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Die Schwester

Die Schwester

Sándor Márai
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Roman

„…wie alle Bücher des großartigen Erzählers und literarischen Psychologen ist auch dieser Roman von Sándor Márai selbstverständlich ein Reisebuch, nämlich eines in die Seele des Menschen. Ein grandioses noch dazu.“ - Tagesspiegel

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Die Schwester — Inhalt

Der Zufall führt die beiden zusammen: den Erzähler und den berühmten Pianisten Z.In einem Kurort  in den transsilvanischen Bergen begegnen sie sich. Es ist Weihnachten, und eine bunt zusammengewürfelte Gesellschaft verbringt die Feiertage in einem kleinen Gasthof. Schockiert müssen  die Anwesenden zur Kenntnis nehmen, dass sich ein elegantes Liebespaar gemeinsam das Leben  genommen hat. Tief betroffen vertraut der Pianist dem Erzähler ein Manuskript an, aus dem wir von  seiner eigenen großen Liebe erfahren – einer Liebe, die ihn seine Bestimmung finden ließ, für die er aber einen hohen Preis bezahlen musste. Vor dem Hintergrund eines fernen Krieges erzählt Sándor Márais  dunkel funkelnder Roman von einer unerfüllten Liebe, deren Schmerz unerhörte Folgen hat.

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 22.08.2011
Übersetzt von: Christina Kunze
288 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-95370-2
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Leseprobe zu „Die Schwester“

1.


Dies ist mein Versuch aufzuzeichnen, was ich in jener eigenartigen Weihnachtsnacht erlebt habe. Wir schrieben damals das dritte Weihnachten im Zweiten Weltkrieg.* Die Zeit vergeht, und die Tage und Nächte, die auf diesen Weihnachtsabend folgten, brachten noch viel Leid und Elend über uns. Dennoch blieb mir die Erinnerung an diese Begegnung im Herzen und im Bewusstsein lebendig. Die Nachrichten, die von der Zerstörung ganzer Städte kündeten, der Zweifel und die Beklemmung, die zu dieser Zeit vielen Menschen das Herz mit Sorge um die Zukunft füllten, [...]

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1.


Dies ist mein Versuch aufzuzeichnen, was ich in jener eigenartigen Weihnachtsnacht erlebt habe. Wir schrieben damals das dritte Weihnachten im Zweiten Weltkrieg.* Die Zeit vergeht, und die Tage und Nächte, die auf diesen Weihnachtsabend folgten, brachten noch viel Leid und Elend über uns. Dennoch blieb mir die Erinnerung an diese Begegnung im Herzen und im Bewusstsein lebendig. Die Nachrichten, die von der Zerstörung ganzer Städte kündeten, der Zweifel und die Beklemmung, die zu dieser Zeit vielen Menschen das Herz mit Sorge um die Zukunft füllten, all das viele Unglück von übermenschlichem Ausmaß war nicht grausam und wirkungsvoll genug, um in meinem Bewusstsein die Erinnerung an diese Begegnung auszulöschen. Was ich erfuhr, offenbarte nicht das Schicksal von Völkern und Erdteilen, sondern nur das eines einzelnen Menschen. Aber die Macht des Schicksals kann einen einzelnen Menschen genauso treffen wie ein ganzes Volk.
Natürlich war es der Zufall, der diese weihnachtliche Begegnung arrangierte, wie alle wesentlichen und überraschenden menschlichen Situationen. Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass im Winter, wenn das Badeörtchen verlassen ist, in einer billigen Pension im Jagdhausstil ohne jeglichen zeitgenössischen Komfort, Z. mein Zimmernachbar sein würde. Der berühmte Z., der große Musiker, der noch wenige Jahre zuvor in den Konzertsälen der Weltstädte von einem internationalen Publikum gefeiert worden war. Unsere Begegnung erschütterte mich zutiefst, denn der Mann, der in dem aus rohem Kiefernholz gezimmerten Speiseraum der kleinen Pension im siebenbürgischen Hochgebirge vor mich trat, war nur noch ein Schatten des berühmten Mannes, dessen Name noch vor nicht allzu langer Zeit einer der ersten in der Welt der Musik war. Als lebendiger Beweis für die Vergänglichkeit von Ruhm und Ehre hätte mich seine Erscheinung betroffen gemacht, wenn Z.s Art und Benehmen mich nicht im Augenblick unserer Begegnung davon überzeugt hätten, dass dieser Mann sein schweres Schicksal nicht nur mit großer Geisteskraft, sondern auch mit Ruhe und Heiterkeit trug. Das Unglück hatte ihn weder verletzt noch erniedrigt oder gebrochen. Er war ruhig geblieben, und dieser Ruhe fehlte jeglicher Trotz; er spielte nicht den gekränkten Coriolan, den barbarische Kräfte aus seiner wahren Heimat, der geheimnisvollen Provinz der Musik, vertrieben hatten. Diese sonderbare Ruhe spiegelte sich in seinem Blick wie der sanfte Strahl eines inneren Lichtes. Im ersten Augenblick des Wiedersehens schlug er – mit dem Instinkt des Musikers – einen Ton an, der mich beruhigte und mir sagte, dass ich hier einem Mann gegenüberstand, der sich seines Schicksals vollkommen bewusst war und es trug, ohne aufzubegehren, und dass mich nichts dazu berechtigte, ihn zu bemitleiden. Die ruhige Würde seines Wesens, seine sanfte und ernste Menschlichkeit beruhigten und zwangen mich zugleich zu einer unwillkürlichen Zurückhaltung. Ich spürte, dass ich seine Einsamkeit und sein bescheidenes Verhalten, das jede Anteilnahme zurückwies, achten musste, dass ich nicht das Recht hatte, sein seelisches Gleichgewicht zu stören, indem ich ihn aus Höflichkeit bedauerte.
* Márai ist nicht konsequent bei der Benennung des Zeitpunktes, später spricht er vom vierten Weihnachten.


All das spürte ich bereits im Augenblick unserer Begegnung – aber in meiner Erinnerung wurde mein Taktgefühl in den folgenden Tagen hart auf die Probe gestellt. Die Bergpension bot dazu hervorragend Gelegenheit: Morgens, mittags und abends trafen wir uns in dem einzigen Gemeinschaftsraum, dem tannenduftenden Speisezimmer, am Bauernofen, wo sich die wenigen Gäste im nicht gerade blendenden Lichtkegel der Petroleumlampe um den runden Tisch einfanden, um mit Lesen, Kartenspielen, Gesprächen und Quälen des batteriebetriebenen Radios die Zeit totzuschlagen. Denn die sonderbare Größe Zeit erwies sich hier auf dem Gipfel des Berges als gefährlicher Gegner: Seit Tagen ging ein starker Schneeregen nieder, und jetzt, Mitte Dezember, hatte in den Bergen die Schneeschmelze eingesetzt, und mächtige, schmutzig graue Schneelawinen rollten ins Tal. An einen Spaziergang war nicht zu denken. Aus dem Dorf, das am Bach des Tales errichtet und noch mehrere Stunden Fahrt von der nächsten Bahnstation entfernt war, erklomm jeden Mittag ein belustigend zotteliges, gedrungenes Pferdchen mit Wagen, geführt von einem verschlafenen rumänischen Hirten, den rutschigen, lebensgefährlichen Weg und brachte die Post, das Fleisch und alles, was in der Speisekammer der Pension gerade fehlte. Der nasse Nebel bedeckte die Berggipfel wie eine erstickende Rauchwolke nach einer Feuersbrunst oder einem Bombenangriff die Wolkenkratzer einer Großstadt. In den Zimmern hatte sich die Nässe eingenistet, die Bettwäsche, die Handtücher, ja die Kleidungsstücke in den Schränken hatten den schmutzigen Nebel in sich aufgesaugt – die Gäste flohen schon in den frühen Morgenstunden aus ihren engen und unbequemen Stuben, in denen sie nur die allernötigste Zeit verbrachten: bei Kerzenlicht im Finstern arbeitend, auf klammen Betten bibbernd, in blechernen Eimern sich waschend. Durch Berg und Tal brauste ein warmer Wind, der Schirokko. Das Thermometer zeigte um die Mittagszeit manchmal acht Grad plus – ein aberwitziges Wetter hier in den Bergen, im Dezember! All das, was wir, die in der kleinen Gebirgspension gestrandet waren, uns vorgestellt hatten, als wir uns aus unseren städtischen Behausungen auf den Weg gemacht hatten – eisig funkelnde Gipfel im kalten Sonnenschein, Ultraviolettstrahlung auf verschneiten Feldern, prächtige Spaziergänge im knirschenden Schnee in tausendfünfhundert Meter Höhe unter duftenden, mit Schnee gezuckerten Weihnachtsbäumen in dichten Nadelwäldern, und dann friedliche und ruhige Abendstunden im Gesellschaftsraum der Pension, dessen vertraute Einsamkeit das Foto im Reisebüro so verführerisch darbot! –, all das erwies sich in Wirklichkeit als nervenzermürbende, erbärmliche und ungesunde Zeitverschwendung. Die Arbeit, die ich mir mitgebracht hatte, ruhte am Boden meines Koffers, denn weder in meinem Zimmer, das einer Zuchthauszelle ähnelte, noch in dem Gesellschafts- und Speiseraum konnte ich in Ruhe meine Aufzeichnungen ausbreiten. Den größten Teil der Bücher, eingepackt als geistiger Proviant, hatte ich in den ersten vier Tagen dieses erzwungenen Stubenarrestes verzehrt, und wie Noahs Reisegefährten in der Arche drängten wir uns nun von früh bis spät in dem warmen, stickigen, vom Menschen- und Speisengeruch dunstigen Gesellschaftsraum, aßen vor Langeweile überflüssig viel und spülten die fettigen Speisen mit einem sauren, kratzenden Wein hinunter. Zu den Bewohnern der Arche gehörten natürlich auch vierbeinige Lebewesen: ein struppiger, alter Hirtenhund, eine schmarotzerhafte Katze mit ihren Jungen, ein Eichelhäher in einem Käfig am Ofen, ein Eichhörnchen, das in seinem Käfig wie wahnsinnig das Laufrad trat, eine wahre Schar von Haustieren belebte unsere Gemeinschaft; mit der natürlichen Vertraulichkeit von Lebewesen, die aufeinander angewiesen sind, steckte von Zeit zu Zeit sogar ein alter Ziegenbock seine bärtige Visage zum Türspalt herein. Der überhebliche Alterspräsident aller Haustiere der kleinen Siedlung stand blinzelnd und mit zitterndem Ziegenbart in der Türöffnung, als erinnerte er sich noch an die paradiesische Idylle des Zusammenlebens von Mensch und Tier und wartete auf die Aufforderung, seinen Platz in unserem Kreis einzunehmen. Doch dieses wenig erfreulich duftende Tier verjagten sogar die Hausbesitzer.
So lebten wir Zweifüßler zu siebt in der Arche und warteten auf das Ende des Regens und die ersten Sonnenstrahlen. Sieben Gäste, der Hausbesitzer und seine Frau – Rumänen aus dem Altreich, ein gutmütiges und hilfsbereites Paar, korpulent und schwerfällig, des Ungarischen nur gebrochen mächtig – und das Personal: zwei junge Mädchen und ein Hirte aus dem Tal, der im Winter das Amt des Hausdieners der Hütte bekleidete. Denn in Wirklichkeit war dieses „Kurhotel im Hochgebirge“ nur eine einfache Hütte; von all dem, was in der verlockenden Anzeige beschrieben war, entsprachen nur das Gebirge und die Landschaft den Verheißungen. Und jetzt war auch diese Wirklichkeit vom Nebel verhüllt und vom Schneeregen aufgeweicht. Nur bei kaltem, klarem Winterwetter beschenkte diese Landschaft den Wanderer tatsächlich. Sogar durch den Nebel hindurch waren der frische Geschmack und Duft der Luft zu spüren. Aber drinnen im Zimmer, im Elend dieser Quarantäne, waren schon am vierten Tag all mein guter Wille und meine Geduld aufgebraucht. Mit Tieren und Menschen in einem stallartigen Raum zusammengesperrt, wo es nicht einmal für den traurigen Luxus der Einsamkeit reichte, in der stickigen Zimmerluft, mit dem trostlosen Anblick des feuchten und matschigen Geländes vor dem Fenster: all das war ein spöttischer Beweis dafür, wie aussichtslos die Unternehmungen und Pläne des Menschen in Wirklichkeit sind. Die stille Woche, die ich gehofft hatte auf dem Berggipfel verbringen zu können, die feierliche „Weihnachtswoche im Hochgebirge“, wie ich sie mir in meinem städtischen Heimweh vorgestellt hatte, schien mir jetzt eher eine Strafe zu sein als eine Belohnung – eine Strafe, die abgesessen werden musste.
Was tut der Gefangene, wenn er sein Schicksal erkennt und die Aussichtslosigkeit seiner Lage hervortritt? Er zerbricht sich natürlich den Kopf über Flucht. Drei Tage waren eine lange Zeit, in der ich jede menschenmögliche Gelegenheit meiner Umgebung erkunden konnte. Nicht einmal alte Ehepaare lebten in so zwanghafter körperlicher Vertrautheit wie wir, die wildfremden Gäste der Bergpension. Durch die dünnen Bretterwände war jeder Atemzug der Nachbarn zu hören, die sich ebenfalls langweilten, im Gemeinschaftsraum verrieten wir vor Monotonie und Ungeduld schon am dritten Tag unweigerlich die verdrießlichen Züge unserer Natur. Die Gesellschaft versprach keine besonderen menschlichen Überraschungen. Ein grau melierter Herr in Tiroler Kniehosen und kurzer Lederjoppe, von dem wir nur wussten, dass er Beamter in einer nahen Stadt war, klebte den lieben langen Tag Fotografien in ein Album mit Lederdeckel – seine Bewegungen, seine schnaubenden Bemerkungen, seine argwöhnischen und zornigen Blicke vermittelten das Bild eines besessenen und unsicheren Menschen. Und siehe da, das war er auch, einer der zahllosen städtischen Nervenkranken, die sich in ihren Bürokäfigen Zwangsbilder von der Natur erschaffen, ein Pflanzenfresser und Tourist, der sonntags mit seinem Rucksack die Berge durchstreift und alle Berggipfel und Lichtungen, die ihm über den Weg stolpern, mit ängstlicher Sorge abfotografiert. Mit einem Wort, ein Verrückter. Einen netten Gegensatz zu diesem kodakbewaffneten Don Quichotte der Berge bildete ein joviales Jägerpaar, zwei Pálinka und Wein trinkende, Shagpfeifen rauchende Gutsverwalter oder bessere Inspektoren, die hier auf dem Berggipfel Auerhähne suchten; ihre Jagdsäcke und Waffen, die sie tagein, tagaus fetteten und reinigten, hatten sie stets bei der Hand, auch wenn sie becherten. Diese beiden Jäger – eine lebendige Ausgabe von Stan und Ollie: einer baumlang und dürr, der andere gedrungen und fett – waren der klare Beweis für die These, dass die Natur überall und immer, so auch in menschlichen Beziehungen, auf den Ausgleich der Gegensätze bedacht ist. Die dramatischen Wetterumschläge nahmen sie mit dem Gleichmut der an die Launen der Natur gewöhnten Menschen hin. Sie begehrten nicht auf, sondern lasen alte Theaterzeitschriften, sprachen beständig dem Wacholderschnaps zu, traten von Zeit zu Zeit ans Fenster, stellten fachmännisch fest, dass das „Mistwetter“ die Auerhähne hartnäckig vor ihnen verbarg, und schworen dem Wild, das sich unter der Nebelkappe des Schneeregens versteckte, unter halb verschluckten Jägerflüchen fürchterliche Rache. Diese beiden Nimrods, gleichsam eingehüllt in den Geruch von Pálinka und Shag, waren jedoch alles in allem eher sympathisch. Sie benahmen sich bescheiden und jovial und ertrugen die Strapazen des gemeinsamen Schicksals mit männlicher Geduld. Anders das Ehepaar, das in dem einzigen Balkonzimmer der Pension Quartier genommen hatte.
Sie waren nur selten zusammen zu sehen. Wie die Figuren aus dem Wetterhäuschen erschien einmal der Herr, ein anderes Mal die Dame im Gesellschaftsraum; der jeweils andere blieb dann im Balkonzimmer – dem Zimmer, das den Vorzugsgästen des Hotels vorbehalten blieb. Am fünften Tag der Gebirgsquarantäne hatte ich unter unerwarteten und traurigen Bedingungen Gelegenheit, einen Blick in dieses Zimmer zu werfen: ausgewählte städtische Möbel in russischem Adelsstil, ein Doppelbett, ein spiegelbesetzter Schrank, Spuren eines gewissen östlichen, bunten Luxus mischten sich hier; das Zimmer bewohnte das Wirtspaar aus dem rumänischen Altreich selbst, nur in Ausnahmen überließ es den Raum vornehmeren Gästen. Das Paar, das das Balkonzimmer jetzt belegt hatte, war einen Tag nach mir angereist. Sie kamen mit dem Automobil, das sie am Bahnhof der Talbahn gemietet hatten. Auffällig waren weniger sie selbst als ihr Gepäck. Sie führten überraschend viele Koffer und Taschen von ausgesuchter Qualität mit sich. Die Hutschachteln der Frau und ihre mit Etiketten ausländischer Hotels beklebten Gepäckstücke verrieten, dass sie viel gereist und an das Leben in der großen Welt gewöhnt war, man brauchte keinen besonderen geheimpolizeilichen Scharfblick, um zu erkennen, was nicht nur ihre Gepäckstücke, sondern auch ihre Kleidung und ihr Benehmen bestätigten: Sie war ein anspruchsvolles Leben gewohnt. Umso verwunderlicher war es – natürlich kamen wir erst nachträglich darauf, uns so richtig zu wundern! –, was dieses zerbrechliche, nicht mehr junge Geschöpf von kränklichem Aussehen mit seinen vielen vornehmen Koffern hier oben in den Bergen suchte, im Schneeregen, in den primitiven und unbequemen Räumen der Bergpension. Sie reisten an, als wollten sie sich für lange Zeit auf dem Berggipfel niederlassen. Die Frau mochte fünfzig Jahre alt sein – später entnahmen wir ihren Dokumenten, dass sie tatsächlich im vergangenen Frühjahr fünfzig geworden war –, der Mann, kahl und etwas beleibt, sah mit seinem traurigen und sorgenschwangeren Blick etwas älter aus; bald darauf erfuhren wir jedoch, dass er in Wirklichkeit drei Jahre jünger war als sie. Nach ihrer Ankunft verschwanden sie in dem Zimmer für die auserwählten Gäste und kamen auch zu den gemeinsamen Mahlzeiten nicht herunter in den Gesellschaftsraum; sie speisten auf ihrem Zimmer, und nur selten erschien die Frau oder der Mann in den späten Nachmittags- oder Abendstunden, um wortlos, abseits der anderen, mit finsterer Aufmerksamkeit die Tagesnachrichten im Radio zu hören. Niemals kamen sie gemeinsam, aber diesen abwechselnden Radiodienst hielten sie sorgsam ein. Es war zu sehen, dass sie etwas beschäftigte, beunruhigte und bedrückte – vielleicht der Lauf der Welt, vielleicht ein unbekanntes Geheimnis ihres individuellen Schicksals. Sie saßen vor dem Radio, als warteten sie beklommen auf eine Nachricht, eine Antwort auf eine unbekannte Frage. Und wenn der Ansager mit der Aufzählung der Tagesnachrichten fertig war, stand die diensthabende Hälfte sogleich auf, grüßte stumm und eilte die knarrende Holztreppe hinauf ins Zimmer des Obergeschosses.
Dieses Benehmen war gerade auffällig genug, dass wir anderen, die Hausbewohner und Gäste, gründlicher auf sie achteten – und eines Abends, als die Frau den Dienst am Radio versah, setzte sie sich neben mich auf die schmale Holzbank, die den Ofen umgab. Solange das Radio mit maschineller Gleichgültigkeit schreckliche Kriegsphrasen drosch – nur gelegentlich klang durch die Stimme des unbekannten Ansagers eine blutrünstige Genugtuung durch –, während es monoton die Zahlen der tragischen Tagesbilanz der vernichteten Städte, gesprengten Brücken, dem Erdboden gleichgemachten Krankenhäuser, Kirchen und Schulen, versenkten Schiffe und abgeschossenen Flugzeuge wiederholte, hatte ich Gelegenheit, mir meine Nachbarin gründlicher anzusehen. Sie trug ein aus vornehmem Material, und auf Kaninchenwolle, gestricktes Kleid, Bluse und Rock waren pastellfarben und flauschig, und sie hatte sich ein sehr feines, blassgrünes, seidenartiges Tuch aus fremdländischem Stoff um die Schultern gelegt. Nervös rieb sie die Seidenfransen zwischen den blutlosen, knochigen weißen Fingern, während sie Radio hörte. Ihre Opanken – mit den schnabelförmigen Spitzen ein typisches osteuropäisches Schuhwerk – mussten beim besten Schuster hergestellt worden sein, in den empfindlichen Friedenszeiten, als die Städter anspruchsvoll von ihren Schustern forderten, dass man für ihre Füße Schuhe herstelle, die weicher und feiner wären als Handschuhe. An ihrem kleinen Finger blitzte auf dem einzigen Ring ein erbsengroßer Diamant. In dem blonden, glatt gekämmten, in der Mitte gescheitelten Haar schimmerten weiße Fäden. Aus dem schmalen, blassen Gesicht mit den ruhelosen Zügen, das nicht einmal durch seine trotzig kindliche Weichheit das wahre Alter verbergen konnte, blitzten graublaue, eisig geschnittene Augen. Diese Augen waren wie kalte östliche Edelsteine mit bläulichem Glanz – manchmal sprühten sie Funken, doch dann erlosch ihr Licht sofort wieder. Jede Bewegung der Frau verriet die Unruhe von Verfolgten oder Nervenkranken, die glauben, dass ihnen feindliche Mächte auf den Fersen sind. Ihr Körper, ihre Manieren, ihre Kleidung, alles zeugte davon, dass sie ein verwöhntes Wohlstandsgeschöpf war. Die rauen und gefährlichen Nachrichten aus der Welt hörte sie sich gleichgültig an, in ihren kalt leuchtenden blauen Augen blitzte erst ein Zeichen von Leben und Interesse auf, wenn der Ansager die unbedeutenderen Nachrichten des Tages herunterzurattern begann: die einfache, alltägliche Chronik der Unfälle, Vermissten, Verstorbenen. Sie hob den schmalen Kopf, ihre Nasenlöcher weiteten sich, ihre Augen funkelten, und einige Minuten lang war sie aufmerksam wie ein wildes Tier, wenn es Gefahr oder Beute wittert. Nach den Nachrichten erhob sie sich sofort von der Bank und nickte kurz; mit mädchenhaftem Gang ließ sie auf der obersten Treppenstufe die schlanken Fesseln hervorblitzen und verschwand im Dunkel des Obergeschosses.
Das war die Frau: nicht mehr jung, offensichtlich krank. Vielleicht hatte sie ein Lungenleiden oder suchte für ihre geschädigten Nerven hier auf dem Gipfel des Berges Linderung, dachte ich. Natürlich konnten mich in der elenden Gefangenschaft des Eisregens weder diese Frau noch ihr Mann übermäßig interessieren – und am dritten Abend begann ich ernsthaft, Fluchtpläne zu erwägen. Der Mann der fremden Frau – was sollte ich sonst von diesem kahlen, stämmigen Mann denken, der zusammen mit dem kränklichen, älteren Geschöpf hier war – saß nachmittags oder gegen Abend manchmal stundenlang in dem Gemeinschaftsraum, rauchte Pfeife, wechselte mit niemandem ein Wort, wies die wohlwollende Annäherung der Nimrods zurück und war auch nicht zum Kartenspiel zu bewegen. Zeitung oder Bücher las er nicht, er saß nur am Radio, sah dem Rauch seiner Zigarre hinterher und schaute düster an die aus rohen Kiefernstämmen gezimmerte Decke. Ein Mann, der Sorgen hatte, ein älteres bürgerliches Ehepaar, das sich hier auf den Berggipfel zurückgezogen hatte, weil die Frau krank war und sie vielleicht hofften, billig Heilung zu erkaufen – das war alles, was mir in ihrer Gegenwart einfiel. Mich interessierte hier niemand. Der weihnachtliche Zauber der Berge hatte mich schändlich betrogen; das Klügste, was ich tun konnte, war, meine Siebensachen zu packen und am Mittag mit dem struppigen Pferdchen zur nahen Bahnstation zu zuckeln, von wo mich ein Personenzug fortbringen würde. Fortbringen, doch wohin?
Wir schrieben den Tag vor Heiligabend; ich sah ein, dass ich vergeblich grollte, ich war in die Falle geraten. Wäre ich zurück in die Hauptstadt gefahren, wäre ich mit dem Mitternachtszug genau am Heiligen Abend in meiner Wohnung angekommen, wo mich jedoch niemand erwartet hätte. Meine Haushälterin hatte ich in den Urlaub in ihr Dorf geschickt; bei der Familie von Bekannten, wo ich in der Vergangenheit einige angenehme Weihnachtsabende verbracht hatte, konnte ich unmöglich um Mitternacht mit Gepäck in der Hand auftauchen. Und auch die Wahrscheinlichkeit anderer, kleinerer Unannehmlichkeiten zwang mich, auszuharren. In diesem Abschnitt des Krieges fuhren nachts keine Automobile mehr, insbesondere nicht am Weihnachtsabend, und in der Zeitung hatte ich gelesen, dass nach acht Uhr am Abend auch die Straßenbahnen nicht mehr verkehrten. Zu Fuß durch die frostige Nacht zu spazieren, in die ungeheizte und leere Wohnung zu kommen, all das schien mir sinnlos. Ich musste die Stunde der Befreiung abwarten und mich wohl oder übel damit abfinden, dass ich den Weihnachtsabend hier in dieser klammen, rauchigen Umgebung im Geruch von Speisen und durchgeweichten Kleidungsstücken verbringen würde, unter wildfremden Menschen, die sich gnatzig und mit ungeschickten Scherzen die Langeweile des Stubenarrestes zu vertreiben versuchten; unter Menschen, mit denen ich keine Lust hatte auch nur ein einziges Wort zu wechseln. Ich konnte auf einen Wetterumschwung hoffen – die Hausbesitzer versicherten den Gästen unbeholfen schuldbewusst, als wären sie persönlich verantwortlich für diese wilden Launen der Natur, dass das Wetter auf dem Berggipfel von einer Stunde auf die andere umschlagen könne. Sie stellten mitten im Speiseraum einen riesigen Gebirgsweihnachtsbaum auf, und der vom Schneepuder glänzende, kerzengerade Baum zerstreute die allgemeine Niedergeschlagenheit ein wenig. Am Abend vor Weihnachten machten wir, Gäste und Hausbewohner, uns daran, den Baum mit Lebkuchen, Äpfeln und vergoldeten Nüssen zu schmücken, die Jäger sprachen ihrem Wacholderpálinka zu und unterhielten sich und die Gäste mit schelmischen Anekdoten, und der rumänische Gastwirt beteuerte, dass uns gewisse Wetterzeichen, die „niemals lügen“, eine Überraschung und weiße Weihnachten versprachen. Die Überraschung blieb an diesem Weihnachtsfest für die Gäste der Pension wahrhaftig nicht aus – vermutlich geschah nicht alles ganz so, wie es sich die Natur und dieser montane Fachmann der Gastbetreuung vorgestellt hatten, aber eine Überraschung war es auf jeden Fall, und zwar eine weitreichende und gründliche.

Sándor Márai

Über Sándor Márai

Biografie

Sandor Marai, geboren 1900 in Kaschau (heute Slowakei), starb 1989 in San Diego, Kalifornien. Er gehörte in den Dreißigerjahren zu den gefeierten Autoren in ganz Europa, geriet aber nach seiner Emigration in Vergessenheit. Mit dem internationalen Erfolg seines wiederentdeckten Romans "Die Glut"...

Pressestimmen
Tagesspiegel

„…wie alle Bücher des großartigen Erzählers und literarischen Psychologen ist auch dieser Roman von Sándor Márai selbstverständlich ein Reisebuch, nämlich eines in die Seele des Menschen. Ein grandioses noch dazu.“

Augsburger Allgemeine

„Der Roman ›Die Schwester‹ aus dem Jahr 1946 gehört gewiss nicht zu den Büchern, die man schnell vergisst. “

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