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Ich bin eine andere

Ich bin eine andere

Dilan S.
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Warum ich meine Familie verlassen musste, um frei zu sein

„Eine wahre Geschichte, packend und eindringlich erzählt.“ - Allegra

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Ich bin eine andere — Inhalt

Dilan ist eine lebenslustige junge Frau mit einem guten Job und vielen Freunden, doch ihren wahren Namen und ihre Geschichte kennt niemand. Als Kind flüchtete sie mit ihrer jesidisch-kurdischen Familie aus dem Irak. Ihr Vater ersticht die Mutter, als Dilan 12 Jahre alt ist. Der älteste Bruder rächt die Tat und kommt ins Gefängnis, danach wird der Onkel das Oberhaupt in der Familie, er drangsaliert und misshandelt die sechs Kinder. Es kommt zum Machtkampf zwischen Onkel und Brüdern. Dilan flieht und wendet ihr Schicksal – sie baut sich ein unabhängiges Leben auf. Mit diesem Buch möchte sie andere Frauen ermutigen, den Weg in die Freiheit zu wagen.

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 04.10.2016
240 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97537-7
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Leseprobe zu „Ich bin eine andere“

Ja, wer bin ich? Meine Mutter gab mir einen Namen, unter dem ich Jahre einer glücklichen Kindheit erlebte, erst inmitten meiner jesidisch-kurdischen Großfamilie in unserem irakischen Heimatdorf, wo ich mit meiner gleichaltrigen Tante Höhlen baute und Friseurin spielte; dann in einem kleinen Ort in Brandenburg, in dem ich bei Frau Meier in der Küche Zitronenkuchen aß. Als Schulkind in einem baden-württembergischen Dorf entdeckte ich meine Leidenschaft fürs Kicken. Da war ich noch ein neugieriges Kind, das viele Fragen hatte, vorlaut in der Schule war, [...]

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Ja, wer bin ich? Meine Mutter gab mir einen Namen, unter dem ich Jahre einer glücklichen Kindheit erlebte, erst inmitten meiner jesidisch-kurdischen Großfamilie in unserem irakischen Heimatdorf, wo ich mit meiner gleichaltrigen Tante Höhlen baute und Friseurin spielte; dann in einem kleinen Ort in Brandenburg, in dem ich bei Frau Meier in der Küche Zitronenkuchen aß. Als Schulkind in einem baden-württembergischen Dorf entdeckte ich meine Leidenschaft fürs Kicken. Da war ich noch ein neugieriges Kind, das viele Fragen hatte, vorlaut in der Schule war, gern den Kasper gab und den Religionsunterricht bei Pastor Voss liebte, weil der so schöne Geschichten aus der Bibel vorlas – die von Noah und seiner Arche faszinierte mich am meisten.

Zu der Zeit lebten wir sechs Geschwister mit Mama unter lauter Deutschen, die uns anfänglich wie exotische Tiere bestaunten und hinter unserem Rücken nicht nur nette Worte über uns verloren. Ja, es waren Jahre einer glücklichen Kindheit, besonders wenn mein Vater nicht da war. Denn mit ihm hielt die Gewalt Einzug. Er prügelte, er trank, er verzockte unser Kindergeld an Spielautomaten. Er schaffte es nicht, in diesem ihm so fremden Land Fuß zu fassen.

Mein Leben änderte sich, als wir aus dem Dorf in eine nicht weit entfernte Stadt zogen, in ein Viertel, in dem lauter Kurden lebten, viele davon Jesiden wie wir. Mama hatte uns anders erzogen, als kurdische Eltern es gemeinhin tun, freier und selbstbewusster. Unsere Nachbarn waren bisher nur Deutsche gewesen, und von denen hatte meine Ané sich einiges abgeguckt. Unter den argwöhnischen Augen der kurdischen Community änderten sich ihre Ansichten. Auch die meiner Brüder. Ich durfte nicht mehr am Religionsunterricht teilnehmen, sollte nicht mehr Fußball spielen und mir ein Beispiel an anderen kurdischen Mädchen nehmen.

Mein Vater verschwand eines Tages. Das tat er häufiger, niemand wusste dann, wo er war und wann er wiederkommen würde. Diesmal aber blieb er monatelang fort. Das störte uns nicht, wir waren eher erleichtert. Als er dann eines Abends wieder in der Tür stand, war er nicht mehr willkommen. Mama wollte sich scheiden lassen. Nie hatte sie einen Mucks von sich gegeben, wenn er sie verprügelte, nie aufbegehrt. Sie war dazu erzogen worden, selbst einen gewalttätigen Ehemann als „Schicksal“ zu ertragen. Aber jetzt wollte sie das nicht mehr hinnehmen.

Das war ihr Todesurteil. Ihr Mann nahm uns Kindern die Mutter. Vater mochte ich ihn danach nicht mehr nennen.

Mein ältester Bruder Dogan, der uns Geschwistern Halt gab, ging für einige Zeit in den Irak. Mein Großvater hatte ihn gebeten zu kommen: Meine Großmutter war bei der Nachricht vom Tod ihrer ältesten Tochter zusammengebrochen. Dogan blieb viel länger als geplant. Wir anderen fünf Geschwister gerieten unter die Fuchtel unseres Onkels, auch er gewalttätig. Meine älteste Schwester floh. Und damit endete meine Kindheit.

Ich, die damals Zwölfjährige, musste den Haushalt führen und für meine jüngeren Geschwister sorgen. Ich hätte ihnen eine liebevolle Mutter oder zumindest eine herzliche Schwester sein müssen, das schaffte ich nicht. Aus mir, dem rebellischen Kind, wurde unter dem Terror unseres Onkels eine Marionette, die seine zahllosen Gebote und Verbote aus Angst vor Misshandlungen ertrug. Und niemandem davon erzählte.

Irgendwann kam Dogan zurück nach Deutschland, und für eine kurze Zeit fühlten wir uns von ihm beschützt. Bis zu dem Tag, als der schon lange schwelende Streit zwischen Onkel und Brüdern in einer tätlichen Auseinandersetzung endete. Meine Brüder habe ich seitdem nie wieder gesehen. Meinen Onkel auch nicht.

Vor der Polizei packte ich aus. Ich kam in eine Schutzeinrichtung. Seitdem verfolgt mich die Furcht, eines Tages enttarnt zu werden. Meinen Namen musste ich zurücklassen auf dem Trümmerfeld der Vergangenheit – wie Mama und die meisten meiner Geschwister, von denen mir nur meine jüngste Schwester geblieben ist. Anna.

Ich nannte mich „Sara“, als ich volljährig und entschlossen war, mein Leben in die Hand zu nehmen. Ich bekam neue Papiere, veränderte mein Aussehen, schnitt mir die langen Haare ab, dachte mir Geschichten aus, die ich anderen über mich erzählte. Ich wollte alles hinter mir lassen. Ich jobbte als Tresenkraft, Bardame und Babysitterin, ich machte eine Ausbildung, verdiente mein eigenes Geld, bezog meine eigene Wohnung und kaufte mir ein Auto. Jetzt bin ich wieder Dilan – ein Name, den ich für dieses Buch gewählt habe.

Das Schreiben an diesem Buch hat die Erinnerungen wieder wachgerufen, auch jene, die ich sorgfältig verschnürt und eingemottet hatte. Ich konnte sie lange nicht zulassen, der Weg nach vorn war hart genug. Für das Buch musste ich sie wieder aufrufen, die Gespenster, die Trauer, die Verluste. Aber der Besuch im Land meiner Kindheit hat mir auch die vielen wunderbaren Momente wieder ins Gedächtnis gespült, die wir Kinder mit Mama erlebt haben. Diese habe ich bisher mit niemandem teilen können, dabei sind sie doch das Wertvollste, was ein Mensch besitzt. Es tut gut, anderen davon zu erzählen, auch wenn ich es unter falschem Namen machen muss. Gerade auch die schönen Geschichten möchte ich für Anna aufschreiben, die erst Jahre nach mir geboren wurde und viel zu lange die finsteren Zeiten erlebt hat. Die Wunden, die das Leben ihr zugefügt hat, sind kaum zu heilen. Die Mutter, die sie nur wenige Jahre hatte, konnte ich ihr nie ersetzen. Und ich weiß, dass das, was ich ihr in diesem Buch erzähle, im Vergleich zu dem Glück, das ich für eine gewisse Zeit erleben durfte, ein armseliger Versuch bleibt. Aber einer muss Anna von ihrer verlorenen Familie erzählen.

Die Gewalt, die ich erfahren habe, erleben auch andere Frauen. In der Schutzeinrichtung Papatya habe ich die grausamen Geschichten von Mädchen gehört, die dort zur gleichen Zeit wie ich Zuflucht gefunden hatten. Nur eine von ihnen schaffte es, sich von ihrer Familie zu befreien. Die Angst, für immer allein zu sein, war für die anderen bedrohlicher als jede Knechtschaft. Sie wurden nicht fertig mit der Einsamkeit, die dieser Weg mit sich bringt, sie kehrten zurück zu denen, vor denen sie geflohen waren.

In dieser Versuchung war ich nie – trotz der Einsamkeit, die auch ich kennengelernt habe. Ich wollte vorwärts, ich wollte wissen, was in mir steckt. Das ging nicht immer glatt, oft verzweifelte ich, wenn die Welt mal wieder stillzustehen schien und mich Trauer und Selbstmitleid zu ersticken drohten. Aber ein Ziel verlor ich auf meinem Weg nie aus den Augen: Ich wollte eine Zukunft haben, die ich gestalte. Ich wollte High Heels und Tops tragen können, ohne dass mich jemand „Schlampe“ nannte, eine Currywurst essen, ohne dass mich jemand rügte, das sei haram, tanzen gehen, ohne mich dafür rechtfertigen zu müssen: Ich wollte wieder die Freiheit schmecken, die ich in frühen Jahren gehabt hatte. Und niemals mehr sollte jemand anders über mein Leben bestimmen.

Ich wünsche mir, dass mehr Frauen, die von ihren Eltern oder Brüdern oder Ehemännern wie rechtlose Wesen behandelt werden, diesen Versuch wagen und sich ihre Selbstbestimmung erkämpfen. Ich weiß, wie schwer das ist, es gab Momente, in denen ich zu verzagen drohte und mich fragte, ob es das denn alles wert sei. Es gab Erlebnisse, die ich gern vermieden hätte – ich war so unglaublich lebensunerfahren. Es gab Begegnungen, die nur Fremdheit in mir aufkommen ließen. Und ganz wird man die Einsamkeit nie los, immer bleibt ein Stück Heimatlosigkeit, der Eindruck, nirgendwo ganz dazuzugehören, trotz vieler Freunde, die ich inzwischen habe. Aber wagt es, Schwestern – sicher, es gehört Mut dazu. Allein im Leben zu stehen kann Angst machen. Aber ihr könnt Hilfe finden und es schaffen, ich habe es auch geschafft. Und dabei nicht nur unendlich wichtige Erfahrungen gemacht, sondern mich auch selbst entdeckt. Das Glück, über sein Leben selbst bestimmen zu können, endlich ein „Ich“ zu werden, ist es wert. Wie ich es geworden bin, auch davon will ich erzählen – um andere zu ermutigen: Es gibt einen Weg.


Für dieses Buch habe ich alle Namen geändert, für mich „Dilan“ gewählt, auch meine Geschwister heißen in Wirklichkeit anders als hier, ebenso mein Vater, mein Onkel, Frau Meier und Frau Steiner, Frau Krüger und Frau Müller, Herr Wilke und Herr Paul – es gibt sie, wie alle Personen und Ereignisse dieses Buches, wirklich, aber sie heißen anders, manche Geschehnisse fanden an anderen Orten statt, manche auch zu etwas anderen Zeiten. Diese Verfremdungen waren nötig. Ich muss nicht nur mich selbst, nicht nur Anna, ich muss auch viele andere Menschen schützen.


Frankfurt im Mai 2016



Kennen Sie das auch? Man wacht morgens auf, der neue Tag lockt, aber man ist noch in den Nachwehen eines nächtlichen Traums gefangen und kriegt die Augen einfach nicht auf. Man steckt fest zwischen Vergangenheit und Zukunft, kann nicht mehr zurück, kommt aber auch noch nicht wirklich vorwärts. Wie ein Transitpassagier, der darauf wartet, dass es endlich weitergeht.

So ging es mir, als ich an einem sonnigen Frühlingsmorgen im Zug saß und meinem neuen Leben entgegenfuhr. Einem Leben ohne Roza und Dogan, ohne Rezan und Diwan, meine Geschwister. Und ohne Anna. Sie hatte ich zurücklassen müssen. Es ging nicht anders, so schwer mir das auch fiel. Ich würde künftig auf mich allein gestellt sein, kein Jugendamt würde mehr über mich bestimmen können. Denn ich war volljährig, 18 Jahre alt, den Höllenjahren unter meinem Onkel entkommen und entschlossen, meine Zukunft ohne jede Bevormundung zu meistern.


Der Zug fuhr planmäßig los. Ich hatte extra den frühestmöglichen gewählt, weil ich hoffte, so auf wenige Mitreisende zu treffen. Ein Irrtum. Es war erst sieben Uhr morgens, dennoch war der Zug nach Berlin bereits ziemlich voll. Meine alte, abgewetzte Männersporttasche, ein Erbe meiner einstigen Fußballleidenschaft, fest im Griff, zwängte ich mich auf der Suche nach einem freien Platz durch die engen Gänge der Waggons – für eine Reservierung hatte das Geld nicht gereicht. Meine Augen flatterten dabei suchend durch die Sitzreihen, ich betete, niemanden zu sehen, der mich kannte, und konnte meine Ängste doch kaum unterdrücken – mein etwas verkrampftes Lächeln dürfte meine Unsicherheit kaum kaschiert haben. Vermeide jeden direkten Blickkontakt, mahnte ich mich stumm selbst, aber jeder Fahrgast, an dem ich mich vorbeidrückte, schien mich anzustarren – zumindest kam es mir so vor. Das ist Einbildung, Dilan, musste ich mir immer wieder selbst sagen. Ich wusste, wie unwahrscheinlich es war, auf dieser Fahrt in aller Frühe auf ein bekanntes Gesicht zu stoßen, aber ich wusste auch: Die Furcht, gesehen, entdeckt oder enttarnt zu werden, würde ich so schnell nicht los werden, womöglich würde sie mich Jahre, vielleicht sogar das ganze Leben lang begleiten.

Mit jedem Schritt spürte ich meinen Herzschlag, und nun fing ich auch noch an zu schwitzen. Verdammt, wann würde ich endlich einen freien Platz finden? Meine Tasche war schwer, nur mühsam gelang es mir, sie immer wieder über die im Gang stehenden Gepäckstücke der anderen Reisenden hinwegzuwuchten. Es kam mir vor, als hätte jemand, wie in dem Märchen von Rotkäppchen und dem bösen Wolf, das Susanne uns vor vielen Jahren im Kindergarten vorgelesen hatte, tausend Wackersteine hineingepackt. Dabei enthielt sie nur die wenigen traurigen Habseligkeiten meines bisherigen Lebens – einige Fotos meiner Geschwister und die wenigen Klamotten, die ich hatte. Das war alles, was ich auf die Reise in die neue Freiheit mitnehmen konnte.

Endlich! Zwei freie Plätze nebeneinander, ohne Reservierungsschild, nur für mich. Erleichtert setzte ich mich ans Fenster, parkte die hässliche Tasche auf dem Nebensitz und begann langsam zu realisieren, dass ich tatsächlich dabei war, den Ort zu verlassen, an dem ich Jahre verbracht hatte und der voller schrecklicher Erinnerungen war. Bilder tauchten beim Blick nach draußen vor meinem Auge auf und drängten sich immer wieder vor die gerade erst erwachende Frühlingslandschaft, durch die der Zug rollte. Bilder voller Verluste, blutige Bilder, die so gar nichts gemein hatten mit der lieblichen Hügellandschaft, ihren knospenden Bäumen und Büschen, die hinter dem Fenster an uns vorbeizog. Sie quälten mich, ich versuchte, sie abzuwehren, denn sonst würden sie mich nur in eine Vergangenheit zurückziehen, die ich hinter mir lassen wollte. Sie sollten nicht das letzte Wort haben.

Viel lieber wollte ich mich an die guten Tage und an die schönen Momente erinnern, die meine fünf Geschwister und ich mit Mama gehabt hatten. An die wunderbaren Jahre in einem kleinen brandenburgischen Dorf, wo ich den „Eismann“ kennenlernte, der klingelnd die Straße auf und ab fuhr; an das unbeschreiblich stolze Gefühl, das ich hatte, als ich endlich Fahrrad fahren konnte; an meine Spaziergänge mit Mama, bei denen ich Himbeeren entdeckte und zum ersten Mal probierte – für mich die köstlichste Frucht, die es gibt; an Rezans, Annas und mein Lachen, wenn Mama uns beim Versteckspielen in der Abenddämmerung suchte und jeden, den sie fand, so fest in die Arme schloss, als würde sie ihn nie mehr loslassen wollen. Oder an unser turbulentes Zusammensein am Essenstisch, wenn es gefüllte Weinblätter gab, die Mama so köstlich wie niemand sonst zubereiten konnte.

Am Wochenende backte Mama immer Fladenbrot. Das musste samstags und sonntags auf dem Tisch stehen, denn für sie verband sich damit die Erinnerung an den Steinofen in Omas Garten, damals in unserem irakischen Dorf; unser elektrischer Backofen in Deutschland fand vor ihren Augen keine Gnade. „Das Brot schmeckt ganz anders!“, nörgelte sie manchmal. Uns Kindern war das egal. Schon der warme Duft, der uns morgens weckte, war unbeschreiblich heimelig. Wir Jüngsten waren ganz erpicht darauf, die dünnen Fladen mit etwas Butter zu bestreichen und mit Zucker zu bestreuen. Ach, Mama, du konntest so wunderbar kochen! Darin werde ich dir, trotz der Übung, die ich inzwischen habe, wohl nie das Wasser reichen können. Nur Spaghetti Bolognese kann ich mindestens so gut machen wie du.

Ich wünschte, du stündest jetzt vor mir, aber das einzige Bild, das mir von dir geblieben ist, steckt etwas zerknittert als zehn mal acht Zentimeter große Erinnerung in meinem Portemonnaie. Auf dem Foto hockst du mit einer deiner vielen Schwestern auf einem Felsen in den Bergen eures irakischen Heimatdorfes, vielleicht macht ihr gerade ein Picknick. Du trägst ein traditionell buntes kurdisches Kleid und siehst entspannt aus, fast glücklich und sehr jung. Da kannst du höchstens neunzehn gewesen sein. Dogan, dein Ältester, war bereits geboren, und vielleicht warst du schon mit Roza schwanger. Das Bild hat mich auf allen meinen Wegen begleitet, ich wollte dich immer ganz nah bei mir wissen, auch wenn ich es mir nur selten anschaue, denn es erinnert mich jedes Mal wieder an das, was ich verloren habe. Adieu, Mama, adieu, altes Leben! Oder vielleicht doch: Bis bald, bis wir uns wiedersehen? Wer weiß das schon?

Jetzt aber brauchte ich erst einmal viel Abstand, Hunderte von Kilometern wünschte ich mir zwischen Vergangenheit und Zukunft, einen Sicherheitspuffer, je größer, desto besser. Am liebsten hätte ich Deutschland ganz verlassen, wäre dorthin gegangen, wo mir alles fremd wäre – die Sprache, die Bräuche, die Landschaft, die Menschen. Aber ich konnte Anna doch nicht einfach zurücklassen.


Mit jedem Kilometer, den der Zug zurücklegte, ließ meine Anspannung ein wenig nach. Ich war noch nie so weit weg von meinem Wohnort gewesen, nach unseren mehrfachen Umzügen war ich nicht mehr über die jeweiligen Landesgrenzen hinausgekommen. Als wir in der vierten Klasse für fünf Tage auf Klassenfahrt nach Schwäbisch Hall fuhren und Mama mir erlaubte mitzufahren, war das ein Riesenereignis für mich. Ich war so aufgeregt damals, voller Erwartung auf das Neue, und gleichzeitig fürchtete ich mich vor dem Heimweh, das ich vielleicht nach meiner Ané haben könnte, die mir abends, wenn sie uns ins Bett brachte, mit ihren sanften Händen den Bauch streichelte, bis wir einschliefen. Aber solche Erlebnisse und Erfahrungen lagen inzwischen eine gefühlte Ewigkeit zurück. Noch vor der Mordnacht, in der alles zerbrach.

Dass mich an diesem Morgen im Zug wieder diese Mischung aus Erwartung und Ängstlichkeit ergriff, war nicht zufällig: Mich erwartete ein Leben, in dem ich meinen eigenen Weg finden und Entscheidungen treffen musste – ohne jemanden an meiner Seite. Das war ungewohnt. Und kam mir immer noch so vor, als träumte ich es nur. Aber es war kein Traum. Dilan, wach auf, die Nacht ist vorbei! Du kannst dein Leben jetzt selbst in die Hand nehmen – endlich! Das hast du doch gewollt, oder?

Es war kein Traum. Das Rattern des Zuges war lärmende Wirklichkeit. Und trotzdem nagten Zweifel an mir. Würde ich es schaffen? Würde mir all das gelingen, wovon ich träumte? Eine Ausbildung machen, einen Job finden, eine eigene Wohnung haben, vielleicht eines Tages sogar ein eigenes Auto? Würde ich mich verlieben können und geliebt werden? Würde ich wachsen, allen Widrigkeiten meines bisherigen Lebens trotzen? Die Gespenster der Vergangenheit eines Tages vielleicht sogar abschütteln können? Was würde auf mich warten, wenn ich aus dem Zug stiege und ein ganz neues Kapitel in meinem Buch des Lebens aufschlüge? Eine leere Seite, für deren Beschriftung ich, und nur ich, verantwortlich war? So viele Fragen schwirrten in meinem Kopf herum, auf die eigentlich erst die Zukunft Antworten geben konnte.

Ich musste es einfach schaffen, ich hatte gar keine Wahl. Außer Anna hatte ich niemanden mehr, der auf mich wartete, falls ich scheitern sollte. Und ich würde es schaffen, zumindest redete ich mir das ein, während die fahlen Sonnenstrahlen dieses friedlichen Morgens die Sommersprossen auf meiner Nase kitzelten. Schau aus dem Fenster, Dilan! Es war ein Tag voller Versprechen, die Bäume zeigten die ersten lindgrünen Blattansätze, silbrige Kätzchen schaukelten an Weiden vorüber, und in der Ferne hoppelten fünf Lämmer unbeholfen zu ihren Müttern – eine deutsche Postkartenidylle. Die Natur erwachte gerade wieder und schenkte der Welt Farbe und Hoffnung. Und mir Zuversicht: Ja, ich würde es schaffen.

Und ich würde alles daransetzen, meine Schwester Anna zu mir zu holen. Ihre traurigen, ja, verloren dreinblickenden Augen beim Abschied ließen mich schon den ganzen Morgen nicht los. Was sollte aus Anna werden, wenn ich nicht mehr an ihrer Seite war? Halt durch, Anna, ich werde bald kommen und dich holen. Versprochen – ganz bestimmt!

Ich wusste, es würde ein harter Kampf werden, das Jugendamt davon zu überzeugen, dass wir beide unbedingt zusammenbleiben mussten, weil wir uns gegenseitig brauchten. Anna war doch die Einzige, die mir von meinen Geschwistern, von meiner Familie geblieben war. Ihr ganzes Leben lang war ich mit ihr zusammen gewesen. Bisher hatte ich jeden Versuch der Behörden, uns zu trennen, erfolgreich abwehren können. Aber wie würde das künftig sein?

Unser Opferschutzbeauftragter, Herr Wilke, hatte vor einigen Wochen auf einer gemeinsamen Veranstaltung mit dem Jugendamt und der Heimleitung davon gesprochen, dass wir künftig „in Kognition leben“ müssten, um unsere Sicherheit gewährleisten zu können. Was hieß das bloß, „in Kognition“? Es klang beängstigend.

Und: Wie würden unsere Verwandten reagieren, wenn sie möglicherweise erfuhren, dass auch wir, Anna und ich, nicht mehr in ihren Schoß zurückkehren wollten? Würden sie nach uns suchen? Wie lange müssten wir damit rechnen? Oder würden sie, wie bei Rozas plötzlichem Verschwinden, die Suche nach einiger Zeit wieder aufgeben?

Und vor allem: Was würden sie mit uns tun, falls sie uns – vielleicht sogar mithilfe der Behörden – fänden? Uns in den Arm nehmen? Oder grün und blau schlagen? Oder gar Schlimmeres? Abwegig waren solche Befürchtungen bestimmt nicht. Meinem Onkel Ferhat, dessen Gewalt ich die letzten Jahre zu spüren bekommen hatte, war das durchaus zuzutrauen.

Meine verlorene Familie gehört zu der großen jesidischen Glaubensgemeinschaft, die in Deutschland Zuflucht vor Verfolgung fand, und häufiger schon hatte ich von dem mörderischen Schicksal entflohener jesidischer Frauen in den Nachrichten gehört, die von ihren Familien wieder aufgespürt und umgebracht wurden – im Namen der Ehre. Ich wollte nicht enden wie sie, ich wollte eine von denen sein, die es schafften, ein freies Leben zu führen und in einer fremden Welt Anschluss zu finden; ich wollte endlich herausfinden, was ich konnte, was in mir steckte, ob ich, auf mich selbst gestellt, dazu fähig war, mein Leben so zu gestalten, wie ich es wollte.

Das war ich auch Anna schuldig. Ich musste ihr vorleben, was möglich war. Ich fürchtete, dass das Jugendamt sie, nun, da ich nicht mehr bei ihr war, in einem Kinderheim oder bei einer Pflegefamilie unterbringen könnte, der womöglich das Geld vom Jugendamt wichtiger war als meine Schwester. Anna würde das nicht verkraften. Und ich auch nicht. Ich wusste, was das hieß: Ich würde kämpfen müssen. Angst davor hatte ich nicht. Wozu auch? Ich hatte so viel Schreckliches erlebt, was sollte denn noch Schlimmeres kommen?

Ganz sicher konnte ich da allerdings nicht sein. Damals, 2003, als meine Mama ermordet wurde und meine Welt abrupt zerbrach, hatte ich auch geglaubt, dass damit das Schlimmste bereits hinter mir läge – bis mich die darauffolgenden Jahre eines Besseren belehrten. Die Mordnacht, in der uns die Ané geraubt wurde, war noch nicht die Endstation. Wenn ich zurückdenke, kommt mir mein Leben immer noch wie die Höllenfahrt in einer Geisterbahn vor – gleich um die Ecke taucht der nächste Schrecken auf.

Vielleicht bist du manchmal zu optimistisch, Dilan, dachte ich noch, als ich hörte, wie der Zugbegleiter die baldige Ankunft an meinem Zielbahnhof durchsagte. Vielleicht musste ich noch lernen, dass das Leben sich nicht vorschreiben ließ, ob es eine Tragödie beendete oder nur den nächsten Akt des Dramas auf die Bühne brachte.

Nun gut. Dann sollte er kommen. Das würde nichts daran ändern, dass irgendwann, nach jedem Tief, auch wieder ein Hoch kommt. Diese Zuversicht würde mir niemand nehmen können.

Ich griff nach meiner Tasche und reihte mich in die Schlange ein, die sich zum Ausstieg versammelt hatte.

Über Dilan S.

Biografie

Während der Nachwehen des Zweiten Golfkrieges floh Dilans Familie nach Deutschland. Nach einer Odyssee durch verschiedene Asylbewerberheime fand die Familie in den neuen Bundesländern ein Zuhause, bis der Vater den Umzug in eine jesidische Hochburg entschied. Als die Mutter die Scheidung einreichen...

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