Ein toter Mann ist doch kein D-Zug (Ellermann ermittelt 1) - eBook-Ausgabe
Ellermanns erster Fall
„Skurrile Protagonisten, Situationskomik, überraschende Wendungen und Perspektivwechsel - so erzählt Ellermanns Psychiater die Handlung - amüsieren bis zur letzten Seite.“ - Ostthüringer Zeitung
Ein toter Mann ist doch kein D-Zug (Ellermann ermittelt 1) — Inhalt
Eigentlich wollte Ellermann nur sein Gehalt als Klavierlehrer aufbessern, indem er ein paar Tage auf Sophia, eine schusselige, aber reizende alte Dame, aufpasst. Doch dann ist sie plötzlich verschwunden, und Ellermann wird schlecht vor Sorge. Denn auf einmal ist die ganze Stadt in Aufruhr: Jemand überfällt die örtliche Bank, eine Leiche wird gefunden, es passiert ein mysteriöser Autounfall. Und wenn Sophia irgendetwas zustößt, kann sich Ellermann nicht nur sein Honorar abschminken …
Leseprobe zu „Ein toter Mann ist doch kein D-Zug (Ellermann ermittelt 1)“
Noch eine Minute
Ich mache mir Sorgen um Ellermann, besonders weil er unser letztes Treffen so überstürzt verlassen hat. Nachdem er einen offenbar brisanten Anruf bekommen hatte, fand er nicht mal mehr die Zeit, mir zu erklären, warum und wohin er so plötzlich weg musste. Das, was er mir bis dahin erzählt hatte, war allerdings wahrlich ominös. Ellermann war in eine so dramatische wie eigenartige Geschichte hineingeraten.
Ich hatte nach seinem hektischen Aufbruch mehrmals vergeblich versucht, ihn telefonisch zu erreichen. Vor kurzem allerdings, etwa zwei [...]
Noch eine Minute
Ich mache mir Sorgen um Ellermann, besonders weil er unser letztes Treffen so überstürzt verlassen hat. Nachdem er einen offenbar brisanten Anruf bekommen hatte, fand er nicht mal mehr die Zeit, mir zu erklären, warum und wohin er so plötzlich weg musste. Das, was er mir bis dahin erzählt hatte, war allerdings wahrlich ominös. Ellermann war in eine so dramatische wie eigenartige Geschichte hineingeraten.
Ich hatte nach seinem hektischen Aufbruch mehrmals vergeblich versucht, ihn telefonisch zu erreichen. Vor kurzem allerdings, etwa zwei Tage nach unserem letzten Treffen, erhielt ich eine SMS von ihm. Er wollte mich unbedingt und dringend sehen. Ich schrieb ihm zurück und schlug ihm drei Uhr vor, wie immer in unserem Stammcafé. In einer weiteren SMS bestätigte er das. Nun ist es kurz vor drei. Noch eine Minute.
Ich bin überpünktlich. Neugierde und Sorgen um Ellermann haben mich schon vor einer halben Stunde ins Café getrieben. Ich habe mich, wie meist, in einer hinteren Ecke des Cafés niedergelassen, an einem der kleinen, runden Bistrotische, von dem aus ich eine perfekte Sicht auf den Raum und die anderen Gäste habe. Mein Regenschirm, der mir, wenn ich meinen Stock nicht dabei habe, auch gut als Gehhilfe dient, steht neben mir in einem Schirmständer. Hektisch und nervös spiele ich mit meinem Diktiergerät. Es ist ein altes Gerät, das mir schon seit vielen Jahren, besser gesagt seit etlichen Jahrzehnten, gute Dienste erweist. Ich hasse es, Dinge zu ändern, wenn alles perfekt läuft. Never change a running system. Ich nippe an meinem schwarzen Kaffee und verbrenne mir fast die Lippen. Er ist jedes Mal zu heiss, der Kaffee. Ich blicke zur Tür, aber Ellermann ist noch nicht aufgetaucht. So kenne ich ihn gar nicht. Er kommt sonst nie zu spät. Er hasst es, anderen Menschen Zeit zu stehlen. Aber genauso erwartet auch er von den anderen immer Pünktlichkeit.
Ellermann und ich treffen uns seit einiger Zeit regelmäßig in unserem gemeinsamen Stammcafé. Früher, als er noch mein Patient war, als ich noch arbeitete, kam er nur zu mir in die Praxis. Ein Therapeut und sein Patient sollten nicht den professionellen Rahmen verlassen. Was uns aus dieser Zeit geblieben ist, ist eine Freundschaft, aber mit einer gewissen Distanz, auch wenn ich mir sicher bin, dass Ellermann mir Dinge und Geschichten erzählt wie sonst niemandem. Wir siezen uns, und doch gibt es zwischen uns eine starke persönliche Bindung. Ellermann schätzt mich als Vertrauensperson und als Lebensberater, vielleicht auch weil ich so viel älter bin. Allerdings ist das überraschend, wenn man bedenkt, dass alle meine therapeutischen Ansätze bei ihm seinerzeit fehlgeschlagen sind. Ich konnte ihm nie wirklich helfen bei seinen Problemen. Ellermann ist ein Mensch voller Ängste und Phobien und die wird er eines Tages wohl auch mit ins Grab nehmen. Aber ich mag ihn, er ist mir ans Herz gewachsen, vielleicht gerade deswegen, weil er seine Schwächen hat und diese lebt.
Der grosse Zeiger der Uhr hinter dem Tresen an der Wand springt in diesem Moment weiter. Drei Uhr! Und keine Spur von ihm.
Die meisten der anderen Gäste im Café sind alleine, aber es gibt auch einige, wenige Paare. Es herrscht eine eigenartige Stimmung, eine Art großes Schweigen, und nur hier und da hört man ein leises Klappern von Gläsern und Löffeln, ein Tuscheln oder Gemurmel. Ganz aus dem Hintergrund dringt etwas Musik, dem Krächzen nach zu urteilen aus einem kleinen Kofferradio, vielleicht aus der Küche. Südländische Schlager, Melodien, die an Meer, Sonne und Wellen erinnern.
Ich blicke auf mein Diktiergerät, rühre in dem Kaffee in der Tasse vor mir, damit er etwas abkühlt, und fingere nach meiner Zigarettenschachtel, auch wenn ich weiß, dass ich hier drinnen gar nicht rauchen darf. Wenn ich ein bekannter Politiker wäre oder ein Rockstar, würde ich mir vielleicht ohne Hemmungen eine Zigarette anzünden. Aber so verzichte ich darauf. Ich werde später zum Rauchen vor die Tür gehen. Nachdenklich drehe ich die Schachtel in meinen Händen.
Das, was ich bisher, bei unserem letzten Treffen, von Ellermann gehört habe, enthält mehr als das, was ein normaler Mensch an Aufregung aushalten kann. Nächtliche Einbrüche, Verfolgungsjagden, unheimliche Begegnungen, ein Toter in einem Weiher. Der Mann wurde erstochen. Die ganze Stadt scheint in großer Aufregung zu sein, auch seit dem Banküberfall auf eine örtliche Privatbank. Und Ellermann ist irgendwie mittendrin. Alles dreht sich um ihn wie stürmische Winde um das Auge eines Hurrikans. Dabei hatte es, wenn ich so daran denke, scheinbar harmlos und friedlich begonnen.
Ellermanns Geschichte
Eins
Mindestens zweimal die Woche besucht Ellermann das Grab seines Großvaters auf dem Friedhof. Gleich hinter dem Eingang biegt er rechts um die Ecke zu dem Komposthaufen, an dem nebeneinander aufgereiht unterschiedlich große Wasserkannen an einer Holzstange hängen. Es sind Kannen, die sich der Friedhofsbesucher umsonst ausleihen kann.
Ellermann kümmert sich gerne um das Grab seines Großvaters. Er mochte den alten Mann sehr, war er doch der einzige Verwandte, der ihm im Leben zuletzt verblieben war. Er hatte nach dessen Tod vor einigen Monaten das alte Häuschen geerbt, das er, so der letzte Wunsch des Alten, immer hegen und pflegen sollte. Was der lebenslustige Großvater seinem Enkel vor seinem Ableben allerdings verschwiegen hatte, war, dass er mit dem Häuschen auch eine Menge Schulden erben würde. Aber Ellermann wollte dennoch das Erbe nicht ausschlagen, schließlich hatte er dem Alten auf dem Totenbett versprochen, sich um Häuschen und Garten zu kümmern.
Ellermanns Traum, mit dem Erbe nie wieder Klavierstunden geben zu müssen, erfüllte sich allerdings leider nicht. Er versucht auch weiterhin verzweifelt, unbegabten Töchtern oder Söhnen, Hausfrauen oder Pensionären seine geliebte Musik zu vermitteln. Doch selbst das Geld aus diesen Stunden reichte und reicht nicht aus, um die Schulden abzutragen. Sicherlich, mit den Einnahmen aus dem Klavierunterricht kann Ellermann ein bescheidenes Leben führen, aber die geerbten Schulden zwingen ihn, immer wieder auch nach anderen Einnahmequellen zu suchen.
An jenem Sonntag hielt es Ellermann wie immer. Er füllte eine Kanne mit Wasser, nahm das Sträußchen Wiesenblumen, das er noch schnell in dem Laden um die Ecke gekauft hatte, und ging den Kiesweg hinunter, an dessen Ende er zu dem Grab seines Großvaters nach rechts abbiegen musste. Genau genommen hüpfte er leicht, weil er an diesem Tag gut gelaunt war. Dabei ist er mit seinem leichten Bauchansatz und seinem Übergewicht normalerweise jedem Sport gegenüber abgeneigt. Und für Ellermann zählen schon Hüpfen und Laufen zu sportlichen Aktivitäten. Er hätte wahrscheinlich selber nicht sagen können, was seine gute Laune ausgelöst hatte. Vielleicht war es der Konzertbesuch am Abend zuvor. Er hatte den Mozartabend einer jungen russischen Violonistin besucht. Ihre Intonation hatte ihn wirklich berührt. Vielleicht war es aber auch der Umstand, dass Martha ihm heute Morgen endlich mal wieder frisch gefundene Steinpilze mit Rühreiern gebraten hatte. Ellermann liebt Steinpilze, wenn sie denn kross, fast schwarz angebraten werden.
Ellermann hatte Martha mit dem Häuschen seines Großvaters sozusagen mitgeerbt. Die etwas stämmige Frau, Anfang fünfzig, hatte sich schon viele Jahre um den Großvater und das Haus gekümmert. Sie ist pragmatisch und liebt das Gradlinige. Sie hat keine Zeit für übermäßige Gefühle, Sentimentalitäten, hat sie doch neben der Arbeit bei Ellermann bei sich zu Hause noch einen bettlägrigen Ehemann zu versorgen. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund und spricht Dinge direkt aus. Und das kann wahrlich komisch sein, und Ellermann mag herzlich lachen, auch wenn er selber oft die Zielscheibe ihrer Kommentare ist. Ich weiss das, weil er es mir einmal verraten hat. Es ist ihm eher so rausgerutscht.
Er hatte zunächst gezögert, Marthas Dienste nach dem Tod des Großvaters in Anspruch zu nehmen. Doch dann überlegte er es sich anders. Besser gesagt – Martha ließ nichts anderes zu. Sie wollte die Stelle behalten. Also blieb sie. Ganz abgesehen davon, hatte auch sie dem Großvater eine nicht unerhebliche Summe geliehen. Sie, die Haushälterin! Kurzum: Ellermann hat auch bei Martha Schulden. Geerbte Schulden.
Im Grunde genommen ist er sehr froh, dass Martha sich um ihn kümmert. Nicht nur, dass sie für ihn einkauft und ihn bekocht und all das andere erledigt, das in einem Haushalt so anfällt. Dabei könnte das Ellermann auch selber. Schließlich war er all die Jahre vor dem Tod seines Großvaters auch so zurecht gekommen, hatte sich in seiner kleinen Mietwohnung alleine versorgt. Doch er freut sich ganz einfach, dass mit Martha regelmäßig ein anderer Mensch im Haus ist und dieses mit Leben erfüllt.
Hin und wieder setzt sich Ellermann unvermittelt an den Flügel im kleinen Salon im Erdgeschoss. Dann spielt er unbeschwert und frei all die geliebte Musik, die ihm zufliegt, wie etwa Chopins Etüden und Walzer, während Martha nebenan Staub wischt oder den Boden putzt. Ellermann macht es nichts aus, wenn ihm Martha zuhört. Auch das verbindet die beiden auf eine geheimnisvolle Weise. Denn so ein brillanter Pianist Ellermann auch seit jeher war und ist, hat ihm doch seine Nervosität immer wieder einen Strich durch die Rechnung gemacht. Vor Publikum scheiterte er regelmäßig an seinen Nerven, und damit scheiterte auch eine Karriere als gefeierter Konzertpianist. Sein Lampenfieber brachte ihn um alle Chancen, und keine Therapie vermochte ihm zu helfen.
Während Martha putzt, spielt er, glücklich und ohne Hemmungen. Manchmal setzt sie sich dann auf ein Bänkchen im Flur, macht eine Pause und lauscht den wunderbaren Klängen. Nach diesen glücklichen Momenten wischt sie sich schnell die Tränen aus den Augen und verschwindet in der Küche. Das Essen muss schließlich vorbereitet werden. Darüberhinaus haben die beiden noch eine besondere gemeinsame Vorliebe: Sie lieben es, an schönen Tagen einfach mal für eine Stunde irgendwo in der Stadt auf einer Bank zu sitzen und dem Treiben der Menschen zuzusehen, und dieses Treiben zu kommentieren. Natürlich gibt Martha dabei den Ton an, doch unter ihrer Leitung entwickelt auch Ellermann großen Spaß an Schmäh und kleinen Gehässigkeiten. Dazu gibt es für beide ein Eis – jeweils zwei Kugeln im Becher – vom besten Eismacher in der Stadt. Auch wenn diese Ausflüge nicht sehr oft vorkommen, wollten Ellermann und Martha sie auf keinen Fall missen. Beide wissen, dass sie einander überhaupt nicht mehr missen wollen, auch wenn das so nie ausgesprochen wird.
Als Ellermann am Ende des breiten Kiesweges nach rechts abbiegen wollte, sah er mit einem Mal eine junge Frau am Grab seines Großvaters stehen. Sie mochte etwa Mitte dreißig sein. Kurze, blonde Haare, Sommersprossen. Helle Augen. Ellermann schluckte, erstarrte und war gefangen. Was für ein bezauberndes Geschöpf, dachte er sich, und war für einen Moment unfähig, sich zu bewegen. Nur seine Augen wanderten hin und her. Nervös fuhr er sich mit einer Hand durch seine strähnigen Haare. Dieses Wesen hatte er noch nie auf dem Friedhof gesehen. Aber er hatte, je länger er so stand, das eigenartige Gefühl, sie von irgendwo zu kennen. Ja, er war sich dessen sicher, wusste aber nicht, wann und wo dieses Zusammentreffen stattgefunden haben könnte. Er ließ sie nicht aus den Augen. Wie hieß sie nochmal? Auch das erinnerte er nicht mehr, doch gab er ihr spontan den Namen Annabelle. Er liebte den Namen, und diese schöne Erscheinung bezauberte ihn.
Sie stand still vor dem Grab seines Großvaters, und Ellermann hatte den Eindruck, dass ihre Lippen sich leicht bewegten, so als spräche sie mit dem Toten. Er selber hielt sich hinter dem riesigen Grabstein einer Familiengruft versteckt, wollte sich nicht zu erkennen geben. Er hatte keine Ahnung, was er zu der jungen Frau hätte sagen sollen. Er stand da, bis er merkte, dass eine andere Friedhofsbesucherin ihn skeptisch aus der Ferne beäugte. Er versuchte, mit einem lässigen Winken und einem ebenso lässigen wie angedeuteten “Hallo” die Situation zu entkrampfen, was ihm aber nicht gelang, wenn man nach der Miene der Besucherin ging. Sie fixierte ihn und ließ ihn nicht aus den Augen. Also musste er schließlich seinen Posten aufgeben und schlenderte scheinbar teilnahmslos den Kiesweg zurück, nicht ohne bei erstbester Gelegenheit, als er sich unbeobachtet fühlte, hektisch umzudrehen und zurückzurennen. Doch an der Abzweigung angekommen, sah Ellermann, dass die junge Frau verschwunden war. Annabelle stand nicht mehr vor Großvaters Grab. Enttäuscht eilte er zum Ausgang des Friedhofs, doch auch dort war sie nicht.
Ellermann schwitzte leicht, auch wenn er sich nicht von der Stelle bewegte. Er spürte eine Verzweiflung in sich hochsteigen. Still stand er da und starrte auf den kleinen Parkplatz direkt neben dem Friedhof, als plötzlich sein Handy klingelte. Es war Martha, wie er auf dem Display sehen konnte. Ihm war klar, dass er besser rangehen sollte. Martha liebt es nicht, wenn ihr nur die Mailbox antwortet.
Martha sagte mit einem bestimmten, schneidenden Klang in der Stimme, den Ellermann kennt, aber nicht sehr schätzt, er solle schnell nach Hause kommen. Es sei Besuch für ihn da: Herr Markowski. Ellermann überlegte nur einen Moment, dann stieg er ins Auto und fuhr nach Hause. Herrn Markowski wollte er lieber nicht warten lassen, stand dessen Name doch für eine der wenigen wirklich lukrativen Einnahmequellen.
Auf dem Nachhauseweg war Ellermann so unkonzentriert und in Gedanken, dass er eine Einbahnstrasse gegen die Fahrtrichtung fuhr, wobei er allerdings keinen weiteren Schaden anstellte, wenn man davon absieht, dass sich ein älterer Herr darüber so sehr aufregte und dermaßen laut schrie, dass er einen kleinen Schwächeanfall erlitt.
Nicht wegen Markowski war Ellermann verwirrt. Annabelle, die junge Frau am Grab seines Großvaters, ging ihm nicht aus dem Kopf. Er hatte sie aus den Augen verloren, aber wenn er sie wirklich schon einmal irgendwo gesehen hatte, bestand doch die Hoffnung, sie bald wiederzusehen. Diese Hoffnung zauberte ein kleines Lächeln auf seine Lippen. Allerdings konnte er zu dem Zeitpunkt noch nichts von den Ereignissen ahnen, die ihn bald überrollen würden. Und alles sollte mit dem Besuch von Herrn Markowski seinen Anfang haben.
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