„Ich schreibe unentwegt ein Leben lang“ — Inhalt
Das Leben des „Literaturpapstes“
Marcel Reich-Ranicki hat das literarische Leben in Deutschland geprägt wie wenige andere: Als Leiter der Literaturredaktion der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ war er der erfolgreichste, aber auch umstrittenste Literaturkritiker seiner Zeit. Mit dem „Literarischen Quartett“ wurde das Fernsehen zur machtvollen Bühne seiner Kritik. Was er lobte, wurde gelesen, gefürchtet waren seine Verrisse. In diesem Buch erleben wir ihn in seinen eigenen Worten: Offen und ehrlich spricht Reich-Ranicki darin über seine Kindheit und frühe Jugend in Polen, die Schulzeit in Berlin, die düstere Zeit des Nationalsozialismus und sein Leben als Literaturkritiker. Das Buch stützt sich auf Gespräche mit Paul Assall, die noch nie zuvor veröffentlicht wurden.
Leseprobe zu »„Ich schreibe unentwegt ein Leben lang“«
Paul Assall: Herr Reich-Ranicki, Sie haben 1985 im Vorwort zu Ihrem Buch Nichts als Literatur geschrieben, dass für den Kritiker heutzutage keine Aufgabe dringlicher ist als jene, Vermittler zu sein zwischen der Kunst und der Gesellschaft, der Dichtung und dem Alltag, der Tradition und der Moderne, zwischen den Schriftstellern und den Lesern, mit einem Wort: zwischen der Literatur und dem Leben. Sehen Sie darin Ihre genuine Aufgabe als Kritiker? Ist das Ihr Programm?
Marcel Reich-Ranicki: Ja, ich glaube, es ist das Programm der Literaturkritik überhaupt. [...]
Paul Assall: Herr Reich-Ranicki, Sie haben 1985 im Vorwort zu Ihrem Buch Nichts als Literatur geschrieben, dass für den Kritiker heutzutage keine Aufgabe dringlicher ist als jene, Vermittler zu sein zwischen der Kunst und der Gesellschaft, der Dichtung und dem Alltag, der Tradition und der Moderne, zwischen den Schriftstellern und den Lesern, mit einem Wort: zwischen der Literatur und dem Leben. Sehen Sie darin Ihre genuine Aufgabe als Kritiker? Ist das Ihr Programm?
Marcel Reich-Ranicki: Ja, ich glaube, es ist das Programm der Literaturkritik überhaupt. Jedenfalls sehe ich das so für mich. Der Kritiker hat vor allem zu vermitteln. Der Kritiker ist ja kein Literaturwissenschaftler, sondern die Kritik ist eine Mischung aus Literaturwissenschaft und Journalistik. Dass der Kritiker vor allem dazu da ist zu vermitteln, geht ja schon aus dem einfachen Umstand hervor, dass die Literaturkritik nicht eine Begleiterscheinung der Literatur ist. Es gab jahrhunderte-, jahrtausendelang Literatur ohne Kritik. Die Kritik ist ein Produkt und eine Begleiterscheinung der modernen Presse. Vor Gutenberg gab es keine Kritik – erst nach Gutenberg, seit es Zeitungen gibt.
Paul Assall: Das Bild, das Sie in der Öffentlichkeit als Kritiker haben, ist das des Großkritikers. Sie werden oftmals als eine Instanz der Literaturkritik in Deutschland bezeichnet. Sehen Sie in diesen Bezeichnungen einen Irrtum, was Ihre Person und Ihre Aufgabe als Kritiker angeht?
Marcel Reich-Ranicki: Der Begriff „Großkritiker“ ist dem Begriff „Großschriftsteller“ nachgebildet, der schon bei Robert Musil vorkommt. Er wird mal höhnisch und mal freundlich verwendet. Ich will sehr hoffen, dass er nicht übertrieben ist. Großkritiker soll wohl heißen – ein Kritiker, der mit seinen Schriften, seinen Arbeiten einen realen Einfluss auszuüben imstande ist – mehr nicht.
Paul Assall: Ihre Kritiken sind aber immer sehr absolut, sehr eindeutig, und manchmal hat man das Gefühl, da sei eine Art Scharfrichter am Werk.
Marcel Reich-Ranicki: Nein, das ist nicht richtig. Das hat nur damit zu tun, dass sich negative Kritiken in der Erinnerung sehr stark einprägen. Ich habe seit Jahren vorwiegend positive, nicht negative Kritiken geschrieben. Was Sie „absolut“ nennen, ist wohl nichts anderes als das Bemühen um Deutlichkeit in der Kritik. Die freilich – die Deutlichkeit – scheint mir dringend nötig.
Paul Assall: Der Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat in seinem Glückwunschschreiben zu Ihrem fünfundsechzigsten Geburtstag an Sie geschrieben: „Man hat einmal bemerkt, dass die deutsche Geistesgeschichte – und nicht nur sie – einen anderen Verlauf genommen hätte, wenn sie mehr der verständigen Klarheit Lessings als den intuitiven Seelenflügen Herders gefolgt wäre. Das hat Sie vielleicht gegen die Herders zuweilen ungerecht werden lassen, aber es war eine heilsame Ungerechtigkeit. Ihre Feder gleicht dem Messer des Chirurgen: Der schneidet nicht, um wehzutun, sondern um zu helfen.“ Sehen Sie sich darin richtig beschrieben?
Marcel Reich-Ranicki: Na ja, partiell. Ich weiß nicht, ob man Herder so charakterisieren darf. Das ist eine andere Frage. Aber dass Lessing als großer Mann der Aufklärung – nicht unbedingt großer Kritiker, aber Gründer, Schöpfer der Kritik – auch für mich eine hervorragende Rolle gespielt hat, das ist eigentlich selbstverständlich. „Messer des Chirurgen“, das klingt etwas dramatisch, aber natürlich stellt man das Schlechte dar, wo es nötig ist, um Platz für das Gute zu schaffen.
Paul Assall: Sie fühlen sich aber der Aufklärung verpflichtet, aus der auch die Literaturkritik stammt?
Marcel Reich-Ranicki: Gar keine Frage. Selbstverständlich. Man kann Literaturkritik nicht ohne Lessing, den Vater der deutschen Kritik, betreiben.
Paul Assall: Fühlen Sie sich dieser Tradition verpflichtet? Oder anders gefragt: Woher stammt Ihre Literaturbesessenheit?
Marcel Reich-Ranicki: Das ist schwer zu sagen. Ich habe mich schon als Kind sehr für Bücher und Literatur interessiert, und wirklich intensiv wurde dieses Interesse, als ich zwölf, dreizehn Jahre alt war. Das Interesse ist ein bisschen von der Schule geweckt worden, aber nur zu einem geringen Teil.
Paul Assall: Sie sind noch in Polen zur Volksschule gegangen. Sie sind am 2. Juni 1920 in Włocławek geboren, einer kleinen polnischen Stadt an der Weichsel. Was für Erinnerungen haben Sie an Ihr Elternhaus?
Marcel Reich-Ranicki: Ich bin mit neun Jahren aus dieser kleinen Stadt nach Berlin gekommen. Aber natürlich hat man als Kind im Alter von acht, neun Jahren schon eine Menge Erinnerungen. Da habe ich die ersten Bücher gelesen, an die ich mich noch sehr gut erinnern kann. Zunächst polnisch übrigens, meist auf Polnisch. Ich habe damals Dickens gelesen, Oliver Twist und Ähnliches, wahrscheinlich in irgendwelchen Bearbeitungen für die Jugend. Ich ging in eine deutsche Volksschule, die es in dieser Stadt damals gab. Die anderen Erinnerungen aus dieser Zeit betreffen mehr die Musik, das Grammofon, das mich eigentlich zur Musik gebracht hat, die Schallplatten, die zu Hause waren und die meine Liebe – zunächst einmal zur italienischen Oper – geweckt haben.
Paul Assall: Zu welchen Komponisten?
Marcel Reich-Ranicki: Verdi natürlich, Aida, Rigoletto, Traviata, das gab es zu Hause, aber auch Puccini-Opern, Bohème und Madame Butterfly, auch natürlich Bajazzo, Cavalleria Rusticana, Margarethe, das waren so die Opern, die man damals auf Platten hatte, und die haben meine Begeisterung für die Oper geweckt, und davon ist viel bis heute geblieben.
Paul Assall: Hat das auch Ihren Schreibstil beeinflusst?
Marcel Reich-Ranicki: Das weiß ich nicht. Das ist sehr schwer zu beurteilen. Ich glaube nicht. Es hat mein Interesse im Bereich der Literatur schon mit beeinflusst, aber wohl nicht direkt den Stil.
Paul Assall: Ihr Vater David Reich stammte aus dem russischen Teil Polens. Er stammte von einer Kaufmannsfamilie ab. Ihre Mutter Helene, eine geborene Auerbach, stammte aus Preußen aus einer Rabbiner-Familie. Was für Erinnerungen haben Sie an dieses jüdische Elternhaus? Sind Sie noch in der jüdischen Tradition erzogen worden?
Marcel Reich-Ranicki: Überhaupt nicht. Ich hatte mit jüdischer Erziehung eigentlich gar nichts zu tun. Ich habe nachher in Berlin mit meinem Großvater, der Rabbiner war, damals schon ein ganz alter pensionierter Mann, zusammen in einer Wohnung gewohnt und mich oft mit ihm unterhalten. Aber eine wirkliche Ahnung von jüdischer Religion habe ich erst in der Gymnasialzeit bekommen, also praktisch am preußischen Gymnasium, an dem es noch bis Mitte der Dreißigerjahre jüdischen Religionsunterricht gab. Aber die Religion hat in meinem Leben eigentlich nie eine Rolle gespielt, und was ich davon zu Hause mitbekommen habe, war nicht viel. Das hing wohl auch damit zusammen, dass mein Vater zwar eigentlich religiös war und an manchen Bräuchen festhielt, meine Mutter aber nicht, und meine älteren Geschwister schon gar nicht.
Paul Assall: Wie viele Geschwister haben Sie?
Marcel Reich-Ranicki: Eine Schwester und einen Bruder. Die Schwester ist dreizehn Jahre älter und lebt bis heute in London. Mein Bruder ist wie meine Eltern im Krieg von den Nazis umgebracht worden.
Paul Assall: Wie würden Sie Ihr Elternhaus charakterisieren? Wer hat Sie am meisten geprägt, der Vater oder die Mutter?
Marcel Reich-Ranicki: Eher die Mutter als der Vater. Aber ich glaube nicht, dass ich vom Elternhaus wesentlich geprägt wurde. Schon in den Berliner Jahren waren es andere Einflüsse: ältere Freunde, die Literatur, die Musik, natürlich zu einem nicht geringen Teil die Schule. Später, etwa als ich fünfzehn Jahre alt war, ein Schwager, der sich um meine Entwicklung gekümmert hat, das hat eigentlich eine größere Rolle gespielt als das Elternhaus.
Paul Assall: War das Lesen in Ihrem Elternhaus eine sehr ausgeprägte Beschäftigung für Sie?
Marcel Reich-Ranicki: Ja, natürlich. Es gab natürlich einen Bücherschrank und Bücher, von denen ich gerne profitierte, aber ich glaube nicht, dass man von einem sehr starken Einfluss des Elternhauses sprechen kann.
Paul Assall: Wie war die Atmosphäre in dieser kleinen polnischen Stadt?
Marcel Reich-Ranicki: Na ja, in der polnischen Stadt, das waren für mich ja die ganz frühen Jahre. Kleinigkeiten sind mir unvergesslich, etwa die deutsche Lehrerin in der Schule, die dringend gebeten hatte, von meiner Mutter etwas zu leihen, ein Buch, ein sensationelles Buch, nämlich Remarques Im Westen nichts Neues. Das war ja damals das wichtige, sensationelle Buch – 1929, kurz bevor ich aus dieser Stadt nach Berlin kam. Unvergesslich sind mir die Worte dieser deutschen Lehrerin, die mir zum Abschied, als ich nach Berlin fuhr, sagte: „Mein Sohn, du fährst in das Land der Kultur.“ Sie hat nicht vorausgesehen, was sich in diesem Land der Kultur sehr bald abspielen sollte.
Paul Assall: Noch einmal ein Wort zum Judentum: Würden Sie sich als Atheisten bezeichnen?
Marcel Reich-Ranicki: Das Judentum spielt natürlich in meinem ganzen Leben eine enorme Rolle. Da ist zunächst einmal die Frage der Biografie, des Schicksals. Das ist eine enorme, eine sehr, sehr wichtige Rolle. Mein Interesse für Fragen, die mit dem Judentum zusammenhängen, ist ja auch nicht gering. Doch ich bin ein völlig areligiöser Mensch. Es hat in meinem ganzen Leben nicht einen Augenblick gegeben, in dem ich an die Existenz Gottes geglaubt hätte. Das ist überhaupt kein Problem in meinem Leben gewesen. Die jüdische Religion ist mir einerseits fremd, und andererseits imponiert sie mir. Sie imponiert mir, weil es eine Religion ist, die der Bildung, dem Wort eine so unerhörte Bedeutung beimisst. Es ist ja eine der schrecklichsten Sünden bei den Juden, wenn jemand Analphabet ist. Wer nicht lesen kann, kann ja die Gebete nicht lesen und sündigt damit fortwährend. Die hohe Wertschätzung des Intellektuellen, des Wortes, der Sprache, das ist etwas, das mir natürlich nicht gleichgültig sein konnte, das mir imponiert hat. Ich bin nicht Mitglied der jüdischen Gemeinde, aber ich bin Jude, und ich betone beides bei jeder Gelegenheit. Ich bin nicht Mitglied der jüdischen Gemeinde, weil ich mir eine Zugehörigkeit zu einer religiösen Organisation nicht denken kann, weil das von mir aus gesehen unaufrichtig wäre.
Dass mich aber Fragen des Judentums interessieren, das kann man sogar an meiner Literaturkritik ablesen. Es ist doch wohl kein Zufall, dass ich mich häufig und gern mit Schriftstellern deutscher Sprache befasse, die Juden waren oder sind. Ich habe schon ziemlich häufig über Heine und Börne, Kafka, Joseph Roth, Alfred Döblin und Arthur Schnitzler geschrieben. Das alles sind ja Juden. Ich könnte viele weitere Namen aufzählen. Nun ist das aber so originell auch wieder nicht, denn wer, der sich mit deutscher Literatur ernsthaft befasst, beschäftigt sich nicht mit Heine oder Kafka? Aber es sind eben nicht nur Figuren wie Heine oder Kafka. Mich haben auch andere Schriftsteller, die Juden oder jüdischer Herkunft waren, interessiert. Ich glaube auch, dass bei all diesen Schriftstellern das Judentum bewusst oder unbewusst eine keineswegs geringe Rolle spielt. Ich glaube auch, dass man die Bedeutung des Judentums für diese Schriftsteller eher an ihren Briefen, ihren Tagebüchern als an den Romanen oder Theaterstücken erkennen kann. Nur bitte missverstehen Sie mich nicht: Ich meine damit nicht den Einfluss der jüdischen Religion oder des Wissens vom und um das Judentum auf diese Schriftsteller. Ich meine eher die Position des Juden innerhalb der nichtjüdischen Gesellschaft in Deutschland, in Österreich, in Prag im 19. oder im 20. Jahrhundert. Diese Situation des Juden, des Angehörigen einer Minderheit, einer Minderheit, die in Mitteleuropa im ausgehenden 19., beginnenden 20. Jahrhundert im geistigen Leben eine enorme Rolle spielt. Diese Zugehörigkeit zu einer Minderheit prägt diese Schriftsteller, nicht ihren Stil, aber ihre Themen. Es ist ja kein Zufall, dass bei diesen Schriftstellern, die Juden waren, ganz bestimmte Themen auftauchen. Bei Arthur Schnitzler der Professor Bernhardi, in den Büchern von Joseph Roth ist die Situation der Juden sehr häufig dargestellt, und bei Kafka geht es eigentlich, möchte ich fast zu behaupten wagen, um gar nichts anderes. Das Schloss, Der Prozess, da wird von der Situation des Juden inmitten der nichtjüdischen Gesellschaft erzählt.
Paul Assall: Mit anderen Worten: Es gibt nichts spezifisch Jüdisches in dieser Literatur, sondern das Jüdische ist bei diesen Schriftstellern nur historisch erklärbar?
Marcel Reich-Ranicki: Es gibt nichts spezifisch Jüdisches im Sinne der ästhetischen Form der Sprache – dessen bin ich ganz sicher –, auch nicht der Zugehörigkeit zu irgendwelchen Richtungen und Tendenzen. Sehen Sie, man hat oft gesagt, die Juden in der deutschen Literatur seien meist linke Schriftsteller. Da denkt man an Autoren wie Arnold Zweig, Kurt Tucholsky, Lion Feuchtwanger, Anna Seghers, alles Juden, die links waren. Das ist gleichzeitig richtig und falsch. Es ist falsch, weil die Juden in allen Gruppen der deutschen Literatur stark vertreten waren, und in dem nun wahrlich nicht linken, sondern eminent konservativen Kreis um Stefan George gab es ja auch Juden wie Karl Wolfskehl, wie im gewissen Sinne Borchert und vor allem Friedrich Gundolf.
Paul Assall: Und der erfolgreiche Jakob Wassermann war ja nun auch nicht links.
Marcel Reich-Ranicki: Nein, Wassermann war weder hier noch da. Der war eher ein bürgerlicher Schriftsteller der sehr gehobenen Unterhaltungsliteratur, ein wichtiger Autor dieser Art, aber nicht einer der prägenden Schriftsteller der Epoche. Die Zugehörigkeit der Juden zu irgendwelchen literarischen Richtungen ist also nicht herstellbar. Sie waren überall in der Literatur repräsentiert. Es gibt auch keine Kennzeichen des Stils oder der Sprache, wohl aber der Problematik, der Themenstellung, der Motive. Jeder Schriftsteller verfügt ja über ein bestimmtes Reservoir an Motiven. Dieses Reservoir ist weitgehend durch seine Biografie bestimmt. Es ist ja schließlich kein Zufall, dass im Mittelpunkt der Romane von Arnold Zweig der Jude Bertin, ein jüdischer Intellektueller, steht.
Paul Assall: Diese jüdischen Schriftsteller waren aber immer – so ein Buchtitel von Ihnen – Ruhestörer in der deutschen Literatur, eben aus den historischen Erklärungen heraus, die Sie gerade genannt haben. Würden Sie sich als Kritiker auch als ein solcher Ruhestörer sehen?
Marcel Reich-Ranicki: Wir reden immer über das Thema, das gar nicht das Thema unseres Gesprächs sein sollte. Wir sollten nicht über Literatur reden. Das ist das Thema von Peter von Matt.
Paul Assall: Ja, es ist aber auch etwas biografisch, meine ich.
Marcel Reich-Ranicki: Na ja, gut, also die Frage nach dem Ruhestörer: Juden haben in der Tat im 19. Jahrhundert – auch später – in der europäischen, vor allem der deutschsprachigen Literatur als Ruhestörer gewirkt und sahen ihre Aufgabe darin, als Kritiker der Gegenwart zu wirken. Sie haben natürlich auch Hoffnungen an fortschrittliche Bewegungen geknüpft und glaubten, dass eine Gesellschaft, die soziale Gerechtigkeit garantieren würde, auch ihnen, den Juden, die völlige Gleichberechtigung geben könnte.
Paul Assall: War das auch in Ihrem Elternhaus der Fall, dass man sich nach dieser Assimilation sehnte?
Marcel Reich-Ranicki: Nein, mein Vater war eher am Zionismus interessiert und hat auch an einem zionistischen Kongress in Basel vor dem Ersten Weltkrieg teilgenommen. Er war ein assimilierter Jude, der aber andererseits an jüdischer Tradition festhielt. Meine Mutter war politisch weniger interessiert.
Paul Assall: Ihre Eltern sind 1929 nach Berlin gezogen. Warum?
Marcel Reich-Ranicki: Mein Vater hatte eine kleine Fabrik, einen kleinen Betrieb, der Baumaterialien herstellte, und dieser Betrieb ist zur Zeit der großen Wirtschaftskrise völlig zusammengebrochen. Er sah keine rechten Möglichkeiten, die Existenz in der polnischen Kleinstadt fortzusetzen, und die ganze Familie meiner Mutter lebte in Berlin und schlug vor, man sollte doch lieber nach Berlin übersiedeln. Es hatte also sowohl mit den wirtschaftlichen Umständen als auch mit den familiären zu tun, weil die Familie in Berlin wohnte.
Paul Assall: War das eine Zäsur in Ihrem Leben?
Marcel Reich-Ranicki: Na ja, kann man bei einem neunjährigen Kind von einer Zäsur reden?
Paul Assall: Ein Kind ist immer ein sehr wacher Beobachter.
Marcel Reich-Ranicki: Aber die eigentliche Entwicklung erfolgt doch ein bisschen später. Ich habe natürlich – wie ich vorher erwähnte – Erinnerungen an diese polnische Zeit, aber es sind doch vage Erinnerungen. Die konkreten, detaillierten betreffen schon die Zeit in Berlin.
Paul Assall: Das heißt, auch in Berlin war die Schulzeit die wichtigste Zeit für Sie?
Marcel Reich-Ranicki: Ja.
Paul Assall: Auf welches Gymnasium in Berlin sind Sie gegangen?
Marcel Reich-Ranicki: Ich war zuerst am Werner-Siemens-Gymnasium in Berlin-Schöneberg, das dann im Dritten Reich liquidiert wurde, und musste dann in eine andere Schule gehen. Am Fichte-Gymnasium, einem ziemlich renommierten Berliner Gymnasium, habe ich 1938 das Abitur gemacht.
Paul Assall: Ihre Mutter ging damals – schreiben Sie in Ihrem Beitrag zu dem Buch Meine Schulzeit im Dritten Reich – zum Direktor und fragte, ob das Kind, da es Pole und Jude sei, in diesem Gymnasium gut aufgehoben sei. Was für eine Bedeutung hat das für Sie, wenn Sie das heute schreiben? Ist das ein Rückblick, der sehr wehmütig, sehr bitter ist?
Marcel Reich-Ranicki: Nein, das ist weder wehmütig noch bitter, das ist einfach charakteristisch für jene Jahre. Meine Mutter fragte den Schuldirektor: „Wird mein Junge hier in dieser Schule als Jude und Pole menschlich behandelt werden?“ Und der sagte: „Selbstverständlich, wie können Sie überhaupt so eine Frage stellen?“ Als dann drei Wochen später das Schuljahr begann, gab es den Direktor gar nicht mehr. Er war längst rausgeschmissen worden. Und wenn ich diese Anekdote anführe, so deshalb, weil sie charakteristisch ist für die Verhältnisse in Deutschland in den frühen Jahren des Dritten Reichs.
Paul Assall: Welches sind Ihre wichtigsten Schulerinnerungen?
Marcel Reich-Ranicki: Da gibt es natürlich eine Fülle von Erinnerungen, denn ich habe das Abitur mit siebzehn gemacht, und das, was ein Mensch im Alter von fünfzehn, sechzehn, siebzehn erlebt, das bleibt ja haften.
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