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Gebrauchsanweisung für die Ostsee und Mecklenburg-Vorpommern

Ariane Grundies
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„Eine interessante Mischung aus Stadt und Land“ - StadtRadio Göttingen "Book's n' Rock's"

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Gebrauchsanweisung für die Ostsee und Mecklenburg-Vorpommern — Inhalt

Im Land der zweitausend Seen

Im Land der zweitausend Seen
Weiße Strände, leuchtendes Meer, undurchdringlicher Urwald und glitzerndes Wasser – dafür muss man nicht weit reisen, das alles findet man in Mecklenburg-Vorpommern. Und Ariane Grundies weiß ganz genau, wo. Sie erzählt vom Wasserwandern und Paddeln, von Flößen und Hausbooten. Sie nimmt uns mit auf Spaziergänge vorbei an gotischen Backsteinbauten, zu Radtouren an der kilometerlangen Küste und auf die Hügel der Mecklenburgischen Schweiz. Wir begegnen den Einheimischen mit ihrem spröden Charme, erkunden alte Hansestädte wie Rostock oder Greifswald und beobachten Kraniche, Fische und Surfer. Gemeinsam mit der Autorin entdecken wir die kleinen wie die großen Inseln, Gespensterwald und Königsstuhl – und genießen Ostsee satt.

„Genauso humorvoll beschreibt sie die Leute und Landschaften, die ihr sympathisch sind. Das macht ihre Gebrauchsanweisung so lesenswert, dass man am liebsten gleich packen und losfahren würde.“ Nordwest Zeitung

€ 15,00 [D], € 15,50 [A]
Erschienen am 01.04.2021
224 Seiten, Flexcover mit Klappen
EAN 978-3-492-27753-2
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€ 12,99 [D], € 12,99 [A]
Erschienen am 01.04.2021
224 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99849-9
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Leseprobe zu „Gebrauchsanweisung für die Ostsee und Mecklenburg-Vorpommern“

Vorwort: Wir sind ganz oben!
Im Alter von sechs Jahren war ich ziemlich sicher, gemeinsam mit meinem Sandkastenfreund Krischi nach Hiddensee auszuwandern, sobald wir nur das Geld für zwei Fahrkarten zusammenhätten. Ich wollte dort Sanddornpflückerin werden, Krischi Bernsteinjäger. Die Farbe Orange hatte es uns offensichtlich angetan, denn wenn Hiddensee eine Farbe oder ein Geschmack wäre, dann sanddornartig. Wir stellten uns vor, in einem der weiß leuchtenden Reetdachhäuser zu wohnen, die aus der Ferne wie ins Gras geworfene Perlen aussahen.
Doch unsere [...]

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Vorwort: Wir sind ganz oben!
Im Alter von sechs Jahren war ich ziemlich sicher, gemeinsam mit meinem Sandkastenfreund Krischi nach Hiddensee auszuwandern, sobald wir nur das Geld für zwei Fahrkarten zusammenhätten. Ich wollte dort Sanddornpflückerin werden, Krischi Bernsteinjäger. Die Farbe Orange hatte es uns offensichtlich angetan, denn wenn Hiddensee eine Farbe oder ein Geschmack wäre, dann sanddornartig. Wir stellten uns vor, in einem der weiß leuchtenden Reetdachhäuser zu wohnen, die aus der Ferne wie ins Gras geworfene Perlen aussahen.
Doch unsere Zukunftsvisionen verblassten, je älter wir wurden. Plötzlich hockten wir in nirvanaesken Cordhosen und Holzfällerhemden im Goldenen Anker unter Bojen- und Fischernetzdeko, warfen Geld in die Jukebox, die abwechselnd Junge, komm bald wieder, Nachts auf der Reeperbahn und Für mich soll’s rote Rosen regnen dudelte, tranken Störtebeker Starkbier oder Stralsunder Pils und konnten es kaum erwarten, möglichst bald möglichst weit weg von hier zu kommen, wo man von einer roten Stadtmauer aus Backstein umgeben war und jeder, aber auch jeder Schulausflug ins hiesige Meeresmuseum oder das etwas weiter entfernte Kernkraftwerk Greifswald/Lubmin führte.
Als wir dann schließlich in Städten wohnten, die doppelt und dreifach so viele Einwohner hatten wie unser gesamtes Bundesland, da sehnten wir uns zurück nach Sanddorn und Bernstein und Backstein und vielleicht auch unter das große Walgerippe, das an der Decke des Meereskundemuseums baumelt und etlichen Stralsundern noch heute das Gefühl gibt, im Besitz von etwas ganz Besonderem zu sein.
Den Fischgestank wird man wohl nicht los, kommentierte mein Dozent eine Stelle in Uwe Johnsons Jahrestagen. Obwohl Johnson bereits in Amerika lebte, ließ er seine Protagonistin sagen: Das Fischland ist das schönste Land der Welt. Das Schönste am schönsten Land der Welt ist und bleibt der Fischgestank.
Tatsächlich lag gleich hinter dem Schulhof meiner Grundschule der Hafen, und im Hafen standen große Räucheröfen, deren Qualm herüberzog und im Pionierhalstuch und in den gespendeten Zelten für Nicaragua hängen blieb. Wenn ich nach Hause kam, säuberte mein Großvater Barsche, Heringe oder Aale und hängte sie in den eigenen Räucherschuppen, und am Abend kamen die Nachbarn und brachten ihre Rollmöpse oder Flundern, und niemand hätte sich je vorstellen können, dass anderen Menschen Bananen oder Kiwis oder Ketchup irgendwas bedeuten könnten.
Und die Ruhe, wie einem die Ruhe fehlen kann, wenn man Mecklenburg-Vorpommern verlässt. Sicher ist es kein Zufall, dass sich Menschen wie der dänische Stummfilmstar Asta Nielsen oder Angela Merkel, die schon mit den Worten Ich schätze das Schweigen zitiert worden ist, bei uns pudelwohl fühl(t)en. In der Ruhe liegt Kraft. Schon das vorpommersche Kind merkt schnell, dass Sprechen weder dazu da ist, eine gesellige Runde akustisch zu untermalen, noch um unnötige Informationen weiterzugeben. Plaudern und schwatzen sind Wörter, die dort oben bis heute nicht zum aktiven Wortschatz zählen. Ich habe sie zum ersten Mal gehört, als ich zwanzig Jahre alt war. Ihr Klang hatte in meinen Ohren etwas Unanständiges.
Sollte ein Fremder in Mecklenburg-Vorpommern auf die Idee kommen, jemanden anzusprechen, zum Beispiel eine Verkäuferin hinter der Theke des Rügenbacks, in etwa so: Ich hätte gern ein Roggenbrot oder etwas mit Sonnenblumen. Haben Sie so was da?, wird die Bäckerin dem Fremden stumm etwas einpacken und ebenso stumm den Preis in ihre Kasse tippen. Hat sie nichts dergleichen vorrätig, wird sie keine Alternative vorschlagen, sondern antworten: Nee.
Ich war verwundert und zutiefst verunsichert, als ich in Leipzig ankam und fortan ein Redeschwall auf mich einprasselte, wenn ich nur ein Stück Kuchen kaufen wollte. Ich hatte das Gefühl, alle quatschen mich zu und bringen mich ständig in den Zugzwang, etwas sagen zu müssen, aber niemand hatte mir beigebracht, was man erwidert, wenn ein bisschen geplaudert wird. Plaudern auf Mecklenburgisch geht nämlich so:
In den Himmel blickend: Klärchen (Sonne) lässt sich wohl nicht mehr blicken.
Schulterzuckend: Nö.
Schulterzuckend: Wat soll’s?!
Vom Redepartner wegdrehend: Wird schon wieder kommen, wenn se wat will.
Ebenfalls umdrehend: Jo.
(Ungekürzt)
Aber weil sich in Mecklenburg-Vorpommern, entgegen allen Vorurteilen, die Dinge doch verändern, wenn auch, zugegeben, etwas langsamer, haben einige Dienstleister begriffen, dass eine kleine Unterhaltung mit dem Kunden durchaus verkaufsfördernd wirken kann. Dabei verzichtet der Meck-Pommer auf Lug und Trug, redet nicht lang um den heißen Brei herum, sondern ist kompromisslos ehrlich.
Wenn mir unter einem der Wernesgrüner-Sonnenschirme auf dem Alten Markt in Stralsund die Bedienung auf meinen Hinweis, dass der Milchkaffee irgendwie seltsam schmeckt, antwortet: Ja, ich habe auch schon eine Minute daran gerochen. Die Milch ist eben schon ewig auf, ich habe auch probiert, war mir aber nicht sicher …, dann frage ich mich, wie solche doch brutal offenen Äußerungen wohl auf den unvorbereiteten Touristen wirken. Wird er Mecklenburg-Vorpommern für unwirtlich halten, nur weil jemand ehrlich ist? Wird der Tourist uns geizig oder protestantisch schimpfen, wenn die Fischhändlerin nur eines ihrer zwei vorrätigen Stücke geräucherten Heilbutts rausrücken will, weil es ja erst fünfzehn Uhr ist und sie sonst keinen Heilbutt für jemand anderen mehr hat? Nun, ich schrieb es ihrem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn zu. Und dass mir ein komplett vereistes Eis mit den Worten Eis ist halt futsch, anderes hab ich nicht serviert wurde, hielt ich für eine aufmerksame Geste. Man wollte mir nun mal nicht mit nichts kommen. Typisch gastfreundlicher Meck-Pommer!
Was zählen denn ein ranziger Milchkaffee oder zwei Stücke Heilbutt, wo Wildgänse und Kraniche geräuschvoll über leuchtend gelbe Rapsfelder hinwegfliegen, wo sich Emmas (so heißen laut Morgenstern alle Möwen) in die See stürzen, wo man in gastronomischen Einrichtungen ein spannendes Cross-over aus maritimem Chic mit spanischen oder französischen Elementen und sozialistischen Kunstblumen erwarten darf? Was zählt, wenn man aus einer ihresgleichen nicht findenden Bandbreite an Sanddornprodukten wählen kann? Kaum etwas lässt sich mit Wald und Wasser satt und dem bis 1647 vierthöchsten Kirchturm der Welt (Marienkirche Stralsund) messen. Alte Hansestädte mit Seefahrercharme brauchen kein unvereistes Eis. Kulinarisch ist man hier sowieso etwas weniger anspruchsvoll.
Als ich zum fünfzigsten Geburtstag meiner Mutter für die Verwandtschaft ein französisches Menü kochen wollte, bekniete sie mich verzweifelt, es sein zu lassen. Versau es mir bitte nicht! Du weißt doch, dass sie nur Fisch- und Käsebrötchen und Bockwurst wollen. Wir machen das nun mal immer so!
Ja, keine Extrawürschte, für niemanden. So machen wir’s immer. Als 1991 Angela Merkel in einem Stralsunder Lokal einkehrte, in dem mein Bruder kellnerte, und ihn fragte, ob sie sich zwei Bockwürste vom Büfett einpacken dürfe, antwortete er: Aber nur zwei, die anderen sind für Ines’ Hund. Angela wagte keinen Widerspruch und packte sich für den steinigen Weg, der zweifelsohne vor ihr lag, zwei Bockwürste in Alufolie. Als Dank für die Güte meines Bruders schleppt sie noch heute regelmäßig hohen Besuch ins Land, der auch nicht mit einem französischen Menü, sondern mit Spanferkel oder Zander, dem bestenfalls eine Zitrone im Maul steckt, verköstigt wird. Bodenständigkeit nennt man das. Authentizität. Auch die Bundeskanzlerin weiß, wenn Mecklenburg-Vorpommern einen erst mal am Wickel hat, lässt es einen nicht mehr los, dann gerät man schnell in die Versuchung zu behaupten, das Fischland sei das schönste Land der Welt. Nicht dem Stress allzu vieler Konventionen unterworfen zu sein macht Mecklenburg-Vorpommern zu einer ungemein entspannten Region, in der man den Blick für Wesentliches, zum Beispiel die Natur, behält. Als sich die Medien weltweit fragten, ob der Zaun, der zum G-8-Gipfel um das älteste deutsche Seebad Heiligendamm herum errichtet wurde, die Sicherheit der Politiker garantieren kann, versicherte die mecklenburgische Polizei der Presse: Wenn ein Hase davor hoppelt, merken wir das.
Mecklenburg-Vorpommern, gekrönt mit dem Werbeslogan MV tut gut, gehört mittlerweile zu den beliebtesten Reisezielen im Land. Was genau an Mecklenburg-Vorpommern guttut, lässt sich pauschal nicht sagen. Es ist für jeden etwas anderes, und jeder muss es selbst herausfinden. Der eine knattert mit seinem Motorrad über das Kopfsteinpflaster der uralten Lindenalleen, während sich ein anderer das Kopfstein per Kutsche gönnt. Einer stellt sich in den Wind, der am Pommesstand des Kreidefelsens weht, und der andere setzt sich in die gemütliche Teeschale in Prerow auf dem Darß und futtert selbst gebackenen Rhabarberkuchen. Der eine wandert durch einen der herrlichen Küstenwälder, der andere verliert oder findet sich zwischen unzähligen Seen. In diesem Sinne ist es ganz und gar ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
Schon Bismarck meinte: Wenn die Welt untergeht, so ziehe ich nach Mecklenburg, denn dort geschieht alles fünfzig Jahre später. Die Uhren an den Kirchtürmen, Juweliergeschäften und Sparkassen ticken hier anders. Ümmer mit de Rauh, mien Schieter, pflegte man mir auf Nachfragen jeglicher Art zu antworten. Schieter, also Scheißer, werden in Vorpommern all die genannt, die einem besonders am Herzen liegen. Das lässt tief blicken, findet meine Freundin.
Als ich es geschafft hatte, dem platten Land zu entkommen, dachte ich, ich würde fünfzig Jahre nicht mehr nach Mecklenburg gehen. Aber allein wegen des orangefarbenen Hiddensees dauerte es nicht mal fünf Monate, bis ich wieder vor der Tür stand. Der Fischgestank klebt an mir wie eine Lederhose am Bayern oder eine Maultasche am Schwaben.
Mecklenburg-Vorpommern besteht nicht nur aus Zeltplätzen, auf denen Randalierer ihr Unwesen treiben und sich mit Wernesgrüner besaufen. Nicht alle Meck-Pommer sind kahlköpfige Nazis, deren Mütter in Kittelschürze am Gartentor stehen. So will es nur das ein oder andere Klischee. Und in Mecklenburg-Vorpommern, liebe Otterndorfer Lions-Club-Mitglieder, die ihr mich einst eingeladen und ausgefragt habt, spricht man auch kein Sächsisch. Mecklenburg-Vorpommern ist nicht nur eine unerschöpfliche Inspirationsquelle für Künstler, sondern auch Muse vieler Vorurteile. Doch, ich bin schon überrascht von den Vorstellungen über Mecklenburg und Vorpommern, die mir immer wieder in absurden Fragen und auch Feststellungen begegnen.
Wow! Leute! Von der Schweiz nach McPomm umziehen, das ist so, als wenn man von Monaco in den Kosovo zieht. Alle Achtung – da muss man schon missionarisch drauf sein, oder? Gruß, Brande (Internetforum).
Mir scheint mein Bundesland für andere ein einziges Rätsel zu sein. Wo fahren die denn hin, wenn sie mal shoppen wollen? Es gibt ja nur eine Großstadt. Warum heißt das Bier Störtebeker, und wer war Wallenstein? Warum soll man nach Hiddensee, wenn es Sylt gibt? Wo trifft sich Merkel mit ihren mächtigen Männern zum Spanferkelessen? Warum sieht es beim Kreidefelsen nicht so aus wie auf dem Caspar-David-Friedrich-Gemälde? Was ist der Unterschied zwischen Mecklenburgern und Vorpommern? Sagt man Meeeklenburg, Mäcklenburg, StralSund, Strahlsund oder Roschtock?
Roschtock, sagt meine Oma. War wieder watt los in Roschtock. Ja, hier ist was los, und ich bin nicht mehr dabei. Ich sitze in einer großen Stadt und falle auf das arrogante Augenrollen meiner Freunde und Feinde herein, wenn ich meine Herkunft erwähne. Dann roll ich mit den Augen mit, obwohl ich es besser wissen müsste. Denn in Mecklenburg-Vorpommern muss man doch nur lernen, den Blick dahin zu richten, wo die Natur schön genug und das Verhalten der Menschen skurril genug ist. Ich glaube, es hat noch niemand so recht verstanden, dass in Zukunft hier die Musik spielen wird. Denn gegen die Natur kommt keiner an. In den hektischen Zeiten, die vor uns liegen, werden sich schon bald noch mehr Menschen in die Mecklenburger Landschaft und die Seebäder Vorpommerns sehnen.
Und trotzdem habe ich meine Sanddornpflückerkarriere an den Nagel gehängt, bevor sie wirklich begonnen hatte, und Krischi jagt anstatt Bernstein rauchende Schüler auf einem niedersächsischen Schulhof. Sprechen wir über Stralsund, können wir nicht laut und oft genug betonen, wie froh wir sind, dort nicht mehr zu wohnen. Da kommt ja keiner in die Pötte. Ihr Dilemma ist die Unflexibilität. Und es ist nichts, absolut nichts los da oben. Wir wissen, dass wir lügen. Vom Kreidepeeling bis zum Strandkorbwettrennen, von Schwesig’scher Entschlossenheit bis Amthor’scher Kauzigkeit, vom Fischbrötchen-Krieg bis zum SEK-Skandal ist eine Menge los, hier ganz oben.


Die Bewohner
Kurzer Abriss der Geschichte
Würden Captain Hook und Pippi Langstrumpf eine Weile in Deutschland leben müssen, käme für sie kaum etwas anderes als Mecklenburg-Vorpommern infrage. Die Küste des Landes und die Inseln bieten seit jeher gute Verstecke für die Schiffe und Schätze der Seeräuber und Piratenkinder. Was dem ungeübten Auge wie ein langweiliges, brach liegendes Bundesland erscheinen mag, ist nämlich umspült von einem stillen Wasser, das sehr, sehr tief ist. Schon Mecklenburg-Vorpommerns Geschichte, in der Piraten und Wikinger das Sagen haben, verrät, dieses Land ist wild und voller versteckter Schätze.
Nachdem sich die Germanen gen Süden verabschiedet hatten, besiedelten Slawen den Landstrich des späteren Mecklenburg-Vorpommerns. Sie fühlten sich sehr wohl in der Region und errichteten zum Dank viele slawische Burgwälle für die heutigen Touristen. Weil der Meck-Pommer aber ein Küstenmensch ist, durfte er nicht durch und durch slawisch geprägt sein, fanden zumindest ein paar Wikinger und fuhren mit ihren großen Holzschiffen vor. Sie mischten sich und etwas ihrer nordischen Kultur unters Volk und blieben so lange, bis ihrer Meinung nach genügend echtes Wikingerblut in meinen Vorfahren zirkulierte.
Bis ins 12. Jahrhundert war West-Mecklenburg Stammesgebiet der Abodriten, aus denen ich in einer Geschichtsklausur versehentlich Aborigines machte. Meine Geschichtslehrerin erklärte damals, dass ich, wenn ich Probleme mit den Abodriten hätte, auch Obodriten sagen könne, das sei das Gleiche. Es handle sich in jedem Fall um einen westslawischen Stamm, dessen Fürst Niklot von Heinrich dem Löwen besiegt worden sei. Heinrich der Löwe schrieb sie unter den Stichpunkt Einflussreiche Personen UNSERER Geschichte an die Tafel.
Heinrich der Löwe gründete nach seinem Sieg über die Obodriten Ende des 12. Jahrhunderts die erste Stadt in Mecklenburg-Vorpommern, wohl ahnend, dass sie nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung das Zeug zur Landeshauptstadt haben würde: Schwerin. Schon damals von Wasser und Moor begrenzt, formuliert man heute werbestrategisch geschickt: Stadt der sieben Seen!
Fortan wurden weitere Städte gegründet. Um den Stralsunder Touristenführern, Geschichtslehrern und nicht zuletzt mir eine Freude zu machen, verlieh kein Geringerer als Wizlaw I. meiner Stadt 1234 das Stadtrecht. 1-2-3-4 – ist das nicht witzig?, fragen unisono die Touristenführer, Geschichtslehrer, und auch ich traktiere damit diejenigen, die es bisher noch nicht gewusst und wahrscheinlich auch nicht danach gefragt haben.
Mecklenburg-Vorpommern muss lange sehr beliebt gewesen sein, denn ab dem 13. Jahrhundert wurde die Region ständig unter Dänen, Schweden, Polen, Fürsten und Herzögen neu verteilt. Nur Heinrich (IV.) der Dicke, dessen Namen ich mir im Geschichtsunterricht gut zu merken wusste und der es ebenfalls auf die Liste der einflussreichen Personen schaffte, regierte Mecklenburg im 15. Jahrhundert nochmals als einheitliches Herzogtum.
Die friedliebenden Einwohner der neu gegründeten Städte betrieben Handel, Imkerei, Ackerbau, Viehzucht und Fischerei. Das klingt harmonisch, und das hätte es auch sein können, hätte es nicht zunehmend all die aufdringlichen Captain-Hook-Typen gegeben.
Um sich gegen die Seeräuber zu wehren, schlossen sich entlang der Ostseeküste ein paar Städte zusammen. Rostock, Stralsund und Wismar gehörten zu den Gründungsmitgliedern der sogenannten Städtehanse. Die Hanse ließ Köpfe rollen, machte Dörfer zu Städten und ihre Bewohner zu Millionären. Schon bald hatte sie so viel Kohle, dass die Kirchtürme in ihren Städten höher und höher in den Himmel wuchsen und die Fassaden der Gebäude in wunderschön rotem Backstein leuchteten, kurz: Die Hanse mauserte sich zu einem ungemein erfolgreichen Städtebund. Auf dem Höhepunkt der Hanse zählten 180 Städte in ganz Nordeuropa zu ihren Mitgliedern. Gehandelt wurde mit Getreide, Pelzen, Wachs und Honig, mit Fisch aus Skandinavien, Tuch und Wolle aus England, Wein aus dem Rheinland, Salz aus Lüneburg. Niederdeutsch wurde zur Handelssprache. Aber nicht nur der Handel ließ die Taler in den ledernen Säckchen der Ratsherren klingeln, auch der Schiffbau florierte. Die Kogge, ein neuer Schiffstyp, zeigte auf den Weltmeeren Flagge. Es war die große Zeit der Segelschifffahrt.
Die Hanse verfolgte ihre rein wirtschaftlichen Interessen und hielt sich weitestgehend aus machtpolitischen Fragen heraus. Das, im Übrigen, entspricht unbedingt der meck-pommerschen Mentalität, denn es gilt der Spruch, der selbst in der Hochzeitszeitung meiner Eltern seinen Platz gefunden hat: Sup di full und frät di dick und hol din Mul von Politik (Sauf dich voll und friss dich dick und halt dein Maul von Politik).
1419 eröffnete in Rostock die erste Universität Nordeuropas mit dem klangvollen Namen Leuchte des Nordens. Offensichtlich studierten aber nicht genügend Meck-Pommer an der neu gegründeten juristischen Fakultät, und so waren sie auch nicht in der Lage, sich den Interessen ihrer regierenden Fürsten juristisch zu widersetzen. Die zunehmende Territorialgewalt sollte schließlich einer der Faktoren sein, die im 15. Jahrhundert zum Machtverlust der Hanse führten.
Knapp zweihundert Jahre zogen ins Land. Es war mitten im Dreißigjährigen Krieg, dem schon zwei Drittel der Einwohner des Landes zum Opfer gefallen waren. Albrecht Wenzel Eusebius von Wallenstein hatte große Teile Deutschlands und Mecklenburgs erobert und tauchte nun vor den Toren Stralsunds auf. Der Legende nach soll Wallenstein über mich und die anderen Einwohner meiner Stadt gesagt haben:
Sie sind schlimme Kerls, widerwärtig und rebellisch, lose Buben, denen nicht zu trauen ist, Schelme, Bösewichte und Bestien. Ich werde nach Stralsund kommen und nicht eher abziehen, bis die Stadt eine katholisch-kaiserliche Garnison aufgenommen hat, oder ich werde es so machen, dass nichts von ihr übrig bleibt. Und wenn sie mit Ketten an den Himmel gebunden, die Stadt muss herunter.
Wallenstein belagerte die Stadt, doch herunter bekam er sie letztendlich nicht, denn den losen Buben eilten dänische und schwedische Buben zu Hilfe.
Für Pommern begann anschließend die Schwedenzeit, die sich dadurch auszeichnete, dass Schweden regierte. Später übernahmen peu à peu die Preußen. Das war dann die Preußenzeit.
In Mecklenburg regierten die zwei Großherzogtümer Mecklenburg-Strelitz und Mecklenburg-Schwerin. Die Unzufriedenheit über die politischen Verhältnisse löste eine Auswanderungswelle aus. 250 000 Mecklenburger verließen zwischen 1850 und 1900 ihre Heimat. Die meisten von ihnen nach Übersee.
Schweden ließ es erst 1903 endgültig gut sein, indem es vertraglich auf die Einlösung seines Pfandes (Hansestadt Wismar) verzichtete. Die Skandinavier gehören bekanntlich zu den fortschrittlichen, modernen Nationen, so war ihnen das Terrain Mecklenburg-Vorpommerns am Ende wohl nicht geheuer, denn dort scheiterte die bürgerliche Revolution, und als einziges Gebiet blieb es bis Anfang des 20. Jahrhunderts ohne moderne Verfassung. Und sogar bis Ende 2007 ohne ein schwedisches Möbelhaus.
Am Ende des Zweiten Weltkrieges wurden Mecklenburg und Pommern das erste Mal zu dem, was sie heute sind: Mecklenburg-Vorpommern. Mecklenburg-Vorpommern als solches existierte jedoch nur zwei Jahre, 1947 wurde die Bezeichnung (Vor-)Pommern verboten.
Die DDR tat ein Übriges; sie teilte unter anderem Mecklenburg-Vorpommern in drei Regierungsbezirke, ließ ergrauen, was ergraute, legte den Bauern und Bäuerinnen nahe, sich einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) anzuschließen, und verstaatlichte Hotels, Taxi- und Dienstleistungsunternehmen entlang der Ostseeküste. Aber dann endlich, 1990, dank der Sachsen und ihrer revolutionären Ader, die ganz besonders montags pulsierte, wuchs zusammen, was zusammengehört: Mecklenburg-Vorpommern. Und dann ging alles holterdiepolter. Schwerin wurde als Landeshauptstadt auserkoren, Angela Merkels Wahlkreisbüro in Stralsund eingerichtet, Innenstädte UNESCO-Weltkulturerbe-tauglich saniert, Quelle-Geschäfte eröffnet und wieder geschlossen, Werften gerettet und dann doch nicht, Nationalparks als solche erkannt und ausgewiesen, die leeren Kinderzimmer der Kinder, die das Land in Scharen verließen, für Touristen bereitgestellt, die in immer größeren Scharen kamen, inklusive Wladimir Putin, George W. Bush, Tony Blair und Nicolas Sarkozy. Eine rechtsextreme Partei wurde in den Landtag gewählt und wieder rausgewählt, von Rostock ein Bundespräsident zur Verfügung gestellt, Windräder aufgebaut und ganz viele Wellnessangebote in Prospekten angepriesen.


Charakter und Erscheinungsbild
Was ist das eigentlich für ein Mensch, der Küstenmensch, der auf sämtlichen Fotos in den Dünen steht und den Blick durchgeistigt auf den Horizont richtet, der seine Liebsten Schieter und Frostköttel nennt und in seinen Märchen die Frauen in einem Pisspott wohnen lässt? Das Märchen selbst, De Fischer un sin Fru, vom Wolgaster Otto Runge an die Grimms verhökert und 2007 von Doris Dörrie verbraten, gibt einen ersten Anhaltspunkt. Bescheiden ist der Meck-Pommer. Will er wie im Märchen gar Papst oder Gott werden, wird er auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Der Boden der Tatsachen bleibt seine Herkunft. … so trägt der Mecklenburger, auch wenn er zum Städter ward, noch ein Stück Ackerkrume mit sich herum, behauptete der Rostocker Schriftsteller und spätere Direktor des Wiener Burgtheaters Adolf Wilbrandt.
Diese Ackerkrume klebt selten an einem hohen Absatz einer Meck-Pommerin. Absätze sind auf den Kopfsteinpflastern der hiesigen Hansestädte und dörflichen Marktplätze oder gar auf ländlichen Feldwegen viel zu unpraktisch. Praktisch dagegen sind Stirnbänder bei den Damen und tiefblaue Prinz-Heinrich-Mützen bei den Herren. Eine Art Kapitänsschirmmütze mit Kordelbandverzierung. Dazu trägt der Küstenmann Bart, meistens voll. Schnauzer, modische Linienführungen oder gezwirbelte Kunst finden Sie unter Einheimischen nicht. Der Mecklenburger lässt sich nicht leicht zu Extravaganzen hinreißen. Sein Charakter hat einmal nichts von einem revolutionären Elemente an sich (David Russa).
Auch die Küstenfrau verzichtet auf gar zu viel Tüddelüt. Aufbrezeln hält sie für eine bayerische Art zu backen. Überladene Perlenketten, funkelnde Ohrringe und dicke Klunker liegen bei ihr gut aufgehoben in der Nachttischschublade. Der Unterschied zu anderen norddeutschen Damen besteht darin, dass die Meck-Pommerin niemals in schniekem Matrosenlook anzutreffen ist. Das wäre ihr irgendwie zu – dämlich. Von ihren Landsleuten bekäme sie dazu ein verächtliches Wat hest du dor antreckt? (Was hast du denn da angezogen?) zu hören. Einer der Lieblingswitze der Meck-Pommer geht so: Treffen zwei Nullen am Ostseestrand eine Acht. Sagt die eine Null zur anderen: Schau mal dieses eitle Ding an. Trägt bei der Hitze noch einen Gürtel. Über die zweckmäßige Bekleidung der meck-pommerschen Damen beschwerte sich seinerzeit Walter Behrend wie folgt:
Die Rostocker Frauen machen im Durchschnitt in ihrer ganzen biederen Haltung und Kleidung durchaus den unantastbaren Eindruck der tüchtigen deutschen Hausfrau. Fern von allem erotisch leichten, gefälligen Air geben die norddeutschen Damen in der Regel das absolute Exempel der unwiderruflichen Zweckmäßigkeit und Nüchternheit ihrer Weiblichkeit, nicht etwa das der planmäßigen Aufreizung und Eleganz, auf die es doch schließlich ankommt.
Nüchtern und irgendwie zweckmäßig ist auch der Humor der Menschen dieser windigen Region. Im Allgemeinen werden Ihnen weder Frau noch Herr Meck-Pomm lächelnd auf der Straße begegnen. In ihren Gesichtsausdrücken liegt eher etwas wie Verwunderung oder Skepsis, auch wenn der Meck-Pommer selbst den Spruch Dat Läwen is väl tau kort för een langet Gesicht (Das Leben ist viel zu kurz für ein langes Gesicht) zum Platt-Sprichwort des Jahres 2008 gewählt hat. Böse Zungen nennen den landestypischen Gesichtsausdruck Spott. Über seine Züge fliegt dem neugierigen Frager gegenüber oft ein flüchtiger Schein, der es verrät, wie sehr er sich innerlich über ihn lustig macht … (C. Beyer). Der Meck-Pommer amüsiert sich, ohne zu lachen. Treffen Sie tatsächlich mal auf eine größere Ansammlung von Meck-Pommern, um nicht zu sagen auf eine kleine Gesellschaft, geraten Sie vielleicht in die Verlegenheit, einen Witz nach dem anderen zu probieren, weil schon bald Ihr Ehrgeiz geweckt ist, diesen sturen, ernsten Gesichtern ein Lächeln zu entlocken. Die lächeln aber allerhöchstens nur so ein bisschen, und dann auch noch in sich hinein, und doch könnte es passieren, dass Ihnen zum Abschied jemand die Hand auf die Schulter legt und sagt: Dat hest du oewer fien makt. So gaut häv ick mi lang nich amüsiert (Das hast du aber schön gemacht. So gut habe ich mich schon lange nicht mehr amüsiert). Ebenso kann es Ihnen passieren, dass Ihnen nach einem Gespräch erst Tage später aufgeht, dass sich Ihr vorpommerscher Gesprächspartner einen Spaß erlaubt hat. Loriots Vorfahren stammten übrigens aus Mecklenburg-Vorpommern. Und immerhin leben nicht wenige Meck-Pommer in Städten die auf -witz enden.
Pragmatisch sind sie, die Meck-Pommer. Sie neigen nicht zum Problematisieren. Das kann man wirklich nicht sagen. Für jedes, aber auch jedes Problem gibt es eine zweckmäßige Lösung: De nich old warn will, mütt sik jung uphängen (Wer nicht alt werden will, muss sich jung aufhängen). Aus Abschieden scheint der Meck-Pommer generell keine allzu große Sache machen zu wollen. Wessen Familienmitglieder tagelang zur See gefahren sind, der weiß mit einem Ahoi umzugehen.
Der Nachwendefilm Go Trabi Go hatte ein ganz patentes Castingteam. Der Film um das DDR-Kultauto wäre nämlich grandios gefloppt, hätte man anstelle des fröhlich-sächsischen Pärchens eine Meck-Pommer-Familie nach Rom geschickt. Mit ihrem schwerfälligen melancholischen Temperament hätten sie sich durch die engen Gassen gequält, über die Anstiege, die Berge, geschimpft und sich für ganz besonders swienplietsch (pfiffig) gehalten, weil sie durchschaut hätten, dass man sie in diesem Land mit einem viel zu dünnen Pizzateig übers Ohr zu hauen versucht. Mit einer großen Portion Trotz hätten sie ihre sechs Zentimeter dicken Käsebrote und Wurststullen herausgeholt und ihr Zuhause schmerzlich vermisst. So bittet auch schon der Name eines bekannten ehemaligen Gasthauses in Bad Stuer am Plauer See stellvertretend für alle Einwohner des Landes: Schweigt mir von Rom.
Und doch haben die Meck-Pommer mit den Italienern etwas gemeinsam: die Gastfreundlichkeit. Auch wenn den ein oder anderen Touristen in Mecklenburg-Vorpommern bei der Inanspruchnahme öffentlicher Dienste das Gefühl beschleicht, er solle sich jetzt lieber schleunigst vom Acker machen, so seien Sie doch gewiss, dass der Meck-Pommer im Herzen, ganz wie seine slawischen Vorfahren, ein gastfreundlicher Menschenschlag ist. Seine flache Landschaft hilft ihm dabei, sich dieses Gut zu bewahren, denn so sieht der Meck-Pommer schon Donnerstag, wer Samstag zu Besuch kommt. Mit Überraschungen und Spontaneitäten kommt der Meck-Pommer schlecht zurecht. Niemand will stören, und niemand wird gern gestört. Ein klassischer Fall von falscher Rücksichtnahme, ein Missverständnis meines Erachtens. Denn ich bleibe bei meiner Behauptung, der Meck-Pommer ist gastfreundlich. Gastfreundlich und hilfsbereit, auch wenn Sie kaum wagen, das mürrische Gesicht auf den Straßen Mecklenburg-Vorpommerns nach der Zeit zu fragen. Und auch wenn Thomas Kantzow in seiner Pomerania die Behauptung aufstellt: Es sind die Einwohner des Landes sehr ein zänkisch und mordtisch Volk …, Sie müssen wissen, ältere Meck-Pommer sind vom Timurtrupp geprägt. In Anlehnung an das russische Buch Timur und sein Trupp taten sich in der DDR Jungpioniere zusammen und boten alten und kranken Menschen ihre Hilfe an. Und Gewohnheiten kann man ja bekannterweise nicht einfach aus dem Fenster werfen, die muss man Schritt für Schritt die Treppe herunterlocken.
In dem ganzen Verhalten des Meck-Pommers liegt nur manchmal etwas schwer Durchschaubares. Vierzehn Euro für einen Glühwein in Heiligendamm (so war’s gewesen!)? Ein Haus, das kopfsteht (auf Usedom zu finden!)? Für eine noch größere Irritation sorgte zum Beispiel der langjährige Ministerpräsident Harald Ringstorff, als er bei der Landtagswahl 2006 mit dem Slogan Den Erfolg fortsetzen warb. Welchen Erfolg, fragte man sich. Ein böser Freund nannte das meck-pommersche Verhalten leicht schizophren, ein anderer nennt es doppelmoralisch. Ich benenne das gar nicht, aber ich mache Beobachtungen. In einem Restaurant war meiner Oma sehr unangenehm, dass ich eigens die Kerze anzündete (Das darf man doch nicht. Das muss die Bedienung machen!), aber bei einem Krankenbesuch öffnete sie wie selbstverständlich das Sicherheitsfenster in der Notaufnahme (Ich: Oma, das geht doch nicht. Das muss die Schwester machen! Oma: Geht alles!).
Der Meck-Pommer schwört in allen Bereichen seines Lebens auf Altbewährtes. Er verabscheut Veränderungen, die allzu plötzlich über ihn hereinbrechen. Er weiß gern, wie der Hase läuft, und so wird er in der Großstadt den Bus als öffentliches Transportmittel für eine Strecke wählen, die mit der U-Bahn in der Hälfte der Zeit zu schaffen wäre (und trotzdem pünktlich sein). Diskussionen über Entscheidungen wie diese sind mit dem Meck-Pommer anschließend nicht zu führen, denn er wird auf die Frage nach seinen Gründen wie immer antworten: Das ist nun mal so. Weil ich das immer so mache. Weil das schon immer so war und auch immer so bleiben wird. So entstehen zuweilen absurd wirkende Aussagen wie diese (gehört, als im April 2006 noch mal Schnee fiel): Ich schipp, wenn sich das gehört, und nicht, wenn Schnee fällt. Die starrköpfigen Vorpommern und schweigsamen Mecklenburger selbst würden derlei Thesen über sich wahrscheinlich wie folgt von sich weisen: Es gibt immer solche und solche!
Aus diesem Es-gibt-immer-solche-und-solche-Leitspruch lässt sich eine weitere Tugend ableiten, deren Qualität und Vorzug dem Meck-Pommer womöglich gar nicht recht bewusst ist: Toleranz. Auch wenn man die Leute da oben in Nordost mit ostdeutscher Fremdenfeindlichkeit verbindet, so muss ich sagen, dass die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern doch ziemlich tolerant sind. Hier atmet die Attitüde: Soll’n se doch maken, wat se will’n. Das ist zwar einerseits sehr löblich und kam mir damals sehr entgegen, andererseits zeugt das auch von einem gewissen Desinteresse allem gegenüber, was ihnen fremd ist. Und weil sie vor Fremdem, Anderem, Neuem oft eine wirklich panische Angst zu verspüren scheinen, versuchen sie es nicht selten mit einem etwas abschätzigen, man möchte fast sagen, arroganten Gesichtsausdruck. Von dem sollten Sie sich jedoch nicht, wie Theodor Fontane, ins Bockshorn jagen lassen. Fontane fiel darauf herein und verfasste offensichtlich leicht beleidigt folgende Zeilen:
Ich kann den Dünkel, daran sie kranken, nicht ganz unberechtigt finden. Sie haben unbestreitbar eine wundervolle Durchschnittsbegabung, werden aber ungenießbar dadurch, dass sie einem dies Durchschnittsmäßige, dies schließlich doch immer furchtbar Enge und Kleinstädtische, als etwas Höheres, als das eigentlich Wahre aufdrängen möchten. Das nennen sie dann Humor, wenn sie plötzlich mit einem ziemlich unverschämten Gesicht aus ihrem Mustopf heraufgucken.
Also, warum nennt nun der Meck-Pommer seine Liebsten Schieter? Die Faustformel lautet: Je gröber die Ausdrucksweise, desto liebevoller gemeint ist das Gesagte, meistens. Dabei gibt es zweifellos einen Hang zur Fäkalsprache und zu spröden Liebesschwüren. Meck-pommersche Liebesdialoge klingen dementsprechend in etwa so:
Nu kam her, Mann!
Wat willste schon wedder von mie?
Na, wat soll ick denn schon will’n, he? Dat will ick. Nu hev die nich so. Kam her, Minsch!
Berliner Schnodderigkeit?! Pff, schon mal was von meck-pommerscher Gnatzköpfigkeit gehört?
Und auch wenn die Worte in Mecklenburg-Vorpommern knapp bemessen sind, so zählt jedes einzelne umso mehr. Davon schwärmt ein schwäbischer Gutshausbesitzer in einem Rotary-Magazin: Ich habe hier (in Mecklenburg) im Laufe der Jahre über zweitausend Notarverträge geschlossen, und nicht ein einziges Mal hat jemand nach erfolgtem Handschlag noch irgendetwas ändern wollen, wenn es zur Beurkundung ging.

Merke! Der echte Mecklenburger ist entweder schon als Kind zu ernstem Denken geneigt und macht einen älteren Eindruck, oder er bleibt ewig ein Kind. (Marx Möller, Schriftsteller)

Wie Sie einen waschechten Meck-Pommer enttarnen:
Sie befinden sich in einem Ort, der auf -itz, -ow oder -in endet. Dort betätigen Sie einen Klingelknopf über dem Namensschild Freetwurst oder Hafenmeister. Jemand öffnet mit leicht verstörtem Blick, gibt Ihnen zur Begrüßung die Hand, noch bevor er oder sie Sie als Fremden oder Verwandten identifiziert hat. Er/sie bittet Sie rein. Auf der Fensterbank liegen Hühnergott und Donnerkeil. Herr Hafenmeister oder Frau Freetwurst serviert Ihnen Kümmel- oder Pfefferminzlikör, fängt einen Small Talk an, in dem er/sie die Auswirkungen der Windrichtung auf bevorstehende Wetterwechsel erwähnt. Auf Fragen antwortet er/sie kurz und knapp mit Ja oder Nein. Nach dem sechsten Kümmel will dieser sture Mensch Ihnen weismachen, dass es nicht lohnt, nach Kanada oder Finnland zu reisen, solang man nicht an der Müritz war. Aus Kümmel wird Sanddornlikör, der in den Bergen Hiddensees selbst gepflückt wurde, aus Ja und Nein wird Schweigen. Die Verabschiedung begleitet wie zuvor schon die Begrüßung ein fester Händedruck. Man sagt Tschüss.

Ariane Grundies

Über Ariane Grundies

Biografie

Ariane Grundies, 1979 in Stralsund geboren, studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig; 2002 gewann sie beim Open Mike mit einer ihrer Erzählungen. Neben einem Roman, Kurzgeschichten und Sachbüchern veröffentlichte sie auch Hörbücher und Artikel in verschiedenen Magazinen. Außerdem scheibt...

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