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Egon Erwin Kisch

Christian Buckard
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Die Weltgeschichte des rasenden Reporters. Die Biografie

„Buckard zeichnet diese Irrfahrten durch das wilde Leben und die Kriege und Revolutionen in Europa, das Exil in Übersee, weil er vor den Nazis flüchten musste, endlich die Rückkehr in die fremd gewordene Heimatstadt minutiös nach und lässt vor allem auch den blitzgescheiten, unbestechlichen Autor selber sprechen.“ - Nürnberger Nachrichten online

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Egon Erwin Kisch — Inhalt

Die Weltgeschichte eines Prager Juden

Egon Erwin Kisch (1885–1948), Prager Jude, Kommunist und Freund Franz Kafkas und Max Brods, wurde zum Vater der modernen Reportage in deutscher Sprache: Mit einem weinenden und einem lachenden Auge, die brennende Zigarette immer im Mundwinkel, schrieb Kisch über die kleinen Leute in den großen Städten, über das Abenteuer des Alltags und den Alltag in Krieg und Revolution.

Das Leben des „rasenden Reporters“ aus neuer Perspektive

Spannungsreich und mit zahlreichen Fotos illustriert erzählt Christian Buckard das bewegte Leben des melancholischen „rasenden Reporters“, der in jedem Kaffeehaus der Welt zu Hause schien, doch fern der Heimat immer nur von Prag träumte.

Zum 75. Todestag des Pioniers der modernen Reportage am 31. März 2023

Stimmen über Egon Erwin Kisch

„Ich habe seine Reportagen verschlungen, die meisten auswendig gelernt. Für mich war Egon Erwin Kisch der 'Thomas Mann der Reportage'.“
Billy Wilder

„Sie sind mit dem Öl des wirklichen Erzählers gesalbt.“
Alfred Döblin

„Meiner Meinung nach kann man sich mit einem Fünftel Ihres Talents einen Nobelpreis zusammenschmieren, sofern man nichts von Ihrer Gesinnung mitbekommen hat.“
Bertolt Brecht

€ 28,00 [D], € 28,80 [A]
Erschienen am 23.02.2023
448 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-8270-1449-8
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€ 26,99 [D], € 26,99 [A]
Erschienen am 23.02.2023
448 Seiten, WMePub
EAN 978-3-8270-8065-3
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Leseprobe zu „Egon Erwin Kisch “

1. Die Geisterstadt

„Wir haben die tschechoslowakische Grenze überflogen“, informierte der zweite Pilot der Royal-Air-Force-Maschine seine Passagiere. Es war ein sonniger Märztag im Jahr 1946, und Egon Erwin Kisch konnte weit unten deutlich Felder, Wälder und Straßen erkennen. [i] War dies also der Moment, von dem er im fernen Mexiko seit Jahren geträumt hatte? Nein, noch nicht ganz.

Dieser jahrelang tagtäglich und allnächtlich ersehnte Moment würde erst dann kommen, wenn er endlich wieder zu Hause war. Und zu Hause war er nur in Prag. Nirgendwo sonst. [...]

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1. Die Geisterstadt

„Wir haben die tschechoslowakische Grenze überflogen“, informierte der zweite Pilot der Royal-Air-Force-Maschine seine Passagiere. Es war ein sonniger Märztag im Jahr 1946, und Egon Erwin Kisch konnte weit unten deutlich Felder, Wälder und Straßen erkennen. [i] War dies also der Moment, von dem er im fernen Mexiko seit Jahren geträumt hatte? Nein, noch nicht ganz.

Dieser jahrelang tagtäglich und allnächtlich ersehnte Moment würde erst dann kommen, wenn er endlich wieder zu Hause war. Und zu Hause war er nur in Prag. Nirgendwo sonst. Gleichzeitig wusste Kisch, dass eine Rückkehr in „sein“ Prag ja gar nicht möglich war, dass „sein“ Prag nicht mehr existierte. Die mörderischen Jahre der deutschen Besatzung hatten aus seiner Heimatstadt, wo der „goldene Egonek“ früher kaum einen Schritt gehen konnte, ohne von Freunden, Bekannten oder Fremden herzlich gegrüßt zu werden, eine Geisterstadt gemacht. An seine Prager Freundin Jarmila hatte Kisch im September 1945 geschrieben: „Ich habe Angst davor, wen von meinen Freunden ich in Prag noch sehen werde.“ Und: „Danach zu fragen, ob Du weißt, wie meine Brüder endeten, fürchte ich mich geradezu.“ [ii] „Mehr Angst als Hoffnung“ habe er, vertraute Kisch seinem Freund Sinaiberger vor der Rückkehr nach Prag an. [iii]

 

Auf dem Sitz neben Kisch saß Otto Katz. Der alte Freund hatte im Laufe seines geheimnisumwitterten Lebens schon viele Namen getragen. Seit seiner Flucht aus Frankreich nannte er sich „André Simone“. Aber Otto war eigentlich immer noch derselbe elegante junge Mann, als den Kisch ihn vor Jahrzehnten kennengelernt hatte. Mit dem Unterschied, dass er, der in Prag weltberühmte Kisch, sich früher um Otto gekümmert hatte und es nun umgekehrt war. Auch Kischs Frau Gisela, genannt Gisl, die in Wien aufgewachsen war und mit ihm nun in das ihr so fremde Prag reiste, kümmerte sich um ihn. Wie sie es stets tat. Und so würde er nicht alleine sein, wenn jener Moment kommen würde, den er so herbeisehnte und gleichzeitig fürchtete.

„Noch fünfzig Minuten“, sagte Otto Katz. Kisch, der lange geschwiegen hatte, wiederholte leise: „Fünfzig Minuten.“ Dann war er wieder stumm. Um drei Minuten später zu sagen: „47 Minuten.“ Da mussten sie beide lachen. [iv]

Und plötzlich, erinnerte sich Otto Katz später zurück, begann Kisch zu erzählen, „hastig, überstürzt, als fürchtete er, nie wieder Zeit dazu zu haben“. Kisch „sprach wie immer von seinem Leben, vom Leben seiner Zeit, deren Sprachrohr, Sprecher und Porträtist er zeit seines Lebens gewesen war. Er war immer neu und stets derselbe“. [v]

Und dann, endlich, lag sie unter ihnen, genau dort, wo sie immer schon gewesen war, geradeso als hätte sich nichts geändert: die „Stadt und Mutter in Israel“ an der Moldau, wie ihre jüdischen Bewohner sie seit Jahrhunderten nannten.

„Prag“, sagte Otto. „Prag, mein Junge“, sagte Kisch. [vi]

Mag sein, dass Kisch sich gewünscht hatte, im Augenblick der Heimkehr etwas Zeit für sich alleine zu haben. Und vielleicht verspürte er gleichzeitig Angst, enttäuscht zu werden, dass ihn „seine“ Prager vielleicht nicht bereits erwarten, ihn nicht stürmisch begrüßen und feiern würden. Diese Angst, sollte er sie verspürt haben, erwies sich allerdings als unbegründet: Nach der Landung am Prager Flughafen wurden Kisch und seine Begleiter sofort von Freunden, Bekannten und natürlich von jenen umringt, deren ungekrönter König er war – den Reportern. Also schlüpfte Kisch sogleich in die Rolle des „rasenden Reporters“ und rief: „Was macht Prag? Stehts noch?“ [vii] Was die Beliebtheit im Volk angeht, nahm Kisch immer noch eine Sonderstellung ein. Ruth Klinger erinnert sich:

 

Wenn man sich vergegenwärtigt, was für ein Haß damals in der CSR gegen alles Deutsche herrschte, muß man es besonders hoch einschätzen, dass nirgends eine kritische Äußerung darüber fiel, daß Kisch deutsch dachte und deutsch schrieb, daß es nur Übersetzungen waren, die die Auslagefenster der Buchläden füllten. [viii] Außer bei Kisch kommt eine Unterhaltung in deutscher Sprache nirgends in Frage. Der Haß gegen alles, was mit deutsch zusammenhängt, ist abgrundtief. [ix]

 

Dass der deutschsprachige Schriftsteller Kisch ganz offiziell in Prag willkommen geheißen wurde, lag auch an den Machtverhältnissen im Land: In der Koalitionsregierung hatten Kischs Genossen, die aus den Wahlen im Mai 1946 als stärkste Partei hervorgingen, bereits großen Einfluss. Die politische Pluralität wurde allerdings Schritt für Schritt immer mehr zur Fassade in einem Bühnenstück, dessen Regisseur im Kreml saß. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass Edvard Beneš – gegen dessen Mannschaft Kisch früher Fußball gespielt hatte – auch nach den Mai-Wahlen weiterhin Präsident war und Kischs alter Freund Jan Masaryk, der im Volk äußerst populär war, das Amt des Außenministers behalten hatte. Wahrscheinlich ließ sich auch Kisch damals noch von der scheinbaren politischen Pluralität innerhalb der Regierung der nationalen Einheit täuschen. Herz und Kopf waren bei seiner Ankunft ohnehin anderweitig beschäftigt.

„Wir alle“, so schrieb Kisch im April an Hugo Sinaiberger, „wurden hier sehr warm empfangen, die Zeitungen brachten ganzseitige Artikel, und wo immer wir auch auftauchen, gibt es Ovationen.“ [x] Im Gespräch mit einem Reporter versuchte Kisch Worte für den bedrückenden Schatten zu finden, der auf seiner Rückkehr nach Prag lag:

 

Ich habe viele Tote getroffen. Sie stehen vor jedem Haus, sehen aus jedem Fenster. Es sind alte Freunde, Verwandte, Bekannte, die mich anblicken. Sie sind durch den Nazismus gestorben. Es ist ein trauriges Gefühl, auf einen Friedhof zurückzukehren. [xi]

 

Dass Prag ein „Friedhof“ geworden sei – dies war offensichtlich nicht das, was der Reporter hören wollte. Wo blieb denn das Positive? Er hakte also nach, wünschte sich von Kisch wohl etwas mehr Begeisterung, wollte den Kommunisten Kisch interviewen, der in ein befreites Land zurückkehrte, das auf dem Wege in die Zukunft, in eine „fortschrittliche“ Epoche schien. Und so schwächte Kisch seine düstere Aussage ab, indem er eine leicht spöttische Bemerkung über das „direkt berauschende Tempo“ der Stadt machte. [xii] Sicher begriff er sehr wohl, dass er als jüdischer Überlebender die verordnete fröhliche Wiederaufbaustimmung im Land stören würde, wenn er zu offen darüber Auskunft gab, wie es in seinem Innern aussah. In seinen Briefen an alte Freunde musste Kisch keine politischen Rücksichten nehmen und deutete das Wechselbad der Emotionen angesichts von frohen Momenten des Wiedersehens und grausamen Nachrichten an:

 

In Prag trifft sich nun alles, was jahrzehntelang in der Welt zerstreut war, die wenigen, die überlebt haben, oder wenigstens ihre Söhne und Verwandten … Gestern waren wir bei einer Frau Würzburger eingeladen, die mit Elly in Terezin gewohnt hat und auch die Nacht ihres Selbstmordes mit ihr verbrachte. [xiii] […] Was soll ich Dir schreiben? In Prag leben wohl nur mehr wenige von Deinen Bekannten […]. Leila, die Freundin von Hermann Ungar und später von Camill Hoffmann, der auch im Gas geendet hat, geht jetzt aus Prag nach Amerika. Die schöne Anka Vikova ist als Geisel für Heydrich hingerichtet worden. Von meinen Brüdern sind Paul und Arnold in den Tod geschickt worden. Kaspar, der Arzt, und die zwei Kinder von Arnold leben in London. [xiv]

 

Und manchmal überwältigte ihn die Sehnsucht nach den ermordeten Freunden und Verwandten, nach seinem Prag: „Ich fühle mich fast selbst wie einer jener Toten. Und vielleicht bin ich ja nur zurückgekommen, um zu sterben.“ [xv]

 

Von den nahezu 80 000 durch die Deutschen nach Theresienstadt deportierten tschechischen Juden hatten nur rund 3000 überlebt. [xvi] Die meisten der 10 000 nun in Prag wohnenden Juden – vor der Besetzung lebten dort rund 55 000 – kamen aus der Slowakei. [xvii]

Sofort nach seiner Rückkehr „meldete“ sich Kisch bei der Prager jüdischen Gemeinde. Seiner Freundin Ruth Klinger erzählte er:

 

Früher habe ich mich um diesen Prager Sektor wenig gekümmert, aber jetzt habe ich mich ihm vom ersten Tage an zur Verfügung gestellt und bin innerlich in viel stärkerem Maße an jüdischen Problemen interessiert als früher. Mein nächstes, bald in England erscheinendes Buch, heißt: „Über die Ghetti der Welt“. [xviii]

 

Egonek spürte wohl, dass man in der jüdischen Gemeinde den ganzen Kisch willkommen hieß und nicht nur den berühmten Kommunisten oder den legendären „rasenden Reporter“.

Eine Woche nach seiner Ankunft in Prag fand im großen Saal des Palais Lucerna, gegenüber dem „Hotel Alcron“, der achte Parteitag der tschechoslowakischen Kommunisten statt. Und Kisch ließ es sich nicht nehmen, die Veranstaltung zu besuchen und der Rede Klement Gottwalds zuzuhören. „Dieser Parteitag“, so teilte er der Parteizeitung Rudé právo mit, sei „der schönste, den ich je auf der Welt gesehen habe“. Für ihn sei dieses Ereignis „Gesang, Musik, Freude über den Sieg.“ [xix]

Dieses beinahe rührende Bekenntnis enthielt ein fernes Echo des jungen Rebellen Kisch, der 1918 in Wien die „Rote Garde“ angeführt hatte, es passte vielleicht auch zu den Parteitagen mexikanischer Genossen. Doch Gottwalds Partei hatte mit diesem jung-fröhlichen Revoluzzergeist des gealterten Herrn Kisch nichts zu tun. Gottwald und Generalsekretär Rudolf Slánský ging es darum, Stalins Kontrolle über die Tschechoslowakei zu gewährleisten. Mit allen Mitteln, die ihnen dazu nötig erschienen, und wohl immer noch in der irrigen Hoffnung, dass Stalin der ČSR zugestehen würde, einen eigenen, vielleicht sogar ein wenig liberaleren Weg zum Sozialismus zu beschreiten. [xx] Womöglich waren die Delegierten ja heilfroh, dass Kisch kein öffentliches Amt innehatte. Und Kisch?

Zwar hatte er kurz nach seiner Heimkehr noch vorsichtshalber versichert, er werde sich „mit Vergnügen“ am „Aufbau des Staates beteiligen“ [xxi], doch blieb ihm das zu seinem Glück erspart. Denn, so witzelte er, „Ich will mei Ruah habn“ [xxii]. Trotzdem: Man hätte ihn ja zumindest fragen können! Nicht dass er den Wunsch gehabt hätte, in die Redaktion des Parteiblatts Rudé právo einzutreten, die Otto Katz nun leitete. Diese Zeitung, so vertraute Kisch Leo Brod an, sei „ein Beispiel, wie man keine Zeitung machen darf“. Und obwohl er darunter litt, in politischen Dingen nicht um Unterstützung gebeten zu werden, „kehrte er Fremden gegenüber den siegesgewissen Parteigenossen hervor“. [xxiii]

 

Mit der Aufgabe, Kisch und Katz im Namen der Partei und im Rahmen eines Restaurantbesuchs willkommen zu heißen, hatte man den jungen Genossen Eduard Goldstücker betraut. [xxiv] Wie die beiden Ehrengäste war auch Goldstücker Jude. 1939 war er nach Großbritannien geflohen, hatte dort in Oxford Germanistik studiert und im Anschluss daran für die tschechoslowakische Exilregierung in London gearbeitet. Seine jüdische Herkunft, der lange Aufenthalt im westlichen Ausland und seine Mehrsprachigkeit machten Goldstücker zu dem, was man in der Partei misstrauisch und etwas verächtlich „Globetrotter“ oder „Kosmopolit“ nannte. Damit nicht genug, schien Goldstücker eine ausgeprägte Schwäche für die deutsche Literatur zu haben. [xxv] In den Augen der Partei war Goldstücker also der geeignete Mann, um die beiden aus Mexiko heimgekehrten „Globetrotter“ anlässlich des Begrüßungsmahls zu betreuen.

Kisch ergriff die Gelegenheit, um zu verkünden, wie glücklich er sei, wieder in „seinem Prag“ zu sein. Goldstücker ließ sich von Kischs vordergründiger Fröhlichkeit nicht täuschen: „Ich fühlte, dass er sich isoliert fühlte, ich spürte die Tragödie.“ [xxvi]

Einige Monate nach dem Empfang traf Goldstücker das Ehepaar Kisch zufällig abends auf dem Wenzelsplatz: „Kisch rannte auf mich zu, umarmte mich und sagte: ›Mensch, wo bist du die ganze Zeit?‹ Ich antwortete: ›Im Außenministerium.‹ Darauf antwortete er leise: ›Dorthin geht kein anständiger Mensch.‹“ [xxvii]

Das war eine Warnung. Eine Warnung, nicht für die Regierung, nicht für den Staat zu arbeiten. Wenn man anständig bleiben wollte. Und obwohl die KP noch nicht die ganze Macht an sich gerissen hatten, ahnte Kisch vielleicht, dass man in Prag derartige Sätze am besten nur noch leise sagte. Oder wollte er sich den Abendspaziergang nicht durch unnötige Diskussionen mit Gisl, der immer noch unbeirrbar linientreuen Genossin (unter Kischs Freunden „der Parteiapparat“ genannt) [xxviii], verderben? Recht hatte Kisch auf jeden Fall mit seiner Warnung: Für Menschen wie Goldstücker und auch für den parteilosen Außenminister Jan Masaryk selbst konnte die Tätigkeit in diesem Ministerium, das schließlich nur noch von Direktiven aus Moskau abhängig sein sollte, kein gutes Ende nehmen. [xxix]

Auf die feierlichen offiziellen Begrüßungen folgte schnell der ernüchternde Alltag. An eine Rückkehr ins jahrhundertealte Stammhaus der Kisch-Familie, das Bärenhaus, war nicht zu denken. Die noch dort wohnenden Witwen seiner Brüder Arnold und Paul waren zerstritten, und so fand Kisch die Atmosphäre im Haus unsagbar deprimierend. [xxx] Doch anstatt endlich in eine Wohnung ziehen zu können, wurde dem Ehepaar Kisch ein Zimmer im einigermaßen luxuriösen „Hotel Alcron“ zugeteilt. Dort lebten sie, wie Gisl dem Freund Hugo Sinaiberger schrieb, „in einem Zimmer, in dem gearbeitet, gekocht, gewaschen, gegessen und ununterbrochen Besuch empfangen“ wurde. [xxxi]

Es war nicht nur die Enge des Wohnraums, die für das ältere Ehepaar anstrengend war: Im Nu hatte es sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen, dass Kisch im Alcron wohnte. Und das hatte Folgen. „Im Hotel Alcron in Prag“, berichtete ein Journalist,

 

ist die Halle voll von Leuten, die um ihn [Kisch] herumstehen und etwas von ihm wollen. Manche wollen ihm nur die Hand schütteln in Erinnerung an irgendeine Nacht, an die er sich wahrscheinlich gar nicht mehr erinnert. Andere haben in der Schlacht von Teruel ihren schweren Schuß bekommen, gerade als sie an der Seite von Kisch vorwärtsstürmten. [xxxii]

 

Dass der mittlerweile 61-jährige Kisch niemals im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft hatte und damals körperlich auch gar nicht mehr in der Lage gewesen wäre – in welche Richtung auch immer – „vorwärtszustürmen“, kümmerte den Kollegen nicht. Seine Schilderung eines permanenten Kisch-Trubels im Hotel ist allerdings mehr als glaubhaft. Und natürlich spielte Kisch dort weiterhin den gut gelaunten Egonek, auch wenn ihn der tägliche Aufruhr um seine Person sehr ermüdet haben muss.

Freunde wie Manfred George trafen bei ihrem Besuch in Prag einen anderen Kisch, nicht den „Clown der Revolution“ oder den „rasenden Reporter“, sondern einen alten Mann. Egon Erwin Kisch, so George Ende 1946,

 

war bedrückt und in sich gekehrt. Politische Argumente vermied er. Man hatte das Gefühl: hier war ein Mann, der das Ende seines Weges erreicht hatte. Er hatte zwar eine neue Welt, ja, diese neue Welt, angestrebt, aber die alte Welt war bei allem Gegensatz zu ihr seine eigentliche Welt gewesen. [xxxiii]

 

Doch wie heimatlos sich Kisch auch fühlen mochte: Auf jeden Fall wollte er in „seiner“ Stadt bleiben. Dort, wo alles begonnen hatte. Und wo es für ihn auch enden sollte – in Prag.


2. Egonek aus dem Bärenhaus

Egon Erwin Kisch war als Bürgersohn ein Kind der Belle Époque, die spätestens im von deutschen Truppen zerstörten Leuven, im deutschen Chlorgasnebel der zweiten Flandernschlacht bei Ypern und vor Verdun einen so grausamen wie überflüssigen Tod sterben sollte. Als der Erste Weltkrieg begann, war Kisch bereits 29 Jahre alt. Die prägenden Jahre seines Lebens hat Kisch damit in jener Epoche verbracht, die sein Freund Stefan Zweig im Rückblick als „das goldene Zeitalter der Sicherheit“ [xxxiv] charakterisierte. Es war jene kurze Atempause zwischen 1884 und 1914, in der West- und Mitteleuropa im Rahmen einer ersten großen Welle der Globalisierung einen gewaltigen Schritt nach vorne machten. „Das neunzehnte Jahrhundert“, so Zweig, „war in seinem liberalistischen Idealismus ehrlich überzeugt, auf dem geraden und unfehlbaren Weg zur ›besten aller Welten‹ zu sein.“ [xxxv]

Wirklich „golden“ und „schön“ waren diese Jahre, wie Barbara Tuchman schreibt, [xxxvi] natürlich nur für die Wohlhabenden. Andererseits: Auch wenn die goldenen Lichtstrahlen der Belle Époque lediglich für Sekunden in die Fabriken, Bergwerke und düsteren Proletarierwohnungen zwischen Wien, Prag, Budapest, Paris und London eindrangen, so wurden die Fenster dank der sozialistischen Parteien und Gewerkschaften mit jedem Jahr weiter aufgestoßen. Parallel hierzu ermöglichte der Schriftsteller Émile Zola, den der Reporter Kisch als den besten Journalisten aller Zeiten verehrte, dem Bürgertum einen unverfälschten und von keiner Sentimentalität getrübten „wissenschaftlichen“ Blick in die bedrückende Welt der Arbeiterklasse, die Tag für Tag den höchsten Preis für die rasend schnelle Industrialisierung und Globalisierung zahlte.

Zolas Porträt der Bergarbeiter in seinem 1885 veröffentlichten Meisterwerk Germinal befeuerte den Glauben vieler an eine bessere Zukunft, an den Sozialismus. Wobei man im Herrschaftsgebiet der Habsburger eher darauf hoffte, dass sich das Leben für alle verbessern würde, ohne dass die bestehende Ordnung dafür durch leichtsinnige Revolutionen ins Wanken gebracht würde. Spannungen zwischen den beherrschten Völkern und Wien gab es im Reich der Habsburger allerdings zur Genüge. Doch die multikulturelle, vielsprachige „tausendjährige österreichische Monarchie“, so Zweig, „schien auf Dauer gegründet und der Staat selbst der oberste Garant dieser Beständigkeit“. [xxxvii]

 

Auch in der Prager Altstadt, wo die Familie Kisch in der Schwefelgasse 14 (ab 1894 Melantrichgasse) lebte, schien eine von Frieden, Stabilität und Wohlstand besonnte Zukunft sicher, als Egon am 29. April 1885 zur Welt kam. Egonek, wie er von Familie und Freunden liebevoll genannt wurde, war nach dem 1882 geborenen Paul bereits der zweite Sohn von Ernestine und dem so erfolgreichen wie angesehenen Tuchhändler Hermann Kisch. Drei weitere Söhne sollten noch folgen: 1887 Wolfgang, 1890 Arnold und 1894 „Kaspar“ Friedrich. Als Kisch 1914 im Feld jeden Abend Tagebuch schrieb, versuchte er die Gemeinsamkeiten zwischen den fünf Kisch-Söhnen in Worte zu fassen:

 

Wir sind alle fünf von ganz verschiedener Wesensart, aber gemeinsam war uns eine starke Körperlichkeit, nie war einer bettlägerig, alle waren wir tauglich zum Militärdienst, und in uns allen äußerte sich die Gesundheit in übermütigen Bestätigungen, wie Übermaß von Sport, durchbummelte Nächte, Schwimmen verbotener Strecken, Rekord an Mensuren, Tanzwut, abenteuerliche Streifzüge, einen Überschuß an Temperament, das jede Berechnung, jede Überlegung und jede Klugheit verlachte. [xxxviii]

 

Im Bärenhaus ging es dank des wilden Temperaments der Söhne dermaßen laut, turbulent und auch brandgefährlich zu, dass die Wirtschafterin Frau Maschenka noch Jahre später feststellte: „Es war ein richtiges Verhängnis.“ [xxxix]

 

Immerhin, an Platz mangelte es den jungen Eltern im Haus zu den „Zwei goldenen Bären“, das bereits seit 1866 im Besitz der Familie Kisch war, nicht. [xl]

Nicht nur Kleider machen Leute, Orte vermögen dies auch zu tun. Und so hat das prächtige, in der Renaissance erbaute Haus, dessen Portal zwei Bären schmücken, sicher dazu beigetragen, dass die Kisch-Söhne schon früh einen tiefen Stolz auf eine lange Familientradition und eine enge Bindung an ihre Geburtsstadt entwickelten. In den Abenteuern in Prag erzählt Kisch von seiner Großtante Charlotte Steinhardt, die den kleinen Egon stets „Egmont“ nannte – aus Liebe zu Goethe, dem sie einmal sogar persönlich begegnet war. Und Kischs „Tante Lotti“ war zutiefst überzeugt davon, dass sie Goethes letzte große Liebe geworden wäre, hätte – ausgerechnet! – Ulrike von Levetzow dies nicht vereitelt. [xli]

Viel mehr als Goethe interessierte „Egmont“ jedoch das Gerücht, dass Heinrich Heine zu seinen Vorfahren zähle. Zu seiner Enttäuschung fand er allerdings später heraus, dass es im Stammbaum der Kischs nur eine entfernte angeheiratete Verwandte Heines gab. Eine ihm unterstellte Ähnlichkeit mit dem jungen Heine konnte also leider nur Zufall sein. [xlii]

Und dann war da natürlich noch Abraham Kisch, der Sohn des privilegierten Prager Apothekers Jacob Kisch. Abraham hatte als erster Prager Jude Medizin studiert und 1749 an der Universität von Halle den Doktortitel erworben. Er wurde schließlich Freund und Lehrer Moses Mendelssohns in Berlin. Die niederländischen Kischs, so erfuhr Egon im Rahmen seiner Recherchen zu den Abenteuern, hatten sogar noch zwei silberne Rasierbecken in ihrem Besitz, die Mendelssohn seinem einstigen Lehrer geschenkt hatte. [xliii] Tatsächlich waren gleich zwei seiner Vorfahren mit Moses Mendelssohn befreundet gewesen:

 

Von der Familie Kuh, der meiner Mutter, finden sich noch manche Angehörige in Büchern verzeichnet. Mein Vater, eifriger Mendelssohnleser, pflegte meiner Mutter in den Briefen des großen Philosophen oder in den biographischen Schriften von M. Kayserling und meines Religionslehrers Dr. Nathan Grün froh die Stellen zu zeigen, wo Moses Mendelssohn gemeinsam von seinen Freunden Kuh und Kisch spricht. [xliv]

 

Die Verwandtschaft der Kischs mit einer anderen historischen Persönlichkeit deutete die sechzehnjährige Niederländerin Paula-Louise Kisch halb im Ernst an, als sie 1917 an ihren entfernten Cousin Egon Erwin Kisch schrieb:

 

Wenn der Traum der Zionisten sich erfüllen würde und wir vielleicht wirklich nochmal ein jüdisches Königreich bekommen sollten, müssten wir Kischs uns jedenfalls zur Stelle melden, denn wir haben doch berechtigte Erbansprüche – meinen Sie nicht auch? Im Geiste sehe ich Sie schon „auf hohem Balkone“ wie Sie sich herablassend für die Huldigungen Ihrer Untertanen bedanken, rege Phantasie, nicht wahr? Oder begnügen Sie sich auch mit dem Posten des Reichskanzlers und überlassen die Königswürde einem älteren Familienmitglied? [xlv]

 

Paula-Louise bezieht sich hier auf Shaul Ben Kisch, den ersten Herrscher des vereinigten jüdischen Königreiches. Dies ging Egon Erwin allerdings etwas zu weit, weswegen er zwar eine „Hypothese“ königlicher Abstammung in den Abenteuern kurz erwähnt, doch sich ansonsten auf die Vermutung beschränkt, dass seine Vorfahren väterlicherseits aus dem böhmischen Dorf „Chiesch“ stammen. [xlvi] Gleichwohl mag es ihm gefallen haben, dass Paula-Louise, Tochter des niederländischen Zionisten Hartog Kisch, über einen kommenden jüdischen „König Egon“ fantasierte, der aus dem Geschlecht des biblischen Königs Shaul stammt.

„Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen!“, hatte Theodor Herzl dem jüdischen Volk 1902 versichert. [xlvii] In Kischs Augen hingegen war die Vorstellung eines jüdischen Staats in Eretz Israel, im „Land Israel“, nur wenig realistischer als ein Wiedererstehen der sagenumwobenen Stadt Atlantis. Immerhin, jene Sprache, in der die Delegierten der zionistischen Kongresse miteinander kommunizierten, beherrschte „König Egon“ bereits, denn Deutsch war die Muttersprache der fünf Kisch-Söhne. Tschechisch erlernten sie wohl nebenbei, durch den täglichen Kontakt mit dem Dienstpersonal. [xlviii]

Waren die Kischs also Deutsche? Durch ihre Sprache und ihr Zugehörigkeitsgefühl zum deutschen Kulturkreis waren sie es. Gleichzeitig waren sie, wie alle Bewohner Prags, ohne jeden Zweifel Österreicher. Ihre ebenso zweifellose jüdische Identität sorgte allerdings dafür, dass sie im Dauerkonflikt der deutschen und tschechischen Prager stets zwischen den Stühlen saßen. Theodor Herzl hat die Situation der böhmischen Juden 1897 so skizziert:

 

In Prag warf man ihnen vor, daß sie keine Tschechen, in Saaz und Eger, daß sie keine Deutschen seien. Arme Juden, woran sollten sie sich denn halten? Es gab welche, die sich tschechisch zu sein bemühten; da bekamen sie es von den Deutschen. Es gab welche, die deutsch sein wollten, da fielen die Tschechen über sie her – und Deutsche auch. [xlix]

 

Oder wie es Joseph Roth formulierte: „Die Juden widerlegten das Sprichwort, das da sagt, der Dritte gewänne, wenn zwei sich stritten. Die Juden waren der Dritte, der immer verlor.“ [l]

„Im Jahre 1900“, so schreibt Max Brod, „zählte Prag 415 000 Tschechen, 10 000 nichtjüdische Deutsche, 25 000 Juden, von denen 14 000 sich zur tschechischen, 11 000 zur deutschen Umgangssprache bekannten.“ [li] Wenn sich also die meisten Prager Juden der tschechischen Kultur zugehörig fühlten, so waren die Juden unter den deutschsprachigen Pragern in der Mehrheit. Brod fasst die etwas unübersichtliche Situation in Prag so zusammen:

 

Unter den Juden gab es solche, die sich als Angehörige des deutschen Volkes fühlten und die dafür die gewichtigsten Argumente anzuführen wußten – dann andere, die mit sehr ähnlichen Beweisgründen für den Beweis kämpften, daß sie zur tschechischen Nation gehörten – und schließlich Juden, die sich einfach und ohne Ziererei zum Judentum bekannten. [lii]

 

1921, drei Jahre nach der Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik, erklärten 53,5 Prozent der Prager Juden, dass sie tschechischer, 25,3 Prozent, dass sie deutscher, und 20,1 Prozent, dass sie jüdischer Nationalität seien. Neun Jahre später hatte sich die Zahl jener Juden, die sich der mittlerweile in der Republik offiziell anerkannten jüdischen Nationalität zugehörig fühlten, noch einmal erhöht. [liii]

Der deutsch-tschechische Konflikt verlief mitunter mitten durch die Familien: Als der tschechische Vater von Richard Katz – der später ebenso wie Kisch ein gefeierter Journalist werden sollte – in die deutsche Verbindung „Moldavia“ eintrat und sogar Redakteur der deutschnationalen Tageszeitung Bohemia wurde, brach seine Familie mit ihm den Kontakt ab. Es dauerte Jahrzehnte, bis der Vater seine Eltern im Dorf schließlich einmal im Jahr besuchen durfte. Den Enkel Richard haben die tschechischen Großeltern nie kennengelernt. „In meinem Elternhaus“, erinnert sich Richard Katz, „wurde nur Deutsch gesprochen; doch wenn mein Vater aus dem Schlaf sprach, murmelte er in seiner tschechischen Muttersprache.“ [liv] Für die deutschen Antisemiten war Katz’ Familie allerdings nicht deutsch, sondern jüdisch.

In den Augen der christlichen Prager Tschechen verliefen die Trennungslinien anders: „Deutsche und Juden: das war damals für das tschechische Prag fast identisch“, erinnert sich Kischs Freund Willy Haas, „und beide, Deutsche und Juden waren gleich verhaßt.“ [lv] Ebenso wie Haas erlebte auch Kisch den „Dezembersturm“ des Jahres 1897, als überall in der Prager Altstadt durch tschechische Nationalisten „deutsche und jüdische Läden und Wohnungen erbrochen und ausgeplündert“ [lvi] wurden. Dass des Kaisers Ulanen unter Androhung der Todesstrafe schnell wieder für Ordnung in Prag sorgten, änderte nichts daran, dass die gewalttätige Revolte den 13-jährigen Kisch verstört haben dürfte, als er die Vorgänge hinter einem verdunkelten Fenster des Hauses in der Melantrichgasse verfolgte. [lvii] Doch auch die Deutschen ließen keine Provokation aus: Jeden Sonntag um zwölf Uhr mittags versammelten sich deutsche Studenten, darunter nicht wenige Juden, vor dem „Deutschen Haus“ im Zentrum der Stadt und sangen dort, am Ufer der Moldau, lauthals die inoffizielle deutsche Nationalhymne „Die Wacht am Rhein“. [lviii]

„Mit der halben Million Tschechen der Stadt“, so erinnerte sich Kisch Jahrzehnte später, „pflog der Deutsche keinen außergeschäftlichen Verkehr.“ Die gegenseitig betriebene Apartheid ging dabei mitunter sehr weit:

 

Niemals zündete er [der Deutsche] sich mit einem Streichholz des Tschechischen Schulengründungs-Vereins seine Zigarre an, ebensowenig ein Tscheche die seinige mit einem Streichholz aus einem Schächtelchen des Deutschen Schulvereins. Kein Deutscher erschien jemals im tschechischen Bürgerklub, kein Tscheche im Deutschen Kasino. Selbst die Instrumentalkonzerte waren einsprachig, einsprachig die Schwimmanstalten, die Parks, die Spielplätze, die meisten Restaurants, Kaffeehäuser und Geschäfte. Korso der Tschechen war die Ferdinandstraße, Korso der Deutschen der „Graben“. [lix]

 

Noch deutlicher wird Richard Katz in seinen Memoiren: „Als ich später Indien bereiste, staunte ich nicht wie andere über den strengen Kastengeist. Ich kannte ihn von Prag her“. [lx]

Es waren gerade die jungen deutschsprachigen jüdischen Intellektuellen und Künstler aus Kischs Generation, die sich im zweisprachigen „Café Central“ und natürlich im Kaffeehaus „Arco“ trafen, in dem auch junge Tschechinnen wie etwa Milena Jesenská verkehrten. [lxi] Die jungen Idealisten waren ehrlich bemüht, als Juden ganz im Sinn des Philosophen Schmuel Hugo Bergmann Brücken zwischen Prags Völkern und Kulturen zu bauen. Bergmanns Schulfreund Kafka, dessen Vater aus dem tschechisch-jüdischen Proletariat und dessen Mutter aus dem deutsch-jüdischen Bürgertum stammte, lag die Pluralität sozusagen im Blut. Seinem Freund Max Brod – der auch Musikkritiker, Komponist und Pianist war – lag sie im Ohr: Er setzte sich leidenschaftlich für tschechische Musikschaffende ein.

Und Kisch? Ihm lag die Pluralität bereits in den Füßen: Sein Fußballklub, in dem er als linker Außenstürmer brillierte und dessen Mitglieder überwiegend Prager Juden waren, war der einzige deutsche Sportverein, der sich am deutschen Boykott nicht beteiligte und auch gegen tschechische Mannschaften antrat. [lxii] Was kümmert es den Ball denn schon, wer ihn ins Goal befördert?

Von tschechischer Seite wurden diese Bestrebungen der jungen deutschsprachigen Schriftsteller sehr wohl wahrgenommen. Der sozialdemokratische Literaturkritiker Rudolf Illový veröffentlichte 1913 einen Artikel über die neue Generation deutschsprachiger Künstler, welche „die Kämpfe des tschechischen Volkes und seine kulturellen Bestrebungen unvoreingenommen betrachten und am tschechischen Leben als dessen Beobachter teilnehmen“. [lxiii]

Jahrzehnte später, in seinem Jerusalemer Arbeitszimmer, versuchte Bergmann im Gespräch mit einem jungen Journalisten des Armeesenders Galei Zahal das Prag seiner Kindheit und Jugend noch einmal vor seinem geistigen Auge heraufzubeschwören. Prag, wo er einst Schule und Universität besucht hatte, habe ihn mit den „Ausweispapieren des Geistes“ ausgestattet. „Wir verstehen doch erst jetzt“, meinte der alte Philosoph, „wie wichtig Prag für uns gewesen ist, wieviel Bildung wir dort erhalten haben.“

 

Das Besondere an Prag war, daß es eine Stadt war, in der drei Völker – mehr oder weniger – friedlich zusammengelebt haben. […] Diese drei Kulturen haben sich gegenseitig beeinflußt und dieser „Drillingscharakter“, so möchte ich es ausdrücken, hat seinen Stempel allem aufgedrückt, was ich und die anderen in Prag geborenen – soweit sie noch leben – bis zum heutigen Tag denken. [lxiv]

 

Bergmann fügte hinzu, auch etwas von jenem Pluralismus, der in seinem Freund Franz Kafka lebendig war, sei das Produkt jener Stadt gewesen, in der dieser aufgewachsen war. Und der Charakter Prags und seiner Bewohner habe sich auch in der Art und Weise ausgedrückt, wie die drei Kulturen im Alltag miteinander rangen.

 

Diese Spannungen machten Prag in Kischs Augen zu einer „Stadt, in der ewig der Kriegslärm tobt, alles zerstört, Schulkinder erfaßt und Greise verbittert“, doch die „gerade deshalb so staunenswert eigenartig ist, so verstiegen schön, daß sie jeder lieben muß, jeder, dem sie ihren Zauber erschlossen“. [lxv] Die Liebe der jüdischen Prager drückte sich auch darin aus, dass sie Prag „die Stadt und Mutter in Israel“ nannten. [lxvi]

Als sich das deutsch-tschechische Verhältnis in Prag während der letzten Jahre der Republik allmählich zu bessern begann, als endlich „die Chinesische Mauer durchbrochen“ [lxvii] wurde, war es bereits zu spät. Die Drei-Völker-Stadt Prag hatte keine Zukunft mehr.


[i]

 André Simone, „ Posthumes Interview mit Egon Erwin Kisch “, Die Weltbühne, 5. April 1950.

[ii] Egon Erwin Kisch, Briefe an Jarmila. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Klaus Haupt (Berlin 1998), S. 242.

[iii] Kisch an Hugo Sinaiberger, 30.5.1945, Literaturarchiv des Museums der Tschechischen Literatur, im Folgenden als Kurzbeleg angegeben: LAPNP.

[iv] Vgl. Simone, „Posthumes Interview“ mit Egon Erwin Kisch«.

[v] Ebd.

[vi] Ebd.

[vii] Fritz Hofmann, Egon Erwin Kisch. Der rasende Reporter (Berlin 1988), S. 361.

[viii] Ruth Klinger, „Notizen über EGON ERWIN KISCH“ (Juli 1978), Klinger-Nachlass, Ludwig-Steinheim-Institut.

[ix] Ruth Klinger, Die Frau im Kaftan. Lebensbericht einer Schauspielerin. Herausgegeben von Ludger Heid (Gerlingen 1992), S. 267.

[x] Kisch an Hugo Sinaiberger, 11.4.1946, LAPNP (alle Übersetzungen aus dem Englischen, Hebräischen, Niederländischen und Jiddischen durch den Autor, sofern nicht anders angegeben).

[xi] lem., „Die Rückkehr der Genossen Kisch und Simone“, in: Egon Erwin Kisch, Läuse auf dem Markt. Vermischte Prosa. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Herausgegeben von Bodo Uhse und Gisela Kisch. Fortgeführt von Fritz Hofmann und Josef Poláček Band X (Berlin 1985), S. 527–528, im Folgenden als Kurzbeleg angegeben: GW10.

[xii] Ebd.

[xiii] Kisch an Hugo Sinaiberger, 24.10.1946, LAPNP.

[xiv] Kisch an Nico Rost, 5.5.1946, LAPNP.

[xv] Zitiert nach: Yochanan Ze’ev Zak, „Le-SecherE. E. Kisch“, Ha-Aretz, 2.7.1948.

[xvi] Vgl. Yeshayahu A. Jellinek, „Protectorate of Bohemia and Moravia“, in: Walter Laqueur (Editor), The Holocaust Encyclopedia (New Haven 2001), S. 77–82, ebd., S. 82; Ruth Klinger, „Die Judenfrage in Prag“, Jedioth Chadaschoth, 2.5.1947.

[xvii] Ruth Klinger, „Wiedersehen mit Prag“, Jedioth Chadaschoth, 28.3.1947.

[xviii] Ruth Klinger, „Beim ›Rasenden Reporter‹“, Jedioth Chadaschoth, 10.4.1947.

[xix] „Was uns die Delegierten und Gäste über die Rede des Genossen Gottwald sagten“, in: Kisch, GW10, S. 533.

[xx] Vgl. Fritz Beer, Die Zukunft funktioniert noch nicht. Ein Porträt der Tschechoslowakei 1948–1968 (Frankfurt a. M. 1969), S. 49 f.

[xxi] Kisch, GW10, S. 528.

[xxii] Ebd., S. 535 f.

[xxiii] Leo Brod, „Das war der ›Rasende Reporter‹“, Aufbau, 30.9.1977.

[xxiv] Vgl. „›Egonek wäre 1968 einer unserer Mitkämpfer gewesen‹. Gespräch zwischen Prof. Eduard Goldstücker und Michael Horowitz in Brighton, England, Oktober 1984“, in: Michael Horowitz, Ein Leben für die Zeitung. Der rasende Reporter Egon Erwin Kisch (Wien 1985), S. 155–157, ebd., S. 155.

[xxv] Vgl. Eduard Goldstücker, Prozesse. Erfahrungen eines Mitteleuropäers (München und Hamburg 1989).

[xxvi] Horowitz, Goldstücker, S. 155.

[xxvii] Ebd., S. 155–56.

[xxviii] Margarete Buber-Neumann, Von Potsdam nach Moskau – Stationen eines Irrweges (Köln 1981), S. 318.

[xxix] Vgl. Goldstücker, Prozesse, S. 180 ff.; R. H. Bruce Lockhart, Jan Masaryk. A Personal Memoir (London 1951), S. 66.

[xxx] Kisch an Hugo Sinaiberger, 11.4.1946, LAPNP.

[xxxi] Gisela Kisch an Hugo Sinaiberger, ebd.

[xxxii] Kisch, GW10, S. 533.

[xxxiii] Manfred George, „Egon Erwin Kisch“, Aufbau, 9.4.1948.

[xxxiv] Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers.

[xxxv] Ebd., S. 10.

[xxxvi] Vgl. Barbara W. Tuchman, The Proud Tower. A Portrait of the World before the War. 1890–1914 (New York 1994), S. 18.

[xxxvii] Stefan Zweig, Welt von Gestern, S. 15.

[xxxviii] Egon Erwin Kisch, Der Mädchenhirt. Schreib das auf, Kisch! Komödien. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Herausgegeben von Bodo Uhse und Gisela Kisch Band I (Berlin 1960), S. 305, im Folgenden als Kurzbeleg angegeben: GW01.

[xxxix] Jarmila Nečasová, „Der Weltruf des ›Hauses zu den zwei goldenen Bären‹“, in: Servus, Kisch! Erinnerungen. Rezensionen. Anekdoten. Herausgegeben von Fritz Hofmann unter Mitarbeit von Josef Poláček (Berlin 1985), S. 129–137, ebd., S. 130.

[xl] Hofmann, Kisch, S. 7 ff.

[xli] Egon Erwin Kisch, Aus Prager Gassen und Nächten. Prager Kinder. Die Abenteuer in Prag. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Herausgegeben von Bodo Uhse und Gisela Kisch Band II/1 (Berlin 1975), S. 323 ff., im Folgenden als Kurzbeleg angegeben: GWII/1.

[xlii] Ebd., S. 326 ff.

[xliii] Ebd, S. 331; L. S. „Kisch“, in: Jüdisches Lexikon, Band III. Ein enzyklopädisches Handbuch des Jüdischen Wissens in vier Bänden. Begründet von Dr. Georg Herlitz und Dr. Bruno Kirschner (Berlin 1929), S. 720 f.; Paula-Louise Kisch an Kisch, 24.12.1916, LAPNP.

[xliv] Kisch, GW II/1, S. 330.

[xlv] Paula-Louise Kisch an Kisch, 14.2.1917, LAPNP.

[xlvi] Vgl. Kisch, GW II/1, S. 333, 346.

[xlvii] Julius H. Schoeps, Theodor Herzl 1860–1904. Wenn Ihr wollt, ist es kein Märchen (Wien 1995), S. 174.

[xlviii] Vgl. Willy Haas, Die literarische Welt. Erinnerungen (München 1957), S. 10 f.

[xlix] Theodor Herzl, „Die Juden Prags zwischen den Nationen“, in: Das jüdische Prag. Eine Sammelschrift. Verlag der „Selbstwehr“ (Prag 1917), S. 7.

[l] Joseph Roth, Juden auf Wanderschaft (Berlin 1927), S. 19.

[li] Max Brod, Der Prager Kreis (Frankfurt a. M. 1979), S. 77.

[lii] Max Brod, Streitbares Leben (München o. J.), S. 44

[liii] Erich Kulka, Yeshayahu Jelinek, „Prague“, in: ENCYCLOPAEDIA JUDAICA, Second Edition, Volume 16 (Jerusalem 2007) S. 448–455, 451.

[liv] Vgl. Richard Katz, Gruß aus der Hängematte. Heitere Erinnerungen (Rüschlikon-Zürich 1958), S. 17, 19.

[lv] Haas, Die literarische Welt, S. 10.

[lvi] Ebd.

[lvii] Vgl. Egon Erwin Kisch, Marktplatz der Sensationen. Entdeckungen in Mexiko. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Herausgegeben von Bodo Uhse und Gisela Kisch Band VII (Berlin 1974), S. 88 f., im Folgenden als Kurzbeleg angegeben: GW07.

[lviii] Vgl. Audio-Interview mit Schmuel Hugo Bergman, 15. September 1974, Archiv Galei Zahal.

[lix] Vgl. GW07, S. 86.

[lx] Katz, Hängematte, S. 28.

[lxi] Vgl. GW07, S. 74, 88; Peter Stephan Jungk, Franz Werfel. Eine Lebensgeschichte (Frankfurt a. M. 1987), S. 47 f.

[lxii] Vgl. GW07, S. 88 f.; Joseph C. Pick, „Sports“, in: The Jews of Czechoslovakia II (New York 1971), S. 185–228, ebd., S. 220.

[lxiii] „Zur Geschichte und Vorgeschichte der Prager deutschen Literatur des ›expressionistischen Jahrzehnts‹“, in: Weltfreunde. Konferenz über die Prager deutsche Literatur. Herausgegeben von Eduard Goldstücker (Prag 1967), S. 47–96, ebd., S. 63.

[lxiv] Bergman, Galei Zahal.

[lxv] Kisch, „Ein Prager Roman“, in: Egon Erwin Kisch, Mein Leben für die Zeitung 1906–1925. Journalistische Texte 1. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Herausgegeben von Bodo Uhse und Gisela Kisch. Fortgeführt von Fritz Hofmann und Josef Poláček Band VIII (Berlin 1983), S. 127–131, ebd., S. 127, im Folgenden als Kurzbeleg angegeben: GW08.

[lxvi] Bruno Kisch, Wanderungen und Wandlungen. Die Geschichte eines Arztes im 20. Jahrhundert (Köln 1966), S. 23.

[lxvii] Max Brod, Prager Kreis, S. 177.

Christian Buckard

Über Christian Buckard

Biografie

Christian Buckard, geboren 1962, freier Autor und Journalist für Funk und Fernsehen, studierte Judaistik und Niederländische Philologie in Jerusalem, Amsterdam und Berlin. 2004 veröffentlichte er eine hochgelobte Biographie über Arthur Koestler, 2015 über Moshé Feldenkrais. 2012 erhielt er den...

Medien zu „Egon Erwin Kisch “
Pressestimmen
Neues Deutschland

„Als packende und spannende Geschichte kommt nun auch die neue Biografie über Egon Erwin Kisch von Christian Buckard daher, die er zu dessen 75. Todestag veröffentlicht hat. … Das Buch gewährt einen tiefen Einblick in das Leben und die Widersprüche des Schreibens von Kisch – gekonnt eingebettet in die gesellschaftlichen Verhältnisse. Buckard gelingt somit auch eine Medienanalyse, in der Fragen nach Parteilichkeit oder Neutralität von Journalismus und Literatur, von Objektivität und Fiktion verhandelt werden.“

General-Anzeiger

„Eine exzellente Biografie, die durch Detailreichtum und Luzidität besticht.“

BÜCHERmagazin

„Ein gut recherchiertes und spannend zu lesendes Porträt des Journalisten Kirsch, der immer noch Vorbildfunktion hat.“

Die Presse

„Christian Buckard gelingt es, diesem Tausendsassa in seiner ›Weltgeschichte des rasenden Reporters‹ so unterhaltsam wie informativ auf den Fersen zu bleiben.“

WDR 5 „Scala“

„Eine unterhaltsame Biografie – mit vielen Zitaten, Bildern und aufwendiger Recherche.“

Jüdische Allgemeine

„Das […] Buch ist nicht nur eine gelungene Darstellung einer Lebensgeschichte, sondern zugleich auch eine Mediengeschichte, eine Untersuchung zum Verhältnis zwischen Schreiben, Lügen, Krieg und Gewalt, und eine Tour de Force, in der wir als Leser Kisch zwischen ganz unterschiedlichen Geisteszonen jüdischen Lebens beobachten.“

Jüdische Allgemeine

„Dabei gelingt dem Biografen Christian Buckard etwas Außerordentliches: Das fast 450 Seiten dicke Buch ist nicht nur eine gelungene Darstellung einer Lebensgeschichte, sondern zugleich auch eine Mediengeschichte, eine Untersuchung zum Verhältnis zwischen Schreiben, Lügen, Krieg und Gewalt, und eine Tour de Force, in der wir als Leser Kisch zwischen ganz unterschiedlichen Geisteszonen jüdischen Lebens beobachten.“

Welt am Sonntag

„Darin liegt die weitere Stärke dieser Biografie, dass sie die Aspekte des Jüdischen in Kischs Leben und Werk in allen Facetten plastisch macht.“

Nürnberger Nachrichten online

„Buckard zeichnet diese Irrfahrten durch das wilde Leben und die Kriege und Revolutionen in Europa, das Exil in Übersee, weil er vor den Nazis flüchten musste, endlich die Rückkehr in die fremd gewordene Heimatstadt minutiös nach und lässt vor allem auch den blitzgescheiten, unbestechlichen Autor selber sprechen.“

oepb.at

„Die Lektüre der einzelnen knapp 30 Kapitel gewinnt immensen Reiz und man erfreut sich als interessierte Leserin und als wissbegieriger Leser über ein Geschichtsbuch der Extraklasse. Geschichte wird – und bleibt – damit lebendig und hat auch nach so langer Zeit nichts an ihrer Frische verloren.“

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