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Hoffnung auf eine glückliche Zukunft (Die Frauen vom See 1)

Gaby Hauptmann
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Die Frauen vom See

„Gaby Hauptmann breitet mit dieser zutiefst menschlichen Geschichte ein großes Panorama der Zeit aus.“ - Ruhr Nachrichten

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Hoffnung auf eine glückliche Zukunft (Die Frauen vom See 1) — Inhalt

Mutig und unbeirrbar – eine Frau und ihr Lebenstraum

Am Bodensee, es ist 1913. Anna muss die Familie verlassen, da ist sie gerade dreizehn. Doch sie ist zielstrebig und selbstbewusst genug, um ihr Schicksal in beide Hände zu nehmen. Und als sie August kennenlernt, der sich auf der Stelle in ihre frische Art verliebt, scheint ihr Glück perfekt.

Bald stürzen die beiden sich in ein großes Abenteuer und kaufen sich einen alten Gasthof am See: ein Abenteuer, von dem sie nicht ahnen, wie groß es werden wird. Denn die Familie wächst – und es kommen Inflation und Krieg. Anna weiß nur eins: August und sie werden den Gasthof um keinen Preis aufgeben ...

Eine einzigartige Heldin und der Anfang einer furiosen Bodensee-Saga!

„Gaby Hauptmann entführt mich an einen meiner Sehnsuchtsorte: ihre Bodensee-Saga ist ein mitreißendes, spannendes und ganz und gar emotionales Lesevergnügen, das man sich nicht entgehen lassen darf.“ Gisa Pauly

„Neben der abwechslungsreichen und mitunter (...) ziemlich spannenden Handlung erfreut das Buch nicht zuletzt durch die sympathischen und sehr nachvollziehbaren Beschreibungen.“ Südkurier

€ 17,00 [D], € 17,50 [A]
Erschienen am 29.02.2024
416 Seiten, Klappenbroschur
EAN 978-3-492-06478-1
Download Cover
€ 14,99 [D], € 14,99 [A]
Erschienen am 29.02.2024
416 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-60631-8
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„Gaby Hauptmann breitet mit dieser zutiefst menschlichen Geschichte ein großes Panorama der Zeit aus.“
Ruhr Nachrichten

Leseprobe zu „Hoffnung auf eine glückliche Zukunft (Die Frauen vom See 1)“

Über Nacht hatte es noch einmal geschneit. Der Frühling brauchte hier oben immer länger als anderswo. Der Wind pfiff über die Hochebene und trieb den frisch gefallenen Schnee wie einen feinen weißen Schleier vor sich her.

Anna war aus der Tür getreten und schob sich das schwere Schultertuch schützend über ihre Haare, dann drehte sie sich zu ihrer Mutter um, die hinter sie getreten war, einen kleinen Koffer in der Hand.

„Gott schütze dich, mein Kind“, sagte sie, Tränen in den Augen. Anna nickte, sprechen war ihr nicht möglich. Es war der Abschied, [...]

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Über Nacht hatte es noch einmal geschneit. Der Frühling brauchte hier oben immer länger als anderswo. Der Wind pfiff über die Hochebene und trieb den frisch gefallenen Schnee wie einen feinen weißen Schleier vor sich her.

Anna war aus der Tür getreten und schob sich das schwere Schultertuch schützend über ihre Haare, dann drehte sie sich zu ihrer Mutter um, die hinter sie getreten war, einen kleinen Koffer in der Hand.

„Gott schütze dich, mein Kind“, sagte sie, Tränen in den Augen. Anna nickte, sprechen war ihr nicht möglich. Es war der Abschied, vielleicht für immer.

Sie bückte sich nach dem Koffer und ging ihrem Bruder entgegen, der den Braunen angeschirrt hatte, um sie mit ihrem kleinen Pferdefuhrwerk nach Tuttlingen zum Bahnhof zu bringen. Der Braune schnaubte, und es bildeten sich Wölkchen in der kalten Luft. Anna spürte, wie ihr Herz schwer wurde. Ihre Familie, der Hof, das Pferd – alles hatte sie seit ihrer Geburt begleitet. Dreizehn Jahre lang. Und nun sollte sie einfach gehen?

Sie drehte sich ein letztes Mal zu ihrem Elternhaus um. Ihre Mutter stand noch in der Tür, hob die Hand. Sie war erst 53 Jahre alt, doch selbst aus der Entfernung war ihr das harte Leben auf dem einsamen Gehöft anzusehen. Elf Jahre schon Witwe.

Annas Bruder schnalzte. Die Aufforderung galt ihr, nicht dem Braunen. Anna riss sich von dem Bild los. Es würde ihr ewig in Erinnerung bleiben, das wusste sie jetzt schon. Das verschneite Haus, die Mutter, ihre letzte Geste, ihre Einsamkeit.

Sie kletterte zu Johann hoch auf das Sitzbrett, das er mit einer schnellen Handbewegung vom Schnee befreite. Er lächelte ihr zu, ein schiefes Lächeln unter seiner Schiebermütze.

„Dann auf“, sagte er. Der Braune zog an, und Anna musterte ihn von der Seite. Auch er sah älter aus, als er mit seinen 23 Jahren war.

„Was ist?“, fragte er und blinzelte ihr zu.

„Du siehst gut aus“, stellte Anna fest. Das stimmte. Sein Gesicht war kantig, sein Bart, in dem sich nun die Schneeflocken sammelten, männlich dicht, sein Körper kräftig. Ganz der Jungbauer, der alles im Griff hatte.

„Und das Mädchen aus Mühlheim?“, fragte Anna.

Vielleicht war ihr Bruder an einem Tag wie heute ja weniger wortkarg als sonst.

„Barbara?“

Anna nickte. „Wenn ihr heiratet, schreibst du mir dann?“

Johann kniff die Lippen zusammen. „Wohin?“

Sie wusste es selbst noch nicht. Der Pfarrer hatte ihr diese Stelle vermittelt. „Steckborn“, hatte er nach dem Gottesdienst zu ihrer Mutter gesagt. „Das ist eine Gemeinde am Untersee. In der Schweiz. Sie wird es dort gut haben.“

Und Anna wusste, was ihre Mutter in diesem Moment gedacht hatte: ein Esser weniger. „Ich schreib euch. Wenn ich dort bin“, sagte sie schnell.

Dann sahen sie beide wieder nach vorn. Wie der Braune sich mühte, den ausgefahrenen Weg zu finden. Und in Trab fiel, als es endlich bergab nach Mühlheim ging. Der Tag war bleigrau, trotzdem ragte die Kirchturmspitze klar in den Himmel. Anna betrachtete im Vorbeifahren das Kreuz und malte es sich dann unwillkürlich auf die Stirn.

„Es wird schon gut gehen.“ Johann sah ebenfalls zum Kirchturm hinüber. „Ende April“, sagte er. „Und wir haben Schnee. Vielleicht kann er ja machen, dass es bald Frühling wird und wir mit der Aussaat beginnen können.“

„Dafür ist er nicht da“, sagte Anna.

Johann zuckte mit den Schultern. „Praktisch wäre es schon.“

 

Eineinhalb Stunden hätte der Fußmarsch nach Tuttlingen bedeutet, nun waren sie nach kurzer Zeit, so empfand es Anna, bereits kurz vor der Stadt.

„Hast du schon mal so eine Dampflok gesehen?“, wollte Anna wissen und zog sich das wollene Schultertuch über der Brust enger zusammen. Sie fror. Aber mehr innerlich, denn ihr langer Webmantel wärmte sie gut.

„Aber klar doch!“

„Und weißt du, wo wir hinmüssen?“

„Den Bahnhof gibt es schon seit über vierzig Jahren. Werden wir wohl finden.“

„Was du alles weißt“, staunte Anna.

„1869 erbaut“, präzisierte Johann, und auf Annas ungläubigen Blick lachte er. „Ich war schon ein paarmal da. Ware holen. Franz kennt den Bahnhof auch.“ Er nickte nach vorn zu dem Braunen hin, der wieder in Schritt gefallen war. „Diese Dinger zischen, pfeifen und qualmen. Eiserne Ungetüme. Aber du kennst ja unseren Franz …“

 

Ja, sie kannte den Franz seit ihrer Kindheit. Wie oft hatte sie sich im Stall an ihn gekuschelt, in sein dickes Fell hineingeschnüffelt, seine warmen Nüstern gestreichelt. Was hatte sie ihm alles erzählt, ihre Ängste, ihre Sorgen, ihre Nöte. Franz war der unerschütterliche Fels in der Brandung, sein Gemüt war wie sein breiter Rücken und die stämmigen Beine – nichts konnte ihm was anhaben. Er war ihr Freund. Auch dieser Abschied tat weh. Anna zog die Nase hoch. Johann legte in einer brüderlichen Geste den Arm um sie und drückte sie an sich.

„Es war Mutters Entscheidung“, sagte er. „Und du wirst sehen, es ist eine gute Entscheidung.“

Anna nickte.

Glauben konnte sie es nicht.

 

Und dann waren sie am Bahnhof. Anna fand schon allein das Gebäude beeindruckend, von den vielen Fuhrwerken, Kutschen und Menschen ganz zu schweigen. Unheimlich, ja, sie fand alles unheimlich und hielt sich deshalb dicht an Johann, der Franz mit angezogener Fuhrwerkbremse einfach im dichten Getümmel hatte stehen lassen. Er warf ihr einen aufmunternden Blick zu, während er zielstrebig in das Gebäude und dort zu einem Schalter ging, hinter dem ein grimmig aussehender Mann in Uniform saß. Anna ließ ihn nicht aus den Augen und wartete ab, bis er zu ihr zurückkehrte. „Dein Fahrschein bis nach Schaffhausen“, sagte er und drückte ihr ein kleines Stück bedruckter Pappe in die Hand. „Verlier es nicht. Und in Schaffhausen musst du das Schiff finden. Bis nach Steckborn. Der Pfarrer hat dir ja alles genau erklärt. Und aufgeschrieben.“

Anna nickte und dachte: Wenn ich jetzt schon Angst habe, wie soll es erst werden, wenn ich alleine bin?

„Vergiss nicht“, erinnerte Johann eindringlich. „Du bist 13 Jahre alt. Du bist schon groß!“

Anna nickte.

„Und es sind deine Glückszahlen. Heute ist der 13. April. Dazu 1913! Und du bist 13! Das sind deine Zahlen! Besser geht es nicht!“

Anna nickte noch einmal und widerstand dem starken Drang, einfach umzukehren und sich mit Franz auf den Heimweg zu machen.

 

Zwanzig Minuten später saß sie kerzengerade auf einer Holzbank und blickte im Zugabteil angestrengt aus dem Fenster, hinaus auf die schnell vorbeiziehende Landschaft. Es war laut, es rumpelte, und der dunkle Rauch der Lok verschleierte immer mal wieder ihre Sicht. Ihr gegenüber saß ein Mann, der Zeitung las und zwischendurch einen Blick auf sie warf. Anna spürte es, wagte aber nicht, den Blick zu erwidern. In den sich leicht spiegelnden Scheiben musterte sie seinen dunklen Anzug. Alles war Furcht einflößend. Von dem Zylinder, den er neben sich gelegt hatte, über den Stehkragen mit der Krawatte bis zu den polierten schwarzen Schuhen wirkte er wie aus einer anderen Welt. Dazu sein Gehstock mit einem silbernen Knauf. Einem Löwenkopf. So etwas hatte Anna noch nie gesehen. Immerhin lenkte es sie von ihrer ungewissen Zukunft ab, vor allem, als er plötzlich die Zeitung anhob und mit seinem behandschuhten Zeigefinger auf eine Stelle tippte.

„Genau, was ich immer sage!“

Anna war sich nicht sicher, ob er sie angesprochen hatte oder eine der Frauen, die ihm schräg gegenübersaßen, deshalb reagierte sie nicht.

„Hier steht es auch“, er hob das Blatt etwas an. „Zur Ausfahrt aus Elternhaus und Schule ins Leben.“ Er schwieg bedeutungsvoll. „So ist die Überschrift. Und hier …“, nun war klar, dass er Anna meinte, „für die Jugend, die nun der Schule entwachsen ist. Hier steht: ›Es hilft, wenn die Jugend daran gewöhnt wird, zu erfassen, dass es für die Tüchtigkeit eines Menschen weniger darauf ankommt, welchem Beruf er sich zuwendet, sondern darauf, dass ihm überhaupt rege Betätigung des Geistes, der Sinne und des Körpers recht eigentlich zur zweiten Natur, zum unabweisbaren Bedürfnis wird.‹“ Er wartete kurz ab, Anna wusste nicht, ob sie etwas sagen sollte, eine der Frauen neben ihr bestätigte das Gehörte. „Ja, das ist wohl wahr!“

„Es geht noch weiter. Achtung“, sagte er und schob sich gewichtig seine Brille hoch. „›Wir sollen früh von der Überzeugung durchtränkt werden, dass unsere Zeit eine Zeit der Arbeit ist, die Zierbengel und Zierpuppen als faule Früchte auf dem Acker des Lebens unbarmherzig in den Winkel stellt. Arbeitslust ist der beste Führer durchs Leben. Junge Leute, die gehätschelt wurden, haben es schwer, voranzukommen!‹“

Gehätschelt. Anna sah den Hof vor sich. Das Wasser hatte sie Tropfen für Tropfen bis vor wenigen Jahren noch von einer tiefer gelegenen Quelle holen müssen. Der Weg war weit, steil und gefährlich, besonders bei Regen oder im Winter. Der alte Schafstall musste ständig geflickt werden, die kargen Felder bestellt, die Pacht an die Stadt Mühlheim ließ ihre Mutter oft ächzen. Einmal war Anna nachts hinuntergegangen, um etwas Wasser zu trinken, da hatte ihre Mutter unter dem fahlen Gaslicht auf der Küchenbank gesessen, den Kopf zwischen ihren Armen auf dem Tisch und so gotterbärmlich geweint, dass nicht nur ihre Schultern gezuckt, sondern der ganze Körper gebebt hatte. Anna würde nie vergessen, wie sie leise zu ihrem Strohsack zurückgeschlichen war und die ganze Nacht wach gelegen hatte.

Gehätschelt! Sie sah auf, und ihr Blick traf genau auf den ihres Gegenübers.

„Verzeihen Sie“, sagte sie und spürte, wie ihre Stimme bebte. „Ich weiß nicht, wie das ist, wenn man gehätschelt wird.“

Er antwortete zunächst nicht, und Anna überlegte, ob sie wohl vorlaut gewesen war? Das war Erwachsenen gegenüber eine Untugend, zumindest hatte ihnen das ihr Lehrer eingetrichtert. Wenn nötig mit dem Rohrstock.

„Das Fräulein kommt vom Land?“ Er beugte sich etwas zu ihr vor. War ihr das so direkt anzusehen? Sie schaute zu den beiden Frauen hinüber. Beide hatten dicke Wintermäntel an, die nur die geknöpften, feinen Stiefeletten sehen ließen. Die eine trug einen schräg aufgesetzten, hellbraunen Hut mit einer Stoffrose über dem Ohr, die andere einen dunkelgrünen Wollhut, der wie ein Topf aussah. Beide schienen am Fortgang der Geschichte interessiert zu sein, sie hatten sich dem Zeitung lesenden Herrn und ihr zugewandt. Er wartete ihre Antwort nicht ab. „Man erkennt es an den Schuhen.“ Er deutete auf ihre schweren, genagelten Stiefel. Ihr ganzer Stolz.

„Die sind beste Qualität“, sagte sie deshalb. „Vom Schuhmacher. Der, der auch unseren Franz beschlägt. Er kann einfach alles.“

Eine der Frauen kicherte.

Anna warf ihr einen Blick zu. „Mit solchen Schuhen kommen Sie bei uns jedenfalls nicht weit“, sagte sie und deutete auf die feinen Lederstiefeletten. „Da bleiben Sie gleich stecken!“

„Ich habe nicht die Absicht“, gab die Dame spitz zurück, während sich der Mann ihr gegenüber über seinen Schnurrbart strich. Fast schien er amüsiert.

„Nun, dann scheint dieser Artikel nicht für Sie geschrieben zu sein. Sie kennen Ihren Weg. Und der führt … wohin?“

Anna war sich nicht sicher, ob sie das preisgeben sollte. Aber so viel ging dann wohl schon: „Nach Schaffhausen.“

„Eine schöne Stadt.“ Er faltete die Zeitung zusammen. „Waren Sie schon mal in einer so großen Stadt wie Schaffhausen?“

Anna schüttelte den Kopf.

„Dann passen Sie auf, dass Sie nicht verloren gehen.“

 

Das Gefühl hatte sie dann aber doch, als sie mit ihrem Koffer in Schaffhausen ausgestiegen und im Stationsgebäude ratlos stehen geblieben war. Es war dort so warm, dass sie ihr Schultertuch abnahm und den Mantel aufknöpfte. Vom Schnee am Kraftstein keine Spur mehr. Anna kam ins Schwitzen, aber auch deshalb, weil sie nicht weiterwusste. In welche Richtung sollte sie gehen, wohin sollte sie sich wenden? Sie konnte kein Hinweisschild entdecken. Wo war denn der Rhein, wo waren die Schiffe? Von hier aus waren nur Hausdächer zu sehen. Sie nahm den Brief heraus, den ihr der Pfarrer mitgegeben hatte. Dort stand sorgsam aufgeschrieben:

In Schaffhausen angekommen, folgst du diesem Weg:

Über die Poststraße durch die Schwertstraße, am Mohrenbrunnen vorbei, diesen genau betrachten: der Mohr repräsentiert Kaspar, einen der drei Heiligen Könige, anschließend den Fronwagplatz überqueren, dann in die Vordergasse einbiegen. In der geschäftigen Gasse keine Begehrlichkeiten wecken lassen, am Rathaus vorbei, erkennbar an der Statue eines Schafbocks, der aus einem Turm springt, dann weiter, die Gasse hinunter über den Fischmarkt an der St. Johannkirche vorbei. Du hast rund zwei Stunden Zeit, also bete dort ein Weilchen für die Seele deines verstorbenen Vaters. Über den Gerberbach gelangst Du in die Unterstadt, dann, nach wenigen Minuten, bist du an der Schiffslände. Dort fährt um 4 Uhr die Arenaberg ab. Das Schiff heißt wirklich so, ist benannt nach einem Schloss am Bodensee. Die Fahrt zahlst du von dem Geld im Umschlag. In Steckborn erwartet dich dann Pfarrer Zeller und bringt dich zu deinem neuen Arbeitsplatz. Vergiss nicht, dich artig bei ihm zu bedanken. Er hat alles arrangiert.

 

Poststraße, dachte Anna. Wo finde ich die jetzt?

Nachdem die Lok keuchend und dampfend weitergefahren war und Anna freie Sicht hatte, schaute sie sich erschrocken um. Der Verkehr in Tuttlingen war ihr schon als sehr extrem erschienen, doch das hier war einfach unvorstellbar. Wie gern hätte sie nun Johann an ihrer Seite gehabt. Nicht nur um sich von ihrem großen Bruder an die Hand nehmen zu lassen, sondern auch um das alles mit ihm zu erleben.

Vor ihr war kaum ein Durchkommen, so dicht fuhren die Kutschen und Fuhrwerke … und Automobile. Eines hupte, und sie sprang erschrocken zur Seite, dabei war nicht sie im Weg, sondern eine alte Frau, die eben die breite Straße überqueren wollte. Sie blieb einfach stehen. Zu ihren Füßen glitzerte etwas, und Anna erkannte Schienen. Schienen mitten zwischen den gepflasterten Steinen. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen. Von Straßenbahnen hatte sie zwar schon gehört, aber die wurden von Pferden gezogen.

Eine Frau neben ihr, mit weißer Rüschenschürze und zwei voll beladenen Körben in den Händen, erschien ihr so vertrauenerweckend, dass Anna sie ansprach. Aber ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen hatte sie Mühe, Anna zu verstehen. Und als sie antwortete, ging es Anna ebenso. Was hatte sie gesagt? Sprach sie eine andere Sprache? Anna versuchte es mit Händen und Füßen, was die andere mit einem Lächeln quittierte, dann zeigte sie ihr mit ausgestrecktem Arm die Richtung. „Schiffländi!“, sagte sie dazu.

Das verstand Anna, und sie nickte heftig. Das Problem war, dass sie dazu diese Straße überqueren musste, aber sie tat es einfach direkt hinter der Unbekannten und kam unbeschadet auf die andere Seite.

Zehn Minuten Fußweg, hatte ihr der Pfarrer gesagt. Vom Stationsgebäude bis zur Schiffsanlegestelle.

Schon vor dem ersten großen Schaufenster blieb sie stehen. Dieses Kleid, das an einer großen Holzpuppe präsentiert wurde, war einfach unfassbar schön. Der lange blaue Rock mit der hohen Taille, dazu der passende große Hut und sogar die knöchelhohen Stiefeletten, die sie so ähnlich bereits an den beiden Damen im Zug gesehen hatte. Ebenso wie von einem anderen Stern erschienen ihr die Kinderkleider daneben. Ein Mädchen, ein Junge, auch in feinstem Tuch, das Mädchen in einem hellen, gebauschten Kleid mit rosaroten Schleifen, der Junge in knielangen Hosen und einer feinen blauen Weste. Anna dachte an ihre eigenen Kleider, weitervererbt von ihren größeren Schwestern. Und ihre Brüder tagein, tagaus in praktischen Lederhosen, eine nach der anderen an den jüngeren weitergegeben.

Sie riss sich los. Doch sie kam nicht viel weiter. Diesmal war es eine Apotheke, die sie stehen bleiben ließ. Was es hier alles gab! Kleine Glasgefäße und Keramiktöpfe mit Salben und Cremes, alles sorgfältig beschriftet. Daneben Seifen und hübsche Flakons mit Parfum, Tinkturen und Elixieren, als Heilmittel für eine ganze Reihe von Beschwerden, auf einer kleinen Tafel genau beschrieben – und wunderliche Apparate, Instrumente, von denen Anna nicht wusste, wozu sie gut sein könnten. Besonders interessant aber fand sie die vielen Bündel getrockneter Pflanzen und Kräuter, die sie alle kannte und die ihre Mutter auch immer sammelte. Damit ließ sich also Geld verdienen. Das sollte sie ihrer Mutter schleunigst schreiben.

Ihr schlechtes Gewissen meldete sich. Sie war erst einige Häuser weit gekommen, die Zeit lief ihr davon. Aber wann würde sie jemals wieder Gelegenheit haben, so etwas zu sehen? Sie nahm ihren Rock etwas hoch, denn auch hier lagen Pferdeäpfel im Weg, und um sie herum waren die Menschen hektisch zu Fuß oder mit Fahrrädern unterwegs. Alle hasteten einem unbekannten Ziel entgegen. Die Einzige, die Zeit zu haben schien, war sie, die junge Anna. Und schon wieder kam sie nicht weiter. Diesmal war es offensichtlich ein Geschäft für Haushaltswaren. Aber was für welche!

Es hätte nicht viel gefehlt und Anna hätte sich die Nase am Schaufenster platt gedrückt, denn hier gab es Geschirr, von dem sie auf dem Kraftstein nur träumen konnten. Das heißt, bisher hatte sie so schön gearbeitete, mit feinen Blumen verzierte Porzellanteller und Tassen, Schüsseln und Platten noch nie gesehen. Dazu Silberbesteck, Tischdecken, ein silberner Kerzenleuchter … das Schaufenster sah aus, als sei ein Tisch für eine Märchenprinzessin gedeckt worden. Sie konnte sich einfach nicht sattsehen. Und im Schaufenster gleich daneben handgefertigte Holzutensilien und emaillierte Töpfe und Pfannen. Alles auf einem Herd drapiert. Alleine dieser Herd … er war aus weiß emailliertem Metall und besaß vorn eine Klappe. War das der Backofen? Wie wurde er beheizt?

Am liebsten wäre sie in das Geschäft hineingegangen und hätte gefragt. Sie musste sich das unbedingt merken und später in einem Brief beschreiben und am besten auch zeichnen. Überhaupt musste sie sich das alles einprägen. Und von ihrem ersten Geld würde sie ihrer Mutter etwas Schönes schenken. Etwas, das es in ihrer Heimat noch nicht gab. Vielleicht einen der zierlichen Flakons mit einem feinen Duft. Was das wohl kosten würde? Sie wusste ja nicht einmal, wie viel sie verdienen sollte. Würde das Geld für so etwas reichen?

Ein Junge rempelte sie an, einen schweren Sack auf dem Rücken. Er fluchte kurz in einer Sprache, die sie nicht verstand, gab dem gefüllten Jutesack einen Stoß mit dem Rücken, sodass er seine Position etwas veränderte, warf ihr noch einen kurzen Blick zu und ging weiter. Er war etwa in Annas Alter gewesen. Aber seine Kleidung war genauso, wie sie es von daheim kannte. Alt und aufgebraucht. Es gab hier also nicht nur Reichtum, wie man angesichts der vielen adrett gekleideten Menschen meinen sollte.

Doch dann! Eine von oben bis unten bemalte Hausfassade! Anna blieb mitten auf der Straße stehen. Eine solche Bilderfülle kannte sie nur aus der Kirche. Aber hier, schon ziemlich abgeblättert und trotzdem noch gut zu erkennen, Figuren über Figuren. Ritter, so wie es aussah – und ganz oben, sie war instinktiv versucht, das Kreuz zu schlagen, eine nackte Frau. Splitternackt! Übergroß auf einer Hauswand, sodass sie jeder sehen konnte.

Was der Pfarrer wohl dazu sagen würde? Sich selbst nackt anzuschauen sei unkeusch, hatte er stets gepredigt. Sich nackt selbst anzufassen, undenkbar. Von der Sünde, jemand anderen anzufassen, ganz zu schweigen. Anna stockte der Atem. Das konnte sie niemandem erzählen, keiner würde es ihr glauben!

Sie sah sich um, aber niemand schien sich für diese Unmoral zu interessieren. Die Menschen eilten weiterhin an ihr vorbei, manche, und das fiel ihr jetzt erst auf, in einer Art Tracht. Die einen waren einfach nur schlicht angezogen, meist junge Frauen in dunklen Kleidern aus grobem Tuch, knöchellang und mit langen Ärmeln. Dazu trugen sie kleine weiße Hauben und weiße Schürzen. Andere trugen eine Art Uniform, Kleider, an denen die weißen Spitzen bereits eingearbeitet waren. Vielleicht waren das Dienstmädchen? Anna fragte sich, wie sie selbst wohl an ihrem neuen Arbeitsplatz gekleidet sein würde? Und würde sie auch Besorgungen erledigen, wie es diese Frauen mit ihren Körben und Krügen taten, oder würde sie ausschließlich im Haus beschäftigt sein?

Sie wollte nicht so genau darüber nachdenken, denn es machte ihr Angst. Fremde Menschen, ein fremdes Haus, würde sie bestehen können?

Sie schaute sich weiter um, bis ihr Blick auf eine Festung fiel. Sie betrachtete die schweren Steine der Burg mit leichtem Schaudern. Nur gut, dass es keine wilden Horden mehr gab, die Städte und Höfe überfielen und Menschen in feuchte Verliese warfen.

Anna zog ein weiteres Mal die Wegbeschreibung hervor, um sich im Gewirr der abzweigenden Straßen und Gassen zu orientieren. Ah, die Kirche. Sie hatte ihren Vater zwar kaum gekannt, er war gestorben, als sie zwei war, doch der Pfarrer hatte sicherlich recht. Beten sollte sie dort für ihn. Was nur, wenn sie durch ihre Bummelei das Schiff verpassen würde? Sicher gab es in Steckborn auch eine schöne Kirche, da wäre ein Gebet für das Seelenheil ihres Vaters genauso viel wert.

Einzig an einem Geschäft für Schreibwaren blieb sie noch kurz stehen. Wunderschöne handgebundene Tagebücher waren in der Auslage zu sehen, daneben verschiedene Federhalter und kleine Tintenfässchen. Anna schrieb und zeichnete gern. Und mehr noch als ein neues Kleid wünschte sie sich so ein Tagebuch. Ein Buch nur für sie alleine, in das sie alles, was sie bewegte, hineinschreiben könnte. Und dann verschließen. Sie hatte ja Franz nicht mehr. Wem sollte sie nun all die Dinge, die ihr so durch den Kopf gingen, anvertrauen?

Kurz entschlossen betrat sie das Geschäft. Eine beleibte Frau mittleren Alters erkundigte sich mit etwas skeptischem Blick nach ihren Wünschen. Doch dann musste sie über die Begeisterung lächeln, mit der Anna die verschiedenen Formate ansah und zärtlich mit den Fingerkuppen über die Einbände strich. „Sie schreiben gern?“, fragte sie so langsam, dass Anna ihren Dialekt verstand. Sie nickte heftig. „Ja“, sagte sie. „Schreiben ist meine Leidenschaft!“

„Da gibt es hier in der Nähe am Untersee noch einen. Der hat seine Leidenschaft zum Beruf gemacht. Hermann Hesse. Kennen Sie ihn?“

Anna schüttelte den Kopf, nahm sich aber vor, sich diesen Namen zu merken. „Schreiben als Beruf“, sagte sie leise, „das würde ich mir wünschen.“

„Wer weiß, was noch kommt“, sagte die Frau, begleitete sie zur Tür und schenkte ihr einen schönen, angespitzten Bleistift.

„Kommen Sie einfach wieder.“

„Was kostet denn so ein schönes Tagebuch?“

„Zwei Franken.“

Zwei Franken! Anna hatte keine Ahnung, wie viel das in Mark sein könnte, aber es hörte sich teuer an.

„Ja, wenn ich genügend Geld habe.“

„Sie sind noch jung. Es wird schon klappen!“

Anna bedankte sich vielmals, hielt beseelt den schönen Bleistift in der Hand und verließ freudig lächelnd das Geschäft. Ja, sie würde es schaffen. Eines Tages könnte sie sich bestimmt ein solches Tagebuch kaufen.

 

Sie war schneller am Rhein als gedacht. Ein großer Platz mit einem Brunnen, dahinter ein Ungetüm von einem Schiff. Größer als die Eisenbahn, so kam es ihr jedenfalls vor. Ein halbrunder Kreis prangte wie ein gemaltes Schaufelrad an der Seite, darin stand groß und deutlich: Arenaberg.

Das war sie also, die Arenaberg. Am Bug saßen schon recht viele Leute an Deck, hinter dem hohen Schornstein war ein großes Tuch gespannt worden, darunter schienen noch Plätze frei zu sein. Eine Frau mit einem Kinderwagen stand am Kai und unterhielt sich mit einem Mann in Uniform. War dies der Schaffner wie im Zug? Oder ein Polizist? Anna kannte sich nicht aus. Hier war alles anders. Die Sprache, die Währung – und wahrscheinlich sahen auch die Polizisten anders aus.

Anna kramte nach dem Briefumschlag und hielt die Luft an, als sie ihn nicht gleich fand, endlich zog sie ihn aus ihrer Umhängetasche und atmete durch. Mit ihrem Koffer fest in der Hand ging sie auf die Arenaberg zu. Das war nun die letzte Etappe! Dann war sie am Ziel!

Ein breiter Steg führte an Deck des Schiffes, aber er schwankte leicht, und Anna klammerte sich erschrocken an das Geländer.

„Keine Angst, Fräulein“, ein stattlicher Mann mit Kaiser-Wilhelm-Bart streckte ihr seine Hand entgegen, „gleich haben Sie es geschafft!“

Er nahm den abgezählten Fahrpreis entgegen und riet ihr dann, sich, wegen des Qualms aus dem Schornstein, nach vorn zu setzen. „Vor allem die Damen, wegen des schönen Teints“, sagte er und zupfte vergnügt an einem Schnurbartende.

Anna war sich nicht sicher, ob das anzüglich war, so bedankte sie sich schnell und suchte sich auf dem vollen Vorderdeck einen Platz. Und hatte Glück, denn eine füllige Dame stand eben auf, strich sich ihren Rock glatt und sagte laut zu ihrem Begleiter: „Hier zieht es. Ich setze mich nach hinten.“ Was ihn dazu veranlasste, ebenfalls aufzustehen. Anna bedankte sich freundlich, grüßte nach rechts und links und ließ sich zwischen zwei Frauen auf der harten Holzbank nieder, den Koffer vor ihren Knien abgestellt.

„Na, hoffen wir mal, dass es diesmal keine Rettungsaktion geben muss!“, stöhnte die Frau neben ihr.

Die junge Frau auf ihrer anderen Seite warf ihr einen raschen Blick zu.

„Es ist ja nichts passiert. Nur ein Abenteuer …“

Ein Mann, der ihr schräg gegenübersaß, zuckte mit den Achseln.

„Nichts passiert?“, empörte sich die Frau, „wenn das Schiff hängen bleibt und man über Leitern auf die Brücke hinaufklettern muss, dann sagen Sie, es sei nichts passiert?“

„Nun“, er lächelte nachsichtig. „Die Arenaberg ist ja wieder flottgemacht worden, die Brücke in Diessenhofen wurde nicht beschädigt, und auch sonst kam keine Person zu Schaden.“

„Aber der Schreck!“, legte die Frau nach.

„Ja, ein Schreck war es schon“, bekräftigte die junge Frau neben Anna.

Anna überlegte, was sie sagen könnte. „Passiert so etwas häufig?“, wollte sie dann wissen, denn sie dachte mit Sorge an den Pfarrer und was er denken würde, wenn sie nicht ankam. Wie wäre er zu benachrichtigen? Und was wäre mit ihrem Koffer, ihrem gesamten Hab und Gut? „Kann sie sinken, die Arenaberg?“

„Jedes Schiff kann sinken“, schnaubte die Frau und meinte mit einem schnellen Blick zu ihrem Gegenüber: „Aber das wäre ja dann vielleicht auch nur ein Abenteuer?“

Er lächelte vielsagend. Und Anna betrachtete ihn verstohlen. Es war ein junger Mann, vielleicht so alt wie ihr Bruder, Anfang zwanzig. Selbstbewusst, das war Johann auch, aber Johanns Körper zeugte von harter Arbeit. Der hier hatte keine breiten Schultern, war schmal gebaut, sein Anzug saß, als ob er für ihn geschneidert worden sei, ein gefaltetes Taschentuch in der Brusttasche, ein blütenweißes Hemd mit penibel heruntergeklappten Ecken des steifen Stehkragens, dazu edel aussehende Manschettenknöpfe, die breite Krawatte und die Weste, an der eine goldene Kette baumelte, alles schien sein Selbstbewusstsein zu stärken. Selbst sein kurz geschnittenes, mit Pomade zurückgekämmtes Haar mit dem akkuraten Scheitel. Annas Blick fiel auf den verwegenen Hut, den er neben sich abgelegt hatte, schwarz, mit breitem Hutband und mit zusammengedrückter Vorderseite. Alles in allem sah er sehr gut aus. Auch sein schmales Gesicht und seine braunen Augen, die sie nun anblickten. Hatte er ihre Neugierde gespürt? Instinktiv wollte sie den Blick senken, so, wie es ihr in der Schule gepredigt worden war: Ein Mädchen senkt züchtig den Blick, wenn es einem Mann gegenübersteht. Aber irgendwie schaffte sie es nicht. Und eigentlich wollte sie es auch nicht. Also erwiderte sie seinen Blick.

Er lächelte. Nein, eigentlich lächelten seine Augen, und das setzte sich bis zu seinen Mundwinkeln fort.

„Wollen Sie auch ein bisschen Abenteuer?“, fragte er sie, und Anna verschluckte sich. Sie musste husten, und in diesem Moment gab es ein lautes Zischen und Kreischen um sie herum, ein durchdringend schrilles Signal ertönte, dann ging ein Beben und Rütteln durch das Schiff, und kurz darauf hatten sie schon abgelegt. Anna drehte sich auf ihrer Bank so um, dass sie das Ufer besser sehen konnte. Ja, sie fuhren. Sie entfernten sich von der Anlegestelle, und nun konnte sie auch die ganze Festung sehen – und nicht nur einen Turm. Die ganze Stadt war einfach gewaltig. Und gewaltig schön. Sie seufzte kurz und drehte sich wieder um.

Ihr Gegenüber hatte sie offensichtlich nicht aus den Augen gelassen.

„So schwer?“, fragte er.

„Mit Gottes Hilfe ist alles zu schaffen“, antwortete sie mechanisch.

Die Frau neben ihr hüstelte und legte sich schnell die behandschuhte Hand auf die Lippen. „Mit Gottes Hilfe kommen wir heute hoffentlich unbeschadet an unser Ziel“, sagte sie gedämpft.

„Welches Ziel das auch immer sein mag“, erwiderte der Mann und zwinkerte Anna zu. „Es gibt erreichbare Ziele und unerreichbare. Wer entscheidet das? Der liebe Gott?“

„Nun lass sie in Ruhe!“, fuhr die junge Frau neben Anna ihn an. „Du machst sie verlegen! Sie ist doch noch ein Kind!“

Bin ich nicht, dachte Anna trotzig, entschied aber, keine Diskussion auszulösen, sondern sich lieber auf ihre erste Fahrt mit einem Dampfschiff zu konzentrieren.

Gaby Hauptmann

Über Gaby Hauptmann

Biografie

Gaby Hauptmann, geboren 1957 in Trossingen, lebt als freie Journalistin und Autorin in Allensbach am Bodensee. 1995 erschien mit „Suche impotenten Mann fürs Leben“ ihr erster Bestseller, seitdem hat sie über 30 Bücher geschrieben, wurde in 35 Ländern verlegt, hat allein in Deutschland knapp über 8...

Gaby Hauptmann zu den Hintergründen ihrer Familiensaga

Anna gab es wirklich. Auch ihre Mutter, ihre Geschwister und ihre fünf Kinder … bis auf eine Ausnahme stimmen sogar ihre Namen mit denen in meinem Roman überein. Anna ist auf dem einsamen Hofgut Kraftstein bei Mühlheim an der Donau aufgewachsen. Und mit 13 Jahren hat sie ihre Heimat verlassen, um in Steckborn zu arbeiten. Dort lernte sie den Fabrikarbeiter August kennen, und am 1. April 1923 kauften sie gemeinsam den Gasthof „Hirschen“ in Horn am Bodensee.

Der „Hirschen“ hatte 2023 ein ganz besonderes Jubiläum: Er ist 200 Jahre alt geworden. Und da ich die heutige Wirtsfamilie gut kenne und die Pandemie alles lähmte, gestaltete ich auf Bitten des Wirts gemeinsam mit meiner Schwester Karin, die Grafikerin ist, ein „Hirschen“-Buch mit Chronik, Interviews und vielen Fotos aus der alten und der neuen Zeit. Anna gab mir dabei viele Rätsel auf: Wie sah ihr Leben damals aus? Wie kam sie überhaupt aus dem Oberschwäbischen in die Schweiz? Wie sah der Kraftstein aus, dieser entlegene Weiler, von dem sie stammte? Das Interesse hatte mich gepackt.

Am 12. Juni 2023 machten mein Lebensgefährte und ich  uns auf den Weg. Und fanden ein tatsächlich einsames Gehöft auf einem Hochplateau, einige Kilometer von Mahlstetten entfernt. Es war leicht nachzuvollziehen, dass das Leben dort oben karg und anstrengend war. Auch der Schulweg oder jeder andere Gang. Vor allem im Winter. Wir fuhren vom Kraftstein nach Steckborn. Mit den Motorrädern war das leicht – aber wie kam denn Anna dorthin? Immerhin 70 Kilometer – zu Fuß?

Ich kontaktierte den Bürgermeister von Mühlheim, Jörg Kaltenbach. Er reagierte sofort und leitete mich an Ludwig Henzler weiter, der sich als Hobbyhistoriker ehrenamtlich um das Stadtarchiv kümmert. Und siehe da, bei unserem ersten Telefonat stellte sich heraus, dass er die Bücher meines Vaters kannte: „Burgen einst und jetzt.“ So war gleich ein guter Kontakt da. Wir fachsimpelten ein bisschen, und wahrscheinlicher war, so meinte er, dass Anna die Strecke nicht gelaufen war, sondern in Tuttlingen in die Eisenbahn nach Schaffhausen gestiegen und von dort mit dem Dampfschiff nach Steckborn gefahren ist. Also fuhr ich nach Schaffhausen zum Bahnhof und überlegte, wie Anna hier wohl 1913 als 13-Jährige angekommen ist, wie sie die Anlegestelle am Rhein gefunden hat und wie Schaffhausen damals überhaupt ausgesehen hat. Im Internet wurde ich fündig: Altstadtführungen und Nacht wächterführungen, das sprach mich an, also schickte ich eine Mail. Martin Harzenmoser antwortete und geleitete Anna in der Folge durchs historische Schaffhausen bis zum Dampfschiff „Arenaberg“. Außerdem erzählte er mir von Hans Sturzenegger, dem berühmten Schaffhauser Maler, zudem Freund von Hermann Hesse, der mir dann ebenfalls eine Inspirationsquelle wurde.

Nun kam die nächste Hürde: Steckborn selbst. Was war los in Steckborn um 1913? Und welche Arbeit könnte Anna überhaupt angefangen haben? Als Dienstmädchen zu reichen Leuten? Vielleicht zu einem Abgeordneten? Tobias Engelsing, langjähriger Freund, Historiker und Direktor der vier städtischen Museen in Konstanz, gab mir den Tipp, in Steckborn René Labhart zu kontaktieren, Historiker und im Vereinsvorstand des „Museum im Turm“. Kurze Zeit später führte mich René Labhart durch das Museum, weihte mich in die Steckborner Geschichte ein, zeigte mir alte Unterlagen, Fotos, Klöppelarbeiten, dazu die „Motorchaise von 1905“ des Unternehmers Fritz Gegauf und ging anschließend mit mir durch die Gassen, damit all dies auch anschaulich wurde. Außerdem überlegten wir, was Anna in Steckborn gemacht haben könnte? Die Idee mit der „Krone“ kam von ihm, denn das Hotel „Krone“ steht heute nicht mehr. Aber es gab sie, genau wie beschrieben, das war mir wichtig. Und ja, natürlich war so ein Arbeitsleben in der „Krone“ eine gute Grundlage für Annas späteres Leben im „Hirschen“. Und auch August wurde von mir aus diesen Gründen vom Fabrikarbeiter bei der Nähmaschinenfabrik Gegauf, der er tatsächlich war, zum Kantinenleiter befördert. Diese historischen Mosaiksteine mit Leben zu füllen war nun meiner Fantasie überlassen. Und speiste sich auch aus den vielen Erzählungen des heutigen „Hirschen“-Wirts Karl Amann. Seine Schilderungen, vor allem auch der Schmuggel zwischen Steckborn und Horn, das Leben im alten „Hirschen“, die Entbehrungen – es gab lange weder Strom noch Telefon –, all dies hat mir bei meinem Buch geholfen. Alexander Röhm vom Stadtarchiv Radolfzell half ebenfalls mit und machte sich auf die Suche nach alten Spuren. Und vermittelte mir ein umfassendes Bild von Radolfzell Anfang des 20. Jahrhunderts.

Und natürlich darf die Fantasie die Realität überflügeln. So lernt Anna in der Steckborner Konditorei Hermann Hesse kennen und trifft ihn wenig später mit seinem Freund, dem Maler Hans Sturzenegger, wieder. Hermann Hesse war übrigens tatsächlich oft mit seinem Boot in Steckborn zum Einkaufen, denn der berühmte Schriftsteller lebte von 1904 bis 1912 in Gaienhofen. Dort gibt es auch das „Hermann-Hesse-Museum“. Und deshalb schrieb ich die Leiterin, Yvonne Istas, an und schickte ihr die betreffenden Stellen im Buch zur Überprüfung. Wie ich alle meine Passagen zu meinen betreffenden Beratern zum Gegenlesen schickte, denn ich wollte meiner historischen Verantwortung gerecht werden. Und schließlich begann Anna mit der ersten Seite zu leben. Und alle Personen um sie herum. Mit dem ersten Schritt aus ihrem Elternhaus heraus betrat sie „meine“ Geschichte. Und lebte ein Leben, das ihr, so hoffe ich, beim Lesen auch gefallen hätte. Leider ist sie, die reale Anna, bereits 1943 verstorben. In meinem nächsten Buch von den Frauen vom See „Traum vom besseren Leben“ wird sie etwas älter werden – und noch einiges erleben, bis ihre Tochter Maria (in Wirklichkeit hieß sie Anni, was mir aber zu nah an Anna war) in ihre Fußstapfen tritt. Und dies nicht ganz freiwillig – aber davon in meinem zweiten Buch über die „Frauen am See“ mehr. Ein bisschen Spannung muss beim Lesen ja bleiben – auch für mich, beim Schreiben.

INTERVIEW mit Gaby Hauptmann

Deine Heldin Anna aus der Bodensee-Saga erlebt sehr emotionale und bewegte Zeiten und ist früh auf sich gestellt. Ist sie deshalb eine neue Figur für Dich – oder hat sie auch etwas, das wir von Deinen früheren Heldinnen kennen? 

Sie ist deshalb neu, weil sie in einer Zeit aufwächst, die für Frauen bestimmte Leitbilder vorgeschrieben hat: Unsichtbar im Hintergrund zu sein, sich als Dienerin der Männer zu verstehen, höhere Bildung für sich auszuschließen, der Familie alles unterzuordnen. Anna hat nicht die Möglichkeiten der heutigen Generation junger Frauen, sondern sie muss sich Schritt für Schritt im Rahmen der historischen Möglichkeiten vorankämpfen – und die waren 1913 von den Männern für Frauen eng abgesteckt worden.   

Seit vielen Jahren lebst Du in enger Verbundenheit mit der Region am Bodensee. Jetzt setzt Du all Deine Erlebnisse und Eindrücke in Deinem neuen Buch um. Wie fühlt sich das an, so ausführlich über Deine Heimat zu schreiben? 

Ich denke, dass es allen Frauen in ganz Deutschland zu dieser Zeit ähnlich ergangen ist. Entweder hast du einen reichen Mann geheiratet und hattest Dienstmädchen, oder du gehörtest selbst zum Personal. Dass sich Anna nun am Hochrhein ansiedelt, kommt natürlich auch daher, weil ich die Gegend gut kenne. Ich kenne den See, seinen Reichtum, seine Gefahren, ich liebe die Halbinsel Höri mit ihrer lieblichen Hügellandschaft, die Gegend, wo sich schon vor hundert Jahren Schriftsteller und Künstler wie Hermann Hesse oder Otto Dix angesiedelt haben. Und wo während des Dritten Reiches sehr viele Kunstschaffende vor dem Nationalsozialismus Zuflucht suchten – auch wegen der vermeintlich rettenden Nähe zur Schweiz. Schön ist, dass ich jetzt im Rahmen meiner Vorarbeiten all das noch einmal viel intensiver kennenlernen kann. 

Dürfen wir einen Blick in die Zukunft werfen? Anna ist die erste Heldin, die wir kennenlernen werden in Deinem Bodensee-Projekt. Im nächsten Buch wird ihre Tochter die Hauptrolle spielen. Verändert es Deinen Blick auf Anna, macht es die Figuren noch emotionaler, tiefer? 

Jede der Frauen geht ihren Weg. Anna wird mit ihrem Mann August ein Wirtshaus auf der Höri kaufen und aufbauen, dazu Landwirtschaft betreiben, viele Auf und Abs erleben, und quasi nebenbei fünf Töchter bekommen. Später übernimmt die älteste, Maria, die Mutterrolle für ihre jüngeren Schwestern. Als Wirtin geht Maria ihren eigenen, arbeitsreichen Weg. Und natürlich wurde da nicht viel gefragt: Zu der damaligen Zeit gab es weder Depressionen noch Empfindsamkeiten – der Tag begann früh und endete spät, für Gefühle blieb wenig Zeit. Wenn etwas passierte, hoffe man, dass es der liebe Gott schon richten würde. Trotzdem waren die Emfindungen natürlich da – und ich werde meinen Figuren Emotionen geben, auch wenn sie sie nicht immer ausleben können. Diese innere Konflikte interessieren mich vielleicht besonders. Das konnten übrigens die Männer ja auch nicht – viele Kriegsheimkehrer waren traumatisiert, manche auch ihren Familien gegenüber völlig verroht, ihre Erlebnisse machten sie mit sich selbst aus.    

Wie gehst Du in Deiner Arbeit für diese spannende Spurensuche vor, die ja viel historisch Wahres und Geschehens erzählen wird? Auch das Wirtshaus, das zentraler Schauplatz sein wird, gibt es ja tatsächlich. Recherchierst Du vor Ort? 

Den Ort des Wirtshauses kenne ich schon lange, die jetzige Besitzerfamilie des „Hirschen“ in Horn sind Nachfahren meiner Heldin Anna. Bei der Recherche helfen mir drei wirklich tolle Historiker, die meine vielen Fragen rund um die frühen Jahre des 20. Jahrhunderts beantworten. Denn Anna kommt ja vom einsam gelegenen Hofgut Kraftstein bei Mühlheim an der Donau – da brauchte ich schon mal jemanden, der sich in der Geschichte dieser Gegend gut auskennt. René Labhart zum Beispiel hat mich gleich nach Steckborn in sein „Museum im Turm“ eingeladen, und wir sind die alten Fotos, Zeitungen und Klöppelarbeiten durchgegangen und waren zu Fuß auf Annas Spuren. 

Veranstaltung
Lesung und Gespräch
Samstag, 27. April 2024 in Konstanz
Zeit:
18:00 Uhr
Ort:
Evelyns Cafe, Konstanz
Im Kalender speichern
Pressestimmen
Ruhr Nachrichten

„Gaby Hauptmann breitet mit dieser zutiefst menschlichen Geschichte ein großes Panorama der Zeit aus.“

Südkurier

„Neben der abwechslungsreichen und mitunter (...) ziemlich spannenden Handlung erfreut das Buch nicht zuletzt durch die sympathischen und sehr nachvollziehbaren Beschreibungen.“

Thüringische Landeszeitung

„Es lässt sich gut eintauchen in die Welt vor 100 Jahren.“

Kommentare zum Buch
Eine warmherzige Geschichte über Hoffnungen, Träume und Mut
Märchens Bücherwelt am 11.03.2024

Als 13jähriges Mädchen kommt die aufgeweckte, wissbegierige Anna nach Steckborn in die Schweiz, wo sie im Gasthof Krone zu arbeiten beginnt. Mit ihrer fröhlichen, lebensfrohen Art knüpft sie schnell Kontakte, lernt zügig alle Fertigkeiten und bringt sich gern ein. Dennoch gibt es auch so manche Situationen, die ihr zeigen, wie es jungen Frauen in der von Männer dominierten Welt ergeht und wovor sie sich hüten muss. Auch der erste Weltkrieg geht nicht spurlos an ihnen und auch ihren Familien vorbei.   Als sie ihr Herz an August verliert und sie gemeinsam das Wagnis des heruntergekommenen Gasthauses „Hirschen“ am Ufer des Bodensees eingehen, merken sie, wie viele Hürden sie überwinden müssen. Nicht nur die Wirtschaftskrise, sondern auch Neid und Missgunst machen ihnen das Leben schwer…   Anna durch ihre Jugend bis zu ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter zu verfolgen hat richtig Spaß gemacht. Sie ist nicht auf den Mund gefallen und sagt frei heraus, was sie denkt und fühlt. Aber das auf so eine liebenswerte und sympathische Weise, auch wenn sie oft etwas naiv wirkt. Doch schnell merkt man, was hinter dieser kleinen, aber klugen Person steckt und wie sie für das kämpft, was ihr am Herzen liegt und sich auch für andere einsetzt. Ihr Einfallsreichtum und Raffinesse sorgen dafür, dass sie sich zu einer mutigen Frau entwickelt, die sich trotz aller Anfeindungen nicht unterkriegen lässt und trotz Rückschlägen immer wieder aufsteht.   Sanft und gefühlvoll verbunden mit gut platzierten humorvollen Einlagen erzählt die Autorin die Lebensgeschichte von Anna. Dabei wird man auf eine historische Zeitreise, beginnend in der Schweiz bis zum Bodensee, mitgenommen. Lebensträume verwirklichen, auch wenn man dafür Umwege, Ängste und Sorgen in Kauf nehmen und so manchen Verlust erleben muss.   Interessanterweise gab es Anna samt Familie wirklich, ebenso wie verschiedene Örtlichkeiten, nur die Rahmengeschichte wurde hier und da von der Autorin der Zeit, den damaligen Sitten und Gebräuchen angepasst und nach eigenem Ermessen interpretiert und endet mit einem kleinen Cliffhanger.   Es ist bislang mein erstes Buch der Autorin, aber definitiv nicht mein letztes. Durch die Sprecherin Christiane Marx, die mit ihrer angenehmen Erzählstimme Stimmung und Personen perfekt eingefangen und rübergebracht hat, hatte ich ein richtig schönes Hör- und Leseerlebnis und freue mich schon auf die Fortsetzung des Romans.

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