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Jaroslav Rudis erhält Bundesverdienstkreuz

Am 1. Oktober um 11.00 Uhr überreicht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dem Autor Jaroslav Rudiš den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland.

Mit 15 weiteren Bürgerinnen und Bürgern wird Jaroslav Rudiš für sein kulturelles Engagement ausgezeichnet.


In der offiziellen Pressemeldung heißt es: „Die sechs Frauen und zehn Männer haben sich in herausragender Weise für die Kunst und das von den Corona-Einschränkungen besonders betroffene Kulturleben eingesetzt. Mit ihren außerordentlichen Verdiensten fördern sie ein solidarisches Miteinander und den gesellschaftlichen Zusammenhalt.“

Über Jaroslav Rudiš ist außerdem zu lesen:

„Der tschechische Schriftsteller ist einer der engagiertesten Brückenbauer zwischen Deutschland und Tschechien, der einen lebendigen Dialog mit unserem Nachbarland fördert. In besonderer Weise befasst sich Jaroslav Rudiš dabei mit der Geschichte Mitteleuropas. Sein 2019 erschienener Roman "Winterbergs letzte Reise", den er auf Deutsch verfasst hat und der bei Publikum und Kritik auf großes Echo stieß, ist eine eindringliche Auseinandersetzung mit der Geschichte des Gebietes, in dem die beiden Weltkriege begannen. Als gesellschaftspolitisch engagierter Europäer meldet sich Jaroslav Rudiš immer wieder auch in der deutschen Presse zu Wort und zeigt mit seinen Arbeiten: Grenzen können überwunden werden und die Kultur schafft das auch in Pandemiezeiten.“

Am 30.09.2021 erscheint von Jaroslav Rudiš im Piper Verlag „Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen“.

Blick ins Buch
Gebrauchsanweisung fürs ZugreisenGebrauchsanweisung fürs Zugreisen

Ode an die Schönheit des langsamen Reisens

Sein Großvater war Weichensteller, sein Onkel Fahrdienstleiter und sein Cousin Lokführer. Klar, dass Jaroslav Rudiš so oft wie möglich Zug fährt. In seinem Buch begibt er sich im Takt der Schienen durch Europa: von Berlin aus bis zum Gotthardtunnel und von Sizilien bis nach Lappland; im Nachtzug durch Polen und die Ukraine sowie im Speisewagen von Hamburg nach Prag.

Leidenschaftlich berichtet er davon, wie er vor seinem Waggonfenster zwischen Felsen und Bäumen zum ersten Mal die Adria erblickt. Wie er mit der Schmalspurbahn die Wälder im Harz erkundet. Und wie er in vierzig Stunden auf so vielen Verbindungen wie möglich durch ganz Deutschland fährt.

Rudiš widmet sich dabei den schönsten Bahnhöfen, den Kathedralen des Verkehrs. Erklärt, was Krokodile und Brigitte Bardot mit Lokomotiven zu tun haben. Und verwebt die Historie der Eisenbahn mit den Geschichten der Menschen, denen er begegnet. 

Er verrät, warum die schnellste Strecke selten die schönste ist und weshalb der Eisenbahngott ganz sicher eine Göttin sein muss. Er erzählt von der Freude darüber, den Anschluss zu verpassen, von „singenden“ Lokomotiven und Haltestellen, die „Güterglück“ und „Herzberg“ heißen. Und verführt uns mit seinen brillanten und mitreißenden Erzählungen, wieder öfter und achtsamer Zug zu fahren.

Steigen Sie ein, und lassen Sie sich von dieser literarischen Reise durch Europa tragen!

„Wo Jaroslav Rudiš ist, da sind Geschichten.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung

Wunsch, Eisenbahner zu werden
Diese verdammte Brille, die ich tragen muss. Doch es geht nicht anders. Ohne Brille verschwindet die Welt um mich herum in dichtem Nebel. Alles bleibt verschwommen und geheimnisvoll zurück. Die Stadt wird zum Wald. Die Menschen auf der Straße zu Tieren. Eigentlich ist es manchmal ganz angenehm, so die Realität verschwinden zu lassen, etwas Unerwartetes zu erleben und sich in diesem Nebel ein wenig zu verstecken, doch das habe ich erst viel später gelernt.
Für einen Jungen, der Lokführer werden möchte, ist eine Sehschwäche allerdings ganz schlecht. Zumindest war es damals so, Mitte der Achtziger in der ČSSR, wo ich aufwuchs. Die Tschechoslowakischen Staatsbahnen, Česko-
slovenské státní dráhy, kurz ČSD, wollten leider niemanden, der die Signale in der Ferne nicht richtig erkennen kann und die roten Schlusslichter eines Schnellzuges womöglich mit den Sternen am Himmel verwechselt. Niemanden mit vernebelten Augen. Niemanden, der nicht blind ist, aber in gewisser Weise eben doch. Niemanden wie mich.
Dabei sah alles so gut aus! Ich hatte für den Beruf eines Eisenbahners alle Voraussetzungen, die man sich nur vorstellen kann. Ich liebte die Eisenbahn, und dank meiner Familie hatte ich die perfekte Vorausbildung. Und auch heute bin ich noch fest davon überzeugt, dass aus mir ein guter und treuer Eisenbahner geworden wäre, der das ganze Leben lang stolz die blaue Uniform getragen hätte. Ein Lokführer wie mein Cousin Ivan. Ein Fahrdienstleiter und Bahnhofsvorsteher wie mein Onkel Miroslav. Oder ein Weichensteller wie mein Großvater, der melancholische Alois, der alte Fahrpläne auswendig kannte.
Vor allem mein Onkel Miroslav und mein Großvater Alois waren stolz auf ihren Berufsstand. Sie heirateten in ihrer Eisenbahneruniform und wurden in ihrer Eisenbahneruniform auch begraben. Ja, ganz sicher wäre ich heute auch dabei, wie ein richtiger Bahner. Aber auch das wird mir die Brille verwehren, eine schöne Eisenbahnerhochzeit und ein schönes Eisenbahnerbegräbnis, auf dem manchmal zum Trost die Zugabläufe aus den Kursbüchern rezitiert werden, wie mir mein Onkel erzählte.
Doch diese verdammte Brille. Für die ČSD war man blind und muss sich deshalb auch noch Gedanken darüber machen, was für einen Anzug man mal auf seiner Beerdigung tragen soll, denn man hat im Schrank nicht diese Uniform hängen: die Hose, das Jackett, den Mantel und die flache Mütze. Alles in einem satten Dunkelblau. Mein Onkel sah darin wie ein Matrose aus. Mit der Mütze und den Schulterstücken sogar fast wie ein Kapitän. Oder ein Major. Der Schnitt der Uniform wirkt bis heute ein wenig militärisch. Deshalb nennt man die Eisenbahner auch manchmal die „Blaue Armee“. Doch es wird noch besser: Im Christentum ist Blau die Farbe des Himmels und der Gottesmutter Maria. Von wegen Kapitän oder Major. Eisenbahner sind Geistliche, Heilige und Märtyrer, deren heilige Schrift das Kursbuch ist. Und das Flügelrad, das viele Bahner stolz auf ihren Mützen tragen, sieht wie ein kleiner Engel mit Flügeln aus. Dieses internationale Ursymbol der Eisenbahn hat ebenfalls etwas Göttliches. Nicht umsonst bezeichnet man die großen Bahnhofsgebäude auch als „Kathedralen des Verkehrs“. Die kleineren Bauten, so wie in Lomnice nad Popelkou, wo ich aufwuchs, sind dann Kirchen. Und die Haltepunkte Kapellen.
Ich wäre ein guter Eisenbahner geworden. Entweder ein guter Matrose oder Heiliger oder Soldat der Blauen Armee, dessen Schlachtpläne zum Glück die Fahrpläne wären. Und dessen Waffen keine Panzer wären, sondern Lokomotiven, die jedoch genauso schwer und gewaltig sein können und die man auch zu fahren und zu bedienen lernen muss. Vier Jahre hätte ich dafür in die Eisenbahnerschule nach Česká Třebová gehen müssen. Und das hätte ich natürlich gemacht, ganz klar. Ich war für alles bereit. Doch diese verdammte Brille, die ich bis heute tragen muss, machte mir einen Strich durch die Rechnung.

Ich weiß nicht mehr genau, wie meine Liebe zur Eisenbahn entflammte. Aber ziemlich sicher hängt es mit meiner Familiengeschichte zusammen. Ich kenne mittlerweile viele echte Bahner und Bahnerinnen, aber natürlich auch viele Hobbybahner und Hobbybahnerinnen, bei denen es ähnlich verlief, die sich schon während ihrer Kindheit in die Eisenbahn verliebten. Der Vater war bei der Eisenbahn, die Mutter war bei der Eisenbahn, und so später der Sohn, die Tochter. Es lohnt sich ja auch, bei der Eisenbahn zu arbeiten. Man bekommt neben der Uniform den wunderbaren schwarzen Lokführerrucksack, in den alles passt, was man für eine Reise braucht, oder sogar einen Rollkoffer, in den noch mehr passt, wenn man länger unterwegs ist. Und dazu noch eine Netzkarte für Freifahrten, manchmal sogar für die ganze Familie. Und früher gab es bei der ČSD für wenig Geld auch eine Wohnung am Bahnhof und einen Haufen Kohle für den langen böhmischen Winter. Und eine gute Pension. Das war sicher bei den Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB), der Deutschen Bundesbahn (DB), der Deutschen Reichsbahn (DR) oder den Schweizer Bundesbahnen (SBB) ähnlich. Doch allein deswegen macht man diesen anstrengenden Job mit den vielen Nachtschichten und nicht freien Feiertagen natürlich nicht. Man muss ihn vor allem lieben.
Meine Eltern waren zwar nicht bei der Eisenbahn angestellt. Doch bestimmt hängt die Liebe zur Eisenbahn mit meinem Onkel Miroslav zusammen, der in Lomnice als Fahrdienstleiter ein paar Jahre auf die Züge aufpasste und den ich oft am Bahnhof besuchte. Oder vielleicht auch damit, dass sich meine Eltern im Zug kennenlernten? Mein Vater war damals Soldat, meine Mutter kurz davor, ihre Ausbildung zur Kindergärtnerin abzuschließen. Im Zug zwischen Stará Paka und Jaroměř bekam sie Bauchschmerzen, mein Vater machte sich Sorgen und brachte sie vom Bahnhof sofort ins Militärkrankenhaus in der alten Festungsstadt Josefov, einem Vorort von Jaroměř, wo er bei der Luftabwehr stationiert war. Eine böse Blinddarmentzündung. Eine lebensrettende Operation. Eine große Liebe, die bis heute anhält. Und auch eine Brille, die beide tragen und mir vererbten. Doch kann man da böse sein? Nein, kann man nicht.
Lomnice nad Popelkou ist ein Industriestädtchen mit fünftausend Einwohnern. Unmittelbar in der Mitte Europas gelegen, wenn ich auf meine Eisenbahnkarte von Europa aus dem Jahr 1913 schaue, die über meinem Schreibtisch in Berlin hängt. Die hügelige Gegend, aus der ich komme, heißt Český ráj – Böhmisches Paradies. Malerisch ist es dort: ein paar Burgen, Barockschlösser, Felsen, Seen und auch gute kleine Brauereien. Und natürlich gleich mehrere Eisenbahnstrecken.
Zum Paradies wurde für mich schon früh unser kleiner Bahnhof mit den kurzen Gleisen und den Weichen, die man heute noch von Hand und mit viel Muskelkraft umstellen muss, wenn ein Gegenzug kommt oder wenn rangiert wird. Die Schlüssel zu den Weichen und damit zum ganzen Bahnhof hängen weiterhin in einem kleinen Glasschrank im Zimmer des Fahrdienstleiters.
Alles genauso wie 1906, als Lomnice an das endlose Eisenbahnnetz von Österreich, dessen Teil Böhmen vierhundert Jahre lang bis 1918 war, angeschlossen wurde und somit auch an die ganze Welt. Bis 1918 wurden die meisten Strecken auf dem Gebiet des heutigen Tschechien gebaut. Aber nicht nur dort. Auch in der Slowakei, in Ungarn, Kroatien, Polen und Deutschland. Oder in der Schweiz.
Als am 1. Juni 1906 der erste Zug von Stará Paka nach Lomnice kam, war es eine wahre Revolution, die man vielleicht nur mit der Eröffnung der lokalen Brauerei ein paar Jahrhunderte vorher vergleichen kann. Man sagt, dass Wallenstein auf den Schlachtfeldern des Dreißigjährigen Krieges gern unser Bier trank. Vielleicht ist der Anschluss unserer Stadt an das Streckennetz auch noch mit dem Anschluss an das Internet etwa hundert Jahre später vergleichbar. Plötzlich wurde alles greifbar nah, und die Stadt profitiert bis heute davon. Nicht nur die lokale Textil- und Keksindustrie, sondern auch die Menschen wurden dadurch mit der Welt verbunden.
Von da an war es nicht nur möglich, nach Hradec Králové oder Liberec zu fahren, beides Städte, die schon 1859 mit der Eisenbahn erreichbar waren, sondern auch nach Prag, in die Hauptstadt von Böhmen und heute von ganz Tschechien. Oder nach Wien, in unsere Hauptstadt während der K.-u.-k.-Monarchie.
Doch wenn man Lust gehabt hätte, hätte man auch bis nach Hamburg reisen können. 1906, in diesem für Lomnice schicksalhaften Jahr, strömten hier zum ersten Mal Massen von Reisenden durch den neuen Hauptbahnhof, so wie sie es heute noch tun. Man konnte auch nach Klagenfurt und weiter nach Aßling, ins heutige Jesenice in Slowenien, fahren, das damals ebenfalls ein Teil von Österreich war. 1906 ratterte hier der erste Zug durch den Karawankentunnel der Rosentalbahn Richtung Süden, auf einer wichtigen Strecke der sogenannten Neuen Alpenbahnen. Es war möglich, von hier aus mit der Wocheinerbahn, die auch 1906 eröffnet wurde, nach Triest, heute Italien und damals ebenso Österreich, weiterzureisen.
Hamburg, Wien, Triest, wie schön sich das schon anhört, wenn man sich nur die einzelnen Stationen vor Augen führt. Man hat sofort Lust, in den Zug zu steigen und loszufahren. Doch als Kind und Teenager hinter dem Eisernen Vorhang konnte ich davon nur träumen. Alles schien mir so fern und unerreichbar zu sein. Ich hätte nie gedacht, dass ich irgendwann wirklich mal in Hamburg oder Triest aus dem Zug steigen würde. Denn wie so viele war ich eingesperrt in einem Land, dessen Bürgern es gerade mal erlaubt war, in die DDR oder mit dem Nachtzug über Ungarn nach Bulgarien oder manchmal bis nach Jugoslawien zu reisen. Viel mehr ging nicht. Sogar die Sowjetunion war nicht so einfach erreichbar, wie man denken würde, obwohl jede Nacht ein Zug zwischen Prag und Moskau fuhr. Kompliziert war es auch mit Polen, vor allem nach 1981, als dort das Kriegsrecht ausgerufen wurde.
Dennoch war ich viel unterwegs. Ich bereiste all die Strecken mit dem Finger auf der Landkarte. Und in den Büchern. Und auch entlang der alten und neuen Fahrpläne. In Gedanken. In meinen Träumen.
Erst mit der Wende veränderte sich alles, und meine Züge setzten sich nun tatsächlich in alle Himmelsrichtungen in Bewegung. Und das tun sie bis heute. Wien, Triest oder Hamburg sind Orte, in die ich sehr gern mit dem Zug reise. Aber genauso gern auch nach Gdańsk, Budapest, Lwiw, Zürich oder Antwerpen.
1906 kam also in Lomnice der erste Zug an. Mein Großvater Alois war da gerade drei, meine Großmutter Růžena ein Jahr alt. Beide waren Tschechen, aber damals natürlich auch Österreicher. Das Bahnhofsgebäude mit der Fassade in „Schönbrunner Gelb“, typisch für die Repräsentationsbauten in der Monarchie, hatte Wohnungen für Eisenbahnerfamilien, einen kleinen überdachten Bahnsteig mit einer großen Uhr und einem Wartesaal. Heute noch schmücken den Bahnhof die Blumentöpfe aus jener Zeit, so wie sie übrigens viele Stationen in Böhmen, in der Slowakei, aber auch in Österreich regelrecht in botanische Gärten verwandeln. Selbst der Güterschuppen aus Stein und Holz steht noch. Ein Freund von mir, der Fahrdienstleiter Kamil, deponiert dort mehrere alte Signale, Tafeln, Lampen, Bänke, Fahrpläne und sogar eine ganze Weiche für sein geplantes Museum zur Bahnstrecke.
Nur der Wasserkran für die Dampfloks verschwand. Man musste damals noch die Dampfloks vor der steilen Steigung Richtung Mladá Boleslav und Libuň mit Wasser versorgen. „Die Dampflokomotiven sind genauso durstig wie wir Böhmer“, sagte mein Onkel Miroslav. „Nur, die Loks trinken Wasser, wir Bier.“ Ohne Wasser gäbe es auf unserem Planeten kein Leben, und ohne Wasser hätte es bei der Eisenbahn früher keine einzige Fahrt gegeben. Je nach Geschmack und Bedürfnissen musste man die Dampflokomotiven nicht nur mit genügend Kohle, Holz oder Schweröl, sondern auch mit ganzen Flüssen befüllen. Das Wasser war das Blut, das durch die Adern der Lokomotiven floss. Es wurde im Kessel in den Röhren zum Kochen gebracht und in Dampf umgewandelt, welcher unter Druck in die Zylinder der Dampfmaschine geleitet wurde. Dann erst konnte sich der Koloss in Bewegung setzen und die Reise beginnen.

Die ersten Fotos von mir wurden auf dem Bahnhof in Lomnice gemacht. Ich bin da etwa so alt wie mein Großvater Alois 1906. Der kleine Jaroslav im Kinderwagen. Ein Jahr später am Bahnsteig. Ein Jahr später schon aus dem Führerstand einer Dampflok herauslächelnd. Als Kind kannte man mich hier wegen der Besuche bei meinem Onkel Miroslav bald sehr gut. „Einmal Eisenbahner, immer Eisenbahner. Einmal Rudiš, immer Rudiš“, sagte er dazu.
Mein Onkel wohnte mit seiner Frau und den Kindern am Bahnhof, und 1966 hielt er auf der Laderampe am Gütergleis vor Hunderten Menschen eine Festrede zum sechzigsten Geburtstag der Bahn, wie man auf alten Familienfotos sieht. 2006 war der Onkel auch dabei, als die Strecke ihr hundertstes Jubiläum feierte. Auch davon gibt es eine Aufnahme, die bezeugt, wie sehr die Eisenbahngeschichte mit unserer Familiengeschichte verwoben ist. Auf dem Bild sieht man meinen Onkel neben meinem Vater auf dem Bahnsteig stehen, hinter ihnen ein Museumszug mit der kleinen Lok der Baureihe 310, die hier vor hundert Jahren tatsächlich unterwegs war. Heute wird davon ein Exemplar im Bahnbetriebswerk im nahen Turnov gehegt und gepflegt. Noch immer durchquert diese Lokomotive das Böhmische Paradies. Die kleine Lok nennt man auch Kafemlejnek, denn mit ihrem bauchigen Schornstein ähnelt sie einer solchen kleinen Kaffeemühle, wie man sie aus Omas Küche kennt. Und genauso praktisch, unzerstörbar und handlich ist sie auch.
Auf einem der letzten Fotos von meinem Onkel stützt er sich auf Krücken, er konnte da schon nicht mehr so gut gehen, aber auf dem Bild lacht er und sieht glücklich aus. Er wollte unbedingt zum Bahnhof, denn die Eisenbahn, das war seine Liebe. Sein Leben. Und sein Glück.
Viele alten Bilder von mir zeigen mich mit einer Dampflok. Mein Vater war befreundet mit Herrn Reim. Er war Heizer und mit der damals schon sehr alten, aber beim Personal beliebten, weil nicht kaputt zu kriegenden Dampflok der Baureihe 434.2 unterwegs, die jahrzehntelang im Einsatz war. Wegen der vier Räder nannte man sie schlicht und einfach Čtyřkolák, Vierrad. Ein Foto von mir und Herrn Reim auf der Lok ist nicht datiert, aber es muss von 1976 stammen, spätestens 1977, denn danach tauchten kaum noch Dampfloks auf dem Bahnhof in Lomnice auf. Die neuen flinken Kocouři, Kater, der Baureihe T466.2 (später 742) übernahmen den Güterverkehr. Die Loks sehen tatsächlich ein wenig wie Katzen aus und schnurren auch so ähnlich. Und sind wie echte Katzen auf Bahnhöfen weitverbreitet. Auch heute noch holen die Loks in Lomnice mit Holz beladene Wagen ab. Die Kater kommen aber nur noch ein-, zweimal die Woche, denn auch hier hat der Güterverkehr leider nachgelassen.
Herr Reim rauchte viel, und wenn er rauchte und hustete, verwandelte er sich selbst in eine schnaufende Dampflokomotive. In eine Lok auf einer Lok sozusagen. Den Zigarettenrauch mag ich nicht besonders, doch was ich liebe, ist der Geruch dieser Dampfrösser, in dem sich die verbrannte Steinkohle mit Schmieröl und Wasserdampf zu einem wahren Eisenbahnparfüm vermischt. Diesen schweren, kräftigen Duft gab es damals am Bahnhof und entlang der Strecke. Heute muss man dafür eine Museumsfahrt machen. Wie viele Menschen kenne ich, die süchtig nach diesem Duft sind, die bei einem Streckenjubiläum ganz nah an einer Dampflok stehen, nur um an ihr riechen und schnüffeln zu können. Wie verrückte Liebhaber erzählen sie dann, dass jede Dampflok anders duftet. Was stimmt. Ich weiß es. Ich bin einer von ihnen. Auch ich bin ein Eisenbahnmensch.
So wie sie bewundere ich an den Lokomotiven natürlich noch mehr: die ganzen Geräusche, die diese Riesentiere von sich geben. Das laute Zusammenspiel der Räder, der Treibstangen, Kuppelstangen, Kolbenstangen, der Röhren, Pfeifen, Zylinder und des Blasrohrs, also der Saugzuganlage, die als Herzstück der Lokomotive schon vor mehr als zweihundert Jahren von dem englischen Eisenbahnpionier Richard Trevithick erfunden wurde. Und die für die richtige Luftzufuhr im Kessel sorgt und so für die enorme Leistung, wie mir Herr Reim einmal erzählte. Auch wenn die Lokomotive steht, leise vor sich hin atmet und auf ihren Einsatz wartet, spürt man die unglaubliche Kraft, die sich in dieser Maschine verbirgt.
Ich mochte schon immer den Blick in das heiße Flammenmeer im Inneren der breiten Feuerbüchse und auch, wie Herr Reim sich dort seine Bratwürste zum Mittag zubereitete. Er schnitt die dicken speckigen Würste auf, pickte sie auf einen langen dünnen Metallspieß, grillte sie über den Flammen, und gefühlt nach einer Minute war die kleine Mahlzeit fertig. So richtig gesund war das wahrscheinlich nicht, doch seitdem weiß ich, die besten Bratwürste gibt es auf einer Dampflok.
Mein Vater baute für mich bald eine erste Modelleisenbahnanlage der Spur TT, die er in der DDR ergattert hatte. Als gelernter Elektrotechniker kümmerte er sich um die ganzen Gleise und Loks und die Elektronik, und meine Mutter, die künstlerisch begabt ist, gestaltete die Landschaft: Sie zauberte Hügel mit einem Tunnel, einem Teich und Wald. Und auch eine Gastwirtschaft und eine Brauerei durften nicht fehlen. Böhmisches Paradies im Maßstab 1:120.
Mit fünf brachte ich außerdem meine erste Zeitung heraus – mit Zugbildern und ersten Gleisplänen. In der Schule gewann ich dann sogar einen Wettbewerb mit der Zeichnung eines Schnellzugs im Slowakischen Paradies irgendwo auf der Strecke zwischen Banská Bystrica und Margecany, wo wir mal im Urlaub waren.
Später schrieb ich meinen ersten literarischen Text. Wir sollten in einem Aufsatz schildern, was wir im Sommer erlebt hatten. Einer war in der Hohen Tatra, ein anderer an der Moldau und wieder ein anderer an der Ostsee auf der Insel Usedom, so wie wir eigentlich auch, doch ich schilderte einen ruhigen Nachmittag auf unserem Bahnhof in Lomnice, wo die Stille plötzlich von der Durchfahrt eines schweren, lärmenden Güterzuges unterbrochen wird.
Ja, ich muss zugeben, dass ich in der Zeit auch ein wenig zu nerven anfing, wenn es um Eisenbahnen ging. Ich reichte beim Verkehrsministerium in Prag zum Beispiel ein paar Verbesserungsvorschläge und Ideen zur Modernisierung für unseren Bahnhof und unsere Lokalbahn ein, darunter war auch ein Plan für den langen Basistunnel unter dem Berg Tábor, denn die Steigung um den Hügel herum machte den Zügen oft zu schaffen. Doch das Verkehrsministerium meldete sich leider nicht bei mir zurück. Eigentlich ist es gut so. Denn so sieht der Bahnhof von Lomnice heute fast genauso aus wie 1906. Und die Züge fahren hier fast genauso schnell oder langsam wie damals. Und deshalb ist die Fahrt bis heute sehr beruhigend. Der Triebwagen schaukelt etwas, sodass man sich wie in einem Kinderwagen geborgen fühlt und sofort einschlafen möchte.
Wer weiß, vielleicht liegt mein Brief mitsamt den Zeichnungen und kühnen Plänen noch irgendwo im Archiv inmitten Tausender anderer Briefe mit Verbesserungsvorschlägen, aber auch mit vielen Beschwerden von Menschen, die glauben, die Eisenbahnwelt besser zu verstehen. Und doch verstehen sie oft nur Bahnhof, wie man so schön sagt.
Auch ich wollte immer alles verstehen, und bis ich dreizehn wurde, war alles klar. „Der Junge geht zur Eisenbahn, wenn er die Eisenbahn so liebt“, wie mein Vater sagte, zumal er schon „die Signalbilder lesen kann“, wie mein Onkel sagte. Ich lernte die ganzen Vorschriften und las natürlich auch die Fachpresse: die tschechische Zeitung Železničář, der Eisenbahner. Und aus der DDR ließ ich mir von meinem Brieffreund Mario den Modelleisenbahner zuschicken. Die beiden Zeitungen lese ich bis heute gern, genau wie LOK Report, DB Mobil, Drehscheibe und viele andere.

Ich hatte fest vor, auf die Lokführerschule in Česká Třebová zu gehen. Vermutlich hat jeder, der sich für die Eisenbahn interessiert, schon mal von diesem Ort gehört, der in etwa auf halber Strecke zwischen Prag und Ostrava liegt. Česká Třebová ist nicht groß, die Stadt hat etwa fünfzehntausend Einwohner, doch an den langen überdachten Bahnsteigen halten fast alle Züge. Ein wichtiger Knotenpunkt – und das schon seit 1845. Kurz danach baute man hier Werkstätten, und der Bahnhof wurde kontinuierlich verlängert und verbreitert. Bis heute arbeiten in Česká Třebová die meisten Menschen bei der Bahn. Denn hier befinden sich nicht nur die Eisenbahnerschule und eine Lokomotivfabrik, sondern auch der größte Rangierbahnhof von Tschechien, der zu den wichtigsten in ganz Mitteleuropa zählt. Ebenso wie der Rangierbahnhof Limmattal bei Zürich oder der Zentralverschiebebahnhof in Wien-Kledering. Der größte Rangierbahnhof in Europa liegt allerdings in Maschen in der Nähe von Hamburg.
Und Česká Třebová ist noch für etwas anderes bekannt: seinen Eisenbahnfriedhof. Auf zugewachsenen Abstellgleisen werden die ausgemusterten Lokomotiven und Wagen zerlegt und verschrottet. Nur wenige werden auf manchmal schräge Art und Weise gerettet. Zum Beispiel kaufte hier einmal ein Imker einen ausrangierten Personenwagen und machte daraus ein Bienenhaus. Und einen anderen Wagen baute neulich jemand in eine Sauna um. In eine Sauna auf Schienen.
Es ist ein trauriger Anblick, wenn man den Friedhof aus dem Speisewagen eines der Züge in Richtung Prag, Berlin, Wien, Budapest, Warschau oder Krakau betrachtet, die regelmäßig durch Česká Třebová kommen. Hunderte leblose Lokomotiven jedweder Bautypen mit ausgeschlagenen Fenstern, fehlenden Schildern und Türen und aufgeschlitzten Leibern, aus denen die Organe herausgerissen wurden. Ihre Herzen, die Motoren, schlagen nicht mehr. In Česká Třebová schließt sich so irgendwie der Kreis. Hier geht man als junger Mann oder junge Frau in die Eisenbahnerschule. Und hier sieht man das Ende.
Doch wenn man dreizehn ist, denkt man nicht unbedingt über den Tod und Friedhöfe nach. Man steht am Anfang. Man hat einen Traum. Man möchte was schaffen. Und doch kann sich alles schnell ändern. Dass ich mich nach dem ärztlichen Befund meiner Sehschwäche nicht mehr für ein Eisenbahnerstudium bewerben konnte, kam einer Beerdigung gleich. Die ganze Welt stürzte wie ein Kartenhaus zusammen, und ich fühlte mich genauso wie die ausrangierten Lokomotiven auf dem Eisenbahnfriedhof von Česká Třebová. Mittlerweile kann ich darüber lachen, doch damals habe ich wirklich weinen müssen. Diese Brille, diese verdammte Brille.
Und so musste ich ins Gymnasium nach Turnov. Nur unter uns, ein, zwei Jahre später war ich doch sehr froh darüber. Zunächst blieb ich aber auch hier der verrückte Eisenbahner und überforderte meine Schulkameraden im Russischunterricht mit einem Vortrag über die Transsibirische Eisenbahn und meine wunderbare Deutschlehrerin Frau Dudková mit einem Vortrag über die Dampflokomotiven der Deutschen Reichsbahn. Ja, über diejenigen, die ich bei meinen Ausflügen in die DDR fotografiert und bewundert hatte. In Zittau. Görlitz. Bautzen. Löbau. Hoyerswerda. Zu den Fotos spielte ich auch die passenden Geräusche vor, die klangvolle Eisenbahnmusik der Dampflokomotiven.
Meine Freunde hatten zu Hause Platten von The Cure, Depeche Mode oder The Smiths, teuer erstanden und aus dem Westen eingeschmuggelt, und ich besaß eine LP mit Dampflokgeräuschen, Von 01 bis 99: Dampflokomotiven der Deutschen Reichsbahn, die ich mir ganz legal in Zittau in einem Plattenladen für ein paar Mark gekauft hatte. Heute kann man sich die Platte sogar bei YouTube anhören.
Dank meiner Freunde entdeckte ich bald eine andere Welt und auch andere Musik als die der Eisenbahn. Und Literatur, Kino, Geschichte, die deutsche Sprache. Wir lasen Milan Kundera, Pavel Kohout, Bohumil Hrabal und Jack Kerouac, vor allem sein Meisterwerk Unterwegs verschlangen wir alle in nur einer langen Nacht. Bis heute liebe ich die Szenen, in denen die Beatniks als blinde Passagiere auf den Güterzügen quer durch Amerika unterwegs sind, ich bewundere diese absolute Freiheit.
Damals lernte ich in der Bahnhofskneipe in Turnov, in der sich heute die Stadtbibliothek befindet, einen Tramper kennen, der mir erzählte, genau so habe er es mal bis nach Bulgarien geschafft. Von Güterzug zu Güterzug durch die Tschechoslowakei und dann weiter über Ungarn und Rumänien. In Burgas hatte man ihn zwar verhaftet und verprügelt, aber egal, er schaffte es bis ans Schwarze Meer. Er war ein freier Mann im damals unfreien Teil Europas.
Nach der Wende entdeckten wir auch die vergessene deutschsprachige Literatur meines Landes wieder, vor allem Franz Kafka. Wir lasen alle Die Verwandlung, worin der arme Gregor Samsa am Abend Fahrpläne studiert, so wie ich es auch mache. Und in meiner Vorstellung verwandelte er sich dann in eine lärmende Dampflokomotive und nicht in einen Käfer. Aber ich las auch Kafkas Kurzgeschichten, darunter die Skizze Wunsch, Indianer zu werden, die genauso traurig endet wie mein Traum, Eisenbahner zu werden.
Doch unglücklich darüber war ich längst nicht mehr. Wir gründeten eine Band und eine kleine Theatergruppe. Ich verliebte mich und trennte mich wieder. Ich lernte Bier zu schätzen und verstand, wie mein Onkel das mit dem Durst der Dampflokomotiven und der Böhmer meinte. Zum Glück war es mit dem Rauchen anders, das lernte ich nie. Stattdessen schrieb ich mein erstes Theaterstück. Ganz ohne Eisenbahn. Doch sie kehrte ziemlich bald in mein Schreiben und in mein Leben zurück. Eigentlich war sie auch nie weg gewesen. Dafür war und ist die Liebe einfach zu groß.
Und so bin ich heute viel mit der Eisenbahn unterwegs, gehe auf kurze und lange Reisen durch Mitteleuropa, dessen Geschichte man ohne die Eisenbahn nicht erzählen kann. Manchmal verreise ich nur für einen Nachmittag, manchmal für eine ganze Woche, manchmal für einen ganzen Monat. Über meine Fahrten schreibe ich in diesem Buch. Und über die Geschichte und die Geschichten, die mir die Schienen, Bahnhöfe, Züge und Menschen erzählen. Denn das ist für mich die Eisenbahn.


Fenster mit Bahnblick
Meine erste Wohnung in Prag war klein. Nicht mal vierzig Quadratmeter. Nur ein Zimmer, Küche, Bad und zwei Fenster. Aber Fenster mit Bahnblick. Genau deswegen hatte ich mich in diese Wohnung sofort verliebt. Ich dachte mir, das kann kein Zufall sein. Und es war ganz sicher kein Zufall, dass ausgerechnet diese Wohnung noch frei war und auf mich wartete. Im ehemaligen Arbeiterviertel Žižkov, direkt an der Einfahrtschneise zum Prager Hauptbahnhof, dem größten und wichtigsten Bahnhof des Landes. 1909 wurde das prächtige Jugendstilgebäude des Architekten Josef Fanta eröffnet. Wenn ich mich aus dem Fenster lehnte, sah ich gleich die ersten Weichen und das für den großen Bahnhof ungewöhnlich kleine Stellwerk.
Natürlich war die Wohnung wegen des Eisenbahnverkehrs auch sehr laut. Doch ich mochte den Lärm, so wie ich den Ausblick mochte. Die Züge fuhren nicht am Haus entlang, sondern durchs Haus hindurch. Durch meine Wohnung. Meine Küche, mein Bad und mein Wohnzimmer mit dem Hochbett. So fühlte es sich zumindest immer an. Die Wände zitterten, und im Küchenschrank klirrten die Gläser und schepperte das Geschirr. Außerdem stank es nach Bahn. Doch das störte mich alles überhaupt nicht. Ich saß an meinem Arbeitstisch, schaute von oben auf die langsam vorbeifahrenden Züge und fühlte mich wie in einem Stellwerk. Oder einer Blockstelle. So nannte der tschechische Schriftsteller Bohumil Hrabal auch seine Datscha in der Waldsiedlung Kersko, etwa fünfzig Kilometer östlich von Prag. Ich liebe Hrabal, so wie ich Jaroslav Hašek oder Franz Kafka liebe, die ebenfalls mit Prag verbunden sind. Und auch die Eisenbahn und die endlosen Schienenstränge spielen in ihren Geschichten eine Rolle. Bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger. Diese drei Autoren haben mich zum Schreiben gebracht. Doch allen voran vermutlich Bohumil Hrabal.
Er wusste genau, wovon er redete, wenn er seine Schreibwerkstatt mit einer Blockstelle verglich. Im Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Fahrdienstleiter in Kostomlaty an der Strecke der alten Österreichischen Nordwestbahn, die Wien und Nymburk und Prag und Děčín verband.
Zwar hielten die Schnellzüge nach Hradec Králové und ins Riesengebirge, die ich von meinem Fenster in Prag aus sehen konnte, nicht in Kostomlaty, dafür aber alle Regionalbahnen. Oft stellte ich mir vor, wie ich in Kostomlaty bin und der junge Hrabal neben mir steht und mit mir den Zügen nachschaut, so wie der junge Fahrdienstleiter Miloš Hrma aus seiner vielleicht bekanntesten Novelle Reise nach Sondervorschrift, Zuglauf überwacht, die kurz vor Kriegsende spielt. Miloš Hrma ist verzweifelt und unbeholfen, besonders, was die Frauen angeht. Und doch wird er zum großen Helden. Er schafft es, einen SS-Munitionszug in die Luft zu jagen. Diese Heldentat bezahlt er mit seinem Leben. Doch Leben und Tod sitzen bei allen großen Schriftstellern, und das war Bohumil Hrabal, im gleichen Zugabteil dicht nebeneinander, so wie der Humor und die Ernsthaftigkeit, das Absurde und das Existenzielle.
Diese Erzählung Hrabals kennt in Tschechien nicht nur jeder Eisenbahner, sondern tatsächlich jeder Tscheche. Und nicht nur in Tschechien. Jiří Menzel verfilmte den Stoff unter dem Titel Liebe nach Fahrplan und gewann mit dem Eisenbahnerstreifen 1968 sogar den Oscar für den besten fremdsprachigen Film.
Auch heute dient in Kostomlaty noch ein Fahrdienstleiter, der mit roter Mütze immer auf dem Bahnsteig steht und die Züge beobachtet, die vorbeifahren. Er stellt die Signale, grüßt die Lokführer und schaut nach dem Zugschluss, nach den rot-weißen Tafeln oder rot leuchtenden Lichtern. So weiß er, dass der Zug nicht irgendwo auf der Strecke einen Hänger verloren hat. Ein Bild, das typisch ist für das Eisenbahnleben im Mitteleuropa, vor allem für die Länder der ehemaligen Donaumonarchie. Egal, auf welchem Bahnhof man aussteigt, egal, durch welche Station man fährt. Die Fahrdienstleiter stehen einfach da. In Kostomlaty in Böhmen, Bad Ischl in Österreich, Humenné in der Slowakei, Nova Gorica in Slowenien, Villa Opicina oberhalb von Triest in Italien, Sátoraljaújhely in Ungarn, Rijeka in Kroatien, Lwiw in der Ukraine und auch in Łupków, dem verlassenen polnischen Bahnhof in den Karpaten an der Grenze zur Slowakei, wohin sich heute nur noch sehr wenige Züge verirren. Da überall stehen sie noch, diese Priester und Priesterinnen des Eisenbahngottes, die Männer und Frauen in Uniform und mit roter Mütze, und wachen über die Züge und Fahrgäste. Es beruhigt mich immer sehr, wenn ich sie auf dem Bahnsteig sehe. Man fühlt sich sicherer. Man weiß, jemand passt auf die Züge auf, aber auch auf uns. Die Welt ist in Ordnung.
Und wenn die Fahrdienstleiter die Züge in Tschechien, Ungarn und der Slowakei noch so wie früher mit dem Befehlsstab abfertigen, mit ihrem Segen in die Welt schicken und die Schaffner ihnen mit einem ähnlichen Segen antworten, indem sie mit der Hand ein Kreuz in die Luft zeichnen, dass der Zug abfahren kann, nehmen die Reisenden teil an einer heiligen Messe. So wie vor schon hundert Jahren. In Deutschland sieht man dieses Schauspiel nicht mehr. Da verschanzen sich die Fahrdienstleiter in ihrem Stellwerk wie in einer kleinen Festung. Die Zugabfertigung übernimmt das Zugpersonal.
In Kostomlaty, Humenné oder Nova Gorica kann man mit den Priestern der Eisenbahn immer noch zwischen den Abfahrten über das Leben auf den Schienen plaudern. Und ich bin mir sicher, dass man den Fahrdienstleiter von Bad Ischl auch ohne Weiteres nach Łupków, Villa Opicina oder Sátoraljaújhely versetzen könnte. Er würde sofort wissen, was zu tun ist, wie man die alten elektromechanischen Stellwerke der Firma Siemens & Halske mit Tasten, Hebeln und Drahtzügen bedient.
Auch Hrabal würde mit Sicherheit Bescheid wissen. Oder ein anderer Autor, Adolf Branald. Er diente als Fahrdienstleiter im Bahnhof Moldava im Erzgebirge, direkt an der Grenze zwischen Böhmen und Sachsen. Bekannt ist er auch für seine Literatur über die dramatische Zeit von Frühjahr bis Herbst 1938, als die Tschechoslowakei das sogenannte Sudetenland an das sogenannte Dritte Reich abtreten musste. Es war eine traurige, brutale und laute Zeit. Heute ist es in Moldava still. Fast zu still. Die Züge nach dort fahren auch nur noch innerhalb von Tschechien zurück, denn auf der deutschen Seite wurden die Gleise nach dem Krieg entfernt. Doch wer weiß, vielleicht wird dieser Lückenschluss irgendwann verschwinden, an manchen Orten ist es schon passiert. Und vielleicht sieht man dann auch hier wieder einen Fahrdienstleiter auf dem Bahnsteig. Einen heiligen Gesandten des Eisenbahngottes.

Aus dem Fenster meines Stellwerks sah ich nicht nur die eingleisige Bahnstrecke und das hohe Viadukt, das die Züge hoch oben über eine pulsierende Straße führte, sondern auch noch ein wenig vom Masarykovo nádraží, dem ehemaligen Staatsbahnhof, benannt nach dem Mitbegründer und ersten Präsidenten der Tschechoslowakei, Tomáš Garrigue Masaryk. Heute dient der älteste Bahnhof und einzige Kopfbahnhof der Stadt vor allem dem Regionalverkehr. Doch früher war es der wichtigste Bahnhof in Prag. Hier kam im Sommer 1845 nach Eröffnung dieser Strecke der erste Zug aus Richtung Olomouc und Wien an. Von hier aus fuhren von 1851 an auch die Züge nach Dresden ab. Die Moldau wurde über das jüngst sanierte Negrelli-Viadukt überquert. Bis 1910 war es die längste Eisenbahnbrücke Europas.
Die ruhige, langsame Fahrt dort oben lohnt sich auch heute noch. Man schaut auf den Fluss, blickt auf den Hradschin mit der Prager Burg und die zahlreichen Türme der Stadt. Man kann versuchen, die vielen Bögen des Viadukts zu zählen und die Millionen Ziegel und Steine, die es zusammenhalten. Neben der Karlsbrücke ist das die schönste Brücke von Prag. Auch das Originalstellwerk steht hier bis heute. Als ich nach Prag zog, war es noch mit einem alten Weichenwächter besetzt. Oft saß er am Fenster, rauchte und schaute auf die Züge. Heute muss er längst in Rente sein. Das kleine Häuschen aus Holz und Stein wird mittlerweile nicht mehr genutzt, doch erstrahlt es prächtig saniert als Eisenbahndenkmal.
Wie der alte Weichenwächter konnte auch ich stundenlang am Fenster sitzen, nur las ich in den Büchern von Hrabal, Kafka, Hašek oder Branald, statt zu rauchen. Aber auf die Züge schaute natürlich auch ich. Die Regionalzüge nach Turnov. Die Schnellzüge nach Mähren. Die Eurocitys nach Budapest, Berlin und Hamburg mit ihren vorzüglichen Speisewagen. Schnell kannte ich auch alle Lokomotiven und freundete mich mit ein paar Lokführern an. Abends stieß ich mit ihnen mit einem Bierchen aus der Ferne, aus dem Fenster an.
„Angenehmen Feierabend“, rief ich einem Lokführer zu, der mit seinem Zug vor dem Einfahrsignal kurz warten musste.
„Dir auch. Ich freu mich auch schon auf mein Bier“, rief er zurück und pfiff mir kurz zu.
So war es oft. Kurze Szenen. Kurze Begegnungen. Mit den Lokführern. Den Schaffnerinnen. Den Reisenden. Den Kellnern und Köchen im Speisewagen. Ziemlich sicher habe ich damals aus meinem Stellwerk bereits Herrn Peterka, 
einen Oberkellner, gesehen. Und den Lokführer Pavel Židlík. Die zwei sind vor allem zwischen Prag und Dresden unterwegs. Mit beiden bin ich heute befreundet.

Im Sommer war es manchmal sehr warm in meiner Wohnung. Die beiden Fenster waren weit aufgerissen, und so erschienen mir die Züge noch näher, während ich dort mit Freunden saß. Wir tranken Bier oder Wein und hörten die Musik der Züge und auch die Musik, die wir liebten.
Etwa Downtown Train von Tom Waits, und jemand träumte von der endlosen Reise mit einem Amtrak-Zug durch Amerika. Ein anderer erzählte von der Grand Central Station in New York und noch jemand anderes vom Bahnhof in Cincinnati, wo sein Onkel lebte. Die drei stritten sich dann, welches der beste Bahnhof von ganz Amerika sei, obwohl niemand von ihnen jemals in Amerika war. Und da sagte noch ein anderer, der beste Bahnhof von Amerika sei in Amerika in Sachsen auf der Strecke zwischen Glauchau und Wurzen. Er hatte dort eine Freundin aus der gemeinsamen Zeit im Pionierlager Artek auf der Krim, die er schon im Nachtzug dorthin kennengelernt hatte und die wahrscheinlich noch immer auf dem Bahnsteig in Amerika auf ihn wartete. So hatte er es ihr fünfzehn Jahre zuvor in Artek versprochen. Dass er mit dem Zug aus Pilsen in Böhmen nach Amerika in Sachsen kommt und sie heiratet.
Wir hörten auch Midnight Bahnhof Café von Wire, Smalltown Boy von Bronski Beat, Zoo Station von U2 und Following The Disappeared Railroads von der lokalen Band Toyen, eine nostalgische Hymne voller Sehnsucht nach der Zeit des Prager Frühlings und alten Eisenbahnen, die sich im Gras und Gebüsch verirrt haben. Wir hörten Jumping Someone Else’s Train von The Cure und Ghost Train von The Stranglers und Runaway Train von Soul Asylum und Mystery Train, einen Blues, den die Version von Elvis bekannt machte, wir allerdings spielten Neil Youngs Cover des King-Covers. Aber auch Neil Young im Original, seinen Train of Love, der zwar von Herz zu Herz fährt, aber immer verspätet ankommt, wie es so oft im Leben ist.
Neben On Track von Yello hörten wir Europa Endlos und Trans Europa Express von Kraftwerk, und jemand erzählte von seinem Onkel, der vor dreißig Jahren Weichensteller in Banská Bystrica in der Slowakei gewesen war und sein ganzes Leben davon geträumt hatte, einmal mit dem Trans Europa Express fahren zu können, keinen Schnaps getrunken und das ganze Geld, das die anderen Weichensteller für Bier und den Schnaps Borovička ausgaben, nur für die Reise mit dem Trans Europa Express gespart hatte. Doch dann war er von einem Güterzug erfasst worden. Für das ersparte Geld hatte er in Banská Bystrica ein sehr schönes Eisenbahnergrab bekommen.
Oft hörten wir auch Kam se podějem, Wo kommen wir hin, von der tschechischen Band Priessnitz. Ihr Frontmann Jaromír 99 singt darin über die Züge, die jede Nacht dicht an seinem Haus vorbeiziehen, und die Bewohner, die von dem Gedanken gebannt sind, irgendwann alles hinter sich zu lassen, aufzubrechen und mitzufahren. Doch eine Zugfahrt durch die Nacht führt auch ins Ungewisse. Jeder stellt sich dann die Frage, was mit uns allen auf dieser Bahnstrecke passiert, die wir das Leben nennen. Wohin wir gebracht werden. In welchem Bahnhof wir am Ende ankommen werden.
Auch in meinem Stellwerk haben uns die Züge nicht losgelassen. Sie sind immer da. Für die Eisenbahn und die Züge gibt es keinen Feierabend. Sie sind nicht zu stoppen. Sie fahren den ganzen Tag und die ganze Nacht. Und so haben sie uns immer wieder in Traumlandschaften geführt, wenn wir irgendwann, allein oder zusammen, schlafen gingen. Weit, weit weg. In neue, unbekannte Welten.
Es waren Nachtzüge nach Budapest. Warschau. Kiew. Moskau. Bukarest. Belgrad. Berlin. Ihre gelben Lichter brannten wie kleine Feuer an den Wänden meines Zimmers und tanzten wild an der Decke entlang. Und ich musste an ein Gemälde von Egon Schiele denken, Durch Europa bei Nacht, wo ein Nachtzug durch die schwarzen, kantigen Berge und über eine hohe Brücke rast. Die Lichter der Dampflokomotive beleuchten die Strecke, und nichts kann den Zug auf dieser Reise aufhalten. Einfach Europa endlos.
Als Kind sah Schiele sicher viele Nachtzüge aus seinem Zimmer mit Bahnblick in Tulln an der Donau. Sein Vater arbeitete dort als Bahnhofsvorstand. Heute ist in der Wohnung, direkt im Bahnhofsgebäude, ein kleines Museum über den Maler eingerichtet. Der kleine Egon sah aus seinem Fenster die Nachtzüge von Prag nach Wien oder von Wien nach Prag und vielleicht sogar bis nach Berlin vorbeirollen.
Das Aquarell von Schiele mag ich sehr. Eine Kopie von Durch Europa bei Nacht habe ich kürzlich von einer Freundin in Dresden bekommen, die auch gerne mit dem Zug reist und sich für Kunst und Kultur interessiert. Und für Eisenbahngeschichte. So hängt das kleine Bild nun an der Wand über meinem Schreibtisch, gleich neben der Eisenbahnkarte von Europa aus dem Jahr 1913 und der Eisenbahnkarte von Österreich-Ungarn aus dem Jahr 1911, die auch zu meiner persönlichen Eisenbahnkarte geworden ist. Viele dieser alten Strecken gehen einfach mitten durch mein Herz.

In meiner Wohnung mit Bahnblick war es nur kurz zwischen eins und vier ruhig, fast gespenstisch still. In dieser Zeit fuhren nur die leisen Rangierloks. Manchmal ganz allein. Manchmal mit einem oder zwei Wagen.
Der letzte Zug des Tages war immer der legendäre Nachtexpress Excelsior von Cheb nach Košice. Der Zug der Nachtgestalten und Geister, Verlierer und Trinker, Träumer und Kleinkriminellen, aber auch der Kurgäste, Urlauber und Arbeiter. Ein Direktzug, einer der wichtigsten Schnellzüge sogar, der seit den 1990ern vom Westen Tschechiens in den Osten der Slowakei verkehrte, im Dezember 2014 leider zum letzten Mal. Der erste Zug des Tages war dann der gleiche Schlafwandler, nur aus der Gegenrichtung, der Excelsior von Košice nach Cheb, Eger in Westböhmen, die altehrwürdige, geschichtsträchtige Stadt an der Grenze zu Deutschland, unweit von Franzensbad, Karlsbad und Marienbad, bis heute ein wichtiger Bahnhof im Herzen der westböhmischen Kurlandschaft.
Keine Ahnung, wie es passiert ist, doch plötzlich fand ich mich im Schlafwagen des Excelsior wieder. Wahrscheinlich hatte ich mich selbst in einen Schlafwandler verwandelt. Wie von einer unsichtbaren Kraft geführt, vielleicht vom Eisenbahngott höchstpersönlich, hatte ich meine Wohnung verlassen und ging zum Hauptbahnhof. Im Halbschlaf. Im Halbtraum. Im Halbkoma.
Ich weiß noch, dass ich mir einen Fahrschein kaufte und es im Abteil sehr heiß war, wie ich es auch später oft in den Nachtzügen erlebte. Doch das Fenster ließ sich zum Glück öffnen.
Ich weiß noch, dass ich aus dem Fenster des Schlafwagens die glühenden Stahlhütten in Ostrava sah. Die ganze Stadt strahlte und brannte. Die ganze Nacht. Und die Luft stank nach Schwefel, wie es auch heute noch nach Schwefel stinkt, wenn man in Ostrava aus dem Zug steigt.
Ich weiß noch, wie ich aus dem Schlafabteil mit Bahnblick die Rangierer sah und den Fahrdienstleiter mit einem so blassen und eingefallenen Gesicht, dass ich an den Tod denken musste.
Ich weiß noch, wie ich später auch die Milchstraße sah, die sich wie eine unendliche Eisenbahnkarte über uns erstreckte, mit vielen Bahnhöfen und Haltepunkten und endlos ausgebreiteten Engelsflügeln. Das riesige kosmische Flügelrad.
Ich weiß noch, wie ich die scharfen Schatten der slowakischen Berge sah, der Kleinen und Großen und Niederen und Hohen Tatra. Ich fühlte mich wie in dem Nachtzug Schieles durch Mitteleuropa getrieben. Irgendwann kam Poprad und dann auch Kysak. Dort hat man auf dem Bahnsteig eine kleine Figur der heiligen Katharina von Alexandrien, der Schutzpatronin der slowakischen Eisenbahner, angebracht. Und genau davor kniete eine alte Frau und betete.
Schließlich stieg ich in Košice aus dem Zug. Ich schaute zwei Rangierern zu, wie sie die Lokomotive abkoppelten, und verstand kein Wort, obwohl ich Slowakisch eigentlich sehr gut verstehe, wie jeder, der in der Tschechoslowakei aufgewachsen ist. Doch die beiden sprachen ungarisch miteinander. Und schimpften auf Ungarisch, das wiederum habe ich ganz gut verstanden. Denn es gefiel ihnen überhaupt nicht, wie ich sie bei der Arbeit anstarrte, mit meinem schlafreisenden Blick.
Todmüde fuhr ich von Košice mit dem Regionalzug nach Prešov. Auch über Kysak. Und wieder sah ich die alte Frau, wie sie vor der heiligen Katharina von Alexandrien kniete und betete. Für sie, für ihre Familie, für alle Eisenbahner dieser Welt.
Am Abend fuhr ich dann zurück nach Prag und schlief fast die ganze Nacht durch. Doch immer wieder wurde ich im Abteil von zwei Engländern geweckt, die auf der Suche nach dem Mittelpunkt Osteuropas waren, doch bis jetzt einfach nicht fündig geworden waren. In Wrocław, Budapest, Prag und auch in Košice und sogar in Lwiw wurde ihnen erklärt, dass es Osteuropa nicht gibt. Die Westeuropäer haben aus uns Osteuropäer gemacht, die bis heute immer noch im Kalten Krieg leben, versuchte ich ihnen klarzumachen. Von Wien nach Lwiw ist es viel näher als nach Paris. Von Berlin nach Warschau genauso, obwohl es in Berlin nicht alle glauben. Man muss sich nur die Eisenbahnkarte Europas anschauen. Wir haben uns hier immer als Mitteleuropäer verstanden. Auch vor der Wende. Oder wir haben uns darüber zumindest keine Gedanken gemacht. Ich weiß nicht, ob die Engländer mich verstanden. Ich war müde von dieser verrückten Reise, so wie sie müde waren von ihrer Suche nach dem Mittelpunkt Osteuropas. Vielleicht suchen sie bis heute.

Diese Reise mit dem Nachtzug sollte nicht meine letzte bleiben. Auch heute lasse ich mich gern auf Schienen durch die Nacht tragen. Seitdem weiß ich auch, wie wunderbar es ist, in Berlin, wo ich heute vor allem lebe, einzusteigen und im Rhythmus der Eisenbahn einzuschlafen und sich treiben zu lassen. Oder aus dem Fenster in die Dunkelheit der Nacht zu schauen, wo sich viel mehr Leben versteckt, als man denkt.
Es ist ein besonderes Erlebnis, nach einer Nachtzugreise am nächsten Morgen beispielsweise in der alten, bis heute sehr österreichisch geprägten Festungsstadt Przemyśl in Polen an der Grenze zur Ukraine aufzuwachen. Und gleich in dem eleganten Bahnhofsrestaurant direkt am Bahnsteig ein Omelette zu frühstücken, das nicht auf den Teller passt, weil es so groß ist wie meine Eisenbahnkarte der Donaumonarchie, auf der man selbstverständlich auch Przemyśl findet. Dort kann man speisen mit Bahnblick, den man auch aus vielen anderen Bahnhofskneipen und Cafés und Bars und auch Bahnhofshotels hat. Man sieht das Stellwerk, beobachtet die Rangierer. Die Reisenden, die auf den Zug oder Bus zur Weiterfahrt in die Ukraine warten und genauso müde sind wie die Bahnarbeiter.
Man kann aber auch in Świnoujście, auf der anderen Seite Polens, aufwachen und direkt an der Ostsee aussteigen. Przemyśl verbindet mit Świnoujście der polnische Zug, der am längsten unterwegs ist. Rund siebzehn Stunden braucht der Przemyślanin für die Strecke von Ostsüd nach Westnord, er führt auch einen Speisewagen, was bei den Nachtzügen nicht immer der Fall ist. Dabei sollte man sich den Wecker stellen, um den Hauptbahnhof von Wrocław nicht zu verschlafen. Mittlerweile sehr aufwendig saniert, blüht er in der Nacht richtig auf. Ähnlich wie die Bahnhöfe in Villach, Salzburg oder Břeclav, wo sich nachts die europäischen Nachtzüge treffen, um sich entweder wieder zu trennen oder neu zu verbinden. Um die schlafenden Fahrgäste auszutauschen, mit deren Träumen, Sorgen, Sehnsüchten.
Wie jeden Eisenbahnmenschen freut es auch mich sehr, dass die Lichter der Nachtzüge gerade wieder mehr in den Fahrplänen Mitteleuropas aufleuchten. Dafür muss man sich in Wien bei der ÖBB bedanken. Die Österreicher haben die Nachtzüge gerettet, die von vielen anderen Staatsbahnen ausgemustert wurden, und bescheren diesen Hotels auf Schienen ein Comeback, wodurch Wien nicht nur mit Lwiw und Kiew, sondern auch mit Berlin, Zürich, Amsterdam, Brüssel, Bukarest, Venedig und Rom verbunden ist. Bald werden in Europa auch noch andere Reiseziele wie Paris oder Barcelona folgen.
Doch es ist auch möglich, von Wien über Triest nach Rom zu reisen. Zuerst tagsüber mit der neuen Direktverbindung des EC Emona, der die österreichische Hauptstadt mit dem einst wichtigsten Handelshafen der Donaumonarchie nach vielen Jahrzehnten wieder verbindet. Eine unglaublich malerische Bahnfahrt über den Semmering, Graz, Ljubljana und den Karst. Beim Halt in Triest kann man noch kurz speisen und am gleichen Abend mit dem Nachtzug nach Rom weiterfahren. Von Roma Termini besteht dann die Möglichkeit, am nächsten Tag früh am Morgen in einen wunderbar langsamen Tageszug nach Palermo auf Sizilien zu steigen. Diese Verbindung ist die letzte in Europa, deren Wagen mit einem Schiff weitergetragen werden. Vom Festland auf die Insel. Man kann kurz aussteigen, einen Espresso trinken, aufs Meer schauen. Die Überfahrt selbst dauert zwar nicht lange, doch die Reise bis zur Endstation ist dann noch ein längerer Weg. Der Zug kommt erst um halb acht am Abend in Palermo an.
Mit den beiden Nachtzügen aus Rom dauert es ebenfalls ziemlich lang, doch auch dies ist eine wunderbare Reise. Der spätere Nachtzug kommt sogar erst kurz vor zwölf an. Ich habe Freunde, die genau das mögen. Lange im Bett eines Nachtzuges bleiben zu können. So lange, wie es nur geht. Bloß nicht zu früh ankommen, sagen sie immer. Sie verbrachten ganze Tage und Nächte in den Zugabteilen und genießen es, sich’s dort gemütlich zu machen. So braucht es zwei, drei Tage, bis man sich in der Transsibirischen Eisenbahn richtig einnistet, erzählen sie. Bis man den Zug versteht. Das Reisen mit der Transsibirischen versteht. Die Reise richtig genießen kann, als besonderen seelischen Zustand, als eine Form der Meditation. Danach möchte man oft nicht mehr aussteigen, sagen sie.
Ich habe einen Freund in Wien, der zehn Tage lang von Moskau bis fast nach Wladiwostok unterwegs war. Kurz vorher, in Ussurijsk, wurde sein Schlafwagen abgehängt, und er reiste darin zwei weitere Tage nach Pjöngjang in Nordkorea. Auch heute noch erzählt er von dieser außergewöhnlichen Reise im nordkoreanischen Schlafwagen, der zweimal im Monat zwischen Pjöngjang und Moskau pendelt. Eigentlich dürfen Touristen aus dem Westen nur über China nach Nordkorea einreisen. Doch mein Freund hatte einen gültigen Fahrschein, und deshalb wies der russische Schaffner die nordkoreanischen Kollegen an, ihn mitzunehmen.
So erlebte mein Freund nicht nur die nordkoreanische Eisenbahn und konnte das strenge Leben in diesem armen, weitgehend abgeschotteten Land ein wenig beobachten, sondern war auch bei der doppelten Umspurung dabei. Die Umspurung zu erleben ist für alle Eisenbahnmenschen ein unvergleichliches Ritual. Und eine doppelte Umspurung kann wahrscheinlich nichts mehr übertreffen. An der Grenze zwischen der Slowakei oder Ungarn mit der Ukraine wird der Schlafwagen zuerst von unserer europäischen Normalspur von 1435 Millimetern auf die russische Breitspur von 1520 Millimetern umgespurt. Und an der Grenze zu Nordkorea wurde der nordkoreanische Wagen wieder auf die Normalspur umgespurt. Europa und Nordkorea liegen weit auseinander, doch ist es die gleiche Spurweite, die uns verbindet.
Hier noch eine Empfehlung von meinem Freund für alle, die über eine Fahrt nach Wladiwostok oder Pjöngjang nachdenken: Eigentlich ist es besser, von Ost nach West zu fahren und nicht umgekehrt, wie es die meisten Reisenden machen. Also von Wladiwostok oder Pjöngjang nach Moskau und weiter nach Wien oder Berlin. Denn wegen der Zeitverschiebung ist auf diese Weise jeder Tag um eine Stunde länger und nicht kürzer. So hat man viel mehr von der Reise.

Jaroslav Rudiš

Über Jaroslav Rudiš

Biografie

Jaroslav Rudiš, geboren 1972 in der Tschechoslowakei, lebt heute in Lomnice nad Popelkou und Berlin und ist Schriftsteller, Drehbuchautor, Dramatiker und Musiker. Er studierte Deutsch und Geschichte in Liberec, Zürich und Berlin und arbeitete u.a. als Lehrer und Journalist. Bei Luchterhand erschienen u.a. seine Romane „Grand Hotel“, „Vom Ende des Punks in Helsinki“, „Nationalstraße“, „Winterbergs letzte Reise“ und bei btb „Der Himmel unter Berlin“. Zudem publizierte er die Graphic Novels „Alois Nebel“ (mit Jaromír 99) und „Nachtgestalten“ (mit Nicolas Mahler). 2012/13 hatte Rudiš die Siegfried-Unseld-Gastprofessur an der Humboldt-Universität zu Berlin inne. 2014 wurde er mit dem Usedomer Literaturpreis ausgezeichnet und 2018 erhielt er den Preis der Literaturhäuser. 2019 wurde er für seinen Roman „Winterbergs letzte Reise“ – der erste Band, den er auf Deutsch verfasst hat – auf der Leipziger Buchmesse in der Kategorie „Belletristik“ nominiert. 2020 erhielt er dafür den Chamisso-Preis. Und zuletzt wurde ihm 2024 der renommierte Mörike-Preis verliehen. Rudiš‘ Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und verfilmt. 2021 wurde er zudem als „einer der engagiertesten Brückenbauer zwischen Deutschland und Tschechien“ mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland geehrt. 

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