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Was bei uns bleibt

Didi Drobna
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Roman

„Ihr dritter und vorläufig bester (Roman)“ - Salzburger Nachrichten (A)

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Was bei uns bleibt — Inhalt

Was war, prägt uns und lebt in uns fort

Klara hat Hirtenberg nie vergessen. Wie stolz sie war, als sie im Jahr 1944 in der kleinen Gemeinde ankam, um in der Munitionsfabrik ihren Beitrag zum Sieg zu leisten. Wie sie unter den Arbeiterinnen trotz Angst und Entbehrungen auch Nähe fand. Erst als alte Frau spürt sie, dass sie für ihren Enkel Luis aussprechen muss, was damals geschah. Denn die Ereignisse reichen bis weit in sein Leben hinein. Sie erzählt von den Aufseherinnen, vom Lager, das über Nacht errichtet wurde, von der Freundschaft und dem Schicksal der Frauen und den letzten langen Tagen des Kriegs, die ihr Leben verändern sollten.

Ein Generationenroman vom Verschweigen und Erinnern

€ 20,00 [D], € 20,60 [A]
Erschienen am 01.09.2021
256 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-492-07052-2
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€ 16,99 [D], € 16,99 [A]
Erschienen am 01.09.2021
256 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99925-0
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Leseprobe zu „Was bei uns bleibt“

Klara

Der Sommer kündigte seinen Abschied an. Die Hitze klammerte sich an die Wände des Tals, nur der Wald blieb frisch und kühl. Es waren die letzten Wochen, bevor der Wind ins Tal fegte. Auf den Almen lag selbst an den wärmsten Tagen noch ein Sprenkler Schnee. Es war die kurze Zeit der Heidelbeeren.

Klara und Luis stellten das Auto am Berg ab und verschwanden im Schatten der Bäume. Den Himmel ließen sie zurück. Klara kämmte die Beeren von den Sträuchern im Unterwuchs. Luis trug ihr zwei Körbe hinterher, auf seiner Brust kreuzten sich die Lederriemen. [...]

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Klara

Der Sommer kündigte seinen Abschied an. Die Hitze klammerte sich an die Wände des Tals, nur der Wald blieb frisch und kühl. Es waren die letzten Wochen, bevor der Wind ins Tal fegte. Auf den Almen lag selbst an den wärmsten Tagen noch ein Sprenkler Schnee. Es war die kurze Zeit der Heidelbeeren.

Klara und Luis stellten das Auto am Berg ab und verschwanden im Schatten der Bäume. Den Himmel ließen sie zurück. Klara kämmte die Beeren von den Sträuchern im Unterwuchs. Luis trug ihr zwei Körbe hinterher, auf seiner Brust kreuzten sich die Lederriemen. Der Wald berührte sie, waren es die Wurzeln, die aus dem Boden ragten, die Spinnweben oder das schummrige Licht, das durch die Blätter fiel. Der Tau klebte sich an ihre Beine und selbst die Schuhe wurden nass. Blieben sie stehen, fror es sie. Doch je länger sie unter den Baumkronen tauchten, umso besser fühlte sich Klara. Umso sicherer.

Aus Gewohnheit hielt sie Ausschau nach ihrem Enkel. Nie entließ sie ihn ganz aus dem Blick. Sie vermied es, weit vom Weg abzukommen. Konnte sie seine lange Gestalt nicht mehr sehen, rief sie nach ihm, und er rief verlässlich zurück.

„Hier“, antwortete er dann, „hier bin ich doch, Oma.“

Klara seufzte. Die Kinder wurden groß und mit ihnen die Sorgen. Luis stand plötzlich neben ihr und lächelte, die Haut um seine Augen legte sich in feine Falten. Einige der Linien hatten sich bereits dauerhaft in seinem Gesicht niedergelassen. Das war längst kein Junge mehr, sondern ein Mann von zweiunddreißig Jahren.

„Machen wir eine Pause“, forderte er und tat, als wäre er müde, nicht sie.

 

Die Mittagsstunde verbrachten sie mit einem Kanten Brot und Leberaufstrich, den Luis mit seinem Taschenmesser direkt aus der Konserve löffelte. Klaras Hände waren dunkel von den Beeren, die drei Körbe prall gefüllt. Obwohl Luis die beiden großen trug und sie nur mehr einen kleinen, konnte Klara nicht mehr. Sie war gesund, sie war immer aktiv geblieben. Dennoch. Vierundachtzig Jahre, und sie spürte jedes einzelne davon. Mit ihrer Schürze wischte sie sich den Schweiß von der Stirn.

„Genug für heute.“

Luis nickte, putzte das Messer am Hosenbund ab und klappte es mit einer flotten Bewegung zusammen. Er schnürte sich die Körbe um und machte sich zum Gehen bereit. Brotkrümel regneten von seiner Hose. Er machte ein paar Schritte, dann schnappte Metall. Es knackte. Luis’ Schrei hallte zwischen den Baumstämmen, laut und grell. Einen Moment lang erkannte Klara die Stimme nicht wieder.

„Hilfe!“, rief Luis. „Oma! Hilfe!“ Er blinzelte seinen Körper hinab, geschockt über das, was er sah. Er stürzte zu Boden, ungelenk und ohne Schwerpunkt, landete mit dem Gesicht
auf der Kette und schlug sich die Schläfe blutig. Heidelbeeren rollten in alle Richtungen davon.

Klara raffte ihr Hauskleid hoch und lief los. Sie rief seinen Namen und noch ein „Herrgott“ hinterher. Der Anblick verschlug ihr den Atem. Ihr großer, kräftiger Junge lag auf dem Boden. Sein Fuß verschwand im Schlund einer Fuchsfalle. Die Zähne hatten sich in sein Schienbein und in die Wade geschlagen. Klara ging neben ihm in die Hocke und faltete die Hände vor der Brust, auch wenn sie gerade noch den Namen Gottes eitel genannt hatte.

Sie betrachtete die Bügel, die sich knapp über dem Knöchel in Luis verbissen hatten. Das Kupferrot der Korrosion überzog die Oberfläche.

„Norbert, du Hund“, spuckte sie auf den Boden, „deine verdammte Falle! Wo hier seit zwanzig Jahren kein Viech mehr war!“

Das Eisen fühlte sich körnig an und grob, die Kette klirrte dumpf bei jeder Bewegung. Die geschwollenen Knöchel ihrer blau gefärbten Finger wirkten grotesk, die Hände einer alten Frau. Hatten sie noch Kraft in sich? Klara zog.

„Ich schaffe es nicht“, gestand sie.

Luis heulte auf, frustriert und voller Schmerzen. „Verdammte Scheiße!“ Er keuchte. „Ich zieh an, und du holst mein Bein raus!“

Er setzte sich auf, so gut es ging. Das Blut rann ihm in die Augen. Er holte tief Luft, griff rechts und links nach den Bügeln und zog sie mit aller Macht auseinander. Das Eisen bewegte sich willig, der Rost hatte dem Mechanismus die Zähne gezogen. Mit einem leisen, schmatzenden Geräusch gab das Ding Luis’ Bein frei.

Ein rotes Muster erschien auf seiner Haut, sehr präzise und irgendwie auch schön. Das Blut war von schwarzen Rostfleckerln durchsetzt. Wie dunkle Augen, dachte Klara, Augen, die sie aus der Tiefe seines Körpers anstarrten. Wissend. Wartend.

Klara löste ihr Kopftuch und band es fest um das Bein. Das musste reichen. Sie löste die Riemen der Körbe von Luis’ Schultern. Dann griff sie ihm unter die Achseln und zog ihn in eine aufrechte Position.

„Steh auf“, sagte sie. „Ich kann dich nicht tragen! Steh auf!“ Sie rüttelte an ihm. „Luis! Reiß dich zusammen!“

Sie legte Härte in die Stimme, Strenge. Nicht um Luis zu rügen, das vielleicht auch, ja, aber vor allem, um sich selbst die Angst zu verbieten. Eine Angst, die in ihren Knochen wohnte und sich allzu schnell Raum machte, wenn sie ihr die Möglichkeit dazu ließ.

Jede Farbe war aus Luis’ Gesicht gewichen. Sein Atem ging schnell, der Blick lief ins Leere. Klara legte sich seinen Arm um den Hals, mit der anderen Hand griff sie ihm um die Taille.

„Auf drei, mein Lieber, auf drei“, flüsterte sie ihm ins Ohr.

Luis stand der Schweiß auf der Stirn, in kleinen Pfaden rann er durch das Blut an der Schläfe hinab und machte aus dem jungen Mann ein wildes Tier.

Luis nickte, die Zähne fest zusammengebissen.

„Und drei!“

Mit einem Laut, der zu gleichen Teilen Schmerz und Entschlossenheit verriet, hievten sie sich hoch. Müde lehnte Luis an Klara, matt und leblos. Seine große Gestalt an ihrer Schulter zusammengeknüllt. Das verletzte Bein hing zu Boden, als wäre die Verbindung zum restlichen Körper gekappt.

„Oma“, murmelte er. „Ich schaff’s nicht.“

„Wohl“, sagte Klara.

Sie atmete ein, überlegte. Der Weg zurück war weit. In den vergangenen Stunden waren sie zwar langsam, aber stetig vom Auto davongewandert. Doch was zählte das nun? Sie hatte schon einmal einen langen und aussichtslosen Weg bestritten. Auch der hatte sie durch einen Wald geführt. Auch damals war Blut geflossen.

„Wohl tust du’s“, wiederholte sie.

Sie stolperten zwischen den Baumstämmen einher, dann den Pfad hinab. Klara spürte, dass er sich bemühte, aus eigener Kraft zu gehen, sich selbst zu tragen, ihr nicht zur Last zu fallen. Zuerst hielt er das Bein angewinkelt in der Luft, hüpfte auf dem gesunden, doch bald ging ihm die Energie aus. Rot sickerte es durch den Verband und floss in trägen Linien über seine Wade.

Immer wieder strauchelten sie, fielen beinahe. Drei Beine waren zu wenig für zwei Menschen. Aber Klara kannte Situationen wie diese. Sie wusste, wie man mit wenig auskam.

Sie schleppte Luis durch das lichte Holz und den wuchernden Stockausschlag. Auf Trampelpfaden, die kaum zu erken-
nen waren, vorbei an leer gepflückten Büschen.

Endlich, der Parkplatz, auf dem einsam das Auto stand. Klara half Luis auf die Rückbank. Die Luft im Inneren war aufgeheizt und stickig. Als Luis das Bein ins Fahrzeug hob, schaute Klara nicht hin. Aus Gewohnheit wollte sie rüber zum Beifahrersitz, doch nun musste sie ans Steuer. Sie war lange nicht mehr selbst gefahren, ihre Brille hatte sie auch nicht dabei. Sie spürte Unsicherheit, beinahe Angst, rügte sich aber selbst: Viele Dinge waren unmöglich, bis man die Zähne zusammenbiss.

Die Höhenstraße war breit. Klara fuhr in der Mitte der
Fahrbahn, saß weit vorgebeugt, die Brust ans Lenkrad gelehnt, die Nase fast an der Windschutzscheibe. Jede Unebenheit des Bodens erzeugte auf der Rückbank ein schmerzvolles Einatmen.

„Das Tuch ist durchgeblutet, ich sau hier alles voll.“

„Wen kümmert’s!“

Sie schlackerten vom Berg. Es dauerte einige Minuten, bis sie das Dorf erreichten. Ein paar lose versammelte Gebäude standen zwischen den Hügeln. Viele Wochenendhäuser, nur wenige Hauptwohnsitze. Alte Holzfenster und moderne Glastüren nebeneinander. Keine Storchennester, dafür ein Funkmast und Photovoltaikanlagen.

Klara hielt vor dem ersten Haus am Dorfeingang. Das Auto rollte aus. Ein einfaches Gebäude mit großzügiger Veranda, die über den Friedhof hinweg ins Gebirge blickte. Das Dach schief geneigt, als würde es sich verschämt dem Wind im Tal beugen. Auf der Terrasse saß der rauchende Besitzer, über seinem Kopf weiße Schwaden, die bald verpufften.

Klara stellte den Motor ab und öffnete die Wagentür. „Horst, hast du ein Telefon?“, rief sie über den Hof. „Ruf den Arzt!“

Für seine vierzig Jahre wirkte Horst sehr ernst und hager. Besonders sein zerfurchtes Gesicht ließ ihn älter wirken, als er eigentlich war. Stoisch und leidensfähig, wie viele Menschen hier draußen.

Klara deutete hinter sich auf die Rückbank. Sie hatte keine Geduld mehr, irgendetwas zu erklären. „Der Arzt! Mach endlich!“

Horst runzelte die Stirn. Er hob eine Hand über die Augen und blinzelte gegen die Sonne an. Mit einem Ruck richtete er sich auf, dass der Schaukelstuhl knarrte. Seine Bewegungen verrieten ihn, das war längst kein alter Mann. Eilig lief er die Stufen der Veranda herunter und blieb vor dem Auto stehen. Er betrachtete den Burschen durch die Scheibe, das blutige Kopftuch um die Wade und die aufgeschlagene Schläfe. Klara sah ihm an, dass er nach Worten suchte, wo kein klarer Gedanke war.

„Ich ruf den Arzt“, murmelte er. Mit zwei Schritten war er wieder auf der Terrasse und stampfte ins Haus.

Klara ließ sich auf den Fahrersitz niedersinken und lehnte sich erleichtert zurück. In ihrem Rücken ein Knäuel, ein Knarren. Den kleinen Korb hatte sie nach wie vor hinten aufgebunden. Selbst die Heidelbeeren waren heil geblieben. Sie schnaubte. Wie war das möglich? Ein Schwall undefinierter Gefühle schwappte in ihr hoch.

Wer wusste schon, was noch in einem steckte?

August 1944

Alles, was ich besaß, passte in eine Kiste. Es war nicht viel: etwas Kleidung, Vaters Briefe, ein Foto. Den Rest trug ich am Körper. Was braucht der Mensch schon zum Leben? Wenig eigentlich.

Ich hätte gerne gute Schuhe angezogen oder ein frisches Arbeitskleid. Natürlich besaß ich weder das eine noch das andere. Es fehlte mir auch nicht, die meiste Zeit. Ich hatte Arbeit, ich bekam mehrere Mahlzeiten am Tag. Ich schlief in einem Bett, das mir allein gehörte. Das Zimmer teilte ich mit drei anderen Frauen. Unsere Baracke war neu, hastig und billig erbaut. Die Wände so dünn, dass wir unsere Nachbarinnen hören konnten. Aber wir hatten ein Dach über den Köpfen. Es war ein Zuhause. Das war mehr, als die meisten hatten. Im Krieg war das nicht schwer.

Endlich brach der Morgen an. Die Sonne kroch über die Ebene und leuchtete ins Tal hinein. Die Gebäude warfen lange Schatten. An meinen Beinen und Armen hingen die Gewichte einer schlaflosen Nacht. Mein Kopf war voller Gedanken, ich hatte keine Ruhe gefunden.

Durch das Fenster sah ich die ersten Frauen zur Frühschicht eilen. Sie liefen die Treppe hinab und sammelten sich auf dem kleinen Vorplatz. Das Klack-Klack ihrer Absätze war wie das morgendliche Klopfen eines Spechts. Im Hof tratschten sie ein paar Sätze miteinander, bis die Werkschutztruppe den Aufruf zum Marsch erteilte. Dann ging es in strammen Reihen den Hügel hinauf.

Es stimmte zwar, dass ich kaum etwas mein Eigen nennen konnte, aber an diesem Morgen fühlte ich mich nicht arm. Denn heute würde ich den Frauen da draußen folgen. Ich gehörte endlich auch zu den echten Hirtenbergerinnen. Zu den Patronenfrauen.

Im Stockbett über mir knarrte die Matratze. Vera gähnte laut.

„Bist du schon wach? Hast du gut geschlafen?“, fragte sie.

„Dass du bei der Hitze überhaupt schlafen kannst.“

Aus dem anderen Stockbett meldete sich Ingeborg. „Wenn du nicht vor Müdigkeit durchschläfst, arbeitest du nicht genug.“

„Geh bitte.“ Vera kletterte vom Bett und zuckte mit den Schultern, der Vorwurf berührte sie nicht. „Geh ich zu den Brennöfen, oder nicht? Als gäb’s nicht genug Hacken in der Fetterei. Da hätte ich es fein haben können.“

„Seid ihr aufgeregt?“, fragte Liesl. Von der Augustsonne waren ihre Wangen voller Sommersprossen, was sie jünger aussehen ließ als ihre achtzehn Jahre. „Endlich arbeiten wir alle zusammen!“

„Du fegst den Boden“, antwortete Vera, während sie sich die blonden Haare kämmte. „Bild dir ja nichts ein.“

Liesl verzog das Gesicht. „Du bist so gemein!“

Ich sammelte unsere Waschsachen und hielt Vera den Beutel hin. „Beeil dich mal lieber. Ich will nicht zu spät kommen.“

„Schon gut, du eifrige Gans!“

„Selber Gans“, antwortete ich.

Vera verdrehte die Augen, lachte aber. Sie nahm den Beutel und hängte sich bei mir ein.

„Bis gleich“, rief uns Ingeborg hinterher.

 

Am Gang war ein großes Gewusel. Unser Stockwerk beherbergte sechzig Arbeiterinnen der ersten und zweiten Frühschicht: Wer nicht schnell war, bekam kein Wasser ab. Im Duschraum sah ich alles und jeden: alte wie junge Frauen, Mädchen frisch vom Bahnhof und ehemalige Damen aus der Stadt, Fließbandfräuleins für die Feinarbeit und stämmige Dinger zum Anpacken. Die feinen Linien und Falten unserer Gesichter machten uns zu Schwestern. Magere Hände schoben speckige Seifenstücke über die Körper. Wir glichen uns im fahlen Hautton und der Müdigkeit, die nichts mit den geschlafenen Nachtstunden zu tun hatte.

Der Enthusiasmus, mit dem Vera ihre langen Haare wusch, stand im Widerspruch zu allem anderen – den kühlen Kacheln und dem gedämpften Murmeln der älteren Frauen. Sie sahen zu uns rüber und schüttelten die Köpfe. Ausgelassenheit – das war etwas, was die meisten von ihnen nicht mehr vertrugen. Vielen waren die Schüsse und Schläge, all das Knattern der Motoren in die Haltung übergegangen.

Vor drei Tagen hatte es den ersten Fliegerangriff auf Hirtenberg gegeben. Den ersten erfolgreichen Fliegerangriff. Niemand war gestorben, aber die Angst blieb uns zurück. Jeder Knall führte zu einem Zucken, jeder Einschlag zu einem Zittern. Wir bekamen starre Nacken. Die Furcht wanderte in unsere Schultern und ließ uns nicht mehr los. Sie verwandelte uns alle in runzlige alte Frauen, die erdrückt von dieser Last durch die Landschaft wanderten. Das wusste ich mittlerweile, die ständige Angst riss uns nieder. Der Krieg ließ uns schrumpfen. Wirbel um Wirbel faltete er unser Rückgrat in Richtung Erde.

Ich dachte an Vater. An seine rauen Handflächen und sein gütiges Gesicht. Wie er sich ein letztes Mal umdrehte und den Arm hoch über den Kopf hob, bevor er aus meinem Blick verschwand. Wie ihn die Front holte und nicht mehr hergab.

„Tu weiter, Vera“, sagte ich.

Ich wollte die Augen der anderen Frauen nicht mehr auf mir spüren. Ich wollte nicht an Vater denken.

 

Zurück in der Stube, zogen wir uns rasch an und machten uns auf den Weg zur Kantine. Die Schlange an der Essensausgabe reichte bis zur Tür, aber es ging zügig voran. Zum Frühstück bekamen wir eine Tasse schwarzen Kaffee und zwei Stück Brot mit Schmalz. Das war mehr, als ich die letzten Jahre auf dem Hof an einem ganzen Tag gehabt hatte. Vierzehn Bissen, neun Schlucke. Der Kaffee schmeckte körnig und das Brot war immer trocken. Was sie beimischten, wollte ich gar nicht wissen. Doch den Hunger los zu sein, war eine Freude, die sich nicht abnutzte.

Für die neue Stelle würde ich Zulagen bekommen, das wusste ich bereits. Die Frauen in der Munitionsproduktion erhielten die höchste Essensration von allen. Größere Portionen? Ich konnte es mir kaum vorstellen.

Ingeborg erzählte, dass sie gelegentlich eine Essenskarte aufhob und gegen Strumpfhosen oder Zucker tauschte. Natürlich war das verboten. Man darf sich eben nicht erwischen lassen, sagte Ingeborg. Ich dachte nur: Was für ein Luxus, an Dinge aus unserem früheren Leben zu kommen.

Die Glocke läutete zum Dienstantritt. Wir strömten aus der Kantine und machten uns auf den Weg zur Sammelstelle. Die meisten Frauen arbeiteten nebenan im Hauptwerk. Das Gelände der Stammfabrik war groß, die Schornsteine waren zahlreich. Sie dampften graue Wolken in den Himmel. Zwischen den Gebäuden eilten Arbeiterinnen hin und her, ein Zug lieferte mehrere Waggons mit Rohstoffen an. Die Gleise führten vom Bahnhof direkt auf den Vorplatz und in die große Produktionshalle hinein. Dazwischen liefen die Burschen der Werkschutztruppe und Wehrsoldaten herum. An ihren Hüften hingen Pistolen und in den Fäusten hielten sie die Leinen der Wachhunde. Die Männer waren wie aus dem Ei gepellt. Die Uniformen stramm, am Revers blitzten die Anstecknadeln der SS.

Vera lächelte bei ihrem Anblick.

Ich zog sie am Ärmel. „Heb dir das Schmachten für Sonntag auf.“

An unserem Sammelplatz standen bereits die Frauen der zweiten Frühschicht. Sie trugen Arbeitskleidung, die meisten von ihnen versteckten die Haare unter einem Kopftuch. Sie waren nervös, traten von einem Bein aufs andere. Niemand wollte dieser Tage unter freiem Himmel stehen. Immer wieder suchten wir den Horizont ab. Michael, der Leiter der Werkschutztruppe, zählte die Köpfe durch. Den leeren linken Hemdsärmel hatte er hochgebunden. Ich erblickte Liesl und Ingeborg, längst standen sie an der Spitze der Kolonne. Liesl winkte uns und deutete neben sich. Vera seufzte übertrieben. Wir reihten uns bei ihnen ein.

Als die Zählung vollständig war, gingen wir los. Immer vier Frauen nebeneinander marschierten wir den Lindenberg hoch. Der Pfad führte vorbei an den Weinbergen, die sich die Hügelflanke hochzogen. Das Tempo war streng, aber niemand beschwerte sich. Michael zog an, und wir liefen mit.

Der Angriff vor ein paar Tagen war die erste Luftattacke auf die Fabrik, die dem Feind geglückt war. Flugzeuge schossen über unser Tal hinweg. Vier Bomben trafen das Stamm-
werk. Wir am Lindenberg blieben verschont, nur die Hauptfabrik unten im Dorf hatte es erwischt. Der Schaden war gering. Der Luftdruck sprengte ein paar Fensterscheiben und eine Wand bekam einen Riss. Niemand wurde ernsthaft verletzt. Wir hatten Glück. Und dennoch. Es fühlte sich nicht
so an.

Wenn ich nun in der Früh aus der Baracke trat, war mir den gesamten Weg über nicht mehr wohl. Dabei war der Weg den Berg hinauf kurz und verlief zum größten Teil unter wuchtigen Bäumen. Der Sommer blieb noch eine Weile, das Laub war dicht und schützte uns gut. Aber die Angst, die konnte ich nicht abschütteln.

Das war unser Leben. Das war unsere Last. Die Unruhe war ein ständiger Begleiter. Auch heute suchte ich den Himmel nach dunklen Umrissen ab, versuchte, in der Ferne Formationen zu erkennen. Mein Blick war oben, meine Füße unten: Ich stolperte. Dass meine Hände zitterten, verbarg ich selbst vor Vera. Eine Versetzung war unwahrscheinlich, aber Schießpulver und Treibladungen waren heikle Dinge. Da durfte man nicht zittern. Dafür bekam ich ab heute 750 g Brot, 250 g Fleisch und 100 g Schmalz mehr. Die Präzision: Sie kostete ein Kilo Nahrung die Woche.

„Vera“, flüsterte ich, „hast du Angst?“

„Vor was?“

„Den Fliegern?“

„Natürlich hab ich Angst!“

Ich blinzelte in den Himmel. Weit und breit war nichts zu sehen. Die Luft war warm und still.

„Nur ein Idiot hätte keine Angst“, sagte Ingeborg. Natürlich hatte sie uns gehört.

Ich nickte. Vor der gestandenen Ingeborg wollte ich mir keine Blöße geben. Sie war aus Wien, das allein beeindruckte mich. Sie hatte alles erlebt und noch mehr gesehen.

Vor was fürchtete ich mich am meisten? Die eine Gefahr kam von oben, aber auch meine neue Aufgabe war gefährlich. Wo Sprengstoff lagerte, genügte bereits ein Funke. Selbst die kleine Freude der Schichtarbeit war verboten, das Rauchen war untersagt. Im Hof, bei den Ladereien, im Lager und in den Werkshallen sowieso. Dann die überhitzten Maschinen. Vor was musste ich mich also mehr fürchten? Den fremden Flugzeugen oder der eigenen Arbeit? Ich hätte eine Münze werfen können.

Ich sagte mir selbst: Vier Bomben in fünf Jahren Krieg – das war kein Grund für eine Angst. So viele Fliegerangriffe, so viele Sprengsätze und nur einmal ein Treffer?

„Der Herrgott schaut auf uns“, sagte Liesl aufmunternd, „er hält seine Hände über unsere Köpfe.“

Ingeborg schnaubte. „Wenn jemand die Hände über unsere armseligen Köpfe hält, dann der Mandl.“

„Wer?“

„Ach Mädl, das weiß hier doch jeder. Der Mandl! Der alte Fabrikbesitzer.“

„Der ist in Argentinien, hab ich gehört“, sagte Vera verschwörerisch.

„Ja“, antwortete Ingeborg. „Der lässt seine Beziehungen in die alliierten Hauptquartiere spielen, damit wir nicht zerbombt werden. Weil er sich nachher seine Fabrik zurückholt.“

„Nachher? Nach dem Krieg, oder wie?“

Sie nickte. „Er holt sich Hirtenberg zurück! Hirtenberg und Hedy.“

Ich antwortete nichts. Ich wunderte mich, dass eine vernünftige Frau wie Ingeborg an solche Geschichten glaubte. Zugleich erwischte ich mich selbst dabei, wie ich an diesen Mandl dachte, den ich mir in edlen Leinenanzügen an einem fernen Strand vorstellte. Was schadete es zu hoffen, dass er uns vor dem Unmut des Krieges bewahrte? Dass er uns schützte. Dass uns überhaupt irgendwer schützte.

Dabei war es anders gewesen. Nicht umsonst nannte der Reichsrundfunk Österreich den Luftschutzkeller des Dritten Reiches. Die längste Zeit blieb das ganze Land von Luftangriffen verschont. Selbst die Langstreckenbomber kamen nicht zu uns, es ging sich einfach nicht aus. Selten war das Leben im Osten besser als im Westen, aber in diesen Jahren war es so. Es war unser Glück, dass die Welt in diesem Weltkrieg so groß war.

Dann kam die Invasion der Alliierten in Nordafrika und Italien. Wir gerieten in Reichweite. Die Sirenen heulten, der Fliegeralarm dröhnte. Immer wieder gab es Angriffe auf unsere Gegend. Am meisten litten natürlich die Städte: Linz, Graz, Wien. In der Hauptstadt sah es bestimmt ganz anders aus. Wir waren hier nichts dagegen. Meine Hände zitterten trotzdem, und ich wachte jede Nacht aus dunklen Träumen auf.

Erst vor einer Woche hatten wir vom ersten Großangriff auf Wien erfahren. Hunderte US-Bomber flogen auf die Stadt. Bomben ohne Ende, mein Gott, so viele mussten das gewesen sein! Sieben Bezirke, die Freyung, das Rathaus, das Innenministerium. All die Menschen im Bombenhagel. Das konnte auch der Reichsrundfunk nicht schönreden. Trümmer, fallende Mauern und einstürzende Gebäude. Das Chaos, die Angst. Erwachsene wie Kinder erstickten in den Bunkern und Kellern. Das Nachbarhaus von Ingeborgs Eltern war nur mehr ein Aschehaufen. Bei dem Gedanken daran bekreuzigte ich mich jedes Mal wieder.

Was zählten da die gesprungenen Fenster und Mauern in unserer Fabrik?

All die Monate ohne Luftangriffe verschwanden aus meinem Gedächtnis. Überhaupt war die Vergangenheit etwas, das aus der Erinnerung verschwand. Ich gewöhnte sie mir ab. Ich benötigte sie nicht. Wozu? Im Krieg konnte mir das Gestern egal sein. Was nützte es mir zu wissen, dass ich gestern nicht gestorben war, wenn ich heute sterben konnte? Oder morgen, oder den Tag danach. Der Blick nach hinten brachte nichts als Geister, die umherspukten.

Der Tag wärmte langsam an. Schweiß stand mir auf der Stirn. Ich war nervös wegen der Arbeit, die ich noch nicht kannte. Wäre ich doch in der Fetterei geblieben. Ging es mir dort schlecht? Nicht ganz ein Jahr war es her, dass ich in Hirtenberg mit dem Zug ankam und meinen ersten Dienst antrat. Ich wusste nicht viel über Munition oder über Waffen. „Frauen in die Fabrik!“, hieß es. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass es verschiedene Patronensorten gab. Und schon gar keinen Tau hatte ich davon, dass vor der Befüllung die Hülsenpatronen mit Spiritus eingefettet werden mussten. Wie hätte ich es wissen sollen? Ich kam aus einem kleinen Dorf vom Land. Hirtenberg schien mir schon wie eine Großstadt, mit all den militärischen Betrieben und den Tausenden Arbeiterinnen in den Produktionsstätten, dem Arbeiterlager mit Hunderten Kriegsgefangenen. Und jetzt war ich eine von ihnen. Eine echte Hirtenbergerin. Ich war kriegswichtiges Personal. Der Gedanke gefiel mir. Er machte mich stolz.

Ich fühlte mich besser, sobald wir die Baumgrenze erreichten. Die Bäume streckten sich dünn, aber dicht zur Sonne. Ein grünes Deckengewölbe wie ein zweiter Himmel. Kein Auge, kein Flugzeug fand uns hier. Die Schwarzföhren waren gute Wachsoldaten.

Wir erreichten das Betriebsgelände. Ein hoher Zaun mit elektrischem Tor, daneben das gemauerte Pförtnerhaus. Nur eine kleine Plakette an einem der Torsäulen verriet, dass es sich um eine Fabrik der Gustloff-Werke handelte.

Mit seinem guten Arm klopfte Michael an die Scheibe des Pförtnerhauses. „Kruzifix, macht auf. Warum ist das Tor zu?“

Zwei SS-Männer traten aus der Stube. Michael salutierte eilig.

„Neue Sicherheitsbestimmungen! Zur Kenntnisnahme – Schutzmaßnahmen gegen Fliegerangriffe.“

Einer der beiden deutete auf ein Anschlagbrett, an dem zwei maschinengeschriebene Blatt Papier hingen. Michael trat näher. Beim Lesen bewegten sich seine Lippen.

Ich sah zu Ingeborg rüber. Sollten wir warten, sollten wir weiter? Die Schicht fing gleich an. Michael las fertig und nickte knapp. „Schon streng“, sagte er.

„Befehl aus Berlin“, antwortete der eine.

„Aber Sprechverbot?“, wunderte sich Michael, „wie soll das gehen bei den vielen Weibern?“

„Befehl aus Berlin“, wiederholte der andere Soldat und betätigte endlich den Hebel zum Öffnen des Tors. Es knirschte und die Metallschleuse ruckelte zur Seite.

Wir setzten uns in Bewegung. Dem weichen Waldboden war ein Pfad eingetrampelt, der sich zwischen den Bäumen durchschlängelte. Am Boden lagen duftende Nadeln auf grünem Moos. Die Natur empfing uns schweigend, nur die Büsche und das Unterholz raschelten.

Hier im Dickicht lag das Fabrikgelände, mitten im Gehölz. Zwischen den Kiefern und Föhren war es gut versteckt. Ein weites Gelände, das in mehrere Bereiche unterteilt war. Als hätte jemand eine große Fabrik auf den Lindenberg gebröselt. Zwischen manchen Gebäuden lagen einige Hundert Meter. Hier die Lagerung der Sprengstoffe, dort die Arbeitshallen, da drüben der Löschteich und ganz am Ende der Schießstand. Eine Schrägseilbahn verband uns mit dem Talwerk. Material und Komponenten wurden zu uns hochgeschickt und als fertige Patronen wanderten sie wieder runter.

Der Geruch von Zündstoffen, Metall und Schießpulver hing zwischen den Ästen. Aus den Lüftungsrohren im Boden drang Schweiß und warme verbrauchte Luft. Der Tag hatte gerade erst begonnen, aber die Fabrik war schon lange wach.

Vor uns teilte sich der Weg. Ingeborg sowie dreißig andere Frauen marschierten nach links, tiefer in den Wald hinein. Sie arbeiteten in der Laderei, mehr wusste ich nicht. Die Bäume versteckten die Produktionsstätten nicht nur vor feindlichen Blicken.

Am Eingang meiner neuen Arbeitshalle stand Anna-Maria, eine Frau mit wuchtigem Oberkörper und in die Seite gestemmten Fäusten. Als Vorarbeiterin unserer Schicht musste sie uns beim Eintreffen durchzählen.

„Nicht trödeln! Weiter, weiter“, forderte sie uns auf.

Eine nach der anderen zogen wir an ihr vorbei. Vera ging vor mir. Sie warf den Kopf zur Seite und grinste mir zu. Für sie war alles ein großes Abenteuer. Dann verschwand sie die Treppe hinab im Dunkeln. Was würde mich erwarten? Ich stieg die Stufen in die Erde hinein. Der Beton war bereits ein wenig eingelaufen, Hunderte Arbeiterfüße hatten ihn tagein, tagaus rund getreten. Die Baumkronen über mir verschwanden, wurden von der Stollendecke abgelöst. Ich atmete ein: metallener Dunst, der im Fels wartete.

„Auf geht’s“, hörte ich von oben Anna-Marias Stimme. „Packen wir’s an!“

Ich lächelte. Endlich war ich eine von ihnen. Eine Hirtenbergerin, eine Patronenfrau.

Horst

Das Telefon hing an der Wand, gleich neben dem Kühlschrank. Während Horst wartete, dass jemand abhob, wanderte sein Blick aus dem Fenster.

Draußen im Hof stand seine Tochter Dora. Mit beiden Händen hielt sie eine Axt umklammert und schlug auf ein Holzscheit ein. Sie spaltete es in zwei Späne, die sie einsammelte und auf den Haufen mit dem fertigen Brennholz warf. Sie prustete sich den schiefen Pony aus den Augen. Dora schnitt sich ihre Fransen selbst. So nannte sie ihre Frisur. Dabei saß sie im Schneidersitz vor dem einzigen Spiegel im Haus, mit der viel zu großen Schere, die Lippen in Konzentration zusammengepresst.

Horst ließ sie machen, was wusste er schon von Mädchensachen. Was wusste er schon von Dora, seinem eigenartigen Kind mit der großen Wut. Woher diese Wut kam, er wusste es nicht. Doch sie hielt an, sie ging nie weg. Sie war da, jeden Tag, verlässlich, ausdauernd und voller Kraft.

Dora hatte schlimme Ideen, Ideen wie Albträume: Ihre Schulaufsätze waren heftig und hart. Die Lehrerin hielt sie ihm mit besorgten Augen entgegen. Fragte er Dora danach, zuckte sie mit den Schultern.

„Das sind so Sachen, gräm dich nicht, Papa“, sagte sie.

Woher ein zwölfjähriges Kind das Wort grämen kannte, fragte er sich.

Es ginge um die Scheidung, interpretierte die Lehrerin. Um den Verlust der Mutter, insgesamt um die fehlende Frau im Haushalt. Großmutter gab es keine? Lebte sie noch …? Nein? Das war unglücklich, herzliches Beileid.

Horst wusste, dass die Fräuleins in Doras Schule seine Situation in ihren Köpfen mit tragischen Geschichten fortschrieben. Er ließ sie machen. Keine dieser Geschichten würde der Realität nahekommen. Seine Mutter war gestorben, bevor Dora auf die Welt gekommen war. Er bezweifelte, dass sie eine fürsorgliche Figur für seine Kleine gewesen wäre. Es hieß ja, dass manche Menschen zwar als Eltern wenig taugten, aber im zweiten Anlauf als Großeltern aufgingen. Aber seine Mutter eine Oma? Oma Doro? Das war völlig ausgeschlossen.

Die ungehemmte Fantasie in Doras Hausaufgaben beängstigte die Lehrerin weiterhin, aber Schulverwarnungen blieben aus. Am Ende gewann immer das Mitleid, für ihn, den Quasiwitwer mit der wilden Tochter, der nicht wieder geheiratet hatte. Das schien viele Menschen betroffen zu machen, ein Vater ohne Frau, aber mit einem Mädchen zu Hause. Als wäre das eine besonders ungünstige Konstellation. Ein besonders tragisches Schicksal, das er und Dora zu ertragen hatten.

 

Horst strich sich über den Schnurrbart, eine Angewohnheit.
Er wechselte den Hörer von der einen in die andere Hand. Draußen im Hof wütete Dora, er hörte sie nicht und spürte sie dennoch. Ein unsichtbares Band reichte von seinem Herzen zu ihr, egal wo sie war. Mit jedem Atemzug spürte er sie, immer zog sie an ihm, zerrte mit jedem Pulsschlag an seinem Innersten. Dora.

Es läutete zum vierten Mal.

Dora setzte wieder an. Um ihre Hüften hatte sie ein altes kariertes Hemd von ihm geschlungen, das bis auf den Boden hing. Die Füße in alten Turnschuhen, die Fersen in die Erde gegraben. Sie hob die Axt. Das Beil war halb so groß wie sie selbst und lag schwer in ihren Händen. Empört schwang sie es hoch, als empfände sie es als Beleidigung, es nicht leichthändig bedienen zu können. Die Klinge sauste nieder, das Holz zersplitterte, Dora schrie triumphierend auf. Genugtuung flackerte in ihren Augen.

Horst atmete aus. Endlich meldete sich jemand im Krankenhaus.

„Hallo?“, sagte er und brauchte ein, zwei Sekunden, um sich zu sammeln. „Wir brauchen einen Krankenwagen.“ Als er auflegte, fuhr er sich mit der Hand übers Kinn, es machte ein kratzendes Geräusch.

Was wusste er schon von diesem Kind? Was wusste er überhaupt?

Er klopfte ans Fenster. Dora sah hoch. Ihr Gesicht schmutzig und verschwitzt. Mit der Axt in der Hand winkte sie
ihm zu.

Horst öffnete das Fenster. „Ich muss ins Krankenhaus, der junge Luis hat sich verletzt. Willst du mit?“

Ihr Gesicht erstrahlte. „Kann ich die Axt mitnehmen?“

„Lieber nicht, Dora.“

„Wieso nicht?“

„Für was könntest du sie gebrauchen, gib mir ein Beispiel.“

Sie besah das Gerät in ihren Händen, wog es ab.

An was sie wohl dachte, fragte er sich.

„Sicherheitshalber“, sagte sie schließlich.

Horst machte eine hilflose Geste. Sicherheitshalber.

 

Es war eine ungünstige Zeit, um beinahe das Bein in einer Fuchsfalle zu verlieren, denn der eine Rettungswagen des Krankenhauses war gerade im Einsatz und der zweite war in Reparatur. Horst holte also Handtücher und legte sie so gut es ging unter Luis auf der Rückbank des Autos aus. Er zurrte ihn mit den drei Sicherheitsgurten fest, während Klara ihm über die Schulter schaute. Bei jeder Berührung der Wade zuckte der Bursche. Er schien ohne Bewusstsein. Dora zwängte sich zu ihm hinein, legte seinen Oberkörper auf ihren Schoß. Sie besah sich die Wunde und das getrocknete Blut. Klara nahm ihr wortlos die Axt ab und verstaute sie im Kofferraum. Horst setzte sich ans Steuer. Sie fuhren los.

„Wie heißt er noch mal?“, brüllte Dora nach vorne zu den Erwachsenen.

„Luis“, antwortete Klara.

„Luis schaut echt nicht gut aus“, sagte Dora. Sie legte ihm ihre Hände an die Wangen.

Außerhalb des Autos war alles voller Leben: das letzte große Grün des Sommers, der Himmel wie das Meer, das Horst noch nie gesehen hatte. Er vernahm Luis’ Stöhnen. Er meinte, auch ein Seufzen von Klara zu hören, das sich darunterschummelte. Horst trommelte mit den Fingerkuppen aufs Lenkrad. Er wusste, er musste nun etwas sagen. Vor seiner Tochter konnte er schweigen, aber nicht vor einer Großmutter. Entschlossen warf er einen Blick auf die alte Frau neben sich. Sie machte ihn nervös, wirkte seltsam entblößt in ihrem einfachen Hauskleid. Ihre langen weißen Haare passten gut zu all den Ähren, an denen sie vorbeifuhren.

„Alles wird gut“, sagte er. „Wir sind gleich da, keine Angst.“

Klara sah stoisch nach vorne. „Ich fürchte mich nicht.“

Horst nickte. Er glaubte ihr.

Die Windungen der Landstraße führten sie in der gemeinsamen Stille dem Krankenhaus entgegen. Während der kurzen Fahrt wachte Luis immer wieder auf. Er schnappte unter Schmerzen nach Atem, einmal schluchzte er, dann fiel er zurück in einen Erschöpfungsschlaf. Beim ersten Mal rief Dora: „Er lebt“, und es klang fröhlich, aber auch ein wenig überrascht.

Didi Drobna

Über Didi Drobna

Biografie

Didi Drobna wurde 1988 in Bratislava geboren und lebt seit 1991 in Wien. Sie studierte Kommunikationswissenschaft und Germanistik an der Universität Wien, außerdem Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst. Ihre literarische Arbeit wurde mit mehreren Stipendien und Literaturpreisen...

Didi Drobna über 'Was bei uns bleibt'

Im Zentrum Ihres neuen Romans steht Klara, die als junge Frau in Hirtenberg gearbeitet hat – in der größten Munitionsfabrik unter den Nazis: Wie haben Sie sich diesem Thema genähert?

Am Anfang von allem stand Klara – eine alte Frau, die auf ihr Leben zurückblickt. Eher zufällig kam mir die Idee, ihr eine Vergangenheit in der Patronenproduktion zu geben. Im Zuge der Recherchen dazu stieß ich auf Hirtenberg und war völlig erstaunt, dass ich noch nie von diesem Ort und dieser Fabrik, die zwei Weltkriege beliefert hatte, gehört habe. Dann fiel ich wie Alice im Wunderland ins Kaninchenloch: Ich recherchierte in verschiedenen Archiven, darunter auch dem der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Archiv der Hirtenberger Fabrik, sprach mit ZeitzeugInnen und las mich umfangreich zum Zweiten Weltkrieg ein und durchkämmte den Hirtenberger Wald nach den Überresten der zweiten Fabrik. Spätestens da wurde mir klar, dass ich hier auf ein Stück Geschichte gestoßen bin, das wie die Erinnerungen der dort arbeitenden und gefangenen Menschen bisher verschüttet geblieben ist. Und ich entschloss mich, diese Geschichte mit Hilfe von Klara zu erzählen.

 

In der Fabrik haben fast nur Frauen gearbeitet, sowohl die Arbeiterinnen als auch die Aufseherinnen, selbst die Lagerinsassen waren ausschließlich Frauen. Man macht sich nicht oft klar, dass in bestimmten Feldern vor allem Frauen Protagonistinnen des Kriegs waren…

Denkt man an den Krieg fallen einem immer sofort die Männer ein: Soldaten, Piloten, Befehlshaber, Politiker. Im Zweiten Weltkrieg zogen viele Männer an die Front und zurück blieben die Frauen, die das Land am Laufen hielten. Auch in der Rüstungsindustrie waren zahlreiche Mädchen und Frauen beschäftigt und halfen Kampfjets, Bomben, Panzer und natürlich Waffen und Munition zu produzieren. Hirtenberg war da nicht anders. Besonders interessant ist aber, dass das Konzentrationslager ein reines Frauenlager war – das war selten. Im Hirtenberger Lager waren rund 400 Frauen aus dem Ostblock gefangen, die von SS-Frauen beaufsichtigt wurden. Die Geschichtsschreibung – besonders der beiden Weltkriege – ist sehr von der männlichen Perspektive geprägt. Insofern finde ich die weibliche Perspektive interessant, weil die Geschichten dieser Frauen, egal ob Arbeiterinnen, Aufseherinnen oder Gefangene, bisher viel zu selten Gehör gefunden hat.
Auch deshalb ist Hirtenberg besonders.

 

Erst sehr spät in ihrem Leben erzählt Klara von den Erfahrungen, die sie als junge Frau gemacht hat. Wie wichtig war es für Sie, das Erzählen als Erinnerung zu nutzen. Und war das auch ein Antrieb, den Roman zu schreiben?

Die Erinnerung ist zentral. Ich denke, dass das Erinnern für jeden einzelnen Menschen von großer Bedeutung ist: Wer bin ich? Woher komme ich? Was wurde mir mitgegeben? Aber es ist auch für uns als Gemeinschaft wichtig: Was haben wir geschafft? Wo wollen wir hin? Was mussten wir dafür überkommen? In unseren Erinnerungen ist auch unser Menschsein kodiert. Und daher ist für mich das Erinnern und das Erzählen untrennbar miteinander verknüpft.

 

Anfangs ist Klara sehr stolz auf das, was sie in Hirtenberg leistet. Doch je älter sie wird, desto schwerer wiegen die Schuldgefühle. Ist es diese emotionale Lage, die sie dazu gebracht hat, ein Leben lang zu schweigen?

Ich glaube, dass einige Menschen mit der Zeit oder im Alter von Schuldgefühlen oder Reue eingeholt werden können. Es gibt doch immer etwas zu bereuen, Dinge die man getan oder eben nicht getan hat. Das können kleine oder große Dinge sein. Nicht immer muss es sich dabei um etwas Schlechtes handeln. Aber ich kann mir vorstellen, dass besonders große Lebensthemen und Geheimnisse am Ende stark hochkochen können – so wie sie es im Roman bei Klara tun. Wenn es um den Zweiten Weltkrieg geht, gab es eine ganze Generation, die ihre Erfahrungen, egal ob gut oder schlecht, zu einem großen Grad verschwiegen hat. Manche konnten nicht darüber sprechen und manche wollten es auch nicht. Für die nachkommenden Generationen ist es aber unglaublich wichtig, von diesen Erfahrungen zu lernen und diese Geschichten zu hören.

 

Letztlich sind auch die Leben der anderen Figuren – Luis, Horst und Dora – stark von der Vergangenheit geprägt – war Ihnen das vor dem Schreiben klar oder ist erst bei der Recherche klargeworden, wie sehr die Traumata dieser Zeit bis in unsere Gegenwart hineinreichen?

Ich habe einmal den Satz gelesen, dass in Europa jede Familie auf die eine oder andere Art vom Zweiten Weltkrieg berührt ist. Ich konnte mir das lange nicht wirklich vorstellen. Im Zuge meiner intensiven Recherchen stieß ich aber bei jedem Schritt auf Biografien, Informationen und Anknüpfungspunkte, die mir das Gegenteil bewiesen. Es schien mir, als würde ich plötzlich ein feines Netz um mich erkennen, das mir bis dahin verborgen geblieben war, welches aber immer dagewesen ist und alles miteinander verbunden hat. Natürlich fand ich auch in den Biografien meiner eigenen Familie den Zweiten Weltkrieg und seine Auswirkungen wieder. Da kommen wieder die Erinnerungen ins Spiel – sie sind da, oft aber verschüttet oder (halb) vergessen. Und so wurde mir beim Schreiben klar, dass es bei Luis, Horst und Dora nicht anders sein kann. Wir alle sind davon berührt, es hat bei uns allen Spuren hinterlassen. Dem wollte ich nachgehen.

Pressestimmen
Salzburger Nachrichten (A)

„Ihr dritter und vorläufig bester (Roman)“

Wiener Zeitung (A)

„›Was bei uns bleibt‹ ist ein historisch präzise recherchierter Roman, fern von Schuldzuweisungen oder Vorverurteilungen und vielleicht gerade deshalb berührend. Dass Didi Drobna am Ende des Buches leise Anklänge einer versöhnlichen Aussprache ihrer Protagonisten in Aussicht stellt, passt zu deren Lebensphilosophie, wonach allein schon ›die Abwesenheit von Unglück ein Glück an sich ist‹.“

Podcast „Litrophon“ (A)

„Auch wenn der Alltag zu jener Zeit heute nur noch schwer vorstellbar ist, schafft es die Autorin, ein detailreich recherchiertes, differenziertes Bild zu vermitteln, das die Lebensumstände der Frauen anschaulich darstellt.“

Falter Podcast „Besser lesen mit dem FALTER“ (A)

„›Was bei uns bleibt‹ ist keine bitterböse Abrechnung mit diesen NS-Mitläuferinnen, sondern es ist ein zutiefst menschliches Porträt dieser alten Frau, die ihre Geschichte dann an ihren Enkel weitergibt.“

Ö1 „Ex libris“ (A)

„In präziser Sprache und mit lebendigen Dialogen gestaltet Didi Drobna sehr einprägsam die Atmosphäre von Orten und die Vielschichtigkeit ihrer Charaktere... Wer wie Didi Drobna so differenziert mit Skepsis, großer Empathie auch Respekt auf Lebensgeschichten und Zeitläufte blicken kann, der schenkt den Figuren trotz all ihrer Beschädigungen eine Zukunft.“

The Gap (A)

„Es ist ein gelungenes Erinnerungsstück, das fiktive Familiengeschichte und historische Perspektive elegant in Balance hält und für das Didi Drobna exakt recherchiert hat.“

Falter (A)

„In Didi Drobnas Roman ›Was bei uns bleibt‹ wirken die Traumata der Nazi-Zeit bis in die Enkelgeneration fort.“

Golden Roof (A)

„Die Aufarbeitung der Geschichte ist schmerzhaft, auch für den Leser gibt es Szenen, die sich einbrennen. Die zwei Zeitebenen fließen wundervoll ineinander, niemand schafft so gute Übergänge wie Drobna.“

Brigitte

„Wie der Krieg seine Schatten über Generationen wirft, schildert Didi Drobna in diesem faszinierenden Roman über ein fast vergessenes Kapitel.“

Passauer Neue Presse

„Berührender Roman über Freundschaft und die schicksalhaften letzten Tage des Zweiten Weltkriegs.“

Oberösterreichisches Volksblatt (A)

„Drobna fördert ein verschüttetes Stück österreichischer Geschichte zutage.“

Radio Mülheim

„Ein berührender Generationenroman über Freundschaft, Verschweigen und Erinnern.“

Emotion

„Drobnas unaufgeregter Ton macht diese sehr menschliche Geschichte noch intensiver.“

APA Austria Presse Agentur (A)

„Trotz der geschilderten Verhältnisse der emotional verarmten Familien findet die Autorin einen versöhnlichen Ton und bringt viel Verständnis und Mitgefühl für ihre Hauptfiguren auf. ›Was bei uns bleibt‹ leistet einen Beitrag zur Aufarbeitung dieses Teils der österreichischen Geschichte. Schon darum sollte man das Buch gelesen haben.“

Die Presse am Sonntag (A)

„Sie wollte den Krieg aus der weiblichen Perspektive schildern. Hirtenberg passte da in mehrerer Hinsicht: Es gab fast nur Arbeiterinnen, die KZ-Insassen waren alle Frauen, ebenso die Aufseherinnen. Dieser historische Teil des Romans ist ausgezeichnet gelungen.“

Deutschlandfunk „Büchermarkt“

„Sie schreibt, sorgfältig recherchiert, an den historischen Tatsachen entlang und stellt die Menschen, die jene Zeit erlebten, ausgesprochen differenziert dar. Mit ihrer fiktiven Erzählerin Klara als Augenzeugin gelingt es der Autorin, die Ereignisse in all ihrer Brutalität anschaulich darzustellen.“

literaturhaus.at (A)

„In ›Was uns bleibt‹ bringt sie nicht, wie viele Autorinnen mit Migrationshintergrund, neue Milieus und Orte in die österreichische Literatur ein, sondern erzählt ein Stück österreichischer Zeitgeschichte, das bisher noch kaum bearbeitet wurde.“

ORF 2 „ZiB“

„Mit ihrem Roman entreißt Didi Drobna dieses unaufgearbeitete Stück Zeitgeschichte dem Vergessen.“

Der Standard (A)

„Was man über die ehemalige Patronenfabrik Hirtenberg nicht erfährt, erzählt Didi Drobnas Roman ›Was bei uns bleibt‹.“

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