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Die Schwester

Die Schwester

Kerstin Decker
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Das Leben der Elisabeth Förster-Nietzsche

„Elegante biografische Erzählung […]“ - Süddeutsche Zeitung

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Die Schwester — Inhalt

Elisabeth und Friedrich Nietzsche. Ihr frühes Bündnis gegen die Zumutungen des Daseins schien unkündbar zu sein. Sie gab sich keine Mühe, einen Mann zu finden. Er gab sich keine Mühe, eine Frau zu finden. Bis doch eine zwischen sie trat, Elisabeth ihren Bruder verstieß und Friedrich Nietzsche die eigene Schwester zu seiner Fernsten erklärte. Zur Strafe heiratet sie: einen Antisemiten. Schlimmster Affront gegen den Anti-Antisemiten Nietzsche. „Du entkommst mir nicht!“, weiß Elisabeth, nachdem ihr Bruder in Turin verhaltensauffällig wird: Er hatte ein geprügeltes Droschkenpferd umarmt. Aber sein Ruhm wächst. Friedrich Nietzsche gilt noch immer als der beliebteste, meistgelesene und meistzitierte Philosoph weltweit. Dass erhalten ist, was er schrieb, ist nicht zuletzt ihr Verdienst. Drei Mal wird sie für den Nobel-Preis vorgeschlagen, gar zur „ersten Frau Europas“ erklärt. Friedrich Nietzsche hat seiner kleinen Schwester vieles zugetraut, aber auf den Gedanken, dass sie einmal seine Wirkungsgeschichte mitbestimmen würde, wäre er nie gekommen. In aller Beiläufigkeit widerlegt sie sein Frauenbild.

€ 13,99 [D], € 13,99 [A]
Erschienen am 02.11.2016
656 Seiten, WMePub
EAN 978-3-8270-7906-0
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Leseprobe zu „Die Schwester“

Vorweg

Niemand hat sich an dem Andenken Nietzsches schwerer vergangen
als seine Schwester. Wer sich für die Schwester entscheidet,
entscheidet sich gegen Nietzsche.

Karl Schlechta, Der Fall Nietzsche
Die Schwester ist schuld!
Wie konnten Abertausende deutsche Soldaten mit dem Zarathustra im Gepäck in den Ersten Weltkrieg ziehen?
Die Schwester ist schuld!
Wie war es möglich, dass den Nationalsozialisten Nietzsches Bücher nicht nach dem dritten Satz aus der Hand fielen?
Die Schwester ist schuld!
Wer gab ein Werk heraus, das Nietzsche gar nicht geschrieben hatte?
Die [...]

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Vorweg

Niemand hat sich an dem Andenken Nietzsches schwerer vergangen
als seine Schwester. Wer sich für die Schwester entscheidet,
entscheidet sich gegen Nietzsche.

Karl Schlechta, Der Fall Nietzsche
Die Schwester ist schuld!
Wie konnten Abertausende deutsche Soldaten mit dem Zarathustra im Gepäck in den Ersten Weltkrieg ziehen?
Die Schwester ist schuld!
Wie war es möglich, dass den Nationalsozialisten Nietzsches Bücher nicht nach dem dritten Satz aus der Hand fielen?
Die Schwester ist schuld!
Wer gab ein Werk heraus, das Nietzsche gar nicht geschrieben hatte?
Die Schwester ist schuld!
Alle Fehlleistungen der Nietzsche-Leser?
Die Schwester ist schuld.
Hätte Friedrich Nietzsche nicht seine Schwester ge-habt, er wäre für seine Bücher am Ende selbst ver-antwortlich. Der Hinweis auf die Schwester ist längst zum großen Freispruch des Philosophen von seinen Missverständlichkeiten und seinen Unmissverständ-lichkeiten geworden. Elisabeth Förster-Nietzsche, mehr ein Gerücht als ein Mensch, gehört zu den Personen, über die man schon alles zu wissen meint, bevor man überhaupt etwas über sie weiß.
Die Schwester ist schuld.
Aber woran genau?
Welch hartes Los, ausgerechnet mit mir verwandt zu sein!, hatte Friedrich Nietzsche seiner Mutter und Eli-sabeth immer wieder versichert. Im letzten Herbst seiner bewussten Existenz kehrte er den Befund um: … mit solcher Canaille mich verwandt zu glauben, wäre eine Lästerung auf meine Göttlichkeit.1
Der Philosoph lässt sich gehen. Und es kann nicht ganz verfehlt sein, hier von einem Sinneswandel zu sprechen.
Elisabeth lädt die schwerstmögliche Schuld im Nietzsche-Universum auf sich: Auch sie hat zuletzt nicht mehr an ihren Bruder geglaubt. Nicht einmal mehr sie?
Aber wer dann?
Denken wir es, prüfen wir es neu:
Friedrich und Elisabeth Nietzsche. Sie waren sich näher, als Geschwister es gewöhnlich sind. Ihr frühes Bündnis gegen die Zumutungen des Daseins, insbe-sondere gegen die Misslichkeiten dessen, was die Erwachsenen Erziehung nennen, schien unkündbar zu sein. Er war ihr Schutz, Vaterersatz, Mittelpunkt der Welt, Maß aller Dinge.
Sie gibt sich keine Mühe, einen Mann zu finden. Er gibt sich keine Mühe, eine Frau zu finden. Bis doch eine zwischen sie tritt, Elisabeth ihren Bruder verstößt und Friedrich Nietzsche die eigene Schwester zu seiner Fernsten erklärt. Zur Strafe heiratet sie und verwirklicht seinen Traum von einer Kolonie in Amerika: ohne ihn.
Du entkommst mir nicht!, weiß Elisabeth, nachdem ihr Bruder in Turin verhaltensauffällig wird: Er umarmt ein geprügeltes Droschkenpferd. Aber sein Ruhm wächst. Die Leute lesen offenbar lieber die Bücher eines verrückten Philosophen als die eines gesunden, bemerkt die Schwester, nimmt ihren kranken Bruder als Geisel und editiert seine Werke. Mit kleinen Korrekturen.
Sie gehören zusammen.
Elisabeth Förster-Nietzsche stellt ihren alten Bund wieder her, Puristen werden einmal von Fälschung sprechen.
Zum ersten Mal wird die intime Geschwisterbeziehung so dargestellt, dass der Leser sie mit- und nachvollziehen kann. Das ist wichtig, aus zwei Gründen. Der von Nietzsche genährte populäre Glaube, die Schwester habe sein Verhältnis zu Lou von Salomé zerstört, gilt noch immer als latent wahrheitsfähig. Zum anderen aber werden die brüderlichen Elisabeth-Schmähungen sofort als Waffe gegen sie eingesetzt. Bereits ihr erster Archiv-Mitarbeiter notiert die Stellen, auf die er mit Verblüffung stößt, in „Geheimexzerpten“. Und droht, sie zu veröffentlichen. Sie werden weitergereicht.
Scheinbar unvermittelte Übergänge von der aller-persönlichsten Sphäre der Mitwirkenden ins beinahe Welthistorische mögen unser Gefühl befremden, ent-sprechen jedoch der Dynamik der Tatsachen.
Friedrich Nietzsche hat seiner Schwester vieles zuge-traut, aber auf den Gedanken, dass sie einmal seine Wirkungsgeschichte mitbestimmen könnte, wäre er nie gekommen. In aller Beiläufigkeit widerlegt sie sein Frauenbild.
Können Frauen denken? Noch glaubt das fast keiner, aber die Absolventin einer Mädchenschule sammelt ungerührt einen ganzen Stab von Philosophen und Philologen unter ihrem Oberbefehl. Welche Demütigung.
Um 1900 wird das Weimarer Nietzsche-Archiv zum Treffpunkt der freien Geister Europas. Mit 89 Jahren wird Elisabeth Adolf Hitler den Spazierstock ihres Bruders schenken, aber zuvor steht sie am Beginn der Moderne in Weimar. Drei Mal wird sie für den Nobelpreis vorgeschlagen, gar zur „ersten Frau Europas“ erklärt.
Wer war Elisabeth Förster-Nietzsche?  


Dionysos 1943
Das Telefon klingelt zu oft im Weimarer Nietz-sche-Archiv, auf einer Anhöhe über der Stadt gelegen, mit freiem Blick nach unten. Freier Blick nach unten: Das ist die Nietzsche-Perspektive, auch in Thüringen.
Ihr seht nach oben, wenn ihr nach Erhebung verlangt. Und ich sehe hinab, weil ich erhoben bin.
Der Höhenvermesser ist zu diesem Zeitpunkt seit 43 Jahren tot, seine Schwester weilt seit acht Jahren nicht mehr unter den Lebenden.
Denkende Menschen verabscheuen Fernsprech-apparate, sie zerreißen jeden Gedanken, falls einer sich sehen lässt, aber der Bahnhof ist schuldlos, er ruft eher selten an. Und der Vorsteher der Güterabfertigung schon gar nicht, aber jetzt ist er dran: Da sei etwas ungemein Großes, ungemein Schweres angekommen, ein griechischer Gott laut Transportschein, Dionysos mit Namen, keine Ahnung, wer das ist, Absender: Mussolini. Adressat: Nietzsche-Archiv Weimar. Also Sie! Was um Himmels willen solle er mit diesem Dionysos machen?
Stehenlassen oder ausladen?
Max Oehler ist alarmiert. Der Langerwartete, er ist also da. Dionysos, der Bürge der Philosophie seines am Ende verrückten Vetters. Der antike Gott des Rausches, des Todes und der Wiedergeburt, der Zerstörung und des Werdens.
Elisabeth hatte Oehler einst mit dem Titel mein Lieblingsneffe versehen, dabei war er ihr Cousin, doch so viel jünger, und kann man Cousins adoptieren? Sie hätte es gern getan, auch trüge ihr Nachfolger jetzt den viel passenderen Namen Max Nietzsche statt Max Oehler. Dem Bahnbeamten ist es egal, ob Max Nietzsche oder Max Oehler den Gott abholt, Hauptsache er macht es gleich. Dionysos, dessen Anblick kein Sterblicher standhielte, wäre er nicht gebannt: im Kunstwerk, im Bildwerk. Und dessen Bürge wiederum Apoll ist, der Gegengott.
Aber was heißt Gegengott? Es gibt nur noch einen, und das ist der Krieg. Ein dionysischer Todesrausch. Die Sirenen heulen über Weimar. Oehler hört es vorm Haus, hört es im Fernsprecher. Der nächste Luftangriff beginnt.
Die Stimme des Vorstehers des Güterbahnhofs wird dringlicher: Was also solle er mit Dionysos machen? Wenn er überhaupt noch etwas machen könne, denn: sie bombardieren den Bahnhof!
Max Oehler, Major a. D., ist es gewohnt, Befehle zu geben. Oder vielmehr: er war es gewohnt. Das ist lange her, denn mit seiner Qualifikation ließ sich seit 1918 vorerst nichts mehr anfangen. Und schon zuvor hatte er gefühlt, dass das Militär vor allem eins ist: eine äußerste Geistesverlassenheit. Natürlich machen einem solche Wahrnehmungen den Dienst in einer Armee nicht leichter, wie auch immer, etwas in ihm erinnerte sich der alten Tonlage, in der man Befehle erteilt, und er bellte in den Hörer: Ausladen!
Ein Befehl ist nur dann ein Befehl, wenn die in ihm liegende Drohung die aller sonst noch existierenden Drohungen übertrifft, in diesem Fall die der Bomben.
Und nun? Bedeutet das nicht, dass jetzt er im Bombenhagel den Gott bergen muss? „Danach blieb mir nichts übrig, als durch die leeren Straßen zum Güterbahnhof zu eilen, während englische Weih-nachtsbäume in bezaubernder Schönheit am Himmel brannten. Trotzdem schleppte eine Zugmaschine den Gott auf den Bahnhofsvorplatz.“ 
Ab hier musste er den Schwerlaster führen. Der deutsche Oberbefehlshaber in Italien Generalfeldmar-schall Kesselring hatte persönlich die Schutzherrschaft über Dionysos’ Abreise übernommen, seine Ankunft nun lag allein bei ihm, Max Oehler, Mitglied der NSDAP seit 1931. Ob er sich manchmal fragt, wie tief Nietzsche ihn und seine Partei verachtet hätte?
Sie scheinen ganz allein auf der Welt, der National-sozialist und der Gott, dessen riesiges Marmorhaupt neben ihm ruht. Sie fahren durch den Sprengbom-benhagel auf Weimar. Was Max Oehler über sich sieht, ist Schönheit, dionysische Schönheit, ist Untergang.
„Brüder, hinterm Sternenzelt muss ein gütiger Vater wohnen“, hatte mal ein anderer Sohn dieser Stadt gedichtet. Aber das ist lange her. Was wusste Schiller von Dionysos und von diesem Krieg?
Mag sein, es geht Max Oehler wie den uranfänglichen Menschen, die sich unter den Schutz der Götter stellten, die sie schufen. Aber darf er auf solchen Beistand hoffen, ausgerechnet vom Gott des Rausches, der Raserei, der Lust, des Krieges?
Unversehrt erreichen Mensch und Statue die Villa des Archivs. Dahinter erhebt sich dunkel und unvollendet die Weihestätte, die Adolf Hitler dem Philosophen errichten lässt, den er für den Vordenker des Nationalsozialismus hält. Über ihrem Portal steht: FRIEDR. NIETZSCHE ZUM GEDÄCHTNIS ERBAUT UNTER ADOLF HITLER IM VI. JAHRE DES DRITTEN REICHES. Am 15. Oktober 1944 muss alles fertig sein. Mit Mussolinis Dionysos in der Apsis. Am 15. Oktober 1944 würde die Welt den 100. Geburtstag Friedrich Nietzsches feiern. Die Welt?
Und dann, etwas später, bemächtigt sich Max Oehlers eine stille Verzweiflung: Der Gott hatte ihn, hatte sie beide gerettet, aber: Er passt nicht in die Apsis. Dionysos geht durch die Decke.
Die Gedenkhalle ist zu klein für den Gott.  


1
„Fritz ist anders geworden …“

Allein in Tautenburg
(Elisabeth)

Es ist unmöglich, aber wahr: Ihr Bruder liebt eine andere. Bis eben war sie die einzige Frau in seinem Leben, und nun? Sie hätte das nie geglaubt, er ist nie von einem weiblichen Wesen nur halb so begeistert gewesen4, doch es ist geschehen.
Das ist Verrat.
Wann gab es ein Band zwischen Bruder und Schwester, so eng, so unauflöslich wie das ihre? Der unbedingte Beistandspakt zwischen ihnen, nie unter-zeichnet und doch gültig von Ewigkeit zu Ewigkeit, er hat ihn gebrochen. Wegen einer Frau. Aber was heißt Frau? Wegen dieses Kuriosums von einem Weibe: Dieselbe Größe wie ihre Mutter, dieselbe unmöglich dünne Taille, derselbe hochgewölbte Busen (so daß man beim Anblick dieses Oberkörpers immer im Zweifel war, ob der obere oder der untere Theil der unnatürlichste sei) … Und das ist erst der Anfang von Elisabeths Lou-Porträt.
Dass Fritz einmal so werden konnte, wie er in diesem Sommer war, so – wie soll sie das nur sagen? – eben so wie seine Bücher. Ja, das ist wohl der erschütterndste Befund dieses August 1882, und sie sieht sich außerstande, es noch länger vor sich zu verbergen: Fritz ist anders geworden er i s t so wie seine Bücher.6 Für alle, die in diesem Satz etwas vermissen, sei es gleich gesagt: Elisabeth Nietzsche setzt Kommas nur äußerst sparsam, eher gar nicht. Satzzeichen, weiß sie, sind Prothesen für Minderbegabte, die sich allein mit ihrer natürlichen Intelligenz in einem Text nicht zurechtfinden.
Die Schwester des Philosophen harrt weltverloren allein in einem thüringischen Kleinstort aus, und zwar so: Ich bin halbe Tagelang einsam in den dichtesten Wäldern herumgeirrt. Es ist Ende August, fast alle Badegäste sind schon weg, auch ihr Bruder und das Mädchen, dem seine Teilnahme gilt. Drei Wochen lang war sie das dritte Rad am Wagen gewesen, aber nein, das ist ungenau: Dieser Wagen hatte von Anfang an nur zwei Räder, das Friedrich- und das Lou-Rad, sie waren Gleichrollende, 20 Tage lang.
Im anderen bei sich selber sein. Ein Meisterdenker, den ihr Bruder gern verspottet, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, hat so einmal die Liebe definiert, so schön und trotzdem wahr. Für sie, Elisabeth, blieb bei dieser Seinsweise kein Platz, und wenn die beiden mit ihr sprachen, dann nur, um sich über sie lustig zu machen. So schien es ihr.
Wann hätte Friedrich jemals mit seiner Schwester geredet wie mit dieser 21-Jährigen, so als sei jedes Wort aus ihrem Munde eine Offenbarung?
Wir Neuen, Namenlosen, Schlechtverständlichen, wir Frühgeburten einer noch unbewiesenen Zukunft!, wird er bald sagen. Vorbereitende Menschen nennt er den Lou-Typus, den Friedrich-Typus in seinem neuen Buch: Menschen mit eigenen Festen, eigenen Werktagen, eigenen Trauerzeiten … gefährdetere, fruchtbarere Menschen, glücklichere Menschen! Denn, glaubt es mir! – das Geheimniss, um die grösste Fruchtbarkeit und den grössten Genuss vom Dasein einzuernten, heisst: GEFÄHRLICH LEBEN! Baut Eure Städte an den Vesuv! Schickt Eure Schiffe in unerforschte Meere! 
Vielleicht ist es nicht falsch, vom Tautenburger Spät-sommer 1882 nur für einen Augenblick nach Italien hinüberzuschauen. Denn in dem kleinen Ort Predappio, auf der Höhe Riminis landeinwärts gelegen, steht die Zeugung eines künftigen Nietzsche-Lesers unmittelbar bevor. Er wird das „Gefährlich leben!“ zu seinem Wahlspruch machen, ja, man kann sagen, Friedrich Nietzsche wird diesen Mann erst schaffen, denn die Lektüre seiner Schriften bringt den jungen Sozialisten schließlich vom Sozialismus ab und auf seinen ureigenen Weg. Sein Name ist Benito Mussolini.
Nur verwechselt mich nicht!, bittet Friedrich Nietzsche immer wieder, vergebens. Schon seiner eigenen Schwester scheint er plötzlich wie ein Fremder. Sie kennt ihn wie niemand sonst, und erkennt ihn doch nicht wieder.
Sie, die treue Gefährtin seines Lebens, rechnet er selbstredend nicht zu den maritimen Vesuvbewohnern. Eigentlich mag ihr Bruder gar keine Frauen, er hält sie für ein zu defizitäres Geschlecht. Aber für diese junge Russin machte er eine Ausnahme. Sie sei die Einzige, sagt er, die seine Philosophie wirklich verstehen könne. Wer nicht von dieser Russin entzückt ist „dem fehlt der Blick für Größe“ oder (er) „ist eifersüchtig“, referiert Elisabeth mit Bitterkeit im Herzen den Standpunkt ihres Bruders. Wahrscheinlich hat er nicht einmal vergessen hinzuzufügen, dass die Eifersucht eine spezifisch weibliche Begabung sei.
Er hat sie benutzt.
Er brauchte sie als Anstandsdame, schließlich konnte er nicht allein mit einem jungen Mädchen im Wald wohnen. Es war so demütigend. Und sie hat diesen Ort auch noch für ihn gefunden, für ihn eingerichtet. Es war der schlimmste August ihres Lebens, es war der schlimmste Aufenthalt ihres Lebens. Auch sie müsste jetzt abreisen, endlich abreisen, den Schauplatz ihrer Erniedrigung verlassen, aber sie kann hier nicht weg, aus zwei Gründen. Sie weint die Tage und die Nächte durch, so kann sie nicht unter Menschen gehen, so kann sie nicht Zug fahren, so kann sie nicht nach Hause kommen. Der zweite Grund ist: Ihr Bruder ist dort, Fritz ist zu Hause. Er ist nach Naumburg gefahren, zur Mutter. Sie selbst hat ihn darum gebeten, kategorisch darum gebeten, gleich nachdem das Monstrum weg war. Sie halte es jetzt nicht aus, hat sie ihm gesagt, mit ihm am selben Ort zu sein, dieselbe Luft zu atmen.
Am 26. August 1882 brachte Friedrich Nietzsche die Petersburger Generalstochter nach Dornburg zum Bahnhof, und als er zurückkam, haben die Geschwister sehr gestritten. Er benahm sich, als sei nichts geschehen, als sei alles gut zwischen ihnen, wie immer, eher noch besser. Diese gute Laune, mit der er zurückkehrte, diese Zuversicht, schnitt ihr ins Herz. Elisabeth wusste, dass er wusste, wohin Lou fährt: zu Rée, direkt in die Arme seines besten Freundes. So ist dieses Mädchen.
Und Fritz will das nicht sehen. Der arme Thor macht nur sich und seine Philosophie lächerlich12. Und sie, seine Schwester, macht er auch lächerlich. Sollen sie so enden?

Wie er über ihre Schreibversuche gespottet hat. Eli-sabeth brüte auf ihren kleinen Novelleneierchen, hat er Lou mitgeteilt. Und ihr selbst erklärte er, eine schreibende Schwester, ein schriftstellerndes Frauenzimmer also, wäre „seiner unwürdig“. Sie ist ihm peinlich vorm Angesicht der Welt? Weil es Frauenplunder ist, was sie zu Papier bringt? Weil sie zu viele Adjektive benutzt und jedes Mal die falschen? Oder weil Friedrich in ihrer Novelle die Hauptfigur ist, ein Philologieprofessor Mitte dreißig, der nicht heiraten will? Philosophen sind empfindlich, wenn man statt über ihre Gedanken über sie selber spricht, auch das hat sie in ihrer Novelle vermerkt: Nichts ist Philosophen unangenehmer, als wenn man ihre philosophischen Bemerkungen ins Persönliche überleitet. Ihr Bruder macht da gar keine Ausnahme. Es ist schwer genug, im eigenen Leben vorzukommen, und jetzt auch noch in der Literatur seiner Schwester? Aber sie hatte keine Wahl. Jeder Autor sollte über etwas schreiben, das er wirklich gut kennt, und sie kennt nichts und niemanden auf dieser Welt besser als ihren Bruder. Georg Eich-stedt heißt er in ihrer Erzählung, und natürlich benutzt sie Zitate aus Friedrichs Büchern, schließlich handelt die Geschichte von ihm.
Diese Frau ist schön und klug: ach, wie viel klüger aber würde sie geworden sein, wenn sie nicht schön wäre, heißt es im Aphorismus 282 der Morgenröthe. Bei Elisabeth liest sich das so: „Du weißt aber“, fuhr er – der ledige Professor Georg Eichstedt – lebhaft fort, „daß das Hübschsein mir als keine gute Mitgabe für die Frauen erscheint, es hat meist einen abschwächenden Einfluß auf ihren Geist und Thätigkeitstrieb, und ich möchte wie jener Philosoph sagen, der, als man ihn mit einer Frau bekannt gemacht hatte, welche ebenso schön als klug war, betrübt ausrief: ›Oh, wie viel klüger würde sie noch sein, wenn sie nicht so schön wäre.‹“ 
Hat sie das nicht gut formuliert: … einen abschwä-chenden Einfluß auf ihren Geist …? Ironie ist eine Angelegenheit der Nuancen. Das den Bruder zitierende Alter Ego ihres Bruders bekommt an dieser Stelle Widerspruch von seinem Vater, einem verwitweten Oberst im Ruhestand, der die Berufswahl seines Sohnes immer missbilligt hat: „Aber“, wand hier ein wenig ironisch lächelnd der Oberst ein, »Dein Philosoph scheint mir doch die Frauenwelt recht einseitig zu beurtheilen. Ich habe die hübschen Frauen immer geistreicher als die häßlichen gefunden. Das Bewußtsein eines angenehmen Äußeren giebt den Frauen … Aber nein, Elisabeth Nietzsche hat jetzt wohl keine Freude mehr an ihrer Novelle, auch zum Schreiben gehört ein kleiner Übermut. Sie wird diesem Stück Literatur – vielleicht war es ihr Erstling – am Ende nicht einmal einen Namen geben. Hat Friedrich Nietzsche die Schriftstellerin Elisabeth Nietzsche auf dem Gewissen?
Was besonders kränkt: Sie schmäht er für ihre Schreibversuche, für Lou aber hat er in Tautenburg eine ganze Stillehre verfasst: Der Takt des guten Prosaikers in der Wahl seiner Mittel besteht darin, DICHT an die Poesie heranzutreten, aber NIEMALS zu ihr überzutreten. Oder: Je abstrakter die Wahrheit ist, die man lehren will, um so mehr muß man erst die Sinne zu ihr verführen. Er kann das, Elisabeth leugnet es nicht. Noch im Juni hat sie ihm geholfen, das letzte seiner unverkäuflichen Bücher druckfertig zu machen. Er hat es Die fröhliche Wissenschaft genannt. Aber mit Wissenschaft hat das nichts zu tun, gar nichts, sie täuscht er nicht. Es ist eine Bibel der radikalen Selbstbezüglichkeit, er formuliert das nur viel schöner, damit niemand den Betrug gleich merkt: Menschen mit eigenen Festen, eigenen Werktagen, eigenen Trauerzeiten …? Pah!
Sie sagt gern Pah! Es klingt so definitiv.
Höherer Egoismus? Worte! Ist eine höhere Ge-meinheit etwa keine Gemeinheit mehr? Schließlich gibt Friedrich selbst zu, dass Lou „böse“ ist, sie sei ein hervorragend böses Wesen, sagt er, auch Voltaire sei böse gewesen und trotzdem ein großer Aufklärer. Aber Lou ist doch nicht Voltaire! Und überhaupt, ein männlicher Schurke mag noch gehen aber ein weiblicher Schurke nützt nie etwas. So sieht sie das.
Lies die Bücher meines Bruders nicht, wird sie eine Freundin bitten, sie sind für uns zu schrecklich, unsere Herzen wollen höher hinaus als zur Allbewunderung des Egoismus. Ach und gieb dir keine Mühe und quäle dich nicht diese Bücher mit dem früheren Nietzsche in Einklang zu bringen, es ist nicht möglich.
Sie weiß nur zu genau, wer dieses Weib mit den beiden anatomisch inadäquaten Körperhälften ist: Sie ist die PERSONIFICIERTE Philosophie meines Bruders18.
Seine Bücher haben, daran ist kein Zweifel, einen sehr schlechten Einfluss auf ihren Bruder. Aber dazu noch die Russin: Das, glaubt Elisabeth, ist mehr, als Friedrichs geistige Zurechnungsfähigkeit ertragen kann. Er ist ganz verwandelt, gerade wie sein Freund Gersdorff als dieser unter dem Einfluß einer fragwürdigen Italienerin stand. Und wenn sie daran denkt, wie streng Fritz damals zu dem unglücklichen Gersdorff war!
Ja, sie haben sehr gestritten.
Sie wolle gar nicht über sich sprechen, erklärte sie, wahrscheinlich nicht ohne die selbstlose Pose der Märtyrerin einzunehmen, was ihn erbittert haben dürfte. Sie rede nicht über die Kränkungen, die sie erlitt … Wenn Friedrich Nietzsche etwas hasst, dann sind das Gespräche, die so beginnen. Alles Anklagen und Be-schämenwollen ist ihm zuwider, am ersten Tag dieses Jahres hat er sich ein Versprechen gegeben, wie in-zwischen jeder in seinem neuen Buch nachlesen kann: Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. WEGSEHEN sei meine einzige Verneinung. Und, Alles in Allem und Grossen: ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein.
Aber der Jasager der Zukunft konnte jetzt nicht wegsehen, er konnte nichts tun, als seiner Schwester zuzuhören. Wenn sie auch über das Maß des ihr zu-gefügten Leids schweigen würde, über diese infame Person, das sagte sie Friedrich geradewegs ins Gesicht, über diese Larve von einem Menschen gedenke sie fürder-hin nicht zu schweigen. Ob gefragt oder un-gefragt, ließ sie offen. Die Wirkung ihrer Worte schildert Elisabeth der Freundin Clara Gelzer so: Als ich aber erklärte daß ich über Lou die reine Wahrheit sagen würde, fing er gegen mich zu wüthen an21. Sie solle sich in Acht nehmen! Sie solle sich nur in Acht nehmen, er meine es ernst.
Menschen, die lieben, leben jenseits der Vernunft. Das gilt auch für Philosophen. Wenn sie daran denkt, dass sie dieses Tautenburg für ihren Bruder erst gefunden hat. Dass sie es eingerichtet hat, für ihn und seinen Besuch. Wo wäre er denn ohne sie? Diese Russin wird ihn gewiss nicht pflegen, wenn er krank ist, und krank ist er meistens. Nichts wird sie für ihn tun, diese Frühgeborene einer noch unbewiesenen Zukunft.
Es ist, genau genommen, eine Frechheit, dass ein Mensch, der so sehr auf die Fürsorge seiner Umwelt angewiesen ist wie ihr Bruder, den Egoismus, den ra-dikalen Selbstbezug verklärt. In der Welt, die er erdenkt, möchte sie nicht leben. (E)s bricht mir das Herz diesen veränderten Menschen zu sehen und wie edel war er früher!
Und dann trat Elisabeth Nietzsche, 34 Jahre alt, un-verheiratet, kinderlos, nicht ohne eine gewisse Feier-lichkeit – soweit ihr verweintes Gesicht das zuließ – vor ihren Bruder hin, um ihm zu erklären, dass er keine Schwester mehr habe, solange er sich nicht lossage von dieser Frau.
Weiß sie, dass sie Unmögliches verlangt?
Wenn diese 21-jährige in der Tat die PERSONIFI-CIERTE Philosophie Friedrich Nietzsches sein sollte: Wie sagt man sich los von sich selbst?

Kerstin Decker

Über Kerstin Decker

Biografie

Kerstin Decker, geboren 1962 in Leipzig, ist promovierte Philosophin und Autorin des „Tagesspiegel“. Sie veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter die hochgelobten Biografien über Lou Andreas-Salomé, Frieda von Bülow, Elisabeth Förster-Nietzsche und Franziska zu Reventlow.

Pressestimmen
FAZ

„In stringenten biographischen Schritten entwickelt Kerstin Deckers Biograhie über Elisabeth Förster-Nietzsche, wie aus der schwesterlichen Servicekraftallmählich eine kulturelle Großmacht der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhundert wurde. (…) Viele Sätze – und gerade solche, die von weiblichen Raumnahme in den Herrschaftsgebieten des männlichen Geistes handeln – können aus Canettis ›Blendung‹ oder Jelineks ›Klavierspielerin‹ stammen.“

Süddeutsche Zeitung

„Elegante biografische Erzählung […]“

SWR 2

„Ein gewichtiges, reiches und faszinierendes Werk.“

Neue Westfälische

„Selten sind Biografien sprachlich-stilistisch so ein Genuss.“

Lübecker Nachrichten

„Das Schicksal einer kleinen Schwester eines großen Bruders ist kaum jemals so intensiv dargestellt worden wie durch Kerstin Decker. Ein herausragend gut geschriebenes Buch, informativ und auch – trotz der schwierigen Materie – unterhaltsam zugleich. Ein großer Wurf.“

Neues Deutschland

„Ein faszinierendes Buch.“

NZZ am Sonntag (CH)

„Ironisch, perspektivisch, pointiert, gestützt auf ausführliche Recherchen. Das Besondere dieses Lebensberichts besteht nicht in spektakulär neuen Fakten und Funden, sondern in der dezidiert perspektivischen Art der Darstellung, das heisst der Form des ›Erzählens‹. Damit zeigt die Autorin, die schon Bücher über Wagner, Nietzsche und Lou Andreas-Salome vorgelegt hat, dass sie einen Kern von Nietzsches Philosophie, nämlich dessen Auffassung von der Perspektivität allen Denkens und Erkennens, sehr ernst nimmt und zur Grundlage ihres Schreibens gemacht hat.“

inforadio rbb

„Die Berliner Publizistin Kerstin Decker hat sich in einer Biographie der ›Schwester‹, wie der Titel ihres Buches heißt, genähert - und kommt zu überraschenden Deutungen, die sich von der üblichen Verdammung weit entfernen. (…) Für die Autorin galt es aber nicht nur, ein Bild zurecht zu rücken, sondern auch - mit der Geschichte Elisabeth Förster-Nietzsches - durch den Absturz des damaligen deutschen Mittelstands zu gehen, von der Jahrhundertwende an bis in die dreißiger Jahre.“

Buchkultur

„Historisch ambitionierte und aüßerst detaillierte Biografie eines Lebens im Schatten von Friedrich Nietzsche.“

Weiberdiwan (A)

„Fundiert recherchiert mit spannenden sozialhistorischen Analysen und großem Humor beschreibt sie das Leben einer aktiven, selbstbewussten Frau, die sich nicht mit den Rollen als Ehefrau und Mutter zufrieden geben wollte.“

Kommentare zum Buch
Feine Ironie - Die Schwester
Helena Herrmann am 13.02.2017

Da ich mich noch nie für Friedrich Nietzsche interessiert oder mich mit ihm beschäftigt habe, war ich überrascht, als mir ein guter Freund diese Biografie schenkte. Entsprechend skeptisch bin ich ans Werk gegangen - und bin begeistert. Die Autorin hat es meisterlich verstanden, mittels einer filigrane Sprache die Menschen haarscharf zu sezieren und mit feiner Ironie zu überziehen. Das macht das Lesen so vergnüglich. 

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