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Wo die Kartoffeln auf Bäumen wachsen

Wo die Kartoffeln auf Bäumen wachsen

Nils Straatmann
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113 Tage als Matrose in der Karibik

„Er schildert seine Abenteuer spannend und abwechslungsreich und beweist darüber hinaus Humor.“ - Weser Kurier

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Wo die Kartoffeln auf Bäumen wachsen — Inhalt

Vom Hörsaal auf die „Stahlratte“: Nils Straatmann entflieht seinem Alltag in die Karibik und geht ohne Erfahrung und völlig abgebrannt an Bord eines alten Stahlloggers. Dort lernt der Student, wie man das Deck schrubbt, Segel setzt und die Maschinen ölt. Und zwischen backpackenden Hippstern, idyllischen Buchten und Taucheinlagen mit Haien erzählt er die Geschichte des Schiffs, die von der Berliner Hausbesetzerszene über Greenpeace bis nach Panama führt. Trifft ein Volk, in dem Frauen das Sagen haben. Und eifert seinem verstorbenen Großvater nach, der in jungen Jahren als Schiffskoch auf einem Dampfer über die Weltmeere fuhr, obwohl für ihn nur das Gebiet zwischen Jadebusen und Nord-Ostsee-Kanal vorgesehen war. Eine Reise zwischen Sonne und Schweiß, Wind und Wellen – und zu sich selbst.

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 30.03.2015
288 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97029-7
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Leseprobe zu „Wo die Kartoffeln auf Bäumen wachsen“

PROLOG

23. September 2013, Hafen von Cartagena, Kolumbien

Das Thermometer zeigt keine Temperaturen mehr an, das Quecksilber ist verdampft. Wir haben den Klüver in den Schlafsaal geholt, um den Riss zu flicken, den er sich auf der letzten Fahrt zugezogen hat. Im Sturm hatte sich ein anderes Segel losgerissen und wild um sich geschlagen. Dabei hatte es den Klüver erwischt. Durch die Luken auf dem Hauptdeck kann ich den Käpt’n hören, wie er mit den Stoffbahnen kämpft.

Nachdem er das Segel instand gesetzt hat, gibt er mir die Aufgabe, es wieder anzuschlagen. [...]

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PROLOG

23. September 2013, Hafen von Cartagena, Kolumbien

Das Thermometer zeigt keine Temperaturen mehr an, das Quecksilber ist verdampft. Wir haben den Klüver in den Schlafsaal geholt, um den Riss zu flicken, den er sich auf der letzten Fahrt zugezogen hat. Im Sturm hatte sich ein anderes Segel losgerissen und wild um sich geschlagen. Dabei hatte es den Klüver erwischt. Durch die Luken auf dem Hauptdeck kann ich den Käpt’n hören, wie er mit den Stoffbahnen kämpft.

Nachdem er das Segel instand gesetzt hat, gibt er mir die Aufgabe, es wieder anzuschlagen. Doch als er sieht, wie ich es zunächst falte und mit Seilen verknote, um es leichter die Bugtreppe hinaufzubekommen, reißt er es mir aus den Händen. In einem Ruck hievt er sich den Stoff auf die bulligen Schultern, schiebt mich zur Seite und drängt sich an mir vorbei.

„Alles, wirklich alles muss man auf diesem Schiff selber machen! Zu nichts ist dieses Pack …“

Anstatt ihm zu antworten, eile ich die Treppe zur Messe hoch, um ihm beim Verladen des Segels ins Bugnetz zu helfen. Doch Lale will sich nicht helfen lassen. In einem wilden, jähzornigen Schwung schmeißt er das Segel über die Bordwand und trifft mich dabei mit einem Mastrutscher ins Gesicht.

„Ahhh!“, rufe ich und spüre, wie die Haut platzt. Ein schmales Rinnsal Blut fließt meine Augenbraue hinab.

Lale blickt mich herablassend an. „Was bist du denn eigentlich für ein Seemann?“

Er will sich umdrehen, davongehen, doch diesmal verliere ich die Haltung.

„Lale, das ist dein Problem!“, schreie ich. „Verdammt, ich bin kein Seemann! Ich bin ein Student, ein kleiner, mieser Student, Lale. Aber ich gebe mein Bestes hier! Glaub mir, ich versuche alles! Wenn das nicht langt, und das tut es offenbar nicht, dann tut es mir leid. Ich bin nie zur See gefahren. Nie! Ich hab keine Fische gefangen, ich hab keine Stürme erlebt! Den Anspruch kannst du nicht haben. Weißt du, wie scheiße es sich anfühlt, wenn man dir nie genügen kann? Man hört nie, niemals ein Lob von dir! Alles ist nur Dreck! Schau dich um. Da sind ein Student, eine Touristin und ein fauler Kiffer! Keine Seemänner. Das ist dein Material. Arbeite damit!“

An Deck herrscht Totenstille. Selbst Tío und Rebecca, die am Heckaufbau beschäftigt waren, schauen mit offenen Mündern herüber. Ich habe deutsch gesprochen, sie haben kein Wort verstanden, aber allein die Tatsache, dass ich Lale die Stirn bot, ließ sie in ihren Aufgaben innehalten.

Gleich wird er losbrüllen, denke ich und blicke Lale fest in die Augen. Gleich wird er mich über Bord werfen.


4. Juni 2013, Escheburg, Schleswig-Holstein

Ich sitze im offenen Wohnzimmer im Haus meines Vaters. Einzelne Lichtstrahlen fallen durch die Fenster von der Terrasse herein. Auf dem zerlebten Eichenholztisch vor mir liegen eine Zigarrenschachtel voller Briefe und ein offenes Notizbuch.

„Seekrank“, steht da geschrieben. „Verfluchte Seefahrt. Seefahrt ist beschissen, mit Verlaub gesagt. Steuermann ganz meiner Meinung.“

Das Notizbuch gehörte meinem Großvater. Ich habe es von ihm geerbt. Tagebuch und Küchenbuch von Hans Otto Boie lese ich auf der Innenseite des Einbands. Fünf Jahre lang war er zur See gefahren, für die Hamburg Süd. Die Hamburg Südamerikanische Dampfschifffahrts-Gesellschaft damals.

Opa Hans war eine ruhige Seele. Er hatte eine große Nase, die von seiner Neugierde kam, und eine Brille und einen Bauch, wie ihn nur Opas tragen können. Gerade groß genug, um einem oder zwei Enkelkindern darauf Platz zu bieten. Mit einem Wollpulli darüber, der weich und verfilzt war und an der Wange kratzte. Opa sagte Dinge wie „Du Gans hast recht“ und „Das muss einem dummen Menschen doch gesagt werden“, und als vor ein paar Jahren klar war, dass er an Krebs sterben würde, verkündete er, dass er wohl langsam alt werde.

Bald aß er nur noch Milchsuppe. Als er dann seinen letzten Atemzug tat, atmete er so tief ein, als wäre es die erste und beste Luft, die er jemals gekostet hatte. Mein Vater, der dabei war, bekam damals unheimliche Angst vor dem Tod. Er hatte erwartet, dass irgendetwas Bedeutendes passieren würde, irgendein Zeichen, etwas Mystisches, doch nichts. Opa atmete einfach, und dann nicht mehr. Dieses Übergangslose, das fehlende Ende, machte Papa arg zu schaffen.

Ich selbst hatte zeitlebens kein besonders enges Verhältnis zu meinem Großvater. Ich bin bei meiner Mutter in Bremen aufgewachsen. Das ist da, wo die Weser in einem letzten großen Bogen Richtung Nordsee fließt. Meine Hamburger Familie sah ich dementsprechend selten. Ich erinnere mich, wie Opa mir anhand eines Legoautos den Unterschied zwischen Pneumatik und Hydraulik näherbrachte, wie er mir Rechenaufgaben stellte, bei denen ich die Wurzeln aus schwierigen Zahlen ziehen musste, und wie er mir einen Apparat erklärte, mit dem man bei Seegang die Sterne fotografieren konnte. Aber ich wusste nicht, wie viel mehr dort in ihm schlummerte.

Am Tag von Opas Beerdigung wetterte es schwer über Hamburg. Die Kiefern verneigten sich vor dem Himmel, die Wellen der Elbe brandeten Applaus, im Radio sagten sie durch, das Tief Hans ziehe über Norddeutschland hinweg. Und da war mein Opa nun also: Er zog über die Norddeutsche Tiefebene, fegte über die Marschen seiner Heimat und regnete sich über der kleinen sich findenden Trauergemeinde am Friedhof am Höchelsberg, direkt über dem Geesthang, ab.

Mein Vater parkte sein Auto im nächsten Seitengraben und weinte eine Flut ins Elbtal.

Ich hatte immer schon den Wunsch, einfach abzuhauen. Rucksack auf und los. Ich wollte auf dem Mast eines Schiffes stehen. Ich hatte aber auch immer schon den Wunsch, ein echtes Pokémon zu besitzen. Und beide Wünsche kamen mir lange Zeit gleichermaßen realistisch vor.

Doch nun werde ich Opa folgen. Nicht in den Himmel – zur See. Am 13. Juni 2013 verlasse ich die Inseln vor San Blas, Panama. Kurs auf Kolumbien. Es gebe dort Schildkröten, habe ich mir sagen lassen. Und Inseln mit nur einer Palme darauf, wie ich sie als Kind immer gemalt habe. Mich tragen ein Stahlzweimaster – erbaut zu Bismarcks Zeiten –, der Wind und die Hoffnung auf einen Ausstieg.

Ich werde Rum über den Sonnenuntergang gießen. Und ich werde eine Zeit erleben, die ich nicht für möglich gehalten hätte.


TEIL 1


Flug

„Do you want anything else to drink, Sir?“

10. Juni 2013, an Bord der AA 9960 Richtung Miami

Das Flugzeug ruckelt durch eine Turbulenz in der Luft und lässt das Plastikgeschirr auf meinem Tablett klappern. Es ist Tag geworden. Wenn die Sonne auf das Meer scheint, sieht es aus wie das knittrige Ballkleid meiner Mutter. Eine Stewardess wackelt durch den Gang und erkundigt sich nach dem Befinden. Ich frage nach einem Glas Orangensaft und befeuchte meinen Gaumen, der wieder zu kratzen begonnen hat.

Ich bin kein sonderlich begeisterter Flieger. Vor allem die Flugzeugluft ist mir unangenehm: Kalt und steril und tausendmal umgewälzt, sie macht mir jedes Mal Schnupfen. Außerdem habe ich eine nervöse Blase. Ständig muss ich aufstehen, mich entschuldigen, an Hunderten Passagieren vorbeidrücken, anstehen, aushalten, nur um dann ein paar Tropfen in das winzige Becken unter mir zu drücken und dabei mein blasses Gesicht im Spiegel zu beobachten. Ich pinkle im Flugzeug stets im Stehen. Seit jeher habe ich diese irrationale Angst, dass ich, wenn ich mich setzte, beim Spülgang mit hinausgesaugt würde.

Dazu kommt das Hermetische, dieses Frachtguthafte des Fliegens, das mich abschreckt: Du steigst in ein Flugzeug ein, und vielleicht regnet es. Dann steigst du aus, es ist ein paar Stunden später, und die Hitze, die dir entgegenschlägt, nimmt dir fast den Atem. Doch dazwischen gibt es keinerlei Grund zu der Annahme, dass ein Ortswechsel stattgefunden hat: Es gab immer genug Luft zum Atmen, drei Mahlzeiten, aluverpackt und konserviert. Temperaturschwankungen und Änderungen der Luftfeuchtigkeit wurden nivelliert, genauso wie der Geschmacksunterschied zwischen Fleisch und Gemüse beim Mittagsgratin. Du hast unter einer dünnen Fleecedecke geschlafen, hast die Sonne aufgehen sehen und das Bordprogramm mit Charlie Sheen in der Rückenlehne vor dir. Und dann bist du plötzlich auf einem anderen Kontinent. Es riecht nach Sand und Teer, die Menschen sprechen ganz anders als zu Hause, und du wunderst dich, denn zu Hause ist jetzt neuntausend Kilometer entfernt.

Der Herr neben mir erwacht an einem verschluckten Husten. Er reibt sich die Augen mit seinen massigen Unterarmen und blinzelt an mir vorbei nach draußen.

„G’Morning“, sagt er.

„G’Morning“, antworte ich.

Es folgt ein kurzer Moment der Stille, in dem wir beide überlegen, ob es noch etwas anderes zu sagen gibt. Dann entscheiden wir uns dagegen und starren weiter aneinander vorbei nach draußen. Fliegen ist wie Fahrstuhl fahren, denke ich. In Gedanken summe ich The Girl from Ipanema.

Nur etwas über einen Tag ist es her, seit ich mit Julian und dem schönen Mädchen über die Havel paddelte. Das Wasser war kühl, zu kalt zum Baden, Julian lag auf einer Luftmatratze, die wir an das Heck meines Boots gebunden hatten, das schöne Mädchen paddelte zu meiner Rechten. Die Sonne schien uns in den Nacken, wir tranken Alster aus Flaschen, und Julian trug den unsäglichen Hut seines Vaters. Das schöne Mädchen und ich sangen Michel war ein Lausejunge.

Es mag irgendwann gegen sechs Uhr morgens gewesen sein, als ich gemeinsam mit dem schönen Mädchen an der Bushaltestelle stand. Wir warteten auf den Bus, der mich zum Flughafen bringen sollte. Die Augen brannten uns von zu wenig Schlaf, hinter den Bäumen dämmerte es langsam, und plötzlich fiel dem schönen Mädchen ein, dass es mich vermissen würde. Von einem Moment auf den anderen veränderte sich ihr Blick, und sie sah tieftraurig aus. Als hätte sie noch nie zuvor darüber nachgedacht. Sie legte mir den Kopf auf die Schulter und kuschelte sich an meinen Hals. Wir saßen auf rostigen Welldrahtsitzen. Vor uns auf den Pflastersteinen klebten Kaugummireste. Ich war wirklich ungemein verliebt.

„Do you want anything else to drink, Sir?“

„Another orange juice, please. Thanks.“ Ich zwinkere mir eine Träne aus dem Augenwinkel.

Langsam, aber sicher schiebt sich Miami in unser Blickfeld. Die von Einfamilienhäusern eingefassten Straßen der Vororte säumen die Stadt wie unsaubere Nähte. Lauter angelegte Seen und Kanäle. Dahinter die Salzwiesen. Alles viereckig, denke ich. Künstlich und viereckig.

Auf der Oberfläche meines Orangensaftes bilden sich kleine Kreise. Sie schwappen gegen die Innenwand des Plastikbechers und schlagen zurück. Hinter mir liegt ein ganzes Leben. Und vor mir liegt ein ganzes Leben. Und am Ende werden beide eins sein. Am Ende ist immer alles eins.


Probleme

„Scheiße. Und jetzt?“

11. Juni 2013, Panama City

Ein neuer Kontinent. Ich öffne das Fenster des Taxis und rieche die Luft. Abgase und Staub wehen mir entgegen, gepaart mit Feuchtigkeit und dem Duft des Vanillebaums, der vor der gesprungenen Windschutzscheibe schaukelt. Alles rauscht an mir vorbei. Hoch aufschießende Bürohäuser, Wolkenkratzer, die in alle erdenklichen Richtungen streben, riesige Werbebildschirme. Dazwischen Flüsse, unter deren Brücken Bauarbeiter dösen. Palmen, Mango- und Papayabäume.

Der Fahrer redet, wild gestikulierend, auf mich ein, ohne sich auch nur im Geringsten darum zu scheren, ob ich ein Wort verstehe: »¡… no hablan nada, los gringos! ¡No español, no portugués, no inglés, nada! ¿Y tú, amigo? ¿Adónde vas?«

Mein Spanisch habe ich mir mit einem Power-Sprachkurs von Pons beigebracht, Spanisch lernen in vier Wochen.

„Sí, sí, me llamo Nils, soy de Alemania“, sage ich.

Bisher habe ich es auf Seite zwei geschafft.

»¿No, no, Panama by Luís, eh?«

„Ahhh … Claro, Panama by Luís, sí.“

»¿Via Corredor Sur?«

Ich erinnere mich an die senfgelben Straßen in Google Maps, die den Weg zu meinem Hostel beschrieben. „Via Corredor Sur, sí.“

Panama City ist der wirtschaftliche Puls Mittelamerikas. Millionen von Gütern fließen durch den Panamakanal in die Stadt und werden von dort in die umliegenden Lande gepumpt. Die Stadt atmet Autos. Wir folgen der Corredor Sur durch eine Brack- und Mangrovenlandschaft Richtung City, rechts eine ausgewaschene Flussmündung, Wellblechsiedlungen, die wie hohle Zähne in die Landschaft ragen.

Wir biegen von der Hauptstraße ab, dann noch einmal, dann halten wir vor einem gedrungenen, weiß gestrichenen Holzbau, der seltsam eingeschüchtert angesichts der riesigen Betonklötze um ihn herum wirkt. „Panama by Luís“ steht auf einem mannsgroßen Banner vor dem Maschendrahtzaun. Ich bezahle, sage auf Wiedersehen und schultere meinen Rucksack.

Das Hostel, in dem ich mich befinde, ist eine ehemalige Tanzschule. An den Wänden hängen noch die Spiegel, eine Ballettstange ist auch dort. Ich weiß nicht, ob ich schwitze oder ob es die Feuchtigkeit der Luft ist, die sich in meinem Brusthaar verfängt. Meinen Rucksack habe ich unten in einem Sechserzimmer geparkt. Ich sitze auf einem abgezerrten Sofa im Aufenthaltsraum und versuche, den spärlichen Internetempfang zu nutzen, um Julian eine Nachricht zu schicken. Gerade geht ein gewaltiges Gewitter nieder.

„Lui!“, schreibe ich. „Lui, ich brauch deine Hilfe!“

Keine Antwort.

Es kann sein, dass es etwas naiv von mir war, ohne gültige Kreditkarte auf einen fremden Kontinent zu reisen, nur mit fünfzig Euro in der Tasche, aber ich meinte, irgendwann einmal gehört zu haben, dass ich mit meiner Postbankkarte auch im Ausland abheben könne. Dass es sich dabei allerdings nur um das europäische Ausland handelt und dass es auch da nur in Ausnahmefällen möglich ist, davon hatte ich nichts mitbekommen. Das musste mir erst der Geldautomat auf dem International Airport Tocumen klarmachen.

Man kann sich nicht vorstellen, was für ein Gefühl es ist, in einem fremden Land plötzlich ohne jegliche finanzielle Mittel dazustehen, wenn man es noch nicht selbst erlebt hat. Hundertmal schob ich meine Karte in den Automaten, probierte alle möglichen Funktionen aus, doch nichts passierte. Der Automat spuckte nichts aus. Hinzu kam, dass ich seit der Landung keinen Handyempfang hatte.

„Julian, meine Bankkarte funktioniert nicht.“

Nichts.

„Und mein Handy auch nicht.“

Die Frau an der Rezeption schaut mich mitleidig an. Ich habe ihr die Situation bereits erklärt. Draußen geht der Regen nieder. Donner grollt, Blitze zucken. Ich weiß nicht, wie sicher hier das Stromnetz ist.

Mit einem Mal erregt ein Pling! meine Aufmerksamkeit. Eine Antwort auf meinem Computer poppt auf: „Alter, weißt du, wie spät es ist?“

Verdammte Zeitverschiebung.

„Hör auf“, schreibe ich erleichtert. „Du sollst nicht so dick sein! Hilf mir lieber! Mein Handy und meine Geldkarte funktionieren nicht.“

„Ich weiß. Steht oben.“

„Ich brauch Geld.“

„Wie viel?“

„Keine Ahnung …“

Ich stelle mir vor, wie Julian sein Handy zur Seite wirft und genervt seinen Computer hinter dem Bett hervorkramt.

„Liegt eine Frau neben dir?“, tippe ich.

„Nerv nicht.“

Er stellt mir ein paar schwer verständliche Fragen zu meiner Bankkarte und meinem Telefon, dann schreibt er: „Also, ich hab das mal gecheckt. Dein Handy ist Dualband. Du brauchst Quadband, wenn du in Amerika Empfang haben willst.“

„Scheiße. Und jetzt?“

„Jetzt funktioniert dein Handy nicht, du Olchi. Und natürlich kannst du mit einer einfachen Bankkarte kein Geld abheben! Du brauchst eine Kreditkarte!“

„Oh“, schreibe ich.

„Du fährst also ohne Handy, ohne Geld, ohne Spanischkenntnisse und ohne jemals auf einem Schiff gearbeitet zu haben in ein spanischsprachiges Land, um auf einem Schiff zu arbeiten?“

„Korrekt. Und?“

„Wie viel Geld soll ich dir schicken?“

„Vierhundert Euro?“

„Ich kümmer mich drum.“

Wir schreiben hin und her, wie und wo ich das Geld am besten bekomme und was die nächsten Schritte sind, während eine neue Besucherin das Hostel betritt. Sie wühlt vollkommen durchnässt und tief gebeugt vor der Rezeption, beziehungsweise vor meinem Gesicht, in ihrem Gepäck und sucht nach ihrem Ausweis.

„Lui?“, schreibe ich. „Da vorne steht die ganze Zeit eine Frau in durchsichtigen rosa Leggins mit Leopardentanga. Und ihr Hintern ist in meinem Gesicht.“

„Ist sie schön?“, fragt Julian.

„Leider nicht so sehr.“

„Hmpf. Sonst hättest du mit ihr schlafen und dafür Geld verlangen können.“

Kurz denke ich darüber nach, ob Prostitution im Notfall okay ist und ob ich das mit dem schönen Mädchen abklären müsste, dann streiche ich den Gedanken aus meinem Kopf.

„Ich geh also morgen zu Western Union, sag meinen Namen und krieg fünfhundert-noch-was Dollar, richtig?“

Keine Antwort.

„Sag, dass du’s gelesen hast, dass ich recht habe und dass ich gut schlafen soll. Sonst kann ich nicht gut schlafen.“

Wieder keine Antwort.

Dann, nach einigen Minuten: „Du hast voll recht. Schlaf gut.“


Streifzug

„But I am hungry, baby!“

11. Juni 2013, immer noch Panama City

Am Morgen, als ich wegen des Jetlags nicht schlafen kann, höre ich die Papageien schreien. Jalousien dämpfen das Licht, im Zimmer riecht es nach Schlaf und Schweiß.

Ich erhebe mich so leise wie möglich, was schwierig ist, da der Federrost unter meinem Rücken schon bei der kleinsten Bewegung jämmerlich aufbegehrt. Ich gähne, rücke meine Boxershorts zurecht und schlurfe samt Kulturbeutel ins Bad. Rechts eine Dusche ohne Duschvorhang, die Fliesen gelb und stockfleckig. Vor mir ein Waschbecken, unter dem ein Auffangbehälter für benutztes Klopapier steht. Müde lasse ich mich auf den Toilettensitz fallen. Die Tür zum Zimmer schließt nicht richtig. Oben und unten klaffen breite Spalte, die jede akustische Äußerung im Bad zum kollektiven Hostel-Erlebnis machen. Der Spiegel an der Wand muss kaputt sein. Ich sehe total fertig darin aus.

Nach der Morgentoilette trete ich nach draußen. Das Gewitter hat die Luft rein gewaschen. Gestern haben sie hier Monopoly gespielt, unter dem Wellblechdach, jemand hatte Geburtstag, ein Stück Torte steht noch auf dem Tisch. Ein riesiger Mangobaum breitet seine Äste wie ein Schutzheiliger über das Anwesen.

Mein Vater hat mir einmal erzählt, wie ich als Kind auf eine Pappel geklettert bin. Ich saß hoch oben zwischen den kahlen Ästen – niemand wusste, wie ich da hinaufgekommen war – und schaute auf all die Menschen, die so klein waren und wie Ameisen ihren täglichen Gewohnheiten nachgingen, herab. Es gab mir eine gewisse Gelassenheit, zu erkennen, dass das Leben zumindest von Weitem in geordneten Bahnen verlief.

Ich muss damals sehr jung gewesen sein, und Vater muss unheimliche Angst um mich gehabt haben. Doch anstatt mir das Klettern zu verbieten, schenkte er mir Seil und Schuhe und meldete mich bei unserem nächsten Urlaub in den Alpen zu einem Kletterkurs an. Die Geschichte ist sinnbildlich für meine Kindheit. So oft stand ich mit offenen Armen an der Schwelle zur Welt, und Vater gab mir einen kleinen Schubs, der mich hinüberführte. Seine Hände erschienen mir damals so groß wie die Welt. Ich dachte, er könne mich einfach am Kopf packen, hochheben, ein Stück tragen und dann wieder absetzen.

Ein Schmunzeln huscht über meine Lippen. Von der Veranda blicke ich durch ein geöffnetes Fenster in die Küche, wo Arosa, die Haushälterin, zwischen Töpfen und Pfannen hin und her springt, um das Frühstück zuzubereiten.

»¿Quiéres?«, fragt sie und deutet auf eine kleine Pfanne, die bei schwacher Flamme auf dem Herd steht. Bevor ich antworten kann, hat sie bereits drei Pfannkuchen auf einen Teller geladen und sie mir samt Sirup durchs Fenster gereicht. Erst jetzt merke ich, wie hungrig ich bin.

Zum Super99 in der Avenida Belisario Porras geht es immer geradeaus. Ein voll klimatisierter Konsumtempel samt Tankstelle, Handyschalter, ATM und elektrischem Pony. Es gibt Milch in Fünfliterkanistern, Orangensaft und Bier in Vierzigerpacks. Es gibt Energydrinks und Cola, Chips und Erdnüsse sowie lauter bunte unbekannte Süßigkeiten, und alles andere auch und sogar noch mehr. Ich kaufe eine Dose Bohnen, eine Flasche Wasser und einen Vorteilspack Snickers, dann bin ich pleite.

Kurz darauf hänge ich in einem völlig überfüllten Linienbus an einer leidlich befestigten Haltestange und spüre, wie wir schwankend Richtung Innenstadt gleiten. In Panama City gibt es keine gekennzeichneten Bushaltestellen. Wenn man nicht weiß, wohin, stellt man sich einfach zur nächstgrößeren Menschenmenge und wartet ab, was passiert. Wenn man Glück hat, kommt irgendwann ein Bus. Wenn nicht, wird man im schlimmsten Fall ausgeraubt. Ich hatte Glück, und nach einigen Minuten kam ein klappriges orangefarbenes Gefährt, an dessen Stirnseite „Albrook Via España“ stand. Jetzt klemme ich zwischen haarigen Achseln und glatt gekämmten Scheiteln und versuche auf Zehenspitzen, einen Blick durch die beschlagenen Fenster zu erhaschen.

Der Verkehr fließt zäh, es ist Rushhour. Hin und wieder kommen Teile verfallener Ruinen in den Blick. Richtige Ruinen aus Stein und Vergangenheit, nicht die halb abgerissenen Wellblechbehausungen, die wir gelegentlich an den Straßenecken sehen und deren Haut so löchrig ist wie das Fell der alten Hunde, die vor ihnen in der Sonne dösen. Die Ruinen gehören zu Panamá Viejo.

1671 wurde Panama City vom britischen Piratenkapitän Henry Morgan zerstört. Derselbe Captain Morgan, der uns heute so verwegen von den Rumflaschen angrinst. Panamá Viejo zerfiel mit der Zeit, doch die Hänge der neuen Stadt, die man am Fuße des Cerro Ancón neu erbaute, füllten sich mit Geld. Die Raubzüge der Spanier sorgten dafür, dass die Stadt als Umschlagplatz für Gold und Silber florierte.

Im 19. Jahrhundert beschlossen die USA, eine Eisenbahnstrecke zu bauen, um die beiden Weltmeere miteinander zu verbinden und so den internationalen Handel voranzutreiben, und innerhalb von fünf Jahren wurden sechsundsiebzig Gleiskilometer unter herben Verlusten in den Dschungel geschlagen.

Nur wenige Jahre später entschied man sich, die Anlagen zu erweitern, und 1903 begann man mit dem Bau des Panamakanals.

Über fünfundzwanzigtausend Menschenleben und mehrere insolvente Baufirmen kostete das Projekt, bis es 1914 fertiggestellt wurde und eine neue Ära des transkontinentalen Handels einläutete. Viele der Toten waren nach Übersee verschifft und dort für teures Geld an die medizinischen Hochschulen verkauft worden, um so die Verluste im Rahmen zu halten. Wer hätte auch wissen können, dass bald der Große Krieg über die Welt hereinbrechen würde und damit die Leichen im Überfluss zu Dumpingpreisen zu haben sein würden?

Die Verwaltung des Panamakanals oblag derweil den USA. Nach den Unabhängigkeitserklärungen gegenüber Spanien und Kolumbien war Panama schon lange zu einem Ziehkind der Vereinigten Staaten geworden. Im Jahr 1984 kam durch einen Militärputsch der abtrünnige panamaische General Manuel Noriega an die Macht, und erneut waren es die USA, die ihren Verbündeten aus der Patsche halfen. Fünf Jahre nach seinem Putsch schlugen sie Noriegas Herrschaft gewaltsam nieder.

Das scheint diese Stadt auszumachen, denke ich: der politische Einfluss der Vereinigten Staaten und ein verkatertes Dösen, verursacht durch den Konsum fuseligen Supermarktrums.

Auf der Via España verlasse ich den Bus. Der Verkehr ist so träge, dass ich das Gefühl habe, besser zu Fuß voranzukommen.

Die gesamte Stadt ist auf den Beinen, doch niemand scheint zu wissen, wohin. Und wirklich bei jedem kommt es mir so vor, als ob er Kopfschmerzen hätte. Eine Frau, ich kann nicht sagen, wie alt sie ist, holt zu mir auf. Sie hat nur noch wenige Zähne im Mund, ihre Haut ist braun und gegerbt, die Hände hat sie zu einer Schale geformt, die sie mir entgegenschiebt, während sie fordernd auf mich einspricht.

„Sorry, I can’t give you anything“, sage ich. Meine Angst ist zu groß, dass ich bald selbst für den Rest meiner Tage von einem Sechserpack Snickers und ein paar kupfernen Minidollars leben muss. Doch die Frau redet weiter auf mich ein, die Hände bittend geöffnet, bis ich erneut ablehne und sie unter Fußstampfen und mit zornigem Gesicht schreit: „Man! But I am hungry, baby!“ Hungrig und vehement.

Bilder schwirren durch meinen Kopf: wie ich selbst auf der Straße lebe, zahnlos und verwirrt, mit dreckigen Nägeln und dreckigen Füßen, kein Geld, keine Snickers, kein nichts. Das Hemd am Leib zerrissen, die Schuhe in Fetzen. Und dann meine Mutter, die sich sorgt.

Meine Mutter ist eine grazile Frau mit starkem Herzen. Sie hat vier Kinder geboren, die man ihr nicht ansieht, sie lacht viel, und wenn sie putzt, bindet sie sich die Haare zu zwei Zöpfen. Ihr gesamter Lebensinhalt scheint darin zu bestehen, ihre Umwelt glücklich zu machen. Wäre es nach ihrer Mutter gegangen, wäre ich in Bremen-Nord geblieben. „Wie kannst du ihn bloß gehen lassen?!“, hatte Oma Meme gefragt, als Mutter ihr von der Reise erzählte. Und Mutter hatte sie angeschaut und ihr keine Antwort gegeben, weil sie keine wusste.

Die Sorge meiner Mutter ist mir immer die größte Sorge gewesen. Während Vaters Aufgabe darin bestand, mir einen Stoß hinaus in die Welt zu geben, versuchte sie stets, mich festzuhalten. Als ich ein Jahr alt war, trennten sie sich.

Im Geiste sehe ich sie vor der Haustür stehen. Arm in Arm, die Gesichter zwischen Stolz und Melancholie. „Lebe wild und gefährlich, mein Junge!“, ruft mein Vater und winkt. Und Mutter fügt an: „Aber komm heil zurück!“

In der Nähe des Regierungspalastes, wo sich unter einer Autobahnunterführung die Armut tummelt, liegen Limetten- und Orangenschalen im Rinnstein. Schlepper rufen nach Kunden, Omnibusse preschen vorbei, ein Esel schaut mich aus fliegenumschwirrten Augen an.

Was mache ich hier?, denke ich. Wie soll ich das bloß vier Monate aushalten? Zu Hause am See ist immer ein Platz für mich frei, und am Südplatz gibt es Bier – wie konnte ich das einfach so hinter mir lassen? Und wie soll ich eigentlich auf dieses verdammte Schiff kommen? Alles, was ich habe, sind ein paar nichtssagende Mails, keinen Vertrag, keine Sicherheit, nichts. Nicht einmal Geld! Warum habe ich mich bloß auf das alles eingelassen?

Ja, warum eigentlich?

Nils Straatmann

Über Nils Straatmann

Biografie

Nils Straatmann, 1989 bei Hamburg geboren, lebt in Leipzig und schreibt Artikel u.a. für die taz, Freemen's World und Süddeutsche Zeitung. Er ist Mitglied der Autorennationalmannschaft des DFB, tritt seit 2008 als „Bleu Broode“ auf deutschen Slam-Bühnen auf und moderiert Podcasts wie »Mehr als ein...

Pressestimmen
Weser Kurier

„Er schildert seine Abenteuer spannend und abwechslungsreich und beweist darüber hinaus Humor.“

Kurier am Sonntag

„Nils Straatmann schreibt originell – über die Anziehungskraft des Meeres wie auch über die Fortführung einer Familientradition.“

Abenteuer und Reisen

„In der kurzweiligen Erzählung über backpackende Hipster, Karibik-Buchten und Taucheinlagen mit Haien bleibt viel Raum für Schiffs- und Familiengeschichte. Stoff genug für Vorträge vor literarischen Gesellschaften, sprich: für amüsante Leseabende.“

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