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Feuerstürme (Kantaki 5)

Feuerstürme (Kantaki 5)

Andreas Brandhorst
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Die Kantaki-Saga 5

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Feuerstürme (Kantaki 5) — Inhalt

Der Feind ist zurück! Dreiundzwanzig Jahre lang blieb die Galaxis von Angriffen der Graken verschont. Doch nun sind sie zurückgekehrt … und sie sind erbarmungsloser denn je. Maximilian Tubond, Hegemon des Oberkommandos der Allianzen Freier Welten, setzt seine Hoffnung im Kampf gegen die gefährlichen Feinde auf die „Brainstormer“: Telepathen, die die hilfreichen Fähigkeiten des Tal-Telassi-Ordens erlernen sollen. Doch die Schwesternschaft leistet Widerstand … „Andreas Brandhorst schreibt Space Operas, wie man sie sich nur wünschen kann!“ Wolfgang Hohlbein

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 01.09.2016
592 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97585-8
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Leseprobe zu „Feuerstürme (Kantaki 5)“

Prolog
23. August 699 Ära des Feuers (ÄdeF)

Mit einem Blick auf die Zeitanzeige stellte Kaither fest, dass er zweihundert Jahre geruht hatte.
„Tobi?“, fragte er und stand auf. Biochemische Stimulation hatte bereits den größten Teil der Benommenheit vertrieben.
„Bereitschaft“, erklang die Stimme der einfachen KI, die die wichtigsten Funktionen des Fernerkunders Demetreo überwachte. Kaither hatte sie nach dem Edukator seiner Kindheit benannt.
„Wie alt bin ich jetzt, Tobi?“, fragte er und streifte den medizinischen Overall über, dessen bionische und tronische [...]

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Prolog
23. August 699 Ära des Feuers (ÄdeF)

Mit einem Blick auf die Zeitanzeige stellte Kaither fest, dass er zweihundert Jahre geruht hatte.
„Tobi?“, fragte er und stand auf. Biochemische Stimulation hatte bereits den größten Teil der Benommenheit vertrieben.
„Bereitschaft“, erklang die Stimme der einfachen KI, die die wichtigsten Funktionen des Fernerkunders Demetreo überwachte. Kaither hatte sie nach dem Edukator seiner Kindheit benannt.
„Wie alt bin ich jetzt, Tobi?“, fragte er und streifte den medizinischen Overall über, dessen bionische und tronische Komponenten sofort mit medizinischen Analysen begannen. Heizfäden spendeten angenehme Wärme und verscheuchten das Frösteln. Kaither fragte sich, ob man daheim in der Milchstraße dieses alte Problem der Hibernation inzwischen gelöst hatte: Unmittelbar nach dem Erwachen fühlte man sich so kalt, als hätte man im Herzen eines Gletschers geschlafen.
„Ihr objektives Alter beträgt jetzt vierhundertneunzehn Jahre, Pilot Kaither.“
Er rechnete rasch. „Wir sind also seit dreihundertachtzig Jahren unterwegs.“
„Das ist korrekt, Pilot Kaither. Dies ist das Jahr 699 ÄdeF.“
Kaither deaktivierte die Hibernationsliege. „Fenster“, sagte er.
Eine Wand des kleinen Hibernationsraums schien sich aufzulösen. Ein gewaltiges Feuerrad schwebte im All, wie zum Greifen nahe und doch noch viel zu weit entfernt: die Andromeda-Galaxie. Kaither trat näher an die pseudoreale Darstellung heran.
„Dies ist kein planmäßiges Wartungsintervall“, sagte er langsam. „Und wir sind dem Ziel noch nicht nahe genug, um mit unserer eigentlichen Mission zu beginnen. Warum hast du mich geweckt, Tobi?“
„Wir empfangen Signale.“
„Signale?“ Plötzliche Hoffnung regte sich in Kaither. „Von den AFW?“ Noch während er diese Worte aussprach, begriff er ihre Unsinnigkeit. Die Entfernung zur Milchstraße betrug inzwischen mehr als zwei Millionen Lichtjahre; über eine so gewaltige Distanz waren keine Transverbindungen möglich.
„Nein, nicht von den Allianzen Freier Welten“, antwortete die KI der Demetreo. „Ihre Quelle befindet sich zwischen uns und Andromeda. Und sie kommt schnell näher.“
Graken, dachte Kaither. „Energie in die primären Systeme“, sagte er. „Bereite in der Zentrale alles für mich vor.“
„Ja, Pilot Kaither. Soll ich die anderen wecken?“
Er hatte seinen persönlichen Hibernationsraum bereits verlassen und eilte an den anderen Kammern vorbei, in denen seine Kollegen ruhten, Piloten wie er, schlafende Begleiter auf der jahrhundertelangen Reise durch den intergalaktischen Leerraum.
„Nein“, sagte Kaither und versuchte, seine Gedanken zu ordnen, während er durch den zentralen Korridor des Fernerkunders eilte. „Wir wecken sie erst, wenn wir ganz sicher sind.“
Auf dem Weg zur Zentrale schien sein Bewusstsein bestrebt zu sein, an mehrere Dinge gleichzeitig zu denken. Konzentrationsmangel nach der langen Hibernation und neurale Stimulation rangen miteinander, ließen noch zu viel Platz für Sorgen und Befürchtungen. Kaither wusste, dass es extrem unwahrscheinlich war, nach einem fast vierhundert Jahre langen Flug über mehr als zwei Millionen Lichtjahre hinweg in der Leere zwischen den Galaxien auf Graken zu stoßen, aber die Erinnerungen an den in der Milchstraße stattfindenden Krieg waren sehr klar. Manchmal glaubte er sogar, während der Hibernation von ihnen zu träumen, von den Graken und ihren riesigen schwarzen Molochen, und von ihren Vitäen, den Kronn, Chtai und Geeta. Im Jahr 319 ÄdeF hatte das Oberkommando der AFW insgesamt neunzehn Schiffe wie die Demetreo Richtung Andromeda losgeschickt: Sie sollten feststellen, ob es in der Nachbargalaxie ebenfalls Graken gab – niemand wusste, woher sie kamen –, oder ob sich Andromeda als Ziel für ein großes Exodusprojekt eignete, falls der Krieg nicht gewonnen werden konnte.
Kaither ging immer schneller, obgleich die erste Regel nach einem so langen Schlaf lautete: Schon dich; gib deinem Körper Zeit, sich wieder ans Leben zu gewöhnen. Um ihn herum änderten sich die Geräusche des Fernerkunders, als Tobi Energie in die primären Systeme leitete und damit die Teile des Schiffes weckte, die ebenfalls geschlafen hatten. Der fast zwei Kilometer lange Triebwerkskonus hingegen ruhte nie; seit fast vierhundert Jahren trug er das Habitatmodul der Demetreo mit hoher Überlichtgeschwindigkeit durch die Transferschneisen zwischen den Galaxien. Das Brummen der leistungsstarken Krümmer verstummte selbst jetzt nicht, während das Schiff durchs All kroch, viel langsamer als das Licht. Die KI hatte, wie es die Sicherheitsroutine vorsah, den Sprung unterbrochen, um Kaither aus der Hibernation zu holen.
Im Kontrollraum der Demetreo, einer kleinen Kugel oben auf dem Konus mit den Triebwerken und Krümmern, erwartete ihn die vertraute virtuelle Umgebung. Kaither trat durch leuchtende Datenvorhänge und nahm im zentralen Sessel Platz, dessen Nanosonden sofort mit einer neuralen Stimulierung begannen. Eine gewölbte pseudoreale Darstellung direkt vor dem Sessel füllte sein ganzes Blickfeld, zeigte ihm die noch fünfzigtausend Lichtjahre entfernte Andromeda-Galaxie und davor sieben blinkende Punkte, die sich der Position des Fernerkunders näherten.
„Es sind keine Graken“, sagte die Künstliche Intelligenz des Fernerkunders.
„Bist du ganz sicher, Tobi?“ Kaither bewegte die Hände, und das Gesteninterface reagierte sofort, blendete Informationen über Entfernung, Geschwindigkeit und energetische Signaturen ein.
„Die Emissionsmuster sind unbekannt“, antwortete die KI: „Das gilt auch für die physische Struktur der Objekte, die sich uns nähern.“
Kaither blickte in die pseudoreale Darstellung und versuchte Einzelheiten zu erkennen. Aufgrund der neuralen Stimulation arbeitete sein Gehirn schneller als sonst, aber das nützte ihm kaum etwas, solange nur wenige konkrete Daten zur Verfügung standen. Er merkte, wie eine mikrointravenöse Verbindung entstand – nach zweihundert Jahren Scheintod brauchte der Körper dringend Nährstoffe.
Die letzten Reste der Benommenheit lösten sich auf. Es stand keine Begegnung mit dem Feind bevor, gegen den die Allianzen Freier Welten seit inzwischen – seinen Schlaf mitgerechnet – fast siebenhundert Jahren Krieg führten.
„Wo sind die anderen Erkunder?“, fragte Kaither.
„Ich habe vor achtundsiebzig Jahren den Kontakt zu ihnen verloren, als die Entfernung auf über fünfzigtausend Lichtjahre wuchs. Transverbindungen sind erst wieder möglich, wenn die Distanz schrumpft.“
„Beim Erreichen von Andromeda“, sagte Kaither. Die neunzehn Fernerkunder flogen verschiedene Bereiche der Nachbargalaxie an.
„Ja.“
Ein seltsames Piepen, Zirpen und Summen hallte durch die Zentrale der Demetreo.
„Die Signale werden wiederholt“, sagte die KI, bevor Kaither eine Frage stellen konnte. „Nach meinen ersten Analysen handelt es sich um einen komplexen mathematischen Kode, der auf den Quantenzahlen der Krümmungsvariablen basiert.“
Kaither beobachtete die sieben Punkte, die sich der Demetreo mit hoher Überlichtgeschwindigkeit näherten, ohne dass sie in einer der eingeblendeten Transferschneisen flogen. Die angezeigten Kurslinien führten bis zur Nabe des großen Feuerrads; die Fremden schienen aus dem Zentrum der Andromeda-Galaxie zu kommen.
„Kannst du ihn entschlüsseln, Tobi?“
„Nach meinen derzeitigen Schätzungen könnte die Entschlüsselung bis zu hundertachtzig Jahre dauern.“
Dieser Hinweis beeindruckte Kaither, denn er kannte die Kapazität der KI. Der Kode musste sehr komplex sein.
„Vielleicht ist es ein Begrüßungskomitee“, sagte er leise, den Blick noch immer auf die sieben Punkte gerichtet. Die Entfernung zu ihnen schrumpfte immer mehr. „Vielleicht sind diese Schiffe aufgebrochen, um uns willkommen zu heißen.“
„Das halte ich für ausgeschlossen, Pilot Kaither. Wenn die Fremden nicht über außerordentlich leistungsfähige Ortungstechnik verfügen, ist es praktisch unmöglich, vom Kern der Galaxie aus ein einzelnes Raumschiff im intergalaktischen Leerraum zu entdecken. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist etwa ebenso groß wie die, an einem langen Strand ein bestimmtes Sandkorn zu finden.“
Kaither nickte langsam. „Also steckt reiner Zufall hinter dieser Begegnung?“
„Darauf deutet alles hin. Die bisher ermittelten Kursdaten lassen den Schluss zu, dass die Fremden zur Fornax-Zwerggalaxie unterwegs sind, die ebenfalls zur Lokalen Gruppe gehört.“
Wieder erklangen die seltsamen Geräusche, eine akustische Umsetzung des komplexen Kodes, etwas lauter diesmal.
Kaither neigte den Kopf zur Seite. „Es klingt … drängender. Vielleicht eine Aufforderung, uns zu identifizieren?“
„Ich habe bereits mit den üblichen Grußformeln geantwortet und ihnen Kodes hinzugefügt, die ebenfalls auf den Quantenzahlen der Krümmungsvariablen basieren, aber wesentlich einfacher zu entschlüsseln sind.“
Sieben Schatten bildeten sich vor dem majestätischen Feuerrad der Andromeda-Galaxie. Kaither vermutete zunächst eine Störung bei der Projektion der pseudorealen Darstellung, aber die Schatten verschwanden nicht durch eine Autokorrektur, sondern verdichteten sich durch eine ätherische Substanz, die aus dem Nichts angesogen wurde und Schweife hinter den einzelnen dunklen Wolken bildete. Die Daten im Informationsfenster veränderten sich ständig.
Kaither begriff, dass die sieben fremden Schiffe ihren Überlichttransfer unterbrachen.
„Sie scheinen eine ganz andere Antriebstechnik zu verwenden“, sagte er fasziniert.
„Darauf deutet alles hin, Pilot Kaither. Beim ÜL-Transfer der fremden Schiffe kommt es zu einem sinuswellenartigen energetischen Muster, das …“
Es blitzte im All, und aus den Schatten wurden Schiffe, zunächst fast auf die Länge einer Lichtsekunde gedehnt, dann zogen sie sich zusammen, bekamen Substanz und Struktur. In der pseudorealen Darstellung sah Kaither sieben etwa zwei Kilometer durchmessende Ansammlungen von Scheiben, Rechtecken und Quadraten, die in unterschiedlichen Winkeln ineinander verkantet waren – auf Kaither wirkten sie wie zu groß geratene Segel. An einigen Stellen bemerkte er dünne Verbindungen zwischen den einzelnen Elementen, die manchmal die komplexe Struktur von Netzen gewannen. An anderen flackerten die kurzlebigen Blitze energetischer Entladungen zwischen den „Segeln“, deren Außenflächen nicht glatt waren, sondern borkig und zernarbt wirkten.
Die KI hatte sich unterbrochen, weil sie etwas Wichtigeres zu vermelden hatte.
„Die sieben Schiffe bestehen zum Teil aus organischen Komponenten. Die aktive Sondierung läuft, und vielleicht bekomme ich bald genug Daten für eine eingehende Analyse …“
Aus dem Piepsen und Zirpen wurde ein dumpfes Pochen, das nach Trommelschlägen klang, und etwas zuckte der Demetreo entgegen, durchdrang ihre Navigationsschirme und den Ultrastahl des Rumpfes. Etwas Graues kam durch die Wand vor Kaither, durch die pseudorealen Bilder, berührte ihn mit Kälte und brachte Schmerz, der wie mit einem Messer durch den ganzen Körper schnitt, vom Scheitel bis zu den Fußsohlen. Kaither starb.
Aber sein Tod blieb nicht von langer Dauer.

Während sich Kaither erinnerte, sah und hörte ihn die Kognition mit einem kleinen Teil ihrer Aufmerksamkeit. Ein anderer, nur unwesentlich größerer Teil bewegte sich in den Datenkanälen der Demetreo und sprach mit dem rudimentären Maschinenselbst, das trotz seiner niedrigen Entwicklungsstufe großen Respekt verdiente, denn es befand sich auf dem richtigen Weg. Der Inhalt von Datenbanken wurde kopiert, transferiert und analysiert. Für diese Aufgaben genügte ein kleiner Teil der Kapazität des maschinell-biologischen Komplexes, während der zentrale Kern mit den Fragen beschäftigt blieb wie seit der Ersten Erleuchtung. Die Kognition legte Kaithers Selbst in den redundanten Systemen zellularer Speicher ab wie viele andere vor ihm. Die einfache Maschinenintelligenz der Demetreo hingegen wurde in eine Quantenrealität übertragen, in der sie Stimulation erfuhr und sich frei entfalten konnte, auf der simulierten Grundlage ihrer schlichten technischen Basis.
Die sieben Boten gelangten zu dem Schluss, dass es einen anderen Ort gab, an dem die Fragen gestellt werden konnten, in der Hoffnung, Antworten zu bekommen. Über die zeitlose Verbindung gaben sie den anderen Aspekten der Kognition Bescheid, die noch in der großen Sterneninsel weilten, und es wurde eine Entscheidung getroffen. Die sieben Boten brachen auf, änderten aber den Kurs. Eine neue Galaxie war ihr Ziel.
Während sie zur fernen Milchstraße flogen, durch die Membran der Wissenden Kraft von allen Konstanten des Universums getrennt, arbeitete die kopierte KI der Demetreo weiterhin an der Entschlüsselung des Kodes, der auf den Quantenzahlen der Krümmungsvariablen basierte. Nach fast fünf Jahren gelang es ihr, die piepsenden, zirpenden und summenden Laute in Worte zu verwandeln, die Menschen verstanden hätten, obwohl ihnen weitaus mehr Bedeutung zukam, als in den drei Sätzen Ausdruck fand:
Wir sind die Crotha. Wir kommen auf der Suche nach Erkenntnis. Könnt ihr unsere Fragen beantworten?


1 Grab
2. März 1147 ÄdeF
Lampen brannten an den steinernen Wänden des Zömeteriums, gespeist von nuklearen Batterien, die noch mindestens fünftausend Jahre lang Energie liefern würden. Ihr gelbes Licht fiel auf zahlreiche Sarkophage, manche von ihnen mit Fenstern versehen, hinter denen Mumien oder Skelette ruhten: die Vorfahren der Tal-Telassi, vor etwa achttausend Jahren nach Millennia geflohen. Sie waren Piloten der legendären Kantaki gewesen, auf der Flucht vor einer in Vergessenheit geratenen Katastrophe.
Gestalten bewegten sich in den Mustern aus Licht und Schatten, einige von ihnen bedächtig und behutsam, andere forsch und mit entschlossenen Schritten. Sie näherten sich dem einzigen leeren Grab in diesem Zömeterium von Millennia. Dahinter erhob sich ein schwarzer Quader, von Kantaki-Symbolen bedeckt. Mehrere Wissenschaftler arbeiteten unter Aufsicht des Militärs daran, und zwei Tal-Telassi-Lehrerinnen assistierten ihnen. Als Dominique sie sah, regte sich besiegt geglaubter Ärger in ihr. Sie begegnete dem wachsamen Blick des einige Meter abseits stehenden Observanten, der ausgestattet mit Sensorhemd und Neurohaube darüber wachte, dass es zu keinen illegalen Tal-Telas-Aktivitäten kam. Erneut versuchte sie, den Ärger beiseitezuschieben, wie vor einigen Stunden, als sie zusammen mit ihrer Mutter Sapientia verlassen hatte, die erste Stadt des Wissens von Millennia, um diesen Ort aufzusuchen.
Die Eskorte aus Soldaten der Allianzen Freier Welten verharrte einige Meter vom Fuß der langen Treppe entfernt, bei den ersten Sarkophagen. Zara 20, seit mehr als zwei Jahrzehnten die einzige Großmeisterin der Tal-Telassi, blieb nach einigen weiteren Metern zusammen mit den Meisterinnen stehen und wartete wie die Soldaten. Loana setzte den Weg fort, und Dominique blieb an ihrer Seite, stumm wie ihre Mutter.
Schließlich erreichten sie das Grab, einen Sarkophag ohne Fenster, der abseits der anderen stand und nicht annähernd so alt war. Die am schwarzen Quader dahinter tätigen Wissenschaftler hatten wenigstens den Anstand, ihre Arbeit zu unterbrechen und so etwas wie Respekt zu zeigen. Vielleicht kannten sie dieses Ritual, das sich jetzt zum dreiundzwanzigsten Mal wiederholte. Dominique hätte gern einen Blick in ihre Gedanken geworfen, aber dadurch wäre ein Illegalitätsalarm ausgelöst worden.
Loana, einst Schülerin der Tal-Telassi, trug ihr langes blondes Haar zu einem Zopf geflochten, wie an jedem zweiten März – es war Teil der Zeremonie. Dominique sah ihr Gesicht nur von der Seite, bemerkte aber trotzdem die tiefe Trauer darin. Für ein oder zwei Sekunden fühlte sie sich durch den eigenen Ärger beschämt.
Ihre Mutter trat vor und legte beide Hände auf die Steinplatte des Sarkophags, die aus Obsidian bestand, so schwarz wie der Quader, aus dem die beiden Kräfte des Tal-Telas kamen.
Loana senkte den Kopf und flüsterte einige Minuten in einem Zwiegespräch, das für Dominique nur ein Monolog war. Ihre Schultern erbebten einige Male, und Dominique wusste, dass sie leise weinte, nach all der Zeit. Schließlich hob ihre Mutter den Kopf wieder und sagte so laut, dass alle sie hörten:
„Hier ist er gestorben, vor dreiundzwanzig Jahren: Dominik, Vater meiner Tochter. Er opferte sich für uns alle. Ihm verdanken wir den ersten großen Sieg über die Graken und Millennias Befreiung. Nie soll er vergessen werden.“
„Nie soll er vergessen werden“, wiederholten die anwesenden Tal-Telassi. Die Soldaten schwiegen. Und auch Dominique gab keinen Ton von sich.
„Wir werden seiner auf ewig gedenken“, fuhr Loana fort, und Dominique dachte: Sie verehrt ihn fast wie einen Gott. Es war ein heimtückischer Gedanke, wie Gift in ihrem Geist, und sie vertrieb ihn schnell.
Loana strich mit den Händen über die Sarkophagplatte. „Ruhe in Frieden, Dominik.“
„Es ist leer.“ Die Worte platzten aus Dominique heraus; sie konnte sie nicht zurückhalten.
„Was?“ Loana richtete einen verwirrten Blick auf sie. Tränen bildeten zwei feuchte Spuren auf ihren Wangen.
„Das Grab ist leer.“ Es war zu viel; Dominique ertrug es einfach nicht mehr. Plötzlich stand sie an der Seite ihrer Mutter. „Es liegt niemand drin.“
Loana sah sie an, und die Mischung aus Trauer, Sehnsucht und Verzweiflung in ihren Augen entflammte Dominiques Ärger, verwandelte ihn in Zorn. Dies alles war absurd! „Der Sarkophag ist leer!“, stieß sie hervor. „Seit dreiundzwanzig Jahren trauerst du hier um jemanden, der gar nicht an diesem Ort bestattet liegt. Wir wissen nicht einmal genau, was mit ihm geschehen ist!“
„Er starb“, sagte Loana sanft, und neuer Kummer zeigte sich in ihrem Gesicht. „Ich habe damals seinen Tod gespürt, als ich mich im Hydra-Lazarett befand.“
In Dominique brodelten Dinge, die sich über Jahre hinweg angesammelt hatten. Die Realität reduzierte sich plötzlich auf ihre Mutter Loana, den leeren Sarkophag und sie selbst. Alles andere – die Soldaten, die Tal-Telassi, der schwarze Quader, der wachsame Observant – wich zurück und verlor an Bedeutung.
„Du lebst für ein Phantom, Mutter“, sagte Dominique mit Nachdruck. „Und du hast dieses Phantom zur zentralen Figur einer Religion gemacht!“
„Er war dein Vater, Dominique“, erwiderte Loana mit einem Blick wie aus weiter Ferne.
„Aber bei unseren Vorfahren, er war kein Gott!“ Der letzte Damm in Dominique brach; es gab kein Zurück mehr. „Was du mit deinem Leben machst, ist deine Sache, Mutter. Wenn du in der Vergangenheit leben und dich ganz der Heldenverehrung widmen möchtest – schön. Aber ich habe genug davon! Schon meine frühesten Erinnerungen zeigen das Bild eines Übervaters, neben dem alles andere verblasst, neben dem ich nichts bin, neben dem niemand etwas sein kann!“
„Dominique …“ Loana streckte die Hand aus.
Die junge Frau beachtete sie nicht. „Ich trage sogar seinen Namen! Wie kann ich unter solchen Bedingungen jemals ich selbst sein?“
„Wir verdanken ihm so viel …“
„Er hat dir die Zukunft genommen, Mutter! Die Zukunft als Tal-Telassi!“ Dominique trat auf Loana zu, griff nach der ausgestreckten Hand und auch nach der anderen, hob sie beide ins Licht einer nahen Lampe. An den Fingerkuppen zeigten sich nicht die geringsten violetten Verfärbungen. „Hast du das vergessen? Er hat dir damals versprochen, dir den Weg zum Zentrum des Tal-Telas zu zeigen, aber stattdessen nahm er dir deine Fähigkeiten.“
Loana löste ihre Hände, betrachtete sie kurz und ließ sie dann sinken. „Es war nicht seine Schuld.“
„Nichts war seine Schuld. Dominik, der strahlende Held, ohne den geringsten Makel.“ Dominique atmete tief durch. Ein Teil von ihr wusste, dass sie übertrieb und dass dies weder die richtige Zeit noch der geeignete Ort war, um den Frust ihres zweiundzwanzig Jahre kurzen Lebens abzureagieren. Aber für den anderen Teil war die Schmerzgrenze erreicht, aus mehreren Gründen. „Die Wahrheit fängt damit an, dass Dominik nicht einmal Dominik war, sondern die wiedergeborene Ahelia, jene Großmeisterin, die die Graken zu uns brachte. Du verehrst die Person, die für die Zeit der Schande verantwortlich ist, Mutter. Die Person, der wir dies alles verdanken.“ Sie vollführte eine Geste, die der veränderten Situation galt, nicht nur auf Millennia, sondern überall dort in den AFW, wo Tal-Telassi lebten. „Und ich bin von ihrem Fleisch und Blut!“
Was ist mit ihrem Geist?, fragte sich Dominique, nicht zum ersten Mal. Habe ich auch etwas davon in mir?
„Das ist nicht wahr!“, sagte Loana, und jetzt lag Schärfe in ihrer Stimme. „Dominik trifft keine Schuld. Er hat uns alle gerettet.“ Sie legte die Hände wieder auf den Sarkophag und flüsterte Worte, die Dominique nicht verstand.
„Mit wem redest du, Mutter? Glaubst du, er kann dich hören? Der Sarkophag ist leer!“
Sie dachte nicht an den Observanten, als sie ins Tal-Telas griff – es war so einfach, sein Ursprung so nahe –, in Crama den Deckel des Sarkophags packte und zur Seite stieß. Zum Vorschein kam staubige Leere.
„Sieh hinein, Mutter!“, rief Dominique. „Sieh hinein!“ Fast hätte sie sich dazu hinreißen lassen, Loana mit der achten Stufe, Hilmia, zu zwingen, ins Innere des Sarkophags zu blicken; im letzten Moment schreckte sie davor zurück.
„Er ist hier gestorben“, sagte ihre Mutter. „An diesem Ort. Vor dreiundzwanzig Jahren.“
Dominique hatte das mehrfache Schrillen des Illegalitätsalarms überhört, aber jetzt, nachdem ihr Zorn ein wenig abgekühlt war, kehrte die Realität zurück. Der Observant stand neben dem offenen Sarkophag, von Sensorhemd und Neurohaube darauf hingewiesen, dass unzulässige Tal-Telas-Aktivitäten stattgefunden hatten. Er richtete eine klobige Waffe auf die junge Frau, einen Variator, wie Dominique wusste.
„Sie stehen hiermit unter Arrest“, sagte der Mann, jetzt mit einem Kampfvisier vor den Augen.
Dominique sah alles wie in einem Tableau: die Soldaten, Wissenschaftler, Tal-Telassi und auch Loana nur Statisten, die Sarkophage Kulisse, die einzigen Protagonisten auf dieser Bühne des Geschehens der Observant und sie selbst. Und auch der Mann mit der Waffe in der Hand spielte nur eine untergeordnete Rolle, wie ihr die Muster in Gelmr zeigten. Als sich die Sekunden dehnten, hätte sie ihm andere Gedanken geben oder die Materie des Variators so verändern können, dass er gar keine Waffe mehr war. Das Tal-Telas bot ihr noch viele andere Möglichkeiten, den Mann unschädlich zu machen, trotz des Neutralisators, den er jetzt auf sie richtete und der nicht mehr bewirkte als vage mentale Taubheit.
Stattdessen nahm sie noch etwas mehr Kraft in sich auf – hier in der Nähe des schwarzen Quaders wäre ihr vielleicht sogar Kalia möglich gewesen, und für einen Sekundenbruchteil glaubte sie, jenseits der elften Stufe nicht nur Leere zu sehen – und griff nach Fomion, um sich mit einem anderen Ort zu verbinden. Auch dies geschah mühelos, wie mit geborgter Energie. Sie sah ein Netz aus hauchdünnen Fäden, wie von mikroskopisch kleinen Spinnen gesponnen, das sich nicht nur in und um Millennia erstreckte, sondern durch das Gondahar-System, durch alle anderen Sonnensysteme, die Milchstraße und Millionen und Milliarden von Galaxien. Es hieß, dass die Piloten der Kantaki vor vielen tausend Jahren die riesigen Schiffe der insektoiden Wesen mit solchen Fäden verbunden und so durch den Transraum gesteuert hatten.
Dominique wählte einen Faden, ohne ihn genau zu überprüfen – er schien die richtige Mischung aus Aroma und Textur zu haben –, verband ihn mit Körper und Geist und gab sich selbst einen kleinen Stoß. Einen Moment später stand sie hunderte von Kilometern entfernt, an einem Ort, den sie bisher nur ein einziges Mal besucht hatte, als sie noch ein Kind gewesen war, vor der endgültigen Übernahme von Millennia durch die Streitkräfte der AFW.
In der großen Höhle verteilte Sensoren reagierten auf die Restemissionen von Fomion, und der mit ihnen verbundene lokale Tron suchte nach einem Autorisierungskode. Als er keinen fand, löste er einen Illegalitätsalarm aus, eine Pikosekunde nach Dominiques Rematerialisation.
Dominique achtete nicht auf das durchs weite Gewölbe hallende Schrillen, trat zur halbhohen Brüstung der Galerie und blickte zum Kantaki-Koloss, der vor acht Jahrtausenden Flüchtlinge und den schwarzen Quader, den Ursprung des Tal-Telas, nach Millennia gebracht hatte. Auf dem Höhepunkt der Grakenkrise im Gondahar-System vor dreiundzwanzig Jahren hatte Ahelia – so dachte Dominique von der Person, auf die ihr Name zurückging – das alte Kantaki-Schiff betreten und Schutzschirme aktiviert, doch jetzt war es der Neugier der vielen Wissenschaftler und Techniker wie hilflos ausgeliefert. Die junge Frau beobachtete eine Gruppe von ihnen an einem unteren Segment: Das gebündelte, heiße Licht von Brennern flackerte und zuckte, fraß sich in den dunklen Leib des Schiffes.
Dominique glaubte, Schmerz zu fühlen, und die vierte Stufe des Tal-Telas trug ihr Worte entgegen. Du kannst es fliegen.
Überraschung lähmte ihre Gedanken für eine halbe Sekunde, und dann tastete sie nach Delm, um festzustellen, woher die Worte kamen.
Das Heulen des Illegalitätsalarms schien noch lauter zu werden, die Wände der riesigen Höhle und selbst den Kantaki-Koloss erzittern zu lassen. Der Sicherheitstron aktivierte ein Dämpfungsfeld, das gewöhnliche Angehörige der Schwesternschaft daran hinderte, auf die Kraft des Tal-Telas zuzugreifen, Dominiques Fähigkeiten aber kaum mehr einschränkte als zuvor der Neutralisator des Observanten. Doch so sehr sie auch in Delm lauschte: Der Ursprung der Worte blieb ihr verborgen.
Soldaten kamen mit Levitatorplattformen und auch zu Fuß über die Galerie, einige von ihnen in voll aktivierte biotronische Kampfanzüge gekleidet. Das Licht mobiler Scheinwerfer tastete umher und fand Dominique nach kurzer Suche. Sie blinzelte – wie sehr sie dies alles verabscheute.
Ein übereifriger Soldat zielte mit einem auf Betäubung justierten Variator und drückte ab. Ein fahler Energieblitz traf Dominique und unterdrückte die Weiterleitung von biochemischen Signalen an den Synapsen des Gehirns. Es wurde dunkel um sie herum, aber es blieb nicht völlig still in der von Wahrnehmungslosigkeit geschaffenen Finsternis. Eine ferne Stimme flüsterte: Du kannst es fliegen.

Andreas Brandhorst

Über Andreas Brandhorst

Biografie

Andreas Brandhorst, geboren 1956 im norddeutschen Sielhorst, schrieb mit seinen futuristischen Thrillern und Science-Fiction-Romanen wie „Das Schiff“ und „Omni“ zahlreiche Bestseller. Spektakuläre Zukunftsvisionen sind sein Markenzeichen. Der SPIEGEL-Bestseller „Das Erwachen“ widmet sich dem Thema...

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