönige Grau löste sich in Grün- und Brauntöne auf.

Ein schriller Pfiff durchbrach die Stille. Ein Vogel flog auf. Luft rauschte, die durch seine Flügel zog.

Der Boden war mit Lärchennadeln vom Vorjahr bedeckt. Tautropfen klebten an den Grasbüscheln und reflektierten das erste Licht. Eine Ameise versuchte, einen Käfer, der dreimal so groß war wie sie, über einen Ast zu transportieren. Es roch nach Harz und Moos.

Hinter dem Berg drückte ein heller Schein hervor. Bald würde die Sonne die Landschaft in Herbstlicht tauchen, die Lärchen orange leuchten.

Alles war wie jeden Morgen. Nur eines störte. Da hing etwas kopfüber an einem Baum. Etwas, das hier nicht hingehörte. Jetzt war auch ein leises Klopfen zu hören. Tock, tock, tock. Tropfen fielen auf den moosbedeckten Boden. Und färbten ihn rot.

„ Mama, haben braune Bären auch weiße Flügel ? “

„ Wie bitte ? “ Rea zog die Küchenschublade auf, schob Stifte, Schere und ein Schnurknäuel umher, hob eine Beige Notizblöcke auf, obwohl sie wusste, dass er hier nicht war. Den Tisch im Wohnzimmer, der von Zeitungen und Kinderbüchern bedeckt war, hatte sie bereits zweimal abgesucht. Nichts.

Rea schaute auf die Uhr. Halb sieben. Sie durfte nicht wieder zu spät kommen.

„ Ob braune Bären auch weiße Flügel bekommen ? “, fragte Luisa etwas lauter.

Rea schob die Schublade zu und drehte sich um. „ Wieso sollten Bären Flügel bekommen ? “

„ M13 wurde doch erschossen. “ Luisa stocherte mit dem Löffel in ihrem Müsli herum.

„ Und was hat das mit Flügeln zu tun ? “ Rea lief in den Flur. Irgendwo musste dieser blöde Schlüssel doch sein.

„ Werden denn Bären keine Engel ? “, rief ihr Luisa hinterher.

Rea durchsuchte die Taschen ihrer Faserpelzjacke. Nichts außer ein paar Tannennadeln. Hatte sie den Schlüssel etwa im Auto gelassen ?

Es war spät geworden gestern Abend. Die Forstwarte hatten die gefällten Stämme gerüstet, bis es dunkel wurde und man nichts mehr sah. Sie mussten unbedingt fertig werden. Denn heute begann die Jagd, und da wollte Rea nicht in den Wald gehen.

„ Mama ! “

„ Was ! “ Rea schaute in den Taschen ihrer orangen Warnweste nach. Doch die hatte sie gestern gar nicht getragen.

„ Die Bären. Werden sie keine Engel ? “

„ Keine Ahnung, das hab ich mir noch nie überlegt. “

„ Dann kommt M13 gar nicht in den Himmel ? “

Rea hörte ein Schluchzen. Sie ging in die Küche zurück. „ Was hast du, Luisa ? “

Ihre Tochter saß weinend am Tisch. Rea suchte in ihrer Hosentasche nach einem Nastuch. Doch stattdessen ertastete sie den Schlüsselbund. Sie schüttelte den Kopf, schob die Schlüssel wieder zurück, riss ein Haushaltspapier von der Rolle, die auf der Küchenkombination stand, kniete sich vor Luisa nieder und trocknete ihr die Tränen.

„ Und wo ist M13 jetzt ? “, schluchzte Luisa.

Rea blickte auf die Uhr. „ Der ist bestimmt im Bärenhimmel. “

„ Doch im Himmel ? Und die Flügel ? “

„ Ich weiß nicht, ob Bären Flügel bekommen. “ Rea strich Luisa über den Kopf und küsste sie aufs Haar.

„ Aber es kommen doch nur Engel in den Himmel. Und die haben Flügel. “ Luisa breitete ihre Arme aus und schwang sie auf und ab, als ob sie gleich abheben wollte.

„ Dann hat er bestimmt auch Flügel bekommen “. Rea schaute wieder auf die Uhr. „ Wir müssen los. Sonst kommen wir zu spät. “

„ Aber sind sie jetzt braun oder weiß ? “

„ Wer ? “

„ Die Flügel ! “

„ Iss jetzt dein Frühstück, wir sind spät dran. “ Rea schaufelte das restliche Müsli auf den Löffel und hielt ihn Luisa hin. Die schaute sie mit zugekniffenem Mund an.

„ Ich denke, die sind immer weiß “, sagte Rea.

__________


Sie fühlte sich jedes Mal wie eine Rabenmutter, wenn sie Luisa bei Leta absetzte. Dabei gab es keinen Grund, sich Schuldgefühle einzureden. Schließlich war Leta für die Kleine wie eine zweite Mutter. Und für Rea war Leta zur Freundin geworden.

Als sie vor einem Jahr aus Chur hierhergezogen war, hatte sie niemanden gekannt. Und das war auch eine ganze Weile so geblieben. Offenbar wollten die Zuorter nichts mit ihr zu tun haben, einer Frau, die mit einem kleinen Kind und ohne Mann in ein Bergdorf zog. Und dann noch als Försterin arbeitete. Vor allem die Frauen sahen sie schräg an. Bis Rea jemanden für Luisa suchte. Da der Kindergarten erst um acht anfing, sie jedoch bereits um sieben Uhr im Werkhof sein musste, brauchte sie jemanden, der Luisa in den Kindergarten brachte und an den freien Nachmittagen hütete. Rea hatte im Dorfladen einen kleinen Aushang gemacht. Da wurden auf einmal alle nett. Offenbar unterstützte man eine hilfs­bedürftige Frau gerne.

Rea entschied sich für Leta, die hier aufgewachsen war und im Haus ihrer Großtante etwas abseits oberhalb des Dorfes wohnte. Sie war Fotografin und froh um den zusätzlichen Verdienst.

Wenn die Zeit reichte, trank sie bei Leta meistens noch einen Kaffee. Aber heute war sie so spät dran, dass sie sich von Luisa unter der Haustür hatte verabschieden müssen. Dabei hätte sie sich nicht so zu beeilen brauchen. Heute war ihr Bürotag. Am ersten Tag der dreiwöchigen Jagd war sie immer im Werkhof und hielt sich vom Wald fern. Da spielte es keine Rolle, ob sie nun eine Stunde früher oder später anfing. Meistens hatte sie an diesen Tagen keine Termine, sondern musste nur Büro­kram erledigen. Doch sie konnte es sich nicht mehr erlauben, zu spät zu kommen.

Rea mochte diese Tage im Büro nicht. Sie hatte das Gefühl, dass ihr der Stuhl am Hintern anwuchs. Am Abend war sie meistens seltsam erschöpft, eine stumpfe Müdigkeit. Ganz anders nach einem Tag im Wald und an der frischen Luft. Da war es eine angenehme Schwere, eine tiefe und entspannte Müdigkeit, die sie gut schlafen ließ und erholt aufwachen.

Sie parkte den roten Subaru vor dem Werkhof. Das Gebäude war ganz aus Holz. Vorne hatte es drei große Tore für die Feuerwehrautos. Im ersten Stock brannte Licht. Ihr Chef musste bereits im Büro sein.

Rea betrat den Windfang und nahm die Treppe in den ersten Stock.

Reto Grond war im Telefon. „ Das ist nicht gut ! “ Er blickte Rea an. „ Da kommt sie gerade. “ Er schaute auf seine Armbanduhr, zog die Augenbrauen in die Höhe. „ Ich schicke sie gleich hin. Danke für den Anruf.
A revair ! “ Er hängte auf.

„ Ist etwas passiert ? “, fragte Rea.

„ Du musst unbedingt ins Val Fluors. Da liegt eine Tanne quer auf dem Wanderweg. “

„ Kann das nicht einer der Forstwarte … ? “

„ Denen hast du doch heute freigegeben. Wegen des ersten Jagdtages. “

Genau, das hatte sie getan, um nicht in den Wald gehen zu müssen. „ Und wo liegt diese Tanne ? “

„ Etwa hundert Meter von Florineths Jagdhütte entfernt. “ Grond notierte etwas auf einen Zettel.

„ Wie groß ist der Baum ? Kann das nicht warten ? “

„ Nein, das kann es nicht. Der Chef vom Hotel Bellaval hat angerufen. Seine Gäste haben sich beschwert. “

Und für die Touristen machen wir alles. Rea ging ins Materiallager, holte eine Motorsäge und prüfte, ob der Tank voll war.

Eigentlich freute sie sich darauf, wieder einmal selber Hand anzulegen. Sonst war es ihr Job, die Arbeiter zu überwachen. Einen Baum in Stücke zu sägen, das hatte etwas. Wenn sich eine frisch geschärfte Sägekette geschmeidig durch das Holz fraß, wie durch Butter. Dann der Geruch von frisch geschnittenem Holz.

Doch am ersten Jagdtag in den Wald zu gehen, an dem die Jäger nervös auf alles zielten, was sich bewegte, das war ihr nicht geheuer. Wenigstens musste sie sich nicht mehr vor M13 in Acht nehmen, der sich seit dem Frühling im Val Fluors herumgetrieben hatte. Der Jagd­inspektor hatte ihn Ende Sommer abschießen lassen. Rea war davor nur noch singend durch den Wald gegangen in der Hoffnung, dass keiner der Forstwarte sie hörte. Der Abschuss hatte große Wellen geworfen. Insbesondere die Unterländer waren entsetzt gewesen. Sie konnten nicht verstehen, wieso es in den Bergen nicht genug Platz für einen Bären hatte. Und wieso sich die Bergbevölkerung über seine Existenz so aufregte.

__________


Das Val Fluors ging auf der Höhe von Zuort vom Val Chava Richtung Nordosten ab. Der Subaru holperte über die Straße, die nach ein paar Hundert Metern nicht mehr geteert war. Bei Resgia verengte sich das Tal, um sich nachher wieder zu öffnen. Die Berghänge schwangen sich lieblich in die Höhe, grüne Wiesen gingen in Tannenwälder über. Darüber thronte felsig der Piz Staila. Wie meistens war er auch heute mit ein paar Wolken umhüllt, was ihm etwas Majestätisches und Geheimnisvolles verlieh.

Ein paar Kühe standen mitten auf dem Feldweg. Rea verlangsamte, ohne dabei anzuhalten. Langsam trottete das Vieh zur Seite. Rea überquerte die Brücke, die über die Clozza führte.

Beim Plaun da Chavas parkierte sie den Subaru. Den Rest der Strecke musste sie zu Fuß gehen. Von hier führte der Wanderweg in weiten Kehren hinauf zum Piz Staila. Doch sie wollte nicht den Umweg über die Alp Suot machen. Das würde sie eine zusätzliche halbe Stunde kosten. Sie würde eine Abkürzung nehmen. Rea öffnete die Hecktür des Kombis und griff nach der Motor­säge. Erst jetzt merkte sie, dass sie ihre normale Arbeitshose trug und vergessen hatte, die Schnittschutzhose mitzunehmen.

Was war nur los mit ihr ? Die letzten paar Wochen war sie so unkonzentriert, verlegte alles, war immer am Suchen. Einmal war es der Schlüssel, den sie partout nicht finden konnte, dann das Handy. Das letzte Mal war es vor einem Jahr so gewesen. Aber das hatte damals auch seinen Grund gehabt. Martin. Dabei hatte alles so gut angefangen …

„ Ist hier noch frei ? “

Das Café liegt an einem Platz, der früher stark befahren war. Heute ist er verkehrsberuhigt. Töpfe und Pflanzkisten grenzen den Sitzbereich ab. Die Blumenstauden leuchten in sattem Grün. Die Akeleien zeigen bereits ihre filigranen Blüten. Es ist einer der ersten warmen Frühlingstage. Der Mann mit der Sonnenbrille und dem weißen T-Shirt schaut auf und nickt. Dann vertieft er sich wieder in seine Zeitung.

Rea setzt sich und bestellt einen Milchkaffee. Sie nimmt den Zürcher Wald aus ihrer Tasche und blättert darin herum. Dann legt sie die Zeitschrift auf den Tisch und sieht sich um. Sie ist das erste Mal hier. Fast alles junge Leute um die dreißig wie sie. Viele Mütter mit Kinderwagen. Mittendrin ein großer Baum mit bunten Fähnchen. Sie beobachtet eine Frau, die mit ihrer Freundin diskutiert und dabei das Baby wiegt, das sie vor den Bauch geschnallt hat.

„ Das nenne ich Multitasking. “ Der Mann, der ihr gegenübersitzt, muss sie beobachtet haben.

„ Ich bewundere Mütter, die alles so nebenbei machen “, sagt Rea und schaut den Mann an. Er hat seine Sonnenbrille abgenommen. Ein jungenhaftes Gesicht und hellbraune Rehaugen. Die kurzen Haare stehen an der Stirn etwas vor.

„ Hast du Kinder ? “, fragt er und zieht eine Zigarette aus dem Pack, das vor ihm auf dem Tisch liegt.

„ Nein. “

„ Und wieso nicht ? “

Rea denkt nach. „ Vielleicht, weil ich noch nicht den richtigen Vater für mein Kind gefunden habe ? “

„ Das ist ein gutes Argument. “ Er steckt die Zigarette in den Mund und zündet sie an. Dann schaut er Rea lange an.

Sie hält es fast nicht mehr aus, da kommt die Kellnerin und bringt den Kaffee. Der Schaum ist mit einem Pflanzenornament verziert.

„ Das machen sie hier sehr liebevoll “, sagt der Mann, als die Kellnerin wieder gegangen ist. Dann schaut er Rea wieder an mit seinen braunen Augen. „ Du wärst eine gute Mutter. “

Rea lacht. Ein hohes Lachen. Zu hoch, um nicht verlegen zu klingen. Der Mann bringt sie in Verlegenheit. Rea fragt sich, wieso. Sie kann es sich nicht erklären.

Sie trinkt ihren Kaffee in großen Schlucken. Schielt nach der Bedienung, um zahlen zu können.

„ Du interessierst dich für den Wald ? “ Er fährt die Zigarette drehend am Rand des Aschenbechers entlang, um die Asche abzustreifen.

„ Ich bin Försterin. “

„ Försterin ? “

„ Genau. Wie ein Förster. Nur einfach als Frau. “ Sie sieht ihn an, wie er sich nun vorstellt, wie sie einen Baum fällt. „ Wir haben heute Motorsägen, und die können durchaus auch Frauen bedienen. “

„ Aber nein, das wollte ich doch gar nicht sagen. Ich traue den Frauen viel zu. “

„ Da bin ich aber beruhigt. “ Rea lacht. Diesmal klingt es echt. „ Und was machst du so ? “

„ Nichts Besonderes. Ich arbeite auf einer Bank. Darf ich dich trotzdem zu einem Drink einladen ? “ Er schaut auf die leere Kaffeetasse.

„ Wieso trotzdem ? Weil du auf einer Bank arbeitest ? “

„ Weil du offenbar eine emanzipierte Frau bist. “ Er drückt die Zigarette aus.

„ Emanzipiert ist vielleicht das falsche Wort. Sagen wir mal eigenständig. Und wieso sollte sich eine eigenständige Frau nicht einladen lassen ? “

„ Was darf ich dir bestellen ? “

„ Gerne ein Glas Weißwein. “

„ Ich bin übrigens Martin. “

„ Rea “, sagt Rea und blickt in seine Rehaugen. Diesmal hält er ihrem Blick nicht stand. Martin scheint nicht so forsch zu sein, wie er sich gibt. Vielleicht will er damit nur seine Unsicherheit überspielen. Irgendetwas ist seltsam an ihm und gleichzeitig faszinierend …

Eigentlich hätte sie es damals schon merken können. Sie schob den Gedanken an Martin beiseite. Bestimmt hatte ihre momentane Verwirrtheit damit zu tun, dass sie sich selber vergaß, weil sie so damit beschäftigt war, für Luisa einen einigermaßen normalen Alltag zu gestalten.

Immerhin hatte sie eine Ersatzwarnweste im Auto. Sie zog sie an und stieg durch den Wald den Berg hoch. Sie staunte immer wieder, wie es möglich war, dass an so steilen Hängen Bäume wuchsen, die kaum Halt im steinigen Boden fanden. Wo nahmen sie den Mut her ?

Sie ging durch einen Jungwuchs und blieb stehen. Hier müsste man ein paar Bäume fällen. Die jungen Pflänzchen brauchten Morgensonne, sonst würde daraus nichts. Sie nahm das kleine Schreibheft aus der ­Tasche ihres Faserpelzes und machte eine kurze Notiz.

Da ertönte ein Schuss, dann noch einer. Zerschnitt die Stille. Hallte wider. Ein paar Vögel flatterten auf.

Wahrscheinlich hatte ein Jäger seine Beute verfehlt und musste zum Nachschuss ansetzen. Oder der zweite Schuss war bloß das Echo des ersten gewesen.

Dann war es wieder ruhig. Nur das Rauschen des Windes in den Bäumen war zu hören. Sie stieg den Berghang hoch, die Säge wurde immer schwerer.

Endlich sah sie Florineths Jagdhütte zwischen den Bäumen. Ein einfaches Blockhaus. Ein paar Meter weiter oben musste der Wanderweg sein. Sie ging am Haus vorüber, dessen Holz von der Witterung ganz grau geworden war.

Seltsam, die Tür stand offen.

Rea warf einen Blick ins Innere. In der Hütte des Gemeindepräsidenten war niemand. Auf dem Holztisch standen ein benutzter Teller und ein halb aus­getrunkenes Glas Rotwein. Offenbar genehmigte sich Florineth schon zum Frühstück einen Zweier, um sich Mut für die Jagd anzutrinken. Obwohl die Türe offen stand, war es ziemlich stickig. In einer Ecke lag ein zerknüllter Schlafsack auf einem alten Eisenbett. Es sah aus, als ob Florineth hier übernachtet hätte.

Sie schloss die Tür und stieg zum Wanderweg hoch, schaute dabei nach links und nach rechts. Sie hatte keine Ahnung, in welcher Richtung dieser Baum auf dem Weg lag.

Rea versuchte es zuerst nach rechts. Als sie nach fünfhundert Metern abwärts keinen Baum liegen sah, drehte sie um und nahm den Weg zurück.

Sie kam nochmals an der Jagdhütte vorbei. Und erstarrte. Die Tür stand wieder offen. Der Wind musste sie aufgestoßen haben. Sie blickte nach oben ins Geäst. Die Blätter der riesigen Eiche bewegten sich nicht. Auch war alles still. Es ging gar kein Wind. Oder war Florineth zurückgekehrt ? Sie stellte die Motorsäge am Wegrand ab, schaute in die Hütte, die immer noch leer war, ging um sie herum. Nichts außer einem offenen Kerichtsack, der hinter dem Haus stand. Ein Tier musste darin gewühlt haben. Der ganze Inhalt lag auf dem Waldboden verteilt. Sie nahm den Weg aufwärts in die andere Richtung. Ein weiterer Schuss ertönte. Diesmal ganz nahe.

Um sich zu beruhigen strich Rea mit beiden Händen über die orange Warnjacke, die sie über dem Faselpelzpullover trug. In diesem Moment fiel ihr ein, dass sie die Motorsäge bei der Hütte hatte stehen lassen. Sie ging zurück und hob sie auf.

Gerade als sie sich umdrehen wollte, sah sie etwas aufblitzen. Oben auf einer kleinen Anhöhe zwischen den Bäumen. Ein weißes T-Shirt vielleicht. Ein Wanderer abseits des Weges.

Sie versuchte den Gedanken an Martin zu verdrängen. Aber es gelang ihr nicht …

Der Friedhof liegt mitten in der Stadt. Alte Baumbestände säumen die Wege, die labyrinthartig durch die Anlage führen. Sie sind schon fast eine Stunde unterwegs. Haben Grabinschriften gelesen und die Stiefmütterchen angeschaut, die in allen möglichen Farbkombinationen die Gräber zieren und sie seltsam anzustarren scheinen. An einer Ecke stehen blecherne Kannen, die auf ihren Einsatz warten. In großen Körben aus Maschendraht liegen verblühte Blumen und ausgebrannte Grabkerzen.

Die Vergänglichkeit machte auch vor einem Friedhof nicht halt.

Bei der Magnolie bleiben sie stehen. Wie blassrosa Schmetterlinge sitzen die Blüten auf den Ästen.

Martin nimmt ihre Hand. „ Weißt du noch, als wir uns in diesem Café kennengelernt haben ? Wie wir über Kinder gesprochen haben ? Dass du noch nicht den richtigen Vater gefunden hast ? “

„ Ja, daran kann ich mich gut erinnern. Damals wusste ich noch nicht, dass du immer weiße T-Shirts trägst. “ Sie fährt ihm über die Brust. „ Und wie wir ziemlich betrunken nach Hause geschwankt sind. Natürlich jeder in seine eigene Wohnung. Wie sich das gehört. Und als du mich am nächsten Tag angerufen hast, habe ich gerade einen Wildschutzzaun repariert und dann … “

„ Hast du ihn jetzt gefunden ? “

„ Wen ? “

„ Den richtigen Mann. “

„ Du möchtest ein Kind ? “

Sie stellt sich selbst schwanger vor mit riesigem Bauch. Und dann das Kind. Die kleinen Hände mit den noch kleineren Fingern, die ihren Zeigefinger umklammerten.

Doch da ist noch etwas anderes. Ein anderes Gefühl. Sie weiß nicht recht, was es ist. Vielleicht Angst. Angst vor dem Neuen. Angst, keine gute Mutter zu sein.

Martin drückt ihre Hand fester. „ Stimmt etwas nicht ? Habe ich eine falsche Frage … ? “

„ Nein, alles in Ordnung. Ich möchte auch ein Kind. Von dir. “ Ihre Worte tönen seltsam hohl.

Sie kommen an ein paar Gräbern vorbei, die mit bunten Fähnchen, die sich im Wind drehen, mit Girlanden, Plüschtieren und anderen Spielsachen versehen sind. Das müssen die Kindergräber sein …

„ Hallo ? “ Rea rief, doch es antwortete niemand. Sie stellte die Säge wieder ab und kraxelte auf allen vieren den Hang hoch, hielt sich an Grasbüscheln und Baumstämmen fest. Als sie fast oben war und wieder aufschaute, war der weiße Fleck verschwunden. Den letzten Meter hievte sie sich in die Höhe und strich sich die Haare aus dem verschwitzten Gesicht. Sie lehnte sich mit dem Rücken an einen Stamm. Ihr Blick fiel auf ­einen Baum weiter oben. Da hing etwas an einem Ast. Vielleicht ein Sack. Langsam ging sie näher heran. Ein Zweig knackte unter ihren Schuhen. Sie fuhr zusammen.

Jetzt sah sie, dass es von der Form her kein Sack sein konnte, es war länglich – oben festgebunden und unten hing etwas herab. Da musste jemand ein Tier zum Ausbluten aufgehängt haben. Sie stieg weiter den Hang hoch. Aber das waren keine Hufe, die da mit Seilen an zwei Bäumen festgebunden waren. Es waren Füße.

Rea ging näher heran. Da hing ein Körper. Er war vom Brustbein bis zum Penis aufgeschnitten. Der Bauchraum eigenartig eingefallen. Jemand musste die Innereien entfernt haben. Der Kopf hing nach unten. Sie ging in die Knie, um das Gesicht besser sehen zu können. Der Körper drehte sich langsam zur Seite, sodass sie nur noch den Hinterkopf sah. Vorsichtig kroch sie um ihn herum. Vor lauter verkrustetem Blut war kaum etwas erkennbar. Doch nach einer Weile hatte sie Gewissheit. Es war Florineth, der Gemeindepräsident, der da aufgeknüpft und kopfüber an einem Baum hing. Ihr wurde übel.

Da fühlte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Sie schrie auf und fuhr herum. Dabei stieß sie an den Leichnam und schrie gleich nochmals.

„ Es ist also doch wahr. “ Hinter ihr stand Mario Toma­schett, einer ihrer Forstwarte. Die rote Dächlikappe, die er immer trug, hatte er wohl der Jagd wegen durch eine grüne ersetzt.

„ Was ist wahr ? “, stammelte Rea.

„ Dass man innerhalb eines Jahres tot ist, wenn man eine weiße Gämse schießt. “

„ Eine weiße Gämse ? “

„ Weißt du nicht mehr ? Der Florineth hat letztes Jahr oberhalb der Alp Valmala eine vierjährige Gämsgeiß geschossen. “

Jetzt erinnerte sich Rea wieder. Es hatte einen kleinen­ Aufruhr im Dorf gegeben. Die Jäger waren aufge­bracht gewesen, ebenso der Wildhüter, der die Jägerschaft­ darum gebeten hatte, das Albinotier zu verscho­nen. Das sei doch keine Vorbildfunktion, hatte er gesagt. Florineth hatte damals gemeint, sie seien alle nur neidisch, denn mit Sicherheit hätte wohl jeder die Gämse geschossen, wenn er die Möglichkeit dazu gehabt hätte.

„ Ich mochte ihn nicht wirklich. Aber so ein Ende habe ich ihm nun auch nicht gewünscht. “ Mario schaute betroffen.

„ Mein Freund war er auch nicht mit seinem Tourismusfimmel. – Was machst du überhaupt hier ? “

„ Na, was wohl. “ Er deutete auf sein Gewehr, das über der Schulter hing. „ Und du ? “

„ Da liegt eine Tanne auf dem Wanderweg, die sollte ich … “

„ Aber das ist hier nicht der Wanderweg. “

„ Ich dachte, ich hätte hier oben jemanden gesehen. – Wir müssen die Polizei informieren. “ Rea wollte nach ihrem Handy greifen, doch es war nicht in der Tasche. „ Ich hätte schwören können, dass ich es heute Morgen … “

„ Da, nimm meines. “ Er streckte ihr sein uraltes, abgewetztes Modell hin.

Bereits nach dem ersten Klingeln nahm jemand ab. Die Polizei befahl ihnen, an Ort und Stelle zu warten und nichts anzufassen.

„ Und was ist mit der Tanne ? “, fragte Rea Mario, nachdem sie den Anruf weggedrückt hatte.

„ Die liegt schön neben dem Weg und tut niemandem etwas. “

„ Neben dem Weg ? “

„ Ja, ich hab sie auf die Seite gezogen, als ich vorher dran vorbeigekommen bin. “

„ Dann war sie also nicht groß ? “

„ Doch, die hatte einen schönen Durchmesser. “ Er formte beide Arme zu einem Kreis, als ob er jemanden umarmen würde.

Rea staunte immer wieder, wie kräftig diese Burschen waren.

Mario ging näher zur Leiche hin und betrachtete sie von oben nach unten. „ Ausgenommen wie eine Wildbeute. Wirklich kein schönes Ende. “

Sabina Altermatt

Über Sabina Altermatt

Biografie

Sabina Altermatt, geboren 1966, ist in den Schweizer Alpen geboren und aufgewachsen. Sie studierte Staatswissenschaften an der Hochschule St. Gallen. Heute unterrichtet sie Strafgefangene und lebt sie als freie Schriftstellerin in Zürich und im Glarnerland. Sie schreibt Kolumnen, Kurzgeschichten,...

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„Ein spannender Krimi mit unerwarteten Wendungen (...) Einmal in die Hand genommen, legt man dieses Buch nicht wieder weg.“

Schweizer Jäger

„Absolut empfehlenswert“

Fridolin

„die Lektüre lässt zuweilen fast nicht mehr los“

Fluid

„ein faszinierender, vielschichtiger Krimi, der seinen Leser von Anfang an in den Bann zieht. Damit eignet es sich prima als Lektüre für ein nebeliges Herbstwochenende auf dem heimischen Sofa.“

Ingrid Noll

„Sabina Altermatt hat eine spannende Geschichte geschrieben, die im engadiner Zuort spielt. Ich habe diesen Krimi in einem Rutsch und mit Vergnügen gelesen und mich über die Protagonistin Rea amüsiert, die nach und nach lebendig vor mir stand.“

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