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Ramona Ziegler
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Familiensaga aus dem Allgäu

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Herrgottswinkel — Inhalt

Die bewegte Geschichte einer Bauernfamilie aus dem Allgäu
Tiefe Konflikte mit dem Bruder ihres Mannes und dessen Frau drohen Julias Familie zu entzweien. In ihrer Not besinnt sie sich auf die Geschichte ihrer weiblichen Vorfahren: drei Generationen von starken Frauen, die frei über ihr Leben bestimmen wollten. Die zwischen harter bäuerlicher Arbeit und den Konventionen ihrer Zeit gefangen waren – und sich doch ihre innere Stärke bewahrten.

Drei Generationen von starken Frauen

Die Berganna, deren Liebe zum Wilderer Daniel ein jähes Ende fand. Johanna, die mit dem Patriarchen des Orts 13 Kinder zeugte. Und Julias Großmutter Anna, der man nach der Geburt den unehelichen Sohn wegnahm.

Sie alle hatten in ihrem Leben harte Kämpfe auszustehen – und bewahrten sich doch ihre innere Stärke. Eine Stärke, die auch Julia dringend braucht, als die Dinge sich zuspitzen …

€ 14,00 [D], € 14,40 [A]
Erschienen am 09.10.2012
320 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-30134-3
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€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 09.10.2012
320 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-95883-7
Download Cover

Leseprobe zu „Herrgottswinkel“

Gewidmet der guten Fee in meinem Leben,
Rosel, die an Lichtmess 2009
95 Jahre alt wurde.
Ohne sie hätte ich dieses Buch nicht schreiben können.


Für Lina,
die in meinem Herzen meine Oma war.


Und für Hans,
dem ich so viel verdanke.


JULIA


DASS ES EINMAL SO WEIT KOMMEN WÜRDE, HÄTTE ICH mir selbst in meinen schlimmsten Träumen nicht ausmalen können. Mir war in meinem Leben nie etwas geschenkt worden, geschweige denn in den Schoß gefallen, aber die letzten vierundzwanzig Stunden stellten alles in den Schatten, was mir in meinem bisherigen Leben zugestoßen war. Es [...]

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Gewidmet der guten Fee in meinem Leben,
Rosel, die an Lichtmess 2009
95 Jahre alt wurde.
Ohne sie hätte ich dieses Buch nicht schreiben können.


Für Lina,
die in meinem Herzen meine Oma war.


Und für Hans,
dem ich so viel verdanke.


JULIA


DASS ES EINMAL SO WEIT KOMMEN WÜRDE, HÄTTE ICH mir selbst in meinen schlimmsten Träumen nicht ausmalen können. Mir war in meinem Leben nie etwas geschenkt worden, geschweige denn in den Schoß gefallen, aber die letzten vierundzwanzig Stunden stellten alles in den Schatten, was mir in meinem bisherigen Leben zugestoßen war. Es war stets ein harter Kampf gewesen, meine Ziele zu erreichen – obwohl diese gar nicht übermäßig zahlreich oder übertrieben ehrgeizig waren –, trotzdem hatte ich dafür viele Jahre des Wartens, der Demütigungen und Beleidigungen hinnehmen müssen. Doch Beharrlichkeit, Offenheit und vor allem mein Vertrauen – vielleicht könnte man es auch als eine Art naiver Nächstenliebe bezeichnen – hatten mich meinen bescheidenen Vorstellungen vom Glück mittlerweile ein ganzes Stück näher gebracht. Der hinter mir liegende Tag hatte jedoch all dies zunichtegemacht, und nun stand ich auf den Ruinen meines bisherigen Lebens. Ich konnte nicht mehr. Ich wollte nicht mehr. Und weder von der Kraft noch von dem Mut, noch einmal ganz unten anzufangen, war mir etwas geblieben.
Im Haus waren schon alle zu Bett gegangen, und auch mein Mann gab neben mir die gleichmäßigen, tiefen Atemgeräusche des traumlosen Schläfers von sich. Nur ich konnte wieder einmal keine Ruhe finden. Wo ich ihn doch jetzt so dringend gebraucht hätte, nachdem wir gerade den heftigsten Streit unserer gesamten Ehe hinter uns – nein, besser gesagt, ohne Klärung vertagt – hatten. Aber das war typisch für Franz, er entzog sich immer von Neuem unseren Konflikten. Im Augenblick war es der Schlaf, der ihm die Möglichkeit bot, sich weitere Diskussionen zu ersparen. Sein Schlusssatz in unserer vorausgegangenen Auseinandersetzung hatte gelautet: „Ich kann und ich mag nicht mehr!“ Typisch! Statt unsere Situation zu bereden und gemeinsam eine Lösung zu finden, zog er sich zurück und ließ mich mit den Schwierigkeiten allein. Doch nun hatte ich ein für alle Mal genug davon, es gab keinen Zweifel mehr für mich: Ich hatte mich in ihm getäuscht, er stand nicht wirklich zu mir. Liebe sah anders aus als das, was er mir zu geben bereit war.
Sollte es Agnes, die Frau meines Schwagers, also doch geschafft haben, unsere Ehe zu zerstören! Seit Jahren musste ich mich von ihr und von Eberhart, dem fünfzehn Jahre älteren Bruder meines Mannes, demütigen lassen. Fast hatte ich mich daran gewöhnt, mit ihren andauernden Beschimpfungen zu leben, obwohl mein Selbstbewusstsein und mein inneres Gleichgewicht inzwischen äußerst in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Doch ich hatte ja meinen Mann, der mich immer wieder aufrichtete, und vor allem meine Kinder, die mich brauchten. Seit gestern war nun alles anders!
„Ich verstehe dich einfach nicht mehr, Julia“, hatte Franz bei unserem Streit zu mir gesagt. „Mein Bruder und seine Frau sind dort, und wir leben hier in unseren vier Wänden. Lass sie doch sagen und machen, was sie wollen.“
„Dazu bin ich ja bereit! auch, dass ich in ihren augen eine Hure sein soll, dass sie unterstellen, Susanne sei vielleicht gar nicht von dir, und dass ich nie die Richtige für dich sein werde, damit könnte ich leben. Aber dass du es nicht fertigbringst, an meiner Seite zu stehen, wenn sie mich so niedermachen, das nehme ich dir übel“, erwiderte ich aufgebracht.
„ Soll ich mich auch noch mit ihnen anlegen, reicht es nicht, wenn sie mit dir über Kreuz sind?“
Sicher, für ihn war die Situation nicht einfach, immerhin war es sein Bruder, aber um eine Entscheidung würde er nicht herumkommen.
„Ja, das solltest du, weil wir jetzt eine Familie sind und zueinander stehen müssen. In guten wie in schlechten Zeiten – das war doch auch dein Wille, oder erinnerst du dich nicht mehr? Wenn du von mir verlangst, ich solle das alles weiter erdulden, dann muss ich schon an deinen Versprechen zweifeln – und an deiner Liebe ebenfalls.“
Danach gab ein Wort das andere, immer hitziger warfen wir uns gegenseitig unsere Verfehlungen an den Kopf, und am Schluss knallten Türen. Erst viel später im Bad folgten jene Sätze, die mich jetzt nicht einschlafen ließen: „Ich kann und ich mag nicht mehr! Vielleicht sollten wir uns besser trennen.“
Für mich brach eine Welt zusammen, ich glaubte, meinen Ohren nicht zu trauen. Mein Mann nahm es tatsächlich in Kauf, dass unsere Familie zerbrach, weil ich die ständigen Beleidigungen seines Bruders nicht weiter ertragen wollte, denn es war nur Eberhart, der mir gegenüber Worte wie >dreckige Matz< und >Luder< und noch Schlimmeres in den Mund nahm. Agnes war ihrem Mann zwar an Bösartigkeit ebenbürtig, doch sie war geschickter, viel geschickter. Sie ließ mich jede Sekunde, die wir miteinander verbrachten, spüren, dass ich in ihren Augen ein verabscheuungswürdiges Nichts war, nicht mal würdig, Franz die Wäsche zu waschen – und dass aus mir nichts werden konnte, sosehr ich mich auch anstrengen mochte. Im Gegensatz zu ihrem Mann brauchte sie dafür kein ordinäres Wort, doch ihre Gesten, ihre gegen mich gerichteten Spitzen taten mehr weh, als wenn mein Schwager mich einen >weiblichen Wanderpokal· oder gar eine >Freizeitnutte< schimpfte. Ja, selbst solche Begriffe waren schon gefallen!
In meinen Augen gab es – und das war für mich das Allerschlimmste – jedoch weder einen Anlass noch irgendeine Situation oder eine Erklärung dafür, was zu solchen Vorwürfen geführt haben konnte. Bestimmt tausendmal schon hatte ich mir den Kopf zermartert, worauf sich diese Anschuldigungen gründen sollten, allein, mir war das alles so schleierhaft wie Franz’ Verhalten, mich vor die Wahl zwischen Durchhalten oder Trennung zu stellen. Wollte er mir tatsächlich nur die Alternative lassen zwischen weiteren haltlosen Demütigungen – dafür aber mit ihm an meiner Seite – oder dem Ende dieses Psychokrieges – dies jedoch dann leider ohne ihn? Franz’ Worte wiesen keinen Ausweg aus dem Dilemma, sie machten nur alles noch viel unerträglicher, und bei diesem Gedanken kamen mir wieder die Tränen. Dabei hatte ich doch schon den ganzen Tag nichts anderes getan als geheult. Ich war das Nichts, ich war die Versagerin, für die man mich hielt. Nicht einmal fähig, einen Ausweg zu erkennen, nicht einmal fähig, für mich und für die, die ich liebte, um Hilfe zu bitten. Aber wen hätte ich auch bitten sollen? Die Worte desjenigen, der mir auf immer seine Hilfe und sein Herz versprochen hatte, dröhnten in meinem Kopf, während ich mich im Bett schlaflos von einer Seite auf die andere wälzte und keine Antwort fand.
„Ich kann und ich mag nicht mehr!“
Ganz leise schlüpfte ich unter der Bettdecke hervor und huschte zum Schlafzimmer hinaus. Ich ging barfuß ins Bad, machte Licht und erschrak zutiefst über mein entstelltes Gesicht, das mir aus dem Spiegel entgegenblickte. Weiße, aufgedunsene Wangen und blutrot unterlaufene Augen starrten traurig ins Leere. Schnell wandte ich mich ab und bediente mich gedankenverloren von dem Stapel achtlos auf dem Hocker abgelegter Kleidungsstücke, dann löschte ich wieder das Licht und schloss die Badezimmertür leise hinter mir. Wie in Trance schlich ich die Treppe hinunter, nur kein Geräusch machen, das war das Einzige, woran ich denken konnte. Ohne Licht zu machen, ertastete ich meinen Weg bis zum Windfang, zog Winterschuhe und Anorak an. Schließlich nahm ich noch meine Skihandschuhe von der Ablage und setzte die Wollmütze auf. Dann öffnete ich ganz vorsichtig die Haustür und schloss sie ebenso vorsichtig wieder hinter mir.
Draußen war es bitterkalt, der Wind fuhr in kurzen Stößen über Hausdächer und Bäume hinweg. Es hatte frisch geschneit. Welch ein Glück, denn so würde das Knacken meiner Schritte auf dem Windharsch vom Neuschnee verschluckt werden. Niemand würde mich hören können, während ich mich von unserem Haus fortbewegte. Ich schlug den Weg durch den Pfannenstiel in Richtung Illerdamm ein. Mir war unendlich kalt. Nicht von außen, die Kälte kam tief aus meinem Inneren, und es war auch nicht der eisige Wind, der mir bei jedem Schritt die Tränen in die Augen trieb. Wie überlauter Glockenlärm hallte es ohne Unterlass in meinem Kopf: „Ich kann nicht mehr! Ich will nicht mehr!“
Kurze Strecken meines Weges rannte ich, um schneller voranzukommen. Immer wieder drehte ich mich um, sah nach, ob mir auch niemand folgte. Ich wollte nur weg von zu Hause, je weiter weg, desto besser. Diese Heuchelei in meiner Familie nahm mir die Luft zum Atmen, daheim hatte ich nur noch das Gefühl, verachtet und nicht verstanden zu werden. Ich war wütend und traurig zugleich. Wild entschlossen lief ich weiter durch die sternenklare Winterlandschaft. Der frisch gefallene Pulverschnee lag knietief auf meinem Weg durch den Wald hinauf zum Hüttenberger Eck. In der hellen Vollmondnacht zeichneten sich die Umrisse der Bäume mit ihren vom Schnee gebeugten Ästen deutlich ab. Der Weg ging stetig bergan, mit jedem Schritt sank ich tiefer ein und kam nur äußerst mühsam vorwärts. Allmählich verließen mich die Kräfte. Vor lauter Anstrengung war ich schweißgebadet und konnte weder vor noch zurück. Die eiskalte Luft schmerzte bei jedem atemzug in meiner Lunge. Jetzt war mir einfach alles so egal, dass ich mich in den Schnee fallen ließ und weinte.
Mir war nicht klar, wie lange ich so dagelegen hatte, aber der kalte Schnee auf meinem Gesicht brachte mich wieder zur Besinnung. Ich war im Schnee gefangen. Bei jeder anstrengung, mich aus der feuchten Masse zu befreien, sank ich noch tiefer ein. Aus eigener Kraft kam ich nicht mehr frei. Panik ergriff mich! Musste ich hier erfrieren? Sollte ich meine Kinder nie mehr wiedersehen? Warum hatte ich mich nur so weit von jedem Weg entfernt! Jetzt konnte mir keiner mehr helfen. In meiner letzten Verzweiflung rief ich um Hilfe, aber wer hätte mich hier oben in der Einsamkeit schon hören sollen?
Plötzlich ergriff mich von hinten eine Hand am anorak. Vor Schreck schlug ich wild um mich und stieß einen grellen Schrei aus. Da erkannte ich meinen Mann Franz, der mich aus meinem kalten Gefängnis zog. Er war meinen Spuren im Tiefschnee gefolgt und hatte mich so gefunden. Im kalten Licht des Mondes wirkte sein Gesicht hinter den Nebelwolken, die sein atem in der nächtlichen Kälte erzeugte, noch unwirklicher. Doch passte diese atmosphäre eines Gruselfilms genau zu dem, was gerade hinter mir lag. Fast wäre ich in ein irres Lachen ausgebrochen, als mir dieser melodramatische Vergleich durch den Kopf schoss, wäre da nicht das Zittern am ganzen Körper gewesen. Halb gelähmt vor Kälte und Entsetzen über das, was ich getan hatte, zerrte, schob und trug mich Franz bis zu den Wurzeln eines Baumes, unter dem kaum Schnee lag. Auch er schlotterte und atmete vor Kälte nur stoßweise. Dann nahm er mich aber in den arm und hielt mich einfach fest. So standen wir eng umschlungen und vor Kälte zitternd da, weder Franz noch ich haben wohl später einmal wieder so gefroren wie in diesem kurzen Moment.
Schließlich nahmen wir uns bei der Hand und stapften wortlos hintereinander die steile Anhöhe hinunter. Ich wimmerte leise vor mich hin, da ich meine Zehen nicht mehr spürte, und ich taumelte eher vorwärts, als dass man es als Laufen hätte bezeichnen können. Ich würde von Glück reden können, wenn ich mir nichts erfroren hatte. Wie hatte ich nur so etwas Verrücktes tun können? Als wir den Pausenhof des Gymnasiums überquerten und in den Privatweg einbogen, der zu unserem Haus führte, waren meine Finger so taub, dass ich das Gefühl hatte, sie seien mit meinen Handschuhen zusammengewachsen. Schwer atmend stieß mein Mann die Haustür auf, wir stürmten in die Küche, hielten unsere Hände vor den noch warmen Ofen, und zum ersten Mal weinte ich vor Kälte, vor Schmerzen und gleichzeitig auch vor Erleichterung. Je mehr das Gefühl in meine Finger und Zehen zurückkehrte, desto stärker wurden die Schmerzen. Nadelstiche durchzuckten meine Füße und Hände – aber ich begann mich wieder zu spüren und selbst, wenn es wehtat, das war besser als mein Zustand der gefühllosen Taubheit vor einigen Stunden!
Wir huschten die Treppe hoch ins Bad und stellten uns zusammen unter die heiße Dusche. Als Franz seine Arme um meinen Hals legte und meinte: „Ich liebe dich doch, Julia, das musst du mir einfach glauben“, da brach alles aus mir hervor, was ich so lange unterdrückt hatte. Ich schluchzte hemmungslos und weinte, bis ich trotz des heißen Wassers aus der Dusche einen salzigen Geschmack im Mund hatte. Franz hielt mich fest, bis meine Tränen vor Erschöpfung versiegten – und auch, weil ich schlagartig begriffen hatte, dass er mir durch seinen Satz soeben zu verstehen gegeben hatte: Es gibt noch eine Chance für uns! Nichts ist verloren!
Eng umschlungen und ohne uns abzutrocknen, schlüpften wir kurz darauf unter die Bettdecke. Und trotz unserer Müdigkeit und Erschöpfung liebten wir uns in dieser Nacht zärtlich, vertraut, aber ebenso verzweifelt. Ich beschloss, auch jetzt nicht aufzugeben, sondern weiterhin alles dafür zu tun, dass unsere Liebe bestehen konnte.


Am darauffolgenden Morgen war von dieser Zuversicht nicht viel geblieben, ein Blick in den Spiegel führte mir all unsere Probleme wieder vor Augen, und erneut schien mir alles völlig aussichtslos zu sein. Schluss jetzt mit der Grübelei in aller Herrgottsfrühe, ermahnte ich mich selbstkritisch. Fang doch einfach mal wieder zu leben an. Spür dich, hör auf dich und auf deine Bedürfnisse – tu etwas für dein Wohlbefinden. Alles andere wird sich weisen. Ich verabschiedete mich schnell von Franz, der sich für die Arbeit fertig machte, und küsste Susanne, die bereits mit gepacktem Ranzen an der Tür stand. Dann zog ich die beiden Buben an, setzte Lukas in den Kinderwagen und brachte mit ihm zusammen Jonas in den Kindergarten. Auf dem Weg begegneten wir einigen anderen Müttern und Vätern, die ihre Kinder dort ablieferten. Doch ich grüßte nur kurz und blickte schnell wieder nach unten, mir war nicht nach belanglosen Gesprächen – vor allem wollte ich nicht, dass sie meine traurige Miene bemerkten. Als Jonas aus dem Kindergarten zurück war und wir mittaggegessen hatten, verspürte ich das dringende Bedürfnis, an die Luft zu gehen, es zog mich geradezu in die Natur, ich musste die Beklemmung abschütteln, die zu Hause auf mir lastete.
Mit Lukas im Tragetuch und Jonas auf dem Schlitten machte ich mich auf. Doch es herrschte eine seltsame Stimmung auf unserem Weg den Illerdamm entlang. Nebelschwaden legten sich über die Oberstdorfer Berge, obwohl es heute Morgen noch so ausgesehen hatte, als würde es ein strahlend blauer Wintertag werden. Auch vor der Hörnerkette und den Sonnenköpfen wurde der Hochnebel immer dichter, und gerade heute hätte Sonnenschein meinem Gemütszustand gewiss besonders gutgetan. Doch immer weniger reichte die Kraft der Wintersonne aus, bis unten ins Tal durchzukommen, ein diffuses Licht legte sich über die Schneelandschaft und ließ alles seltsam konturenlos erscheinen. Der Schnee verstärkte die unwirkliche Stimmung noch, indem er jedes Geräusch verschluckte. Fast schienen wir lautlos durch die Landschaft zu schweben, auf uns zurückgeworfen, von den anderen vergessen.
Lukas’ Schreien, dessen Hände an der kalten Luft froren, riss mich aus meiner Versenkung. Ich war nahe daran gewesen, in einem meiner tiefschwarzen >Seelenlöcher< zu verschwinden, die mir inzwischen so vertraut waren, die zu mir gehörten wie meine von der Arbeit rissigen Hände oder die Müdigkeit, die mich nach jeder kleinen Anstrengung überfiel. Lukas’ Schreien hatte mich auch daran erinnert, dass ich mich nicht so gehen lassen durfte, ich brauchte ein Ziel – und ich musste dringend mit jemandem reden! Überrascht stellte ich fest, dass ich ganz unbewusst den Weg zu meiner Tante Rosel nach Westerhofen eingeschlagen hatte. Wie oft schon hatte sie mir beigestanden, wenn ich nicht mehr ein noch aus gewusst hatte. Vor ihrem Haus angekommen, war ich unendlich erleichtert, als ich sah, dass in der Küche Licht brannte, schließlich kamen wir völlig unangekündigt.
Schnell hüpfte Jonas vom Schlitten, und mit meinen Kindern betrat ich das alte Bauernhaus. Hier hatte sich seit meiner Kindheit nichts verändert. Die Tür, durch die man sowohl das Wohnhaus als auch den kleinen Brotladen betrat, war noch immer dieselbe. Der niedrige, enge Laden, der aussah wie der Kaufladen, mit dem ich als Kind gespielt hatte, war so eingerichtet, als hätte es die letzten dreißig Jahre nicht gegeben. Lediglich die Auslage auf den alten Holzregalen war eine andere. Früher hatte Tante Rosel Süßigkeiten, Tabakwaren, Brot und süßes Gebäck sowie Getränke verkauft – heute gab es nur noch Brot und Semmeln auf Bestellung, nach denen es im augenblick auch himmlisch duftete.
Ich klopfte an die weiß gestrichene Küchentür und trat, ohne auf eine antwort zu warten, ein. Holz knisterte im Ofen, und Rosel blätterte in der Zeitung und hatte einen Teller mit einer belegten Seele vor sich stehen. Sie blickte mich erfreut, aber auch etwas erstaunt über den schwarzen Rand ihrer Brille an.
„Ja, du mein Gott, das ist aber eine Überraschung“, begrüßte sie mich. „Häng nur erst deinen Mantel auf, dann trinken wir zusammen einen Kaffee, du siehst ja ziemlich verfroren aus.“
Nachdem ich abgelegt und Rosel die Kinder ausgiebig bewundert hatte, setzte ich mich mit Lukas und Jonas auf den Knien zu ihr. Auf dem Kanapee lag wie immer die kuschelige Wolldecke, doch mein kleiner Lukas weigerte sich, als ich ihn von seinen dicken Wintersachen befreit hatte, auf ihr liegen zu bleiben, und krabbelte stattdessen lieber in der Stube umher, um alles genauestens zu inspizieren. Jonas kritzelte derweilen mit Buntstiften in der Zeitung auf dem Tisch. Das Kanapee und der alte Tisch, das weiße Küchenbüfett und das Waschbecken aus feinem Porzellan mit dem rahmenlosen Spiegel darüber – alles war mir so vertraut, nichts war anders als in meinen Kindertagen. Nur der Holzherd kam mir jetzt kleiner vor als damals, doch das mochte auch daran liegen, dass ich seitdem gewachsen war, und neben ihm stand nun ein Elektroherd mit Backröhre, die einzige Neuerung im ganzen Raum. Auf dem Kanapee lagen auch die bequemen pastellfarbigen Sofakissen, mit denen ich gute Erinnerungen verband, hatte ich doch auf ihnen häufig meinen Mittagsschlaf gehalten. Sogar die Wanduhr war noch dieselbe und sie tickte laut hörbar in die Stille des Raumes – obwohl ich das Gefühl hatte, hier sei schon vor Jahrzehnten die Zeit stehen geblieben.
Auch Tante Rosel, die jüngste Schwester meiner Großmutter Anna, schien sich kein bisschen verändert zu haben. Fürsorglich schenkte sie mir eine Tasse Kaffee ein, holte dann noch schnell Semmeln aus ihrem Laden, und so begann unsere erste gemeinsame Brotzeit seit langem. Natürlich kamen wir sofort auf alte Zeiten zu sprechen, in diesem Zimmer schien gar kein anderes Gesprächsthema möglich, und schon bei Tante Rosels Anfangssatz kehrten alle meine Erinnerungen an die hier verbrachte Kindheit zurück.
„Weißt du noch, wie du oft mitten im Sommer in deiner kurzen roten Lederhose und der weißen Baumwollbluse hier am Tisch gesessen bist, weil es dir draußen zu heiß war?“
Während der Sommer hatte meine Tante immer das Gästezimmer und manchmal sogar ihr eigenes Schlafzimmer an Sommerfrischler vermietet, dann lebte sie über Wochen nur in dieser Küche. Die meisten Gäste kamen schon über viele Jahre, und so kannten sie in der Regel auch die kleine Julia bereits. Einige brachten mir sogar Geschenke mit, es kam auch vor, dass ein Gast Tante Rosel für meine Großmutter hielt, da ich so viel Zeit bei ihr verbrachte. Erst wenn die Gäste nach dem Frühstück ausgeflogen waren, um die sonnigen Berge< und die >schwindelnden Höhen< zu besteigen, frühstückten Rosel und ich zusammen. Oft lagen noch die Brotkrumen oder Semmelbrösel des Gästefrühstücks auf der Tischdecke, doch das störte uns nicht. Von Tante Rosel bekam ich in einer winzigen Tasse so viel >Muckefuck<, wie ich wollte, und dazu gab es die köstlichen, oft noch ofenwarmen Semmeln und selbst gemachte Marmelade. Käse, Wurst und Eier waren den Gästen vorbehalten – doch manchmal fütterte ich heimlich, wenn Rosel im Laden Kundschaft hatte, ein Rädchen Wurst an die zwei Angorakatzen, die bei meiner Tante lebten und die mein Ein und Alles waren.
Nach dem Frühstück durfte ich spülen und musste mich dabei auf einen Hocker stellen, da ich noch nicht groß genug war, um in die Spülschüssel auf dem Holzherd greifen zu können. Tante Rosel machte in der Zwischenzeit die Betten der Hausgäste, und wenn sie zurückkam, stand nicht selten die halbe Küche unter Wasser, aber wir lachten nur gemeinsam darüber, nie hätte Rosel mit mir geschimpft, und trockneten das gespülte Geschirr zusammen ab. Dann spielten wir den Rest des Vormittags Mensch-ärgere-dich-nicht.
All diese Erinnerungen hatte der eine Satz von Tante Rosel sofort in mir wachgerufen. Ein wohliges Gefühl über diese Zeit des Glücks breitete sich in meinem Bauch aus.
Mit einem Mal brach es aus mir heraus – ich heulte nur so drauflos, eine tiefe Traurigkeit hatte mich wieder überfallen. Krampfartig schüttelte mich ein nicht enden wollender Anfall aus Verzweiflung, Wut, Selbstmitleid und Enttäuschung, und Tante Rosel setzte sich zu mir auf das Kanapee, legte den Arm um meine Schulter und sah mich nur mit großen, verständnisvollen Augen an.
„Was ist denn los, Julia, so kenne ich dich gar nicht?“, fragte sie schließlich.
Ich musste erst warten, bis der Anfall sich etwas gelegt hatte, bevor ich zum Sprechen in der Lage war. „Bitte hilf mir, ich weiß nicht mehr weiter.“ Dann sprudelte alles aus mir heraus, die Beleidigungen, die Demütigungen, meine problematische Ehe, meine Depressionen – unser böser Streit letzte Nacht. Die ganze Geschichte meines Leidens und die Ausweglosigkeit, die alles nur noch schlimmer machte.
Rosel gab mir lange keine Antwort. Schließlich meinte sie nur: „Heute Nacht bleibst du auf jeden Fall hier. Ich muss erst einmal nachdenken.“

Ramona Ziegler

Über Ramona Ziegler

Biografie

Ramona Ziegler, geb. 1961, wuchs in Westerhofen auf, einem Bauerndorf im Allgäu. Ausgelöst durch die Erzählungen einer Großtante, denen sie als Kind in den Sommerferien auf der Alm lauschte, hat sie sich schon früh mit der Geschichte ihrer Vorfahren beschäftigt. Viele Dokumente, unter anderem das...

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