Simone de Beauvoir Simone de Beauvoir - eBook-Ausgabe
Ein modernes Leben
— Die erste umfassende Biografie über die große PhilosophinSimone de Beauvoir — Inhalt
„Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht“ SIMONE DE BEAUVOIR
Simone de Beauvoir war eine der einflussreichsten Intellektuellen des zwanzigsten Jahrhunderts. Ihr Buch „Das andere Geschlecht“ hat die Art und Weise, wie wir über Geschlechtergrenzen denken, für immer verändert. Dennoch wurde ihr Leben weitgehend falsch dargestellt und zutiefst missverstanden. Kate Kirkpatrick greift auf bisher unveröffentlichte Tagebücher und Briefe zurück, und gibt einen spannenden Einblick in Beauvoirs Beziehungen, ihre Philosophie der Freiheit und der Liebe und ihr Ringen darum, sie selbst werden zu dürfen.
Leseprobe zu „Simone de Beauvoir“
Einleitung: Simone de Beauvoir – Wer ist sie?
Eines Tages im Jahr 1927 hatte Simone de Beauvoir eine Auseinandersetzung mit ihrem Vater über die Bedeutung der Liebe. In einer Zeit, in der Frauen in erster Linie Ehe und Mutterschaft anstreben sollten, las die neunzehnjährige Simone philosophische Werke und träumte davon, eine Philosophie zu entdecken, nach der sie leben konnte. Für ihren Vater bedeutete „lieben“ „Dienstleistungen erbringen, Zuneigung, Dankbarkeit“. Sie war anderer Ansicht und widersprach verwundert, dass Liebe mehr bedeutete als [...]
Einleitung: Simone de Beauvoir – Wer ist sie?
Eines Tages im Jahr 1927 hatte Simone de Beauvoir eine Auseinandersetzung mit ihrem Vater über die Bedeutung der Liebe. In einer Zeit, in der Frauen in erster Linie Ehe und Mutterschaft anstreben sollten, las die neunzehnjährige Simone philosophische Werke und träumte davon, eine Philosophie zu entdecken, nach der sie leben konnte. Für ihren Vater bedeutete „lieben“ „Dienstleistungen erbringen, Zuneigung, Dankbarkeit“. Sie war anderer Ansicht und widersprach verwundert, dass Liebe mehr bedeutete als Dankbarkeit – nichts, was wir einer Person schulden, weil sie etwas für uns getan hat. „So viele Menschen“, schrieb Beauvoir am folgenden Tag in ihr Tagebuch, „haben die Liebe nie gekannt!“
Diese Neunzehnjährige wusste nicht, dass sie eine der berühmtesten intellektuellen Frauen des 20. Jahrhunderts werden würde, dass ihr Leben ausführlich beschrieben und gelesen werden würde. Allein ihre Briefe und ihre Autobiografie würden über eine Million Worte umfassen, und sie würde philosophische Essays, preisgekrönte Romane, Kurzgeschichten, ein Theaterstück, Reiseberichte, politische Essays und journalistische Arbeiten veröffentlichen – ganz zu schweigen von ihrem Opus magnum Das andere Geschlecht, das als „feministische Bibel“ gepriesen wurde. Sie würde Mitbegründerin politischer Zeitschriften werden, erfolgreiche Kampagnen für neue Gesetze führen, gegen die unmenschliche Behandlung von Algerier*innen protestieren, in der ganzen Welt Vorträge halten und Regierungskommissionen leiten.
Simone de Beauvoir würde auch zu einer der berühmt-berüchtigtsten Frauen des 20. Jahrhunderts werden. Mit Jean-Paul Sartre bildete sie ein streitbares intellektuelles Powerpaar. Und leider bestand die öffentliche Wahrnehmung fast das gesamte 20. Jahrhundert über darin, dass er die intellektuelle Power lieferte und sie das Paar. Als Beauvoir 1986 in Paris starb, überschrieb Le Monde ihren Nachruf auf sie und ihre Arbeit mit den Worten „Mehr Popularisierung als Kreation“. Angesichts der vorhandenen Biografien sei es „durchaus verständlich“, schrieb Toril Moi 1994, „wenn man bei deren Lektüre zu dem Schluss kommt, die Bedeutung von Simone de Beauvoir sei weitgehend auf ihre relativ unkonventionelle Beziehung zu Sartre und ihre anderen Geliebten zurückzuführen“.
In den letzten Jahrzehnten ist eine Vielzahl von Enthüllungen über Beauvoir an die Öffentlichkeit gedrungen, zur Überraschung ihrer Leser*innen, die sie zu kennen meinten. Ironischerweise haben aber auch sie Beauvoir als Denkerin in den Hintergrund gerückt, indem sie die Illusion aufrechterhielten, ihr Liebesleben sei das Interessanteste an ihr gewesen. Dabei war es letztendlich ihre Philosophie, die sie dazu brachte, ihr Leben, so, wie sie es führte, zu leben und immer wieder zu überdenken und neu zu bewerten. In ihren Worten: „Es gibt keine Trennung zwischen Philosophie und Leben. Jeder lebendige Schritt ist eine philosophische Entscheidung.“
Wenn die öffentliche Figur Simone de Beauvoir zur Feder griff, schrieb sie nicht nur für sich selbst, sondern für ihre Leser*innen. Ihre Bestseller-Autobiografien wurden als Werke beschrieben, die den philosophischen Ehrgeiz verkörperten, zu zeigen, „wie das Ich stets durch andere geformt wird und mit anderen in Verbindung steht“. Aber Beauvoir wollte mehr sagen als John Donne, der behauptete: „Niemand ist eine Insel.“ Denn neben der Beziehung zu anderen leben Beauvoirs Autobiografien von der Überzeugung, dass ein Ich zu sein, nicht bedeutet, dass dieses Ich von der Geburt bis zum Tod unverändert bleibt. Ein Ich zu sein bedeutet einen nie endenden Austausch mit anderen, die sich ebenfalls in einem Prozess unumkehrbaren Werdens wandeln.
Seit Platon haben sich Philosoph*innen mit der Bedeutung der Selbsterkenntnis auseinandergesetzt, die zu einem guten Leben führt. Sokrates forderte „Erkenne dich selbst!“, um Weisheit zu erlangen; „Werde, der du bist!“ sei die Aufgabe eines jeden Menschen, schrieb Nietzsche. Doch Beauvoirs philosophische Erwiderung lautete: Was, wenn „der du bist“ für eine Frau verboten ist? Was, wenn du selbst zu werden so angesehen wird, als scheiterst du, das zu werden, was du sein solltest – ein Scheitern als Frau, als Liebende, als Mutter? Was, wenn du selbst zu werden dich zur Zielscheibe von Gespött, Bosheit und Scham macht?
Beauvoirs Jahrhundert brachte den Frauen seismische Veränderungen. Während ihrer Lebenszeit (1908 – 1986) wurden Frauen gleichberechtigt mit Männern zur Universität zugelassen und eroberten sich das Wahlrecht, die Scheidung und die Empfängnisverhütung. Beauvoir durchlebte die Bohemeblüte des Paris der Dreißiger- und die sexuelle Revolution der Sechzigerjahre. Zwischen diesen kulturellen Wendepunkten markierte Das andere Geschlecht einen revolutionären Moment, an dem Frauen in der Öffentlichkeit offen über sich selbst nachzudenken und schließlich zu sprechen begannen. Beauvoirs philosophische Bildung war für ihre Generation beispiellos, und doch war sie, als sie sich mit Ende dreißig die Frage stellte, „Was hat es für mich bedeutet, eine Frau zu sein?“, schockiert über das, was sie entdeckte.
In einem Jahrhundert, in dem „Feminismus“ viele verschiedene Bedeutungen bekam, schrieb sie Das andere Geschlecht, weil sie irritiert war über die „Bände an Idiotie“, die reihenweise über Frauen produziert wurden, ermüdet von der Tinte, die in die „Debatte über den Feminismus“ floss. Doch als Beauvoir ihre heute berühmte Zeile schrieb – „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“ –, wusste sie nicht, wie sehr dieses Buch den Rest ihres Lebens und das Leben einiger anderer, die nach ihr kamen, beeinflussen würde.
Viel Tinte wurde über die Bedeutung dieses Satzes verbraucht, über die Bedeutung dessen, was es heißt, eine Frau zu „werden“. Dieses Buch widmet sich der Frage, wie Beauvoir sie selbst wurde. Im Alter von achtzehn Jahren schrieb Beauvoir, sie habe erkannt, dass es unmöglich sei, ihr Leben „ordentlich zu Papier zu bringen“, weil es sich im Zustand beständigen Werdens befand; wenn sie las, was sie am Vortag in ihr Tagebuch geschrieben hatte, kam es ihr vor, als lese sie über „Mumien toter Ichs“. Sie war eine Philosophin, die zur Reflexion neigte und die Werte ihrer Gesellschaft und die Bedeutung ihres Lebens unablässig hinterfragte.
Wegen der Rolle, die Beauvoir dem Vorüberziehen der Zeit in der Erfahrung, Mensch zu sein, zuschrieb, folgt diese Biografie der Chronologie ihres Lebens. Als sie älter wurde, sagte sie, die Welt verändere sich ebenso wie ihre Beziehung zu ihr. Als Beauvoir ihr Leben aufschrieb, um es andere lesen zu lassen, wollte sie „die Wandlungen, die Reifeprozesse, den unaufhaltsamen Verfall meiner selbst und anderer“ aufzeigen. Weil das Leben sich über die Jahre entfaltet, wollte sie „den Faden meiner Geschichte dort wieder aufnehmen, wo ich ihn habe fallen lassen“. Darin ähnelte sie der jungen Frau, die sie einst war, der jugendlichen Leserin von Henri Bergsons Philosophie. Das Ich ist keine Sache, schrieb Bergson – es ist „Fortschreiten“, eine „lebendige Aktivität“, ein Werden, das sich immer weiter verändert, bis es seine Grenze im Tod findet.
Die Frau, die Beauvoir wurde, war zum Teil das Ergebnis ihrer eigenen Entscheidungen. Doch Beauvoir war sich der Spannung zwischen ihrem eigenen Ich und dem Ich als Produkt dessen, was andere aus ihm machten, überaus bewusst, des Konflikts zwischen ihren eigenen Wünschen und den Erwartungen anderer. Jahrhundertelang hatten französische Philosophen die Frage diskutiert, ob es besser sei, ein von anderen gesehenes oder ein unsichtbares Leben zu führen. Descartes behauptete (mit Ovids Worten): „Gut hat gelebt, wer sich gut verborgen hat“. Sartre würde ganze Bände über den objektivierenden „Blick“ anderer schreiben – der uns seiner Meinung nach in Beziehungen der Unterordnung einsperrt. Beauvoir war anderer Meinung: Um gut zu leben, müssen Menschen von anderen gesehen werden – sie müssen jedoch richtig gesehen werden.
Das Problem ist, dass das richtige Sehen davon abhängt, wer sieht und wann. Stellen Sie sich vor, Sie sind eine Frau Anfang fünfzig und haben sich kürzlich dazu entschieden, Ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. Sie beginnen mit Ihren Mädchenjahren und Ihrer Jugend, Ihrer Entwicklung zur Frau, und veröffentlichen rasch hintereinander zwei erfolgreiche Bände. Darin beschreiben Sie zwei Unterhaltungen, die Sie im Alter von einundzwanzig Jahren mit einem heute berühmten Mann geführt haben, der einmal Ihr Geliebter war. Auch Sie sind gut ausgebildet und international bekannt. Aber wir befinden uns in den späten 1950ern, und das Schreiben von Autobiografien von Frauen hat noch nicht den Wendepunkt des 20. Jahrhunderts erreicht, an dem sie begannen, öffentlich zu bekennen, dass sie Ambitionen hatten und Wut empfanden, geschweige denn, dass sie rekordverdächtige intellektuelle Leistungen erbrachten oder über einen sexuellen Appetit verfügten, den auch ein sehr berühmter Mann enttäuschen konnte. Stellen Sie sich vor, dass Ihre Geschichten legendär werden – so legendär, dass sie zu einer Linse werden, durch die die Leute Ihr gesamtes Leben lesen, obwohl es sich nur um Momentaufnahmen handelte.
Beauvoirs öffentliche Person wurde – bis zur völligen Verzerrung – durch zwei solche in ihren Memoiren erzählte Geschichten geprägt. Die erste führt uns im Oktober 1929 nach Paris, wo zwei Philosophiestudierende vor dem Louvre saßen und ihre Beziehung definierten. Sie hatten eben in einer extrem anspruchsvollen und prestigereichen nationalen Prüfung den ersten und den zweiten Platz erreicht (Sartre den ersten, Beauvoir den zweiten) und waren dabei, ihre Karriere als Philosophielehrende in Angriff zu nehmen. Jean-Paul Sartre war vierundzwanzig, Beauvoir einundzwanzig. Sartre wünschte sich keine konventionelle Treue (so lautet die Erzählung), weshalb sie einen „Pakt“ schlossen, nach dem sie jeweils füreinander die „notwendige Liebe“ sein, einander aber jeweils „kontingente Lieben“, Zufallslieben, zugestehen würden. Sie wollten eine offene Beziehung führen, wobei sie einander jeweils den ersten Platz in ihrem Herzen vorbehielten. Sie würden sich alles erzählen, versprachen sie einander, und am Anfang sollte ein „Zweijahresvertrag“ stehen. Dieses Paar würde, wie die Sartre-Biografin Annie Cohen-Solal es ausdrückte, „ein alternatives Modell“ werden, „einen Traum dauerhafter Komplizenschaft, einen unglaublichen Erfolg darstellen, da ihm offenbar die Vereinbarung von Unvereinbarem gelungen ist: Beide Partner blieben frei, gleichberechtigt und das ohne jede Lüge.“
Ihr polyamouröser „Pakt“ löste solche Neugierde aus, dass sowohl über ihre Beziehung als auch über ihr jeweiliges Leben Bücher geschrieben wurden; sie bekamen ein ganzes Kapitel in Wie die Franzosen die Liebe erfanden und wurden in Schlagzeilen „das erste moderne Paar“ genannt. In Carlo Levis Augen schrieb Beauvoir mit In den besten Jahren „die große Liebesgeschichte des Jahrhunderts“. In ihrem 2005 veröffentlichten Buch über Beauvoirs und Sartres Beziehung schrieb Hazel Rowley: „Wie Abälard und Héloïse ruhen sie in einem Grab. So sind ihre Namen in Ewigkeit miteinander verbunden. Sie gehören zu den legendären Paaren dieser Welt. Der eine ist nicht denkbar ohne die andere, und umgekehrt: Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre.“
In mancher Hinsicht gibt es dieses Buch, weil es tatsächlich schwierig ist, die beiden ohne einander zu denken. Nachdem ich einige Jahre über Sartres frühe Philosophie gearbeitet hatte, wurde ich immer misstrauischer angesichts des asymmetrischen Maßstabs, der an das jeweilige Leben von Beauvoir und Sartre angelegt wurde. Warum sprach jeder Nachruf von Sartre, als sie starb, während manche Nachrufe nach Sartres Ableben sie überhaupt nicht erwähnten?
Während eines Großteils des 20. und selbst noch des 21. Jahrhunderts wurde an Beauvoir nicht als eigenständige Philosophin erinnert. Teilweise ist dies einer zweiten signifikanten Geschichte geschuldet, die Beauvoir selbst erzählte. Anfang 1929, ebenfalls in Paris in der Nähe des Medici-Brunnens im Jardin du Luxembourg, beschloss Beauvoir Sartre in ihre eigenen Gedanken einzuweihen: in die „pluralistische Moral“, die sie sich zurechtgelegt hatte – doch Sartre „zerpflückte sie“, und plötzlich war sie sich „dessen, was ich denke, nicht mehr sicher“. Es besteht kein Zweifel, dass sie einer der Stars unter den Philosophiestudierenden in einer schillernden, brillanten Ära war; in jenem Sommer würde sie – im Alter von einundzwanzig Jahren – die jüngste Person sein, die jemals die außerordentlich anspruchsvolle Zulassungsprüfung für das höhere Lehramt bestand, die Agrégation. Ebenso wie Sartre suchte sich der angehende Philosoph Maurice Merleau-Ponty derart, dass er jahrzehntelang mit ihr persönlich und schriftlich in Verbindung blieb. Doch selbst später in ihrem Leben würde Beauvoir darauf bestehen „keine Philosophin“ zu sein. Sie sei eine „Literatin“, behauptete sie, und „Sartre ist der Philosoph“.
Diese Unterhaltung am Medici-Brunnen ließ spätere Generationen fragen: War es möglich, dass Beauvoir – die Frau, die Das andere Geschlecht schrieb – ihre eigenen Fähigkeiten unterschätzte oder irreführend abschwächte? Warum sollte sie das tun? Beauvoir war eine herausragende Gestalt: Viele ihrer Leistungen waren beispiellos und bahnten den Weg für künftige Frauen. In feministischen Kreisen wurde sie als ein beispielgebendes Ideal gefeiert. „Eine Frau, die mit ihrem Weggefährten unverheiratet, in getrennter Wohnung und in ›freier Liebe‹ lebte – und begehrenswert war. […] Kurzum: eine ganz und gar unerhörte Erscheinung! Ein ›role model‹, wie man heute sagen würde, der allerersten Güte.“ Doch eine ihrer zentralen Behauptungen in Das andere Geschlecht ist, dass keine Frau jemals ihr Leben „frei von Konventionen und Vorurteilen“ gelebt habe. Bestimmt nicht Beauvoir. Und diese Biografie erzählt, wie sie auf vielfältige Weise darunter litt – und wie sie sich wehrte.
Beauvoirs aufmerksame Leser*innen hatten immer schon den Verdacht, dass sie das Bild von sich in ihrer Autobiografie bearbeitet hatte, nur wie und warum sie das tat, blieb unklar. Schließlich zeigte die Geschichte des Paktes eine Frau, die sich dafür einsetzte, die Wahrheit zu sagen, und die Autorin von Das andere Geschlecht wollte Licht in die Realität der Lebenssituation von Frauen bringen. Machte ihr Wille zum prüfenden Blick vor sich selbst halt? Und wenn nicht, warum sollte sie wesentliche Teile ihres Lebens – intellektuelle und persönliche – vor der Öffentlichkeit verbergen wollen? Und warum ist es wichtig, die Art, wie man sich heute an ihr Leben erinnert, zu überdenken?
Die erste Antwort auf diese Fragen – es sind zwei – lautet, dass wir Zugang zu neuem Material haben. Beauvoirs Autobiografien wurden zwischen 1958 und 1972 in vier Bänden veröffentlicht. Im Laufe ihres Lebens schrieb sie viele andere Werke, die autobiografisches Material enthielten, einschließlich zwei Chroniken über ihre Reisen nach Amerika (1948) und China (1957) sowie zwei Memoiren über den Tod ihrer Mutter (1964) und Sartres (1981). Außerdem veröffentlichte sie eine Auswahl von Sartres an sie gerichteter Briefe (1983).
Zu ihren Lebzeiten dachten manche aus dem Kreis, der sich um Sartre und Beauvoir gebildet hatte – patronymisch als „die Sartre-Familie“ (la famille Sartre) oder einfacher als „die Familie“ bekannt –, sie würden verstehen, was Beauvoir mit dem autobiografischen Projekt bezweckte: Sie wollte die Kontrolle über ihr öffentliches Bild übernehmen. Viele vermuteten, dass sie es aus Eifersucht tat, weil sie als die Erste in Sartres Liebesleben erinnert werden wollte, als seine „notwendige Liebe“.
Doch in den Jahrzehnten seit Beauvoirs Tod 1986 wurden neue Tagebücher und Briefe veröffentlicht, die Zweifel an dieser Annahme aufkommen lassen. Nachdem Beauvoir Sartres an sie gerichtete Briefe 1983 veröffentlichte, verlor sie einige Freund*innen, als Details dere Beziehungen an die Öffentlichkeit drangen. Und als ihr Kriegstagebuch und ihre Briefe an Sartre nach ihrem Tod 1990 publiziert wurden, waren viele schockiert, dass sie nicht nur lesbische Beziehungen hatte, sondern dass die Frauen, mit denen sie sie hatte, ehemalige Studentinnen waren. Ihre Briefe an Sartre legten auch den philosophischen Charakter ihrer Freundschaft und ihren Einfluss auf sein Werk offen – aber darauf wurde selten eingegangen.
Dann kamen 1997 ihre Briefe an ihren amerikanischen Geliebten Nelson Algren, und wieder sah die Öffentlichkeit eine Beauvoir, wie sie sie niemals erwartet hätte: eine zärtliche, empfindsame Simone, die an Algren leidenschaftlichere Worte schrieb als je an Sartre. Weniger als ein Jahrzehnt später, 2004, wurde ihre Korrespondenz mit Jacques-Laurent Bost auf Französisch veröffentlicht, die bewies, dass Beauvoir innerhalb der ersten zehn Jahre ihres Pakts mit Sartre eine leidenschaftliche Affäre mit einem Mann hatte, mit dem sie bis zu ihrem Tod verbunden blieb. Das war ein weiterer Schock und verdrängte Sartre vom romantischen Mittelpunkt, den er in der öffentlichen Fantasie einnahm. Sartre kämpfte darum, Beauvoirs zentrale Stellung in seinem intellektuellen Leben deutlich zu machen, indem er ihren spürbaren kritischen Einfluss auf sein Werk öffentlich betonte. Doch eine Bewertung von Beauvoirs Leben scheint eine gewaltsame Vertreibung Sartres aus dem Zentrum zu erfordern.
In den letzten zehn Jahren wurden weitere neue Schriften und Dokumente veröffentlicht, die Beauvoir in noch deutlicherem Licht zeigen. Beauvoirs Tagebücher aus ihrer Studienzeit – die die Entwicklung ihrer Philosophie vor ihrer Begegnung mit Sartre und ihre ersten Eindrücke von dieser Beziehung aufzeigen – legen offen, dass sich das Leben, das sie führte, stark von dem unterschied, worüber sie der Öffentlichkeit berichtete. Obwohl ihre Tagebücher 2008 auf Französisch erschienen, sind sie weder auf Deutsch noch auf Englisch zur Gänze erhältlich, weshalb diese Phase ihres Lebens außerhalb wissenschaftlicher Zirkel wenig bekannt ist. 2018 wurde weiteres neues Material für die Forschung zugänglich, einschließlich der Briefe, die Beauvoir ihrem einzigen Geliebten schrieb, mit dem sie je zusammenlebte und den sie in der vertrauten zweiten Person ansprach, tu: Claude Lanzmann. Im selben Jahr wurde in Frankreich eine renommierte zweibändige Ausgabe von Beauvoirs Memoiren in der Pléiade-Edition des Verlags Gallimard veröffentlicht, komplett mit Auszügen aus unveröffentlichten Tagebüchern und Arbeitsnotizen zu ihren Manuskripten. Zusätzlich zu diesen Veröffentlichungen auf Französisch haben die Beauvoir-Research-Series in den letzten Jahren viele von Beauvoirs frühen Schriften veröffentlicht, von philosophischen Essays über Ethik und Politik bis zu ihren Artikeln für Vogue und Harper’s Bazaar.
Dieses neue Material zeigt, dass Beauvoir in ihren Memoiren vieles wegließ – es veranschaulicht aber auch einen der Gründe für diese Auslassungen. Im mediengesättigten Internetzeitalter ist es schwer vorstellbar, wie sehr die Veröffentlichung von Beauvoirs Autobiografie den zeitgenössischen Vorstellungen von Privatheit zuwiderlief. Ihre vier Bände (oder sechs, wenn man die Memoiren über den Tod ihrer Mutter und Sartres dazuzählt) erzeugten bei ihren Leser*innen ein Gefühl intimer Vertrautheit. Doch Beauvoir versprach nicht, alles zu erzählen: Ja, sie sagte ihren Leser*innen, dass sie bewusst einige Dinge im Dunkeln gelassen habe.
Doch das jüngst veröffentlichte Material – ihre Tagebücher und unveröffentlichten Briefe an Claude Lanzmann – zeigt, dass es nicht nur Geliebte waren, die sie im Dunkeln gelassen hatte, sondern auch die frühe Genese ihrer Liebesphilosophie und den Einfluss ihrer Philosophie auf Sartre. Ihr Leben lang war sie von Leuten geplagt worden, die ihre Fähigkeiten oder ihre Originalität infrage stellten – manche unterstellten sogar, Sartre habe ihre Bücher geschrieben. Selbst ihrem „Mammutbauwerk“ Das andere Geschlecht wurde vorgeworfen, sich auf „zwei dünne Postulate“ zu stützen, die Beauvoir Sartres Das Sein und das Nichts entnommen hatte; ihr wurde vorgeworfen, sich auf Sartres Werke „wie auf einen heiligen Text“ zu beziehen. In manchen ihrer Schriften verurteilt sie explizit diese Herabsetzungen als falsch. Doch sie setzten ihr im Leben ebenso zu wie im Tod: Ein Nachruf erklärte sie herablassend als „unfähig, etwas zu erfinden“.
Es mag heutige Leser*innen überraschen zu erfahren, dass dieser Frau mangelnde Eigenständigkeit im Denken vorgeworfen wurde. Doch war das (und ist es leider immer noch) etwas, das Schriftstellerinnen häufig erlebten – und oft auch von ihnen selbst verinnerlicht wurde. Beauvoir hatte sehr wohl ihre eigenen Ideen, manche von ihnen ähnelten jenen, für die Sartre berühmt wurde; ein Jahr lang veröffentlichte sie unter seiner Verfasserzeile, weil er beschäftigt war, und niemand bemerkte es. Sartre räumte ein, dass es ihre Idee war, seinen ersten Roman Der Ekel zu einem Roman anstatt zu einer abstrakten philosophischen Abhandlung zu machen, und dass sie eine strenge Kritikerin war, die seine Manuskripte während seiner langen Karriere vor der Veröffentlichung mit ihren Einsichten verbesserte. In den Vierziger- und Fünfzigerjahren schrieb und veröffentlichte sie ihre eigene Philosophie, kritisierte Sartre und brachte ihn schließlich dazu, seine Meinung zu ändern. In ihrer späteren Autobiografie verteidigte sie sich gegen Angriffe gegen ihre Fähigkeiten und beanspruchte ohne Umschweife, dass sie vor ihrer Begegnung mit Sartre (der dann das Buch Das Sein und das Nichts schrieb) ihre eigene Philosophie des Seins und Nichts entwickelt hatte und nicht zu denselben Schlüssen gekommen war wie er. Doch dieser Anspruch auf ihre Unabhängigkeit und Originalität wurde zumeist übersehen, ebenso wie manche Dinge, die man „sartrisch“ nannte, die aber in Wirklichkeit nicht von Sartre stammten.
Das führt mich zu meiner zweiten Frage, warum wir Beauvoirs Leben jetzt neu bewerten sollten. Eine Biografie kann offenlegen, was einer Gesellschaft wichtig, was ihr wertvoll ist – und durch eine Begegnung mit den Werten einer anderen Person in einer anderen Zeit können wir mehr über unsere eigene lernen. Das andere Geschlecht kritisierte viele „Mythen“ der Weiblichkeit als Projektionen männlicher Ängste und Fantasien über Frauen. Viele dieser Mythen nehmen Frauen als Akteurinnen nicht zur Kenntnis – als bewusste menschliche Wesen, die Entscheidungen treffen und Pläne für ihr Leben aufstellen, die als solche lieben und geliebt werden wollen und leiden, wenn sie in den Augen anderer nur Objekte sind. Bevor sie Sartre begegnete, ein Jahr ehe sie mit ihrem Vater einen Streit über die Liebe hatte, schrieb die achtzehnjährige Beauvoir in ihr Tagebuch: „Es gibt mehrere Dinge, die ich an der Liebe hasse.“ Ihr Einspruch war ethisch: Männer mussten nicht denselben Idealen entsprechen wie Frauen. Beauvoir wuchs in einer Tradition auf, die postulierte, eine moralische Person solle „den Nächsten lieben wie sich selbst“. Doch Beauvoirs Erfahrung zeigte ihr, dass diese Vorschrift selten eingehalten wurde: Immer schienen die Leute sich selbst zu viel oder zu wenig zu lieben; kein Beispiel für die Liebe aus Büchern oder aus dem Leben befriedigte ihre Erwartungen.
Es ist absolut unklar, ob Beauvoirs Erwartungen von den Lieben, die sie eingehen würde, befriedigt wurden. Klar aber ist, dass Beauvoir immer wieder den Entschluss fasste, ein philosophisches Leben zu führen, ein nachdenkliches Leben, das ihren eigenen intellektuellen Werten entsprach, ein Leben in Freiheit. Sie entschied sich dazu, indem sie in verschiedenen literarischen Formen schrieb – und in einem lebenslangen Gespräch mit Sartre. Es ist wichtig, Beauvoirs Leben heute neu zu überdenken, weil Beauvoir und Sartre in der populären Fantasie durch ein sehr zweideutiges Wort vereint waren – „Liebe“ –, und „Liebe“ war ein Konzept, das Beauvoir einer jahrzehntelangen philosophischen Prüfung unterzog.
Eine Neubewertung von Beauvoirs Leben ist auch deshalb von Bedeutung, weil Beauvoir im Laufe der Zeit unzufrieden wurde mit der Art, wie ihr Leben dargestellt wurde – damit, dass die Figur „Simone de Beauvoir“ sich vom Narrativ der konventionellen Ehe entfernte, nur um durch einen anderen erotischen Plot ersetzt zu werden. Sogar nach ihrem Tod beeinflussten weitverbreitete Annahmen über „was Frauen wollen“ und „was Frauen tun können“ die Art und Weise, in der man sich an Beauvoirs Leben erinnerte. Ob romantisch oder intellektuell, sie bekam die Rolle als Sartres Beute.
Was die romantische Seite anbelangt, so stand hinter der Vorstellung von Beauvoir als Sartres Opfer die Annahme, dass sich, sobald „Liebe“ im Spiel ist, alle Frauen, wenn sie wirklich ehrlich sind, eine lebenslange Monogamie mit Männern wünschen. Innerhalb der fünf Jahrzehnte des „legendären Paars“ machte Sartre sehr öffentlich zahlreichen „kontingenten“ Frauen den Hof. Beauvoir hingegen schien (weil sie sie aus ihren Memoiren ausließ) wenige kontingente Beziehungen mit Männern gehabt zu haben, die noch dazu alle vorbei waren, als sie Anfang fünfzig war. Vor diesem Hintergrund schlossen manche, Sartre habe sie in einer ausbeuterischen Beziehung hintergangen, in der sie, obgleich nicht verheiratet, die allzu vertrauten Rollen des unbekümmerten Schürzenjägers und der treuen Frau spielten. Manchmal wird ihr Leben als Unglücksfall patriarchaler Normen beschrieben und unterstellt, eine alternde oder intellektuelle Frau sei weniger begehrenswert als ein alternder oder intellektueller Mann. Und manchmal ist sie die Betrogene ihrer eigenen Dummheit. Wie ihre ehemalige Studentin Bianca Lamblin es formulierte, habe Beauvoir „sich die Grube selbst gegraben“, da sie die Ehe nicht akzeptiert und keine Familie gegründet hatte. Louis Menand schrieb im New Yorker, dass Beauvoir zwar eine beeindruckende Person sei, aber nicht aus Eis. „Obwohl ihre Affären überwiegend Liebesgeschichten waren, geht aus fast jeder von ihr geschriebenen Zeile hervor, dass sie sie alle aufgegeben hätte, hätte sie Sartre für sich allein haben können.“
Im Gegensatz dazu offenbart Beauvoirs Tagebuch aus ihrer Studienzeit, dass sie schon wenige Wochen nach der Begegnung mit Jean-Paul Sartre ihm eine unersetzbare Rolle zuwies: Sie sei glücklich, Sartre gefunden zu haben, und er sei „in meinem Herzen, in meinem Körper und vor allem (denn in meinem Herzen und in meinem Körper könnten viele andere sein) der unvergleichliche Freund meines Denkens“. Es sei mehr Freundschaft als Liebe, erklärte sie später in einem Brief an Nelson Algren, weil Sartre „sich aus der Sexualität nicht viel macht. Er ist in allem ein warmherziger, lebhafter Mann – nur nicht im Bett. Ich spürte das bald, obwohl ich keine Erfahrung hatte, und allmählich wurde es sinnlos, sogar ungehörig, weiterhin wie Geliebte zusammenzuleben“.
War „die große Liebesgeschichte des Jahrhunderts“ letztlich die Geschichte einer Freundschaft?
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