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Franz Josef Strauß

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Herrscher und Rebell

„Der renommierte Münchner Historiker Horst Möller zeigt Franz Josef Strauß in all seiner Widersprüchlichkeit.“ - Dredner Neueste Nachrichten

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Franz Josef Strauß — Inhalt

Er wurde verehrt und geliebt, gehasst und bekämpft - nur gleichgültig ließ Franz Josef Strauß niemanden. Unzweifelhaft ist er einer der Politiker, die die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland geprägt haben. Horst Möller legt hier die erste große Biografie vor, die aus bislang unzugänglichen Archiven und Quellen gearbeitet ist: aus Protokollen der CSU-Landesleitung und der Bayerischen Staatskanzlei ebenso wie aus dem Privatarchiv von FJS. Über vierzig Jahre lang war deutsche Politik ohne FJS nicht denkbar. Als Generalsekretär der CSU, als "Atomminister", als Verteidigungsminister, der die Bundeswehr aufbaute und über die Spiegel- Affäre stürzte, als Finanzminister, als Opponent von Willy Brandt und dessen sozialliberaler Koalition, als Bayerischer Ministerpräsident und zugleich Partner und Gegner von Helmut Kohl ... Möller lässt die Dokumente ebenso sprechen wie die gedeckten Quellen und setzt so das Bild eines Mannes aus vielen Facetten zusammen - nicht schwarzweiß wie so oft, sondern so bunt, vielfältig und widersprüchlich wie der Mensch und Politiker Strauß war.

€ 18,99 [D], € 18,99 [A]
Erschienen am 08.06.2015
832 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97008-2
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Leseprobe zu „Franz Josef Strauß“

Vorwort


Brauchen wir eine geschichtswissenschaftliche Biografie über Franz Josef Strauß? Die Frage ist leicht zu beantworten, wird sie doch immer wieder als Desiderat der Forschung bezeichnet. Zwar existieren zahlreiche Veröffentlichungen über Strauß, auch Biografien, doch befindet sich darunter keine, die auch nur die wichtigsten gedruckten Quellen heranzieht, geschweige denn seinen enormen, ca. 300 Regalmeter umfassenden schriftlichen Nachlass. So überflüssig neue Bücher über Strauß wären, die sich wiederum diese Quellenarbeit ersparen, so notwendig [...]

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Vorwort


Brauchen wir eine geschichtswissenschaftliche Biografie über Franz Josef Strauß? Die Frage ist leicht zu beantworten, wird sie doch immer wieder als Desiderat der Forschung bezeichnet. Zwar existieren zahlreiche Veröffentlichungen über Strauß, auch Biografien, doch befindet sich darunter keine, die auch nur die wichtigsten gedruckten Quellen heranzieht, geschweige denn seinen enormen, ca. 300 Regalmeter umfassenden schriftlichen Nachlass. So überflüssig neue Bücher über Strauß wären, die sich wiederum diese Quellenarbeit ersparen, so notwendig ist eine Strauß-Biografie, die sich darauf einlässt.

Da Franz Josef Strauß zu den ganz wenigen deutschen Spitzenpolitikern gehört, die mehr als vier Jahrzehnte lang als Parlamentarier, Bundesminister für Atomfragen, für Verteidigung, für Finanzen, als Bayerischer Ministerpräsident sowie als CSU-Vorsitzender die Geschichte der Bundesrepublik maßgeblich mitgeprägt haben, ist seine Biografie länger als die aller anderen Politiker der Nachkriegszeit unauflöslich mit der deutschen Geschichte verwoben, zahlreiche politische Weichenstellungen gehen auf ihn zurück oder profitierten von seiner unverwechselbaren politischen Kompetenz und Kraft. Seine Umstrittenheit wurzelt nicht allein in seiner Streitbarkeit, seinem vulkanischen Temperament, seiner Angriffslust, sondern in den von ihm mit Vehemenz und Durchsetzungsstärke verfochtenen politischen Zielen. Dabei erwies er sich als politisch reflektierter, konzeptionsstarker, über den Tag hinaus denkender Staatsmann. Wenige wurde so befehdet wie er, über wenige sind so viele Klischees im Umlauf, und nicht selten lieferte er selbst dafür Anlässe. Doch ist es ziemlich langweilig, immer nur die gleichen starren Stereotypen zu wiederholen: Sie sind bequem, werden aber gerade einem so unruhigen, neugierigen, vielseitigen Geist wie Franz Josef Strauß am wenigsten gerecht, Klischees verzerren die historische Realität, statt das Wissen über sie zu fördern.

Mehr als ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod, zu seinem 100. Geburtstag, ist es endlich an der Zeit, eine politische Biografie über ihn zu schreiben, die auf der Basis zentraler Quellenbestände sein politisches Denken und Handeln ins Zentrum rückt, um seine Leistung in der Geschichte der Bundesrepublik und Nachkriegseuropas ermessen zu können. Auch dabei ist allerdings Auswahl unvermeidlich, erlaubt Auswahl doch Erkenntnis. Franz Josef Strauß war zweifellos eine komplexe, keineswegs widerspruchsfreie Persönlichkeit, sie ist nicht in jeder Hinsicht auszuloten. Anfechtbar im Einzelnen, war er doch grandios im Ganzen, weder Heiliger noch Dämon, wie er selbst sagte. Allein schon die Paradoxie des Titels dieser Biografie bringt eine der vielen Spannungslinien der Persönlichkeit von Franz Josef Strauß zum Ausdruck, er stammt aus den Erinnerungen seines Widersachers Willy Brandt: „Herrscher und Rebell“.

München, im März 2015

Horst Möller




Teil I


Einleitung


Könnte ein Politiker wie Franz Josef Strauß heute erfolgreich sein, wäre er in der gegenwärtigen politischen Arena überhaupt vorstellbar? So fiktiv diese Frage erscheint, so treffsicher führt sie zum Kern dieser Darstellung. Eine Verneinung dieser Frage, liefe auf die Typisierung der unverwechselbaren individuellen Identität hinaus, würde sie bejaht, lautete das Urteil: Ein großer Politiker prägt nicht allein die Zeitläufte, sondern passt sich ihnen bis zu einem gewissen Grad an, um wirken zu können. Anders gewendet: Um einen Spitzenpolitiker angemessen zu würdigen, muss dieses Wechselspiel von Persönlichkeit und Wirkungsraum erfasst werden, muss erklärt werden, was heute so anders ist und damals so spezifisch war. „Eine Biographie hat ›Geschichte‹ zu sein, das heißt, sie soll stimmen und eine Person im Verhältnis zu ihrer Zeit darstellen. Sie muß eine ›individuelle‹ Persönlichkeit mit allen Schattierungen des menschlichen Charakters beschreiben; es soll also nicht ein Typus für irgendwelche Tugenden oder Laster dargeboten werden. Und schließlich muß sie als ›Zweig der Literatur‹ verfaßt sein“, so resümiert Harold Nicolson drei Leitlinien biografischer Arbeit.

Diese Epochenspezifik gilt nicht allein für Franz Josef Strauß, sie gilt seiner Generation der Nachkriegspolitiker. Doch schon hier stutzen wir: Seiner Generation? Konrad Adenauer, Theodor Heuss, Carlo Schmid, Ludwig Erhard, Kurt Schumacher, Wilhelm Hoegner, Josef Müller – sie alle gehörten einer anderen Generation an, deren Lebenserfahrung die Jahre oder Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg und das Kaiserreich einschloss. Sie waren deutlich älter, Adenauer sogar fast 40 Jahre, und wirkten doch eineinhalb Jahrzehnte lang zusammen mit ihm auf der politischen Bühne. Aber auch der nicht im politischen Inhalt, doch an eruptivem, zuweilen ungezügeltem politischem Temperament vergleichbare politische Gegner Herbert Wehner war etwa zehn Jahre älter als Strauß. Das besagt: In den ausgehenden 1940er-, den 1950er- und noch immer den 1960er-Jahren zählte Strauß zu den jungen Politikern, über viele Jahre blieb er der mit Abstand jüngste Spitzenpolitiker der frühen Bundesrepublik. Mit anderen Worten: Er gehörte zwar einer Generation an, erlebte aber in seiner 43 Jahre währenden politischen Laufbahn selbst einen massiven Wandel der politischen Welt und der Politikstile.

Hat er sich selbst in diesen eineinhalb Generationen gewandelt, sich angepasst? Mit einem gewissen Zögern wird man sagen können: Kaum. Doch bezieht sich diese Einschätzung auf seine Persönlichkeit, nicht auf die politischen Inhalte, waren doch nur wenige Politiker so aufgeschlossen für Neues wie er – allein seine Technologiepolitik bildet ein Beispiel, aber auch die Art, mit Innovationen oder neuen Herausforderungen umzugehen. Als Franz Josef Strauß 1955 mit 40 Jahren Atomminister und dann Vorsitzender der im Januar 1956 konstituierten Deutschen Atomkommission wurde, der u. a. die Nobelpreisträger Otto Hahn und Werner Heisenberg angehörten, demonstrierte er dies sofort: Nach eigener Aussage hatte er sich durch „intensive Fachlektüre … in die Grundsätze der Kernphysik“ eingearbeitet, „um mit den Experten zumindest einigermaßen mitreden zu können. Einen Minister mit Kompetenz hielt ich für dieses wichtige und zukunftsorientierte Amt für unerläßlich.“ Aus diesem Grund führte er in den USA mit dem „Hochadel“ der Nuklearphysiker, unter anderem mit Edward Teller und den „Fachleuten von Berkeley“, „eine Reihe von Gesprächen“.

Lassen wir dahingestellt, in welchem Maße man sich in ein derart kompliziertes Fach als Laie schnell einarbeiten kann, unstrittig ist der Wille von Strauß, in allen Bereichen, für die er in seiner langen politischen Karriere zuständig wurde, Sachkompetenz zu erwerben. Während des Krieges bat er seine Schwester, ihm althistorische bzw. altphilologische Werke an die Ostfront zu senden, noch als Ministerpräsident ließ er sich politikwissenschaftliche, soziologische und historische Werke aus der Bayerischen Staatsbibliothek ausleihen und füllte während der 1980er-Jahre immer wieder eigenhändig Bestellzettel für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft in Darmstadt aus, u. a. für grundlegende mehrbändige Reihenwerke wie das Historische Wörterbuch der Philosophie oder die von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhard Koselleck herausgegebenen Geschichtlichen Grundbegriffe, doch schaffte er außer zahlreichen historisch-politischen Werken auch wissenschaftstheoretische an, beispielsweise von Karl R. Popper, oder poetische oder kulturhistorisch interessante, beispielsweise Goethes Italienische Reise. Allein der Teil seiner ehemals in Wildbad Kreuth aufgestellten Bibliothek umfasste circa 10 000 Bände, darunter Hunderte von Ausgaben der antiken Klassiker in der Originalsprache. In Bezug auf seine historische und humanistische Bildung kamen ihm nur ganz wenige nahe, insofern gehört er – was in dem gängigen Bild von Franz Josef Strauß kaum vorkommt – zu den ausgesprochen intellektuellen und bildungsbürgerlichen Politikern, in der Nachkriegszeit also zu Politikern wie Theodor Heuss, von dem nicht wenige Werke in seiner Bibliothek stehen, Carlo Schmid, Eugen Gerstenmaier, Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger, auf andere Weise auch Willy Brandt, der zwar kein typischer Bildungsbürger, doch aber ein Intellektueller war.

Von den 1950er- bis in die 1980er-Jahre hielt er immer wieder Reden über Grundfragen von Staat und Politik, von Gesellschaft und Wirtschaft. So sprach er früh über „Jugend und Politik“, über das Verhältnis von „Politik und Macht“, über den Menschen „als Maß und Mitte der Politik“, über „ethische und gesellschaftliche Dimensionen der Wirtschaftsordnung“. Er veröffentlichte Bücher wie ein Programm für Europa, Analysen zur Weltpolitik, die in angesehenen Zeitschriften wie Foreign Affairs veröffentlicht wurden. War Strauß im Ausland, dann traf er dort auch als Abgeordneter ohne Regierungsamt regelmäßig mit führenden Analytikern der weltpolitischen Entwicklung zum Gedankenaustausch zusammen, in Washington beispielsweise mit Henry Kissinger und Zbigniew Brzezinski. Sogar seine Bierzelt- und Aschermittwochsreden, von denen meist nur die „Kracher“ und die politische Polemik zitiert werden, enthalten stets weitreichende inhaltliche, zuweilen konzeptionelle Passagen. Zahlreiche Reden hielt Strauß mit wenigen Stichworten, wobei er sich nicht selten lateinische, zuweilen auch griechische Zitate in der Originalsprache, zum Beispiel der Historiker Herodot oder Thukydides, aufschrieb. Mag das Brillieren mit klassischem Bildungsgut partiell durch das kompensatorische Bedürfnis desjenigen motiviert gewesen sein, der, aus bildungsfernen Schichten kommend, stolz sein Wissen zur Schau stellt, so trifft eine solche Einschätzung doch nur einen Punkt, lebte Strauß doch in vollen Zügen aus dieser Bildungstradition, die er sich selbst erarbeitet hatte, trafen doch die Zitate meist den Kern des Problems.

Wenn Franz Josef Strauß zweifellos zutreffend ein erotisches Verhältnis zur Macht attestiert wurde, so ist für ihn ein intellektuelles, ein reflektiert-konzeptionelles Verhältnis zur Macht kaum minder charakteristisch. Vielleicht fiele manches Urteil über Strauß angemessener aus, wenn diese intellektuelle Dimension berücksichtigt würde. Gerade die Verbindung von Macht und Geist zählt zu den singulären Zügen von Franz Josef Strauß, drängten doch bei ihm Reflexion und Konzeption immer zur Tat. Dieser starke Realisierungswille unterschied ihn allerdings von spielerischer intellektueller Unverbindlichkeit. Unbestreitbar ist sein ungeheurer Wissensdurst für sehr unterschiedliche Disziplinen, unbestreitbar die außergewöhnliche intellektuelle Kapazität und Energie des Historikers und Philologen, sich in naturwissenschaftliche, ökonomische und finanzwissenschaftliche Zusammenhänge einzuarbeiten. Und in dieser Kombination humanistischer Interessen mit naturwissenschaftlichen, technologischen und technischen unterschied er sich denn doch von den anderen erwähnten intellektuellen Politikern: Er, der „Konservative“, war ungleich moderner als diese klassischen Bildungsbürger. Allerdings provozierte seine unverkennbare Neigung, das neu erworbene Wissen sogleich zu demonstrieren, auch Spott: Als der hauptamtliche Finanzminister der Großen Koalition (und nebenamtliche Innsbrucker Volkswirtschaftsstudent) Strauß im Bundestag über „input“ und „output“ dozierte, fuhr ihm Wehner in die Parade und höhnte: „put, put, put“, was Strauß – selbst für jeden bissigen Zwischenruf zu haben – nicht weiter anfocht.

Stets drängte es ihn auch in Technik und Naturwissenschaft zum Handeln: Trotz aller Fähigkeit zur Reflexion befriedigte ihn doch die Vita contemplativa allein nicht, sie musste mit der Vita activa verbunden werden. Und so war der engagierte Protagonist und Lobbyist der Luftfahrtindustrie ein begeisterter Pilot: Auch wenn seine zum Besuch beim neuen Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, im Dezember 1987 mitfliegenden Parteifreunde zitterten, so landete er doch sein Flugzeug in dichtem Schneetreiben in Moskau: „Ein interessanter Flug. Sicht null“, wie er nach glücklicher Landung, versteht sich, stolz bemerkte. Da der Treibstoff zur Neige ging, blieb keine praktikable Alternative. Weder für die Flugkompetenz noch für die Risikobereitschaft, noch für die selbstgewisse Zuversicht, mit Energie alles lernen und jede Situation meistern zu können, lassen sich so schnell weitere Beispiele unter Spitzenpolitikern finden. Und auch die Bereitschaft zur undiplomatischen Aussage war bei Strauß stärker ausgeprägt als bei den meisten seiner Kollegen, sogar im damaligen Vergleich. Von Gorbatschow höflich gefragt, ob er das erste Mal in der Sowjetunion sei, antwortete er ohne Umschweife: „Nein. Aber beim ersten Mal bin ich nur bis Stalingrad gekommen.“

Waren führende Politiker der frühen Bundesrepublik noch Männer des 19. Jahrhunderts, wie es Kurt Georg Kiesinger ausgerechnet gegenüber dem noch älteren Adenauer mit Blick auf Theodor Heuss etwas respektlos ausdrückte, gehörten zahlreiche Parteifunktionäre und Angehörige der „Funktionseliten“ der nationalsozialistischen Diktatur zu den um 1900 Geborenen, so zählten etliche führende Politiker der mittleren Bundesrepublik zu den im Ersten Weltkrieg bzw. unmittelbar davor oder danach Geborenen: Willy Brandt und Fritz Erler wurden 1913 geboren, Franz Josef Strauß 1915, Helmut Schmidt 1918, Walter Scheel 1919, Richard von Weizsäcker 1920. Sie alle teilten die Erfahrung der nationalsozialistischen Diktatur und des Zweiten Weltkriegs, in dem Strauß, Scheel und Schmidt Oberleutnant waren. Keiner der Genannten war durch das NS-Regime politisch belastet oder korrumpiert, aber jeder wurde zwangsläufig dadurch geprägt. Sie alle wurden aufgrund der Diktatur- und Kriegserfahrung zu kämpferischen Demokraten, wenngleich in unterschiedlichen Parteien. Strauß jedoch war der Einzige, dessen politisches Wirken bereits 1945 begann und schon während der 1950er-Jahre in die erste Reihe führte.

Nicht erst heute, wo Soziologen und Historiker gern das Wort „Alterskohorte“ im Munde führen, ist die Bedeutung der Generationenzugehörigkeit erkannt worden, die unmittelbar das Problem der Biografie berührt. So bemerkte Karl Mannheim bereits 1928, es gelte „aus der Sphäre der Biologie heraus unmittelbar den formalen Wechsel der geistigen und sozialen Strömungen zu verstehen“. Dabei unterschied Mannheim im Anschluss an den Kunsthistoriker Wilhelm Pinder stetige und zeitliche Faktoren, darunter Kulturraum, Nation, Stamm, Familie, Individualität, Typus, sowie die zeitlich definierten „Generationenentelechien“, die „Ausdruck eines ›inneren Zieles‹, Ausdruck eingeborenen Lebens- und Weltgefühls“ seien. Ihre Berücksichtigung soll verhindern, dass mit der Fiktion eines postulierten „Zeitgeistes“, dem „Geist einer Epoche“, die Brüche und Differenzen innerhalb dieser Epoche übertüncht werden. Und zu dieser inneren Differenziertheit zählt selbstverständlich die trotz gemeinsamen Erfahrungshintergrunds markante Unterschiedlichkeit der erwähnten Politiker einer Generation sowie die Tatsache, dass in einer Epoche verschiedene Generationen zusammenleben – Adenauer und Strauß gehörten einer Regierung an, doch waren ihre Persönlichkeit, ihr Erfahrungshintergrund, vor allem aber ihr politischer Stil denkbar unterschiedlich: Eine solche individuelle Färbung kennzeichnet die politische Kultur in Demokratien, während Habitus und Aktionsweise politischer Funktionseliten in Diktaturen zumindest nach außen hin homogen sind.

Was epochenspezifisch den Politiker Strauß charakterisiert, muss eine Biografie klären, diese Frage ist in ihrer Problemstellung angelegt. Hierbei handelt es sich keineswegs um eine abstrakte, sondern um eine konkrete Ebene. Teilt man zum Beispiel die Einschätzung von Helmut Schmidt, es habe künftig kein Politiker mehr eine Chance, der nicht „fernsehgerecht“ agiere, dann würde das zu der Schlussfolgerung führen: Strauß wäre, hätte er länger gelebt, schon deshalb ein „Unzeitgemäßer“, weil man ihn kaum als „fernsehgerecht“ bezeichnen kann. Trotzdem bleiben auch hier Zweifel: Helmut Kohl, der doppelt so lange Bundeskanzler blieb wie der zweifellos fernsehgerechtere Schmidt, gewann trotz fast systematischer Unkenrufe bis zur Niederlage von 1998 alle vorhergehenden Wahlen. So einfach gehen also Person und Zeitstil nicht zusammen, die große Politik bildet eine Melange aus Zeitgemäßem und Unzeitgemäßem, ja Sperrigem, gegenüber der Epochenspezifik.

Ein wesentlicher Aspekt dieses Problems liegt in der Verortung von Strauß gemäß den starren Kategorien politisch-ideologischer Wertung: War Strauß konservativ? Entspricht er in Habitus und Aktion nicht einem gängigen Bild des typischen Bayern? Aber schon dieses Klischee wirft mehr Fragen auf, als es Antworten liefert. Wenn Max Spindler, der verdienstvolle Protagonist bayerischer Geschichtsschreibung, einst bemerkte, Bayern sei katholisch, barock, monarchisch, und wenn man diesen Identifizierungen in Bezug auf Wirtschaft und Gesellschaft noch das Wort agrarisch hinzufügt, dann wird offensichtlich: All das gehört zum bayerischen Erbe, doch erschöpft es sich darin nicht. Solche Beschreibungen treffen sowohl ins Schwarze als auch daneben, Franz Josef Strauß ist auf diese Weise nur partiell zu erfassen: Man mag ihm gar monarchische Züge attestieren, ihn wie Rudolf Augstein den „Herzog von Bayern“ nennen, doch eine Restauration der Monarchie war für ihn trotz aller Hochachtung vor den Wittelsbachern nie ein Thema. Er selbst war zwar katholisch, doch Mitgründer einer überkonfessionellen christlichen Partei. Altbayer von Geburt, gehörte die Integration fränkischer, schwäbischer, pfälzischer Landesteile, die Integration der Protestanten doch zu den Selbstverständlichkeiten seines politischen Weltbildes, ein bayerischer Partikularist war der Bundespolitiker, Europäer und Weltpolitiker Strauß trotz aller Heimatverbundenheit nie. Städter von Geburt, doch mit ländlich-fränkischen familiären Wurzeln, waren ihm die den Dörfern zugeschriebene Behäbigkeit und traditionelle Beharrung eher wesensfremd, war er doch ein dynamischer Modernisierer, von Ehrgeiz und Gestaltungswillen getrieben, einer, der stets kulturelle Tradition mit naturwissenschaftlich-technologischem Fortschritt verband. So viele Klischees über Franz Josef Strauß auch im Umlauf sind, so wenig werden sie seiner Persönlichkeit gerecht.

Das beginnt schon damit, ihn als einen Streiter, ja einen Streithammel zu sehen. Doch belegen viele Briefe, schon aus seinen Studentenjahren, der Kriegs- und Nachkriegszeit bis in seine letzten Jahre hinein, zugleich die Fähigkeit, Freundschaften – darunter auch mit vielen jungen Damen, wie zum Teil sehr herzliche Briefwechsel zeigen – zu schließen. Eine große Zahl seiner Freundschaften hielt über Jahrzehnte an; er verstand sich nicht allein auf den Streit, sondern auch auf die Versöhnung mit ehemaligen Kombattanten. Neben der verletzend-sarkastischen Attacke stand ihm auch versöhnliche Selbstironie zu Gebote. Außer den späteren weltweiten politischen Netzwerken lassen auch die privaten wesentliche Züge seiner Persönlichkeit erkennen – obgleich der Amtsträger in seinem persönlichen Umgang später nicht immer eine glückliche Menschenkenntnis an den Tag legte und deshalb unter seinen „Freunden“, die sich dem einflussreichen Machtmenschen näherten, auch „Nachtschattengewächse“ waren, wie sich manchmal zu spät herausstellte. Auch in seinem persönlichen Leben war Strauß, wie er selbst sagte, kein Heiliger, aber auch kein Dämon, „kein ausgeklügelt Buch, … ein Mensch mit seinem Widerspruch“, wie es in Conrad Ferdinand Meyers Huttens letzte Tage heißt.

Solche Spannungsszenarien auszuleuchten zählt zu den Zielen dieser Biografie, die kein Lebensbild im vordergründigen Sinn ist, sondern unter sachthematischen und systematischen Fragen das politische Wirken von Strauß als dialektischen Prozess von zeittypischen Herausforderungen und persönlicher Prägung begreift. Daraus folgt, dass es hier nicht um die ach so beliebten Enthüllungsstorys oder die zugehörige Schlüssellochperspektive, sondern um eine politische Biografie geht: Persönliches wird nicht ausgespart, sofern es den Menschen und Politiker anschaulicher macht, steht aber nicht im Mittelpunkt. Auch tatsächliche oder mutmaßliche Skandale werden nicht ausgelassen, wenn die Quellen dafür Erkenntnisse liefern, doch basiert eine historische Darstellung nicht auf Mutmaßungen, Gerüchten oder vielfach wiederholten Vorurteilen ohne hinreichende empirische Basis.

Tatsächlich zählt Strauß zu den Problemfällen der politischen Urteilsbildung: „Von der Parteien Hass und Gunst verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte“, wie es Friedrich Schiller für seinen „Helden“ Wallenstein unübertroffen ausgedrückt hat. Daran kranken trotz vieler verdienstvoller Detailstudien nach wie vor die meisten Darstellungen. Und natürlich kann auch die Frage gestellt werden, ob sich die Biografie eines Mannes lohnt, über den schon die Zeitgenossen so viel geschrieben haben und der nie Bundeskanzler geworden ist. Die erste Frage kann allein auf Grundlage des bisher nur ganz punktuell und vereinzelt ausgewerteten außerordentlich umfangreichen Nachlasses und anderer unveröffentlichter Dokumente beantwortet werden. Die zweite Frage soll die Biografie selbst beantworten, nämlich die Frage Jacob Burckhardts nach der „historischen Größe“. Wenngleich Burckhardt Kriterien nennt, nach denen auch hier geurteilt werden kann, bemerkt er doch zu Recht: „Die wirkliche Größe ist ein Mysterium. Das Prädikat wird weit mehr nach einem dunklen Gefühle als nach eigentlichen Urteilen aus Akten erteilt oder versagt; auch sind es nicht die Leute vom Fach allein, die es erteilen, sondern ein tatsächliches Übereinkommen vieler.“

Unabhängig von der am Ende zu beantwortenden Frage nach seiner „historischen Größe“ gibt es doch schon deshalb keinen Zweifel an seiner Biografiewürdigkeit, weil Franz Josef Strauß für Jahrzehnte zu den wirkungsmächtigsten Politikern der Bundesrepublik Deutschland gehörte: Von 1948 zunächst Landesgeschäftsführer, danach von Mai 1949 bis 1952/1953 Generalsekretär, war er von 1961 bis 1988 27 Jahre Parteivorsitzender der CSU, zwischen 1953 und 1962 Bundesminister in drei Regierungen Konrad Adenauers mit unterschiedlichen Portefeuilles, darunter in zwei neuen Ressorts, in denen er jeweils große Aufbauleistungen vollbrachte – 1955/56 als Atom- und vor allem 1956 bis 1962 als Verteidigungsminister. Und schließlich war Strauß drei Jahre ein außerordentlich kreativer und effektiver Bundesfinanzminister in der Großen Koalition des Bundeskanzlers Kurt Georg Kiesinger 1966 bis 1969, als „Plisch und Plum“ mit dem ebenso wortmächtigen, wenngleich doch ausschließlicher intellektuellen Sozialdemokraten Karl Schiller ein denkwürdiges „Paar“ bildend. Zu seiner insgesamt fast 13-jährigen Amtszeit als Bundesminister kommen schließlich zehn Jahre als sehr erfolgreicher Bayerischer Ministerpräsident von 1978 bis zu seinem Tod 1988 hinzu. Jahrzehntelang führender Parteipolitiker, fast 40 Jahre leidenschaftlicher Parlamentarier, darunter 29 Jahre Mitglied des Deutschen Bundestags, insgesamt 23 Jahre Regierungsmitglied: Allein schon diese Daten belegen eine der beeindruckendsten politischen Karrieren in der etwa 65-jährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, aus deren ersten drei Jahrzehnten er nicht wegzudenken ist.

Seine bis heute anhaltende Umstrittenheit, die heftige Polemik auf sich zog, der er sich selbst stets bediente, macht ihn bis heute interessant. Dazu zählt seine Vorliebe, inhaltlich unmissverständlich Position zu beziehen, Konfrontation dem Konsens vorzuziehen und seine barock anmutende Lebensweise nicht einem glatt gebügelten Image unterzuordnen. In vielen Verhaltensweisen nicht nur eine Autorität, sondern autoritär, war er doch unzweifelhaft ein Demokrat mit Lust an der politischen Debatte, die Kontroverse galt ihm als Lebenselixier der Demokratie – „Streitkultur“ nannte man das später, ohne es auf ihn zu beziehen. Doch ist die Kehrseite nicht zu vernachlässigen: Franz Josef Strauß war nicht allein die personifizierte Konfrontation, sondern kaum minder wesentlich war seine Fähigkeit zur Integration, sonst hätte er nicht Jahrzehnte Vorsitzender einer großen Volkspartei sein können, sonst hätte er nicht Massen von Anhängern, ja Verehrern mobilisieren und Wahlen gewinnen, nicht Konservative von einer in Teilen ausgesprochen fortschrittlichen Politik überzeugen können. Hunderttausende säumten während des Trauerzugs in München 1988 die Straßen, nur in wenigen Fällen hat der Tod eines Politikers eine solche Anteilnahme hervorgerufen – der „Tod eines Großen“, wie der ihm in wechselseitiger Hassliebe verbundene Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein damals schrieb. Das alles bietet, seine Leistungen, Irrtümer und Fehler eingeschlossen, Stoff genug für eine Biografie und ist exemplarisch für seinen hier zu schildernden spezifischen Politikstil. Und nicht zu vergessen ist es Strauß’ ungemeine Publikumswirksamkeit, die ihn als großen Parlamentarier, Wahlkämpfer, mobilisierenden Volkstribun, aber auch brillanten parlamentarischen Debattenredner mit großer Formulierungskunst und treffenden Bonmots zu einem die Politik der Bundesrepublik mitprägenden, faszinierenden und unverwechselbaren Vollblutpolitiker machte: Könnte es diese Charakteristik sein, die Strauß heute als Politiker unzeitgemäß erscheinen ließe?

Horst Möller

Über Horst Möller

Biografie

Horst Möller, Professor Dr. phil., geboren 1943 in Breslau, gilt als einer der führenden Historiker in Deutschland. Fast zwei Jahrzehnte leitete er das Institut für Zeitgeschichte München-Berlin. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen »Fürstenstaat oder Bürgernation. Deutschland 1763 –...

Medien zu „Franz Josef Strauß“
Pressestimmen
Bayernkurier

„Franz Josef Strauß wurde verehrt und geliebt, gehasst und bekämpft – die erste große Biografie legt ein quellenkritisches Bild einer komplexen Persönlichkeit vor.“

Merkur.de

„Der Autor hat dafür viele neue und manchmal überraschende Fakten herangezogen. Er zeichnet ein differenziertes Bild des Politikers und räumt auch mit manchen falschen Vorstellungen auf. Genau das Richtige zum 100. Geburtstag.“

Augsburger Allgemeine

„Horst Möller hat eine geschichtswissenschaftliche Biografie vorgelegt, die sich strikt an schriftlichen Quellen orientiert und sich jeder Spekulation enthält – ein sehr korrektes, dennoch sehr spannendes Buch“

Die Rheinpfalz

„Horst Möllers Biografie ist lesenswert, weil sie einen der umstrittensten Politiker der Bundesrepublik Deutschland entdämonisiert“

Dredner Neueste Nachrichten

„Der renommierte Münchner Historiker Horst Möller zeigt Franz Josef Strauß in all seiner Widersprüchlichkeit.“

WDR 5

„Akribisch hat Möller viele Akten über Strauß durckämmt, die bisher in dieser Form noch nicht ausgewertet worden waren.“

Kölner Stadt-Anzeiger

„Horst Möller setzt Franz Josef Strauß zum 100. Geburtstag (noch) ein Denkmal.“

Schweizerzeit

„Eine interessante Biographie zu einem wichtigen Kapitel der Zeitgeschichte.“

Münchner Merkur

„Möller schreibt exzellent und verwebt Strauß vortrefflich mit 40 Jahren bundesrepublikanischer Geschichte. (...) Herausgekommen ist eine profunde, wohl lange Jahre Maßstäbe setzende politische Biografie.“

Leibniz-Journal

„So gelingt es dem Historiker, ein weitaus fundierteres Bild von Strauß zu vermitteln, als mit den Stereotypen konservativ, bayrisch und katholisch erfasst wäre.“

Kommentare zum Buch
Claus Otto Hess am 02.06.2015

Hätte Strauß den September 1998 erlebt, wäre Kohl Kanzler geblieben dank des wahlkämpferischen, überragend intelligenten Einsatzes von Strauß (noch immer: mit 83!) gegen Schröder. Strauß hätte beispielsweise dafür gesorgt, dass Jost Stollmann in Kohl‘s Team eingetreten wäre, anstatt sich von Schröder zuerst als kommender Wirtschaftsminister vorstellen und sich nach der Wahl von Drahtzieher Lafontaine in einem gemeinen Manöver ausbooten zu lassen. Strauß, den ich leider nie persönlich kennenlernen durfte, war, als ein neuer Vergil, mein Seelenführer, als er noch lebte und als er starb … musste ich zusehen, wie ich zurechtkam. Wundersamerweise ist es gutgegangen. In Analogie würde ich an Raphael's Sarkophag im Pantheon denken: “Ille hic est Raphael, timuit quo sospite vinci rerum magna parens et moriente mori“ (Kardinal Bembo). 

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