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Working Class

Julia Friedrichs
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Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können

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Working Class — Inhalt

„Ihr werdet es einmal schlechter haben!“
Die Generation nach den Babyboomern ist die erste nach dem Zweiten Weltkrieg, die ihre Eltern mehrheitlich nicht wirtschaftlich übertreffen wird. Obwohl die Wirtschaft ein Jahrzehnt lang wuchs, besitzt die Mehrheit in diesem Land kaum Kapital, kein Vermögen. Doch sich Wohlstand aus eigener Kraft zu erarbeiten ist schwieriger geworden, insbesondere für die, die heute unter 45 sind. Die Hälfte von ihnen fürchtet, im Alter arm zu sein. Was sind die Ursachen für diesen großen gesellschaftlichen Umbruch, wann fing es an?

Julia Friedrichs spricht mit Wissenschaftlern, Experten und Politikern. Vor allem aber begleitet sie Menschen, die dachten, dass Arbeit sie durchs Leben trägt, die reinigen, unterrichten, Tag für Tag ins Büro gehen und merken, dass es doch nicht reicht. Sie sind die ungehörte Hälfte des Landes. Dieses Buch erzählt ihre Geschichte.

€ 14,00 [D], € 14,40 [A]
Erschienen am 06.01.2023
320 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31904-1
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€ 13,99 [D], € 13,99 [A]
Erschienen am 01.03.2021
304 Seiten, WMePub
EAN 978-3-8270-8029-5
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Leseprobe zu „Working Class“

Prolog

Schon vor der Pandemie gab es Tage, an denen ich mir sicher war, den Knall überhört zu haben. Den Knall, den man hört, wenn ein Band reißt, das alles zusammenhält. Wer ständig Fußball schaut wie ich, wird immer wieder Zeuge dieses Knalls. Vor zwei Jahren zum Beispiel, als bei einem Auswärtsspiel meines Teams Werder Bremen in Dortmund unser Flügelspieler Fin Bartels in der 33. Minute nach einem harmlosen Zweikampf zu Boden ging: ein unabsichtlicher Tritt in die Hacke, ein Sturz, ein Knall, hin war die Achillessehne, die Fuß an Bein bindet und ohne [...]

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Prolog

Schon vor der Pandemie gab es Tage, an denen ich mir sicher war, den Knall überhört zu haben. Den Knall, den man hört, wenn ein Band reißt, das alles zusammenhält. Wer ständig Fußball schaut wie ich, wird immer wieder Zeuge dieses Knalls. Vor zwei Jahren zum Beispiel, als bei einem Auswärtsspiel meines Teams Werder Bremen in Dortmund unser Flügelspieler Fin Bartels in der 33. Minute nach einem harmlosen Zweikampf zu Boden ging: ein unabsichtlicher Tritt in die Hacke, ein Sturz, ein Knall, hin war die Achillessehne, die Fuß an Bein bindet und ohne die kein Schritt getan, kein Ball gedribbelt, kein Tor geschossen werden kann. Als Bartels auf der Bank saß, kaum zu trösten, war klar, dass er längst wusste, dass es das für sehr, sehr lange Zeit war mit dem Fußballspielen.

Aber wie fühlt sich der Knall an, den man spürt, wenn das Band reißt, das uns alle zu dem zusammenbindet, was man recht ungenügend mit dem Wort „Gesellschaft“ beschreibt? Ist er auch so laut wie ein Riss der Achillessehne? Wird hier auch sofort jeder wissen, was geschehen ist?

Fühlt es sich vielleicht so an? Berlin, Montag, U-Bahn-Linie 8, Schönleinstraße. Die Gegend, die in Immobilienanzeigen „begehrte Lage“ heißt. Gleich hier um die Ecke wird etwas angeboten: drei Zimmer für eine halbe Million Euro oder der Dachgeschossrohling für 1,6 Millionen. Es ist 13.10 Uhr. Ich trete aus der Bahn und fast auf einen Mann, der von der mintfarbenen Bank kippt, den Alustreifen, aus dem er sein Crack geraucht hat, noch zwischen den Lippen. Die Ärmsten sind jetzt fast jeden Tag da, liegen halb angezogen auf den Bänken. Längst habe ich den Kindern beibringen müssen, dass manche Menschen das Leben nur mit Drogen ertragen, diese aber das Gehirn vergiften und mancher deshalb schreit oder in die Ecke pinkelt. Die Kinder bitten trotzdem weiter um Münzen, die sie in Becher und Hände legen.

Oder so? Um die Ecke der neue Bäcker kündigt an, die ohnehin schon hohen Preise noch einmal anzuheben. Auf der Theke steht ein Begründungsschreiben. „Unsere Miete beträgt 21 Euro pro Quadratmeter und steigt jedes Jahr um drei Prozent.“ 1,90 Euro kostet ein Croissant nach der Erhöhung. Bis vor zwei Jahren war hier Kasper, ein Kiezbäcker, bei dem auch die Müllwerker Pause machten: Für 2,50 Euro gab es zwei belegte Brötchen und Kaffee. Die Männer in Orange sieht man jetzt nicht mehr hier. Dafür stehen sonntags die neuen Wohlhabenden der Stadt bis raus auf den Bürgersteig.

Vielleicht aber auch ganz anders. Der Riss der Achillessehne ist eine schwere Verletzung. So etwas kommt vor, ist aber selten. Genau wie die Extreme, die mich irritieren: die Elenden und die Immobilienmillionäre. Sie gibt es. Sie mögen zahlreicher werden, sichtbarer auf jeden Fall. Aber sie sind nicht die Regel.

Als Mediziner die Sprunggelenke von Profifußballern untersuchten und mit denen jener Menschen verglichen, die nicht unter der dauerhaften Belastung des Sports gestanden hatten, fiel ihnen auf, was von außen niemand gesehen hatte: 90 Prozent der Profigelenke waren dauerhaft verändert, die Sprunggelenksbänder zudem oft „chronisch instabil“. Eine Erkrankung, die unter der Bezeichnung soccer’s ankle, also „Fußballergelenk“, seit den 1950er-Jahren bekannt ist. Zu viele Schläge, Stöße, kleine Risse, zu viele „Mikrotraumata“, wie es die Mediziner nennen, die das Gelenk während einer Karriere aushalten muss. Zu oft gedehnt, zu oft verletzt, schafft das Band irgendwann nicht mehr das, was es tun soll: halten und stützen.

Vielleicht also versagt auch das Band, das uns zusammenhält, gar nicht für alle merklich mit einem Peitschenknall, vielleicht geschieht auch das viel, viel leiser. Vermutlich wird auch nicht der eine entscheidende Zweikampf, das eine Foul die Ursache sein, sondern die vielen, vielen Mikrotraumata, die permanenten Überdehnungen, die kleinen Risse. Ihnen gilt es nachzuspüren. Dafür aber muss man ganz genau hinsehen.

Vor der Pandemie war das ökonomische Bild dieses Landes auf den ersten Blick beeindruckend: Der Wohlstand wuchs. Die Zahl der Erwerbstätigen auch. Genau wie die Billionen auf den privaten Konten. Der Staat nahm so viele Steuergelder ein wie noch nie. Aus dem „kranken Mann Europas“, wie der britische Economist vor 15 Jahren titelte, war ein kraftstrotzender Adonis geworden. (Wobei der Vergleich lahmt: Bei einem mittleren Alter der Deutschen von 48 Jahren sollten wir uns vielleicht eher einen gut trainierten Sportler der Altherrenliga vorstellen.) Aber ganz und gar konnten auch seine Muskeln die Risse im Gewebe nicht verbergen.

 

Vor dem ersten von vielen Treffen und Gesprächen hatte Alexandra den Kaffeetisch gedeckt. Sait hatte wie immer nach dem Dienst geduscht. Christian seine Narbencreme aufgetragen. Die drei gehören zu denen, für die es keinen Namen gibt. Working class, sagen die Briten, präzise und stolz. Classe populaire die Franzosen. Und wir? Die „kleinen Leute“? Die „einfachen Leute“? Die Mittelschicht. Ersteres ist völliger Quatsch, Letzteres viel zu ungenau.

Wäre der Begriff nicht so verbraucht, müsste man die Menschen, die ich mehr als ein Jahr lang wieder und wieder traf, „Arbeiter“ nennen. Selbst wenn keiner von ihnen mehr etwas mit den überlieferten Bildern der rußverschmierten Kohlekumpel, der Malocher am Band gemein zu haben scheint. Heute schaffen Arbeiter eben nicht mehr unter Tage, nur selten in der Fabrik. Sie schleppen Pakete die Treppe hinauf oder Schmutzwäsche wieder hinunter, sie sitzen an der Supermarktkasse oder füllen auf der Fläche die Regale, sie verlegen schnelles Internet oder füllen Excel-Listen. Sie backen, mauern, kochen, putzen. Sie antworten am anderen Ende von Hotlines, bei Servicestellen, Verkaufsagenturen. Sie steuern Lkw oder Busse oder Müllwagen. Sie betreuen und bilden Kinder, pflegen Opa oder uns, wenn wir krank sind.

Die working class sieht anders aus als vor hundert Jahren, aber noch immer gilt: Es sind Menschen, die arbeiten, um Geld zum Leben zu haben. Ganz einfach. Menschen, die keine Unternehmensanteile halten, über keine Mietshäuser verfügen, keine Erbschaften erwarten, denen keine Windräder gehören, nicht mal Fonds für die Altersvorsorge. Menschen, für die gilt: Nettoeinkommen gleich Monatsbudget ohne Rücklagen-Netz und doppelten Familien-Vermögen-Boden.

Die US-Ökonomen Gabriel Zucman und Emanuel Saez schichten die Bevölkerung anhand ihrer Vermögen. Ganz unten die breite Arbeiterschicht, die Menschen ohne Kapital, satte 50 Prozent der US-Amerikaner. Dann die Mittelschicht (die folgenden 40 Prozent), die obere Mittelschicht (die nächsten 9 Prozent) und die Reichen (das oberste Prozent).

Folgt man diesem System, sind auch in Deutschland die meisten Menschen Arbeiter. Denn obwohl die Wirtschaft nun ein Jahrzehnt lang wuchs, die Gewinne flossen, die Aktienindizes kletterten, hat die Mehrheit in diesem Land kaum Kapital, kein Vermögen. Die Menschen sind angewiesen auf den Ertrag ihrer Hände, ihrer Köpfe Arbeit.

In einem Papier aus dem Bundesfinanzministerium, das mir für dieses Buch zugeschickt wird, heißt es trocken: „Teilt man die Haushalte in Dezile, so hat der Anteil am gesamten Nettohaushaltsvermögen der unteren fünf Dezile seit 1998 von 3,7 Prozent auf 1 Prozent abgenommen. Der Anteil der oberen fünf Dezile hat dagegen im Umkehrschluss von 96,3 Prozent auf 99 Prozent zugenommen.“ Will heißen: Die ärmere Hälfte der Bevölkerung hatte vor zwanzig Jahren schon wenig Vermögen, inzwischen aber: fast nichts.

Bill Clinton nannte diese Menschen in einem lichten Moment the hard working people who play by the rules. Viele von ihnen würden besser dastehen, wenn sie Grundsicherung kassieren und ein bisschen schwarzarbeiten würden. Aber sie tun es nicht. Aus Verpflichtung, aus dem Wunsch, den Kindern Vorbild zu sein, in der Hoffnung, dass Fleiß und Anstrengung irgendwann entlohnt werden?

 

Sait steigt morgens um 6.30 Uhr runter in die U-Bahn und wischt den Dreck der Nacht weg. Alexandra drückt mittags ihrer jüngeren Tochter noch einen Kuss auf die Wange, um dann bis abends Klavierschüler zu unterrichten. Christian isst mittags am Schreibtisch im Büro, um es irgendwie pünktlich in den Feierabend zu schaffen. Sie alle haben schon vor der Pandemie von Rissen erzählt. Sie alle haben gespürt, wie die Muskelstränge wieder und wieder überdehnten.

Sait, als er Monat für Monat beim Amt die Anträge einreichte, damit der Staat den niedrigen Lohn so aufstockte, dass die vierköpfige Familie damit zumindest über die Runden kam. Christian, als er an einem Freitagnachmittag in einem Vier-Augen-Gespräch von seiner Chefin degradiert wurde und sich fragte, ob die Firma wirklich die glückliche Familie war, der er seine Arbeitsstunden zu widmen dachte. Alexandra, als ihr endgültig klar war, dass sie vermutlich nie einen Festvertrag würde erkämpfen können, dass bezahlter Urlaub oder Krankentage für sie für immer Illusion bleiben würden.

Und nicht nur sie spürten, wie das Band überstreckte: Gut drei Millionen Menschen in Deutschland verdienen weniger als 2000 Euro brutto im Monat, obwohl sie Vollzeit arbeiten, zehn Millionen bekommen weniger als 12 Euro die Stunde. Seit dem Jahr 2010 nimmt die Ungleichheit der Jahreseinkommen in Deutschland wieder zu. Besonders stark steigen Löhne und Gehälter der reichsten 10 Prozent. Das ärmste Drittel hat in den letzten drei Jahrzehnten unter dem Strich nur wenig vom Wachstum in Deutschland profitiert oder sogar verloren. Trotzdem wurden in dieser Zeit die Steuern für das obere Drittel der Einkommen gesenkt, für die untere Hälfte deutlich erhöht. Schon jetzt sind die Vermögen in Deutschland ungleicher verteilt als in den meisten Industrieländern. Aber nur in zwei Ländern Europas, Österreich und Tschechien, wird Vermögen geringer besteuert als hier.

11 Prozent der Deutschen besitzen Aktien. Vor allem ihr Vermögen wuchs. Knapp die Hälfte der Menschen hat kaum Erspartes, kaum Vorsorge für das Alter oder für die Familie. Die Generation nach den Babyboomern ist die erste nach dem Zweiten Weltkrieg, die nicht in der Mehrheit die eigenen Eltern wirtschaftlich übertreffen wird. Vor allem bei der Altersgruppe bis 45 ist die Zahl der Menschen mit niedrigem Einkommen stark gewachsen. Mehr als ein Drittel von ihnen könnte im Alter arm sein. Auch deshalb, weil ihre Eltern sich heute in der Mehrheit gute Renten und ein relativ frühes Arbeitsende gönnen. Schon jetzt werden zwei Drittel des Sozialetats für Zuschüsse zur Rentenversicherung ausgegeben.

Weil sie aber in der Generation ihrer (westdeutschen) Eltern erlebten, wie der Aufstieg durch Arbeit noch gelang, zweifeln viele derer, die in den 1970er- und 1980er-Jahren geboren wurden, an sich selbst, wenn sie merken, dass es mit dem eigenen Emporkommen nicht klappt. Bin ich nicht innovativ und produktiv genug? Nicht ausreichend belastbar und smart? Nicht so dynamisch und beweglich, wie ich es sein müsste?

 

You want a hot body? You want a Bugatti?

You want a Maserati? You better work bitch

 

You wanna live fancy? Live in a big mansion?

Party in France?

You better work bitch

 

128 Mal schlägt der Bass pro Minute. Darauf hämmert uns Britney Spears die seit Generationen gelernten Botschaften noch mal neu ins Hirn. Die meisten bitches aber können sich anstrengen, wie sie wollen. Es fällt kein Maserati mehr ab, und schon gar keine Immobilie – weder big noch small. Dabei hat ja noch niemand das große Versprechen zurückgenommen, das dieses Land seinen Bürgern in den Nachkriegsjahren gegeben hat. Damals drängten etliche Verantwortliche auf eine Vergesellschaftung von Eigentum. „Wir wollen die zentrale Planung in der Wirtschaft“, sagte der damalige SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher unmissverständlich. Auch CDU-Politiker sprachen davon, dass eine Neuordnung der Eigentumsverhältnisse „unaufhaltsames soziales Gesetz“ sei. Der Wirtschaftsminister und spätere Kanzler Ludwig Erhard schlug in dieser Lage den Bürgern einen Deal vor: Vertraut auf den Markt, auf den Wettbewerb, und ihr werdet am Ende „Wohlstand für alle“ ernten.

Die soziale Marktwirtschaft, das ist seitdem der Anspruch, bietet allen Bürgerinnen ein gutes Leben. Ihr Fundament ist die Arbeit. An ihr hängen: der Wohlstand des Einzelnen; die Einnahmen des Staates; die Absicherung von Krankheit und Alter. Aber offensichtlich ist: Das Versprechen bröckelt. Sich Wohlstand aus eigener Kraft zu erarbeiten ist schwieriger geworden, insbesondere für die, die heute unter 45 sind.

Warum eigentlich? Was war die Ursache? Wann fing es an? In den 1980ern, als der Finanzmarkt die Realwirtschaft erst ein- und dann überholte? In den 1990ern, als sich das Wachstum der Vermögen der Wohlhabenden von einer Linie zur aufsteigenden Kurve bog? In den 2000ern, als die niedrigen Einkommen einfroren? In den 2010ern, als das große Kapital der wenigen die Immobilienpreise in ungeahnte Höhen trieb?

Und wie wird es weitergehen? Über Jahre hinweg hatten mir Ökonomen in Interviews immer eindringlich eingebläut, eine Krise würde vor allem die Arbeiter in diesem Land hart treffen. Vermögen sei ein Airbag für die Unfälle des Lebens, hatten sie gesagt. Die Hälfte der Deutschen sei quasi kaum geschützt unterwegs. Die Ökonomen dachten dabei an die gängigen Crashs der modernen Existenz: Jobverlust, Scheidung, psychische und physische Erkrankung. Nun war es ein Virus, das den ökonomischen Totalschaden auslöste. Schon in der ersten Woche der Pandemie wurde sichtbar, wer ungeschützt gegen die Wand rauscht.

Dieses Buch erzählt den Umbruch anhand von Menschen, die dachten, dass Arbeit sie durchs Leben trägt. Ihre Stimmen hört man viel zu selten. Denn die meisten, die dieses Land regieren und lenken, die an seiner Chronik schreiben, die es deuten, die in den Talkshows diskutieren oder den Debatten im Netz im Millisekundentakt neue Twists geben, gehören nicht zur working class. Die Arbeiter, Angestellten und Freiberufler gehören zur ungehörten Hälfte. Dieses Buch ist ihre Geschichte.


DER SOMMER VOR CORONA

Nur in der Mitte halten
Alexandra

In Deutschland gibt es 2100 Kleinstädte. In einer von ihnen, die sich in die Talsenke eines westdeutschen Mittelgebirges duckt, steige ich aus dem Bus. Eine Stunde hat er mich vom nächsten ICE-Halt hergefahren. Viele Häuser sind in schwarze Schieferkacheln gehüllt. Der Hauptplatz, an dem die frisch getünchte orangefarbene Kirche steht, ist menschenleer. Ein Lastwagen parkt eine Gasse zu und verspricht, vom Landmarkt „Frische, die ankommt“ zu liefern. Ich biege ab auf einen Fußweg, der mich in den zwei Kilometer entfernten Ortsteil der Kleinstadt führen wird. Die Bebauung lockert sich. Einfamilienhaus neben Einfamilienhaus reiht sich am Hang. Davor parken meist zwei, manchmal sogar drei Autos. An einem Strauch ein Schild: „Bitte die Hunde nicht an die Bäume pinkeln lassen.“ Warum? An einem Mast der Fahrplan des Bürgerbusses. Dienstags und donnerstags hält er hier. Der Blick weitet sich über die Hügellandschaft. Der Weg biegt in den Wald. Noch ein Kilometer.

Alexandra hatte gesagt, es wäre vieles einfacher, wenn sie nicht so abgeschieden leben würden. Aber alles in allem gefiele es ihr und ihrem Mann Richard in der Siedlung. Sie kannten niemanden, als sie vor elf Jahren hierherzogen. Über ihren Wohnort hat allein eine Zahl entschieden: 200 000. Das war ihre oberste Obergrenze für den Hauskauf. Zwei Jahre lang haben sie gesucht, dann endlich etwas Passendes gefunden. Ein kleines weißes Haus, im Internet fälschlicherweise als „Bungalow“ inseriert. In Wahrheit dreigeschossig gegen den Hang errichtet. Baujahr 1977, Ölheizung im Keller, grün gefliestes Bad, in allen Räumen Teppichboden. „Hotel California“ nannten sie es. Der Bausparvertrag ging für die Renovierung drauf. Den Kaufpreis mussten sie voll finanzieren. Bei der Bank hieß es erst: „Keine Freiberufler.“ Dann noch: „Barfrauen und Musiker machen wir nicht.“ Die beiden suchten über das Internet einen Finanzmakler, der den Kredit vermittelte.

1300 Euro zahlen sie im Monat für Zinsen, Tilgung, Strom, Wasser und die Ölheizung. Zum Glück ist lange nichts kaputtgegangen. Zum Glück ließ die Bank mit sich reden, als Richard krank war und sie die Rate nicht zahlen konnten. Zum Glück fiel ihre Ölheizung unter den Bestandsschutz für Altbewohner und muss trotz Klimabedenken nicht ausgetauscht werden. Und wenn die Glückssträhne reißt?

„Müssen wir noch mehr arbeiten“, hatte Alexandra am Telefon gesagt. „Was sollen wir machen?“ Das Haus soll, wenn es nicht mehr vor allem aus Krediten gebaut ist, ihr Airbag sein. Es soll sie schützen, wenn die Familie einmal wirtschaftlich gegen die Wand fährt. „Unser Leben bestimmt ein großes Gefühl der Unsicherheit“, hatte Alex-
andra gesagt. Damit hatten zu Beginn ihrer Laufbahn weder ihr Mann noch sie gerechnet. Wie auch? Bei zwei Studierten mit Auszeichnung. Die Musikhochschule hatte Alexandra mit der Note „Sehr gut“ beendet und danach noch das Konzertexamen und die Doktorarbeit draufgesattelt. Viel mehr kann man in die eigene Bildung nicht investieren.

Alexandra, kurzes braunes Haar, öffnet die Tür in Blumenbluse. Richard ist das, was man in Süddeutschland einen „stattlichen Burschen“ nennen würde. Blaues Hemd und Anzughose. Er hilft dem Gast natürlich aus der Jacke und später auch wieder hinein. Wo beim Kauf der Hotel-California-Teppich lag, glänzen jetzt die Fliesen. Über dem Sofa ein Gemälde, ein Schiff, in goldenem Rahmen gefasst. Es ist der letzte Tag der Herbstferien. Rote Wochen im Haushaltsbuch. Alexandra und Richard verdienen in den Schulferien nichts. „Du sitzt da und hast keine Einnahmen, nur Ausgaben“, sagt sie. „In den Ferien kriegen wir keinen Cent. Da machst du nicht mit ruhigem Gewissen frei.“

Dabei ist ihr Beruf einer, dessen Wert sonntags bei Empfängen stets ausgerufen wird: Kulturgut. Dienst an der Bildungsnation. Erste Reihe der „Hall of Fame“ des Bürgertums. Die beiden sind Musiklehrer. Alexandra Klavier, Richard Klarinette und Saxofon. C – G – F – E, lässt sie Schüler um Schüler den „Marsch der Magneten“ in der Klavierschule für Anfänger üben, und er, G – E – G, leitet einen um den anderen durch Klarinette lernen mit Spaß.

Rainer Maria Rilke preist die Musik: „Du Sprache, wo Sprachen enden.“ Goethes Werther zerschmilzt, als er seine Lotte sieht, das kleine Schwesterchen neben ihr, die Puppe auf den Knien und sie, „sie spielte auf ihrem Klavier mannigfaltige Melodien“. Thomas Manns Hanno, der schwächliche Spross und Schulversager der Buddenbrooks, blüht auf, als ihm Organist Pfühl das Klavierspielen beibringt. Pfühl „erschien ihm wie ein großer Engel, der ihn jeden Montagnachmittag in die Arme nahm, um ihn aus aller alltäglicher Misere in das klingende Reich eines milden, süßen und trostreichen Ernstes zu führen“.

Alexandra und Richard sind Engel auf Honorarbasis. Maximal 14,67 Stunden pro Woche dürfen sie an staatlichen Musikschulen unterrichten, damit sie sich nicht einklagen können auf eine Festanstellung. Aber weil 14,67 Stunden pro Woche niemals reichen für Haus, Auto und vier Personen, arbeiten Alexandra und Richard an sechs Musikschulen. 110 Schüler. Auch samstags. Zwei hochaktive Ich-AGs. Alexandra holt einen Zettel raus und malt auf:

Montag: Da hat sie eine neue Musikschule, erst einen Schüler. „Baustelle, muss mehr werden“, sagt sie. Richard macht „Schulklassen musizieren“ in zwei Grundschulen an zwei Orten, dann drei Einzelschüler.

Dienstag: Unterrichtet sie in einer 50 000-Einwohner-Stadt, 20 Kilometer entfernt. Weil die Musikschule dort aber die Räume mit einem Gymnasium teilt, kann es erst losgehen, wenn um 16.15 Uhr die Big Band AG durch ist, sechs Schüler bis 20.15 Uhr. 25 Kilometer entfernt unterrichtet er davor noch Privatschüler, von 10.45 bis 18.45 Uhr.

Mittwoch, Logistikalarm: Gemeinsam fahren sie 55 Kilometer in eine Kleinstadt hinter dem Autobahnkreuz. Dort unterrichtet er. Sie nimmt das Auto für weitere 12 Kilometer, um in einer etwas größeren Kleinstadt Stunden zu geben. „Abends fahre ich mit dem Bus auch dorthin und lande – was meist funktioniert – zeitgleich mit Alexandras Unterrichtsende an der Haltestelle“, sagt Richard. Von dort fahren sie knapp 60 Kilometer zurück. Alexandra: „Wir arbeiten Hand in Hand. Die Absprachen müssen genau sein.“

So geht es durch die Woche. Unter Samstag macht Alexandra einen Strich und rechnet: 30 Unterrichtsstunden sie, 33 er. Genauso viel wie ein festangestellter Musikschullehrer. Aber der bekommt TVöD 9, bezahlten Urlaub, Geld bei Krankheit, natürlich. Und sie?

„Pro Stunde zwischen 21 und 27 Euro pro gegebene 45 Minuten. Sie führen für uns keine Sozialabgaben ab, keine Krankenversicherung, nichts. In den Schulferien verdienen wir nichts. Kein Urlaubsgeld, kein Weihnachtsgeld. Auch wenn wir krank werden – nichts.“

Alexandra desinfiziert sich, schon lange vor der Pandemie, die Hände vor und nach jedem Schüler und jeder Schülerin. Sie sagt: „Ich kann es mir nicht leisten, mich anzustecken. Ich fühle mich beleidigt, wenn mir die Kinder krank geschickt werden. Das kommt sehr oft vor. Einmal habe ich einer Mutter gesagt: Ihr Kind ist krank. Sie war Apothekerin, sie musste vom Intelligenzniveau her wissen, was ›krank‹ bedeutet. Die Mutter hat gesagt: ›Ja, sie war auch nicht in der Schule. Aber hier kostet es ja Geld.‹“

Richard: „Das Kind hat geglüht wie ein Backofen.“

Alexandra: „Ich sage: ›Was ist denn, wenn Ihr Kind mich ansteckt?‹ Darauf die Mutter: ›Ja, es wird schon nicht passieren.‹“

„Einmal hatten wir Sturm“, erzählt Richard. „Friederike. Die Schulen waren geschlossen. Die Sekretärin der Stadt hat uns aber gesagt: ›Ihr seid Bedienstete der Stadt. Ihr müsst kommen und unterrichten.‹ Wir sind losgefahren. Aber am Ortseingang lagen Bäume. Wir wären da nie heil angekommen. Wir sind umgedreht. Ich wollte die Stunde abrechnen. Aber abrechnen durften wir nicht.“

„Schauen Sie mal“, sagt Alexandra. An der Musikschule, an der sie dienstags unterrichtet, „fand die letzte Honorarerhöhung im Jahr 2011 statt. Da ist es von 19,43 auf 21 Euro angehoben worden.“

„Und wo war der Spritpreis damals?“, schiebt Richard nach.

Super kostete 2011 1,55 Euro, schaue ich später zu Hause nach. Rund 10 Cent mehr als heute. Spritpreiswut zielt oft ins Leere. Aber im Grundsatz hat Richard natürlich recht: Allein der Inflation wegen sind die 21 Euro von 2011 heute nur noch 18,80 Euro wert.

„Uns geht es nicht so schlecht, dass ich weinen würde“, sagt Alexandra. „Wir verdienen beide ungefähr 1600 netto im Monat.“ Alexandra führt ein Haushaltsbuch. Sie sucht nach Angeboten beim Essen, bei Kleidung sowieso. „Einfach shoppen und sagen: Das Kleid gefällt mir. Das mache ich nicht“, sagt sie. Aber das sei das geringste Problem.

Richard: „Es darf bei keinem etwas passieren.“

Alexandra: „Es darf niemand krank werden.“

Richard: „Es müssen alle funktionieren.“

Wie die Eltern, so der Sohn? Alexandra

Später, kurz vor Weihnachten, werde ich sehen, wie Alexandra unterrichtet – im Nebengebäude einer Grundschule, das muffig riecht. „Schwarzer Schimmel“, wird sie erklären. „Die Stadt hat ein Trockengerät aufgestellt. Sie können uns nicht anders unterbringen.“ Ich werde auf die Raufasertapete schauen und auf den blauen Veloursteppich und merken, wie sich die Zeit dehnen kann. Ein Siebenjähriger wird kommen. Alexandra wird ihm ein Bänkchen unter die Füße stellen und sich mit ihm durch „Lasst uns froh und munter sein“, sehr leichtes Arrangement, quälen. Rechte Hand, ein Durchlauf. „Ich will nicht mehr“, wird das Kind sofort sagen. „Soll ich die ganze Zeit spielen?“ „Jetzt die linke Hand.“ So wird Alexandra ihn ruhig, aber bestimmt durch die nächsten 20 Minuten leiten. „Die rechte Hand geht schlafen“, wird sie sagen. Darauf er: „Mein ganzer Körper will schlafen. Nach der Schule ruhe ich mich immer aus.“

Nach ihm wird ein Mädchen in den Raum stürmen, erheblich lebendiger als ihr Vorgänger, aber spät dran. Im Hort nebenan hätte ihr niemand Bescheid gesagt, wird sie sich entschuldigen. „›Lasst uns froh und munter sein‹ kann ich auswendig“, wird sie selbstbewusst verkünden. Sie wird es nicht können. Egal. „Ich brauche nur die Noten, dann geht mir ein Licht auf“, wird sie sagen und doppelt so laut, doppelt so schwungvoll die Tasten anschlagen wie alle anderen. Und schön dazu singen wird sie auch, die zahlreichen falschen Töne übertönend.

„Wie oft hast du geübt?“, wird Alexandra fragen.

Sie wird weit ausholen: „Ich habe immer so viel zu erledigen. Ich habe dienstags Minigolf-AG, Mittwoch Handball, Donnerstag Klavier und dann noch Schwimmen, Samstag muss ich mein Zimmer aufräumen und die Katze bürsten.“

„Aber wie oft hast du geübt?“, wird Alexandra wieder fragen.

„So gut wie gar nicht“, wird das Mädchen sagen und seufzen.

„Hast du ein anstrengendes Leben oder einen schweren Tag?“, wird Alexandra fragen.

Und das Kind wird antworten: „Beides.“

„Eine Viertelstunde üben, alle zwei Tage“, wird Alexandra ihr mitgeben.

Und sie: „Ich versuche es besser zu machen.“

Thomas Manns Klavierlehrer Pfühl, der große Engel, der seinen Schüler „jeden Montag Nachmittag in die Arme nahm, um ihn aus aller alltäglicher Misere in das klingende Reich eines milden, süßen und trostreichen Ernstes zu führen“, wird dann doch relativ weit weg und ein klein wenig literarisch überhöht wirken.

 

An diesem Tag in den Herbstferien höre ich nur, wie Alexandra beschreibt, was ich später erleben werde. „Es ist hart, wenn ich dasitze und durchrechne, was ich mit all den Stunden in den Monaten verdiene. Aber schlimmer ist es, wenn ich mich ungerecht behandelt fühle, von den Kindern oder eigentlich den Eltern. Weil man in unserem Beruf ja nicht allein für das Geld arbeitet, will man Resultate sehen. Dann kommt das Kind und hat nicht geübt. Sagt: ›Ich habe es vergessen.‹ Einmal ist okay. Aber wenn sich das über Monate zieht? Ich versuche dann mit den Eltern zu reden. ›Sie müssen mitmachen‹, sage ich. ›Das Kind ist bei mir eine halbe Stunde pro Woche. Der Rest ist Ihre Aufgabe.‹ Dann sagen sie: ›Ja, ja, das machen wir.‹ Dann machen sie es nicht. Und ich frage mich: Warum bringt ihr mir euer Kind? Da bin ich auch manchmal sauer, weil ich denke: Ich versuche jetzt eurem Kind etwas Gutes beizubringen, und mein eigenes Kind sitzt allein zu Hause. Das tut weh.“

Alexandra und Richard haben zwei Kinder. Einen Sohn im Teenager-Alter und „die Kleine“, wie sie sie nennen, gerade in die zweite Klasse gekommen. Natalja, blondes Haar, Leggings, Röckchen, rosa Oberteil, schleicht aus ihrem Zimmer im Obergeschoss die Treppe hinunter und streift, einer Katze gleich, um den Tisch. „Möchtest du noch einen Keks?“, fragt Alexandra. Natalja nickt, nimmt den Keks vom Teller und geht still und niemals störend ihrer Wege. Erst später beim Spaziergang durch den Ortsteil springt sie und turnt und plappert. Sie weiß, was sich wann gehört. Sie ist ein ausgesprochen braves Kind.

Damit das Leben der Familie funktioniert, gibt es zwei Pläne. Einmal Alexandras und Richards Fahrplan zu den vielen Musikschulen und Schülern. Dann den der Familie mit ebenso strengem Takt. „Wir können erst mittags anfangen zu arbeiten“, sagt Alexandra. Deshalb läuft es so, muss es so laufen, jeden Tag: „Wir holen Natalja entweder um kurz vor zwölf oder kurz vor eins von der Schule ab. Dann bringen wir sie nach Hause und gucken, was die Hausaufgaben betrifft. Sie setzt sich an die Hausaufgaben, und wir fahren weg. Eine Stunde, eineinhalb Stunden später kommt der Bruder nach Hause und macht dann das Essen warm. Das ist immer vorbereitet. Ich koche vor. Natalja hat dann schon die Hausaufgaben fertig. Ihr Bruder schaut, ob alles richtig ist, und sie legt sich schlafen. Dann schläft sie, manchmal zwei, zweieinhalb Stunden, und er macht Hausaufgaben. Spätestens um neun sind wir wieder da. Dann essen wir gemeinsam bis zehn. Für den Abend koche ich auch vor. Dann gehen die Kinder unter die Dusche, erst der Große, dann die kleine Maus. Dann gehen die beiden ins Bett. Um Viertel vor sieben muss Natalja aufstehen. Wenn sie erst nach zehn im Bett ist, braucht sie ihren Nachmittagsschlaf, der tut ihr gut.“ Und Punkt.

Alexandra ist Musikerin, da lernt man, dass man ohne Disziplin nichts erreicht. Und so ist diese Tugend ihr Lebensbewältigungsinstrument geworden.

„Ich habe schon immer einen geregelten Tagesablauf für wichtig gehalten“, sagt Alexandra. „Eine Struktur. Ohne Struktur werden die Menschen bequem. Üben ist Arbeit. Kindererziehung ist Arbeit. Das wird vielen schnell zu viel.“

Natalja und ihr Bruder sind auch im Schwimmverein. Die Trainerin hat früher Titel gewonnen. Einmal hat ein Kind am Beckenrand diskutiert. Die Trainerin sofort: „Halte die Luft an! Die brauchst du im Wasser, nicht jetzt zum Reden. “ – „Normal, oder?“, fragt Alexandra. „Das Kind ist zum Schwimmen da, dann soll es ins Wasser gehen und seine Sachen erledigen. Sie hat das Kind nicht beleidigt. Aber viele Eltern waren aufgeregt: ›Da gebe ich mein Kind nicht hin. Da ist mir der Druck zu groß.‹“

„Alexandra kriegt auch oft gesagt, dass sie zu streng ist“, sagt Richard. „Ist sie das, Natalja?“

Die grinst.

„Wie streng bist du auf einer Skala von null bis zehn?“, frage ich.

„Zwischen sieben und acht“, sagt Alexandra. „Aber ich bin nicht streng. Ich bin konsequent. Wir erziehen die Kinder, ohne dass sie merken, dass sie erzogen werden. Durch unser eigenes Vorbild. Sie sehen, dass wir gut organisiert sind, und sie sehen, dass alles nur funktioniert, weil wir gut organisiert sind.“ Sie schiebt nach: „Es muss alles abgetaktet sein. Wir wussten doch, wenn es mit den beiden nicht funktioniert, dann wird es nicht klappen, dass wir von unserem Beruf leben können.“

Jonas, der große Sohn, gerade 14 geworden, weiß das. Er sieht jeden Tag, wie seine Eltern ackern, damit 21 bis 27 Euro pro Schüler und Stunde für ein gutes Leben reichen. Jonas ist bei diesem ersten Treffen nicht dabei – aber präsent in jedem dritten Satz, den seine Eltern sprechen.

Als die beiden durch das Haus führten, war ihnen ein Raum besonders wichtig: das Musikzimmer. „Hier kann Jonas üben“, hatte Richard gesagt. Jeden Tag mache er das. Bis die Stücke sitzen. Als das Telefon klingelte, schreckten beide auf. „Jonas?“, fragte Richard Alexandra, die abnahm. Er ist für zwei Wochen beim Landesjugendorchester. 7,5 Stunden Proben am Tag. Ein erster Härtetest. „Die Begabungen oder die Gene, die unser Jonas hat, das würde ihm nichts nützen, wenn er nicht so fleißig wäre“, sagt Richard.

Jonas hat „Jugend musiziert“ gewonnen, „Maximalpunktzahl plus mehrere Sonderpreise“. Es gibt Videos von ihm im Netz. Auf dem ältesten ist er gerade zehn Jahre alt. Er trägt ein Hemd und eine schwarze Hose, glänzende Schuhe. Er steht auf dem Parkettboden eines Veranstaltungssaals. Am Klavier sitzt Alexandra in einem Abendkleid mit weiten, seidigen Ärmeln, die sich beim ausholenden Spiel auf den Tasten zu Flügeln formen. Neben ihr, auf einem Holzstuhl, Richard, der ihre Noten blättert. Jonas spielt auswendig. Einen Satz eines Klarinetten-Konzerts in e-Moll. 7 Minuten und 48 Sekunden. Für ungeübte Ohren so gut wie fehlerfrei. Leicht und souverän wirkt das, was er tut. Sein Körper fließt im Takt. Am Ende Applaus, drei Verbeugungen.

Nun hat Jonas ihnen gesagt, er wolle Berufsmusiker werden. Ausgerechnet. Und die Eltern?

Sind hin- und hergerissen zwischen Stolz und Vorsicht. Alexandra sagt: „Wenn er nicht so begabt wäre, hätte ich sofort geantwortet: Mach das bloß nicht.“ Richard sagt: „Ich glaube, dass er das Zeug hat, wirklich Großes zu erreichen, und auch den Heißhunger, nicht einer von vielen zu sein.“ Alexandra: „Wir unterstützen ihn, wo wir können.“

Seit diesem Jahr ist Jonas Schülerstudent an der Musikhochschule in der Großstadt, 75 Kilometer entfernt. Der Unterricht ist samstags. In der Aufnahmeprüfung fragte die Lehrerin: „Es ist schon eine Strecke zu fahren. Wie werdet ihr das machen?“ Jonas antwortete: „Meine Eltern sagen: Wenn du das möchtest, fahren wir dich bis zum Mond.“ – „Ja, so ist es auch“, sagt Alexandra, „bis zum Mond.“

Am Samstag, wenn er zum Theoriekurs an der Uni muss und sie in die eine Stunde entfernte Musikschule zum Unterrichten, fährt sie ihn zum nächsten S-Bahnhof und setzt ihn in den Zug. Wenn sie ihre Stunden gegeben hat, geht sie einkaufen und wartet, bis sein Unterricht um 16 Uhr endet. Dann holt sie ihn ab. „Finanziell ist es eine große Belastung, was Jonas macht“, sagt sie. In dieser Woche hat Alexandra lange an einem Antrag an eine Stiftung geschrieben. Jonas braucht ein zweites Instrument. Neu kostet eine Klarinette knapp 10 000 Euro. „Die können wir nicht aufbringen“, sagt Alexandra. Sie wartet auf Antwort. Und überlegt, mehr Stunden zu geben. Oder sollte sie vormittags vielleicht sogar putzen gehen?

Richard hat gerade im Auftrag einer Stadt Werbeaktionen gemacht und 116 Grundschülern seine Instrumente vorgeführt. Bezahlt wurden die Vormittage nicht. Egal, Richard hatte auf Schüler gehofft. Aber statt Unterricht an der Musikschule will die Stadt nun lieber Bläser-AGs finanzieren – fünf Schüler pro Dreiviertelstunde. „Die denken: Die blöde Honorarkraft soll doch fünf auf einen Streich für 25 Euro unterrichten“, sagt Richard. „Da verhungerst du an der langen Leine.“

Wie schön wäre ein Leben mit einem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst: 39 Wochenstunden. Feste Entgeltstufe. 30 Tage bezahlter Urlaub im Jahr. Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Wenn sie so fern sind, glänzen die Segnungen des Wohlfahrtsstaates noch viel verlockender. „Aber wir kriegen keine Festanstellung“, sagt Richard. „Ich hatte an einer Musikschule einen Kollegen. Der war noch TVöD. Als er dann mit 64 Jahren in Rente ging, habe ich die Stelle übernommen, aber als Honorarkraft, nicht mehr TVöD. Die feste Stelle wurde sofort dichtgemacht.“

Alexandra, Richard und Natalja bringen mich zur Bushaltestelle an einem Ausflugslokal. Die Sommersaison ist vorüber, die Tür verrammelt, die Terrassenstühle verpackt. Einmal pro Stunde hält hier dennoch der Bus. Sie winken. „Bis Dezember!“ Da werden wir uns wiedersehen.

Zu Hause greife ich in eine Holzkiste im Regal und hole meine Flöte hervor. Sie ruht seit Jahrzehnten in einem weißen Seidensäckchen. Dunkles Holz, das Tonloch an der Unterseite weiß eingefasst, am Mundstück abgenutzt. Ich spiele. „Hey Jude“, „Greensleeves“. Es klingt heiser. Die hohen Töne quietschen, und ich weiß auch nicht auf Anhieb, wie ich das Gis greife. Aber es funktioniert noch.

Ich sehe uns in der Küche unseres weiß getünchten Hauses, in der Kleinstadt im Münsterland, in der ich aufgewachsen bin. Noch gibt es Kontrollen am Grenzübergang zu den Niederlanden. 250 Meter laufe ich dorthin zu Fuß, vorbei an Häusern wie unserem in der seit dem Beginn der 1980er-Jahre verkehrsberuhigten Straße. Ich sitze am Kiefernholztisch hinten rechts vor der Kühlschranktür, auf die ich irgendwann im Advent mal Nikoläuse aus roter Folie geklebt habe, die nie jemand abgelöst hat. Mir gegenüber mein Bruder. Es ist 1988. Vor uns vielleicht etwas Aufgetautes von Bo-Frost. Meine Eltern arbeiten beide und kommen gleichzeitig mit uns von der Schule zurück. Da muss es schnell gehen mit dem Essen. Ich bin acht Jahre alt und steige nach dem Mittagessen auf mein Rad, um wie jede Woche aus der Einfamilienhaussiedlung 15 Minuten in die Innenstadt zu radeln, hin zu einem Bau aus schmutzigem Beton, im Erdgeschoss die Stadtbücherei, oben in der dritten Etage die Musikschule, meine Flötenstunde.

Bis in die 1980er-Jahre, bevor das Klavier überholte, dann noch die Geige, war die Flöte das beliebteste Musikschulinstrument in Deutschland. Ein bisschen spießig, ja, aber günstig in der Anschaffung, leicht zu lernen. Das Instrument für all diejenigen, die keinen Flügel im Salon und keinen Engel als Hauslehrer hatten. Eines der vielen Symbole der westdeutschen nivellierten Mittelschichtsgesellschaft. Ich habe Alt- und Bass- und Piccoloflöte gespielt. An Winter-Wochenenden bin ich mit der Bahn übers platte Land nach Münster gefahren, um mir dort auf dem Weihnachtsmarkt Geld für Geschenke zu erflöten. Und natürlich gibt es Fotos, auf denen ich mit dem silberfarbenen Notenständer unter dem Baum stehe und vor der Bescherung aus der Weihnachtsfibel spiele, daneben mein Bruder mit seiner hellbraunen Akustikgitarre auf dem Knie.

In meinen Block notiere ich mir eine Frage: Ist es Nostalgie, ist es die unpräzise Erinnerung, oder waren die Risse in den 1980er-Jahren seltener und weniger tief?

Mein Flötenlehrer ist leider längst gestorben. Ich rufe alte Bekannte an. Pensionierte Lehrer, die, sagen sie nach einem etwas beschämten Lachen, gerade von einer Kreuzfahrt entlang der Kanaren zurückkehren. Sie trafen dort ehemalige Kollegen, die sich für fünf Wochen auf Lanzarote wärmten. „War mein Flötenlehrer auch eine Honorarkraft?“, frage ich.

„Nein, das war eine feste Stelle“, sagen sie.

Julia Friedrichs

Über Julia Friedrichs

Biografie

Julia Friedrichs, 1979 im westlichen Münsterland geboren, studierte Journalistik in Dortmund und Brüssel. Seitdem arbeitet sie als Autorin von Reportagen und Dokumentationen für den WDR und das ZDF sowie das Redaktionsteam der Bild- und Tonfabrik „docupy“ und schreibt für die ZEIT. Sie hat mehrere...

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