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Der Eissalon

Anna Jonas
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Roman

„Die 50er-Jahre-Geschichte ist ein federleichter Urlaubsroman – charmant, witzig und mit Herz geschrieben.“ - Ruhr Nachrichten

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Der Eissalon — Inhalt

Die 50er-Jahre – eine mutige Frau in Zeiten des Aufbruchs

Eine Affäre kostet Karina von Oedinghof die Ausbildungsstelle in einer Restaurantfachschule. Sie versucht, allein über die Runden zu kommen, was der verwöhnten Tochter aus gutem Haus sehr schwerfällt. Bei einer Kriegswitwe mietet sie ein Zimmer und gerät prompt mit dem zweiten Untermieter aneinander, dem gut aussehenden Italiener Ricardo. Karina verliebt sich in ihn, doch er will von ihr nichts wissen. Nur eines eint sie: ihr Traum vom Eissalon! Ricardo hat das Wissen um die Kunst des Eismachens, Karina das Gespür für die Sehnsüchte der Menschen. Alles läuft gut, bis Ricardos Vergangenheit ihn einholt. Und Karinas Vater plötzlich vor der Tür steht.

€ 11,00 [D], € 11,40 [A]
Erschienen am 01.04.2021
368 Seiten, Klappenbroschur
EAN 978-3-492-31559-3
Download Cover
€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 01.04.2021
400 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99881-9
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Leseprobe zu „Der Eissalon“

1 – Karina hatte mal …
Mai 1957

Karina hatte mal gehört, dass ein Schrei Glas zerspringen lassen könnte. Der Schrei, den sie nun vernahm, war sicher nicht dazu angetan Glas, aber ganz sicher doch ihr Leben in tausend Teile zerbersten zu lassen. Da half es nichts, dass sie und Robert Waldberger hastig auseinanderfuhren, mit fliegenden Fingern ihre Kleidung richteten – der Schaden war angerichtet. Sie befanden sich in einem Klassenraum, und Karina hatte sich von diesem jungen Mann, der nicht nur ein begabter Confiseur, sondern auch ihr Lehrer an der [...]

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1 – Karina hatte mal …
Mai 1957

Karina hatte mal gehört, dass ein Schrei Glas zerspringen lassen könnte. Der Schrei, den sie nun vernahm, war sicher nicht dazu angetan Glas, aber ganz sicher doch ihr Leben in tausend Teile zerbersten zu lassen. Da half es nichts, dass sie und Robert Waldberger hastig auseinanderfuhren, mit fliegenden Fingern ihre Kleidung richteten – der Schaden war angerichtet. Sie befanden sich in einem Klassenraum, und Karina hatte sich von diesem jungen Mann, der nicht nur ein begabter Confiseur, sondern auch ihr Lehrer an der Restaurantschule von Ingeborg Becker war, unter hitzigen Liebesschwüren küssen lassen, während die Finger, die so geschickt Süßspeisen zubereiteten, Knopf um Knopf von Karinas Bluse geöffnet hatten. Neben der jungen Frau, die aufgeschrien hatte, drängten sich nun andere Damen in die Tür, wollten den Ursprung der Aufregung ausmachen. Karina wandte den Blick ab, um das Sensationslüsterne darin nicht sehen zu müssen.
„Ich bin ruiniert“, murmelte Robert.
„Meine Damen!“, hörte Karina nun eine Frauenstimme, und kurz darauf erschien die Lehrerin für Hauswirtschaft in der Tür, sah Karina an, dann Robert. Ihre Nasenflügel bebten, als ginge von dem Raum ein unangenehmer Geruch aus, dann schüttelte sie den Kopf, machte auf dem Absatz kehrt und schritt von dannen.
„Ich bin ruiniert“, wiederholte Robert.
Karina war kurz davor, ihn zu ohrfeigen. „Und was ist mit mir? Du hast gesagt, hier sei es sicher, keiner käme um diese Uhrzeit hier hinein.“
„Das ist es normalerweise auch. Und was soll schon mit dir sein? Du kehrst zu deiner reichen Familie zurück, und kein Mensch fragt mehr nach dieser unseligen Geschichte. Aber für mich sieht es düster aus.“
„Das hättest du dir gerne vorher überlegen können.“
Robert murmelte etwas, das vermutlich wenig schmeichelhaft war, aber Karina war es gleich. Sie verließ das Klassenzimmer und trat hinaus in den Korridor, sah sich den Blicken einiger junger Frauen ausgesetzt, die in der Nähe geblieben waren, vermutlich, um nichts zu verpassen. Für einen Moment empfand Karina den kindischen Impuls, ihnen die Zunge herauszustrecken, wandte sich stattdessen aber ab. Um in ihr Zimmer zu gelangen, musste sie durch die große Eingangshalle, und ihre Schritte hallten auf dem Marmorboden, als sie zur Treppe eilte. Keinen Blick hatte sie in diesem Moment für die gediegene Eleganz der Umgebung, sie wollte nur noch auf ihr Zimmer und die Tür hinter sich schließen, als könnte sie damit gleichsam den Fehler aussperren, den sie begangen hatte, diese unglaubliche Torheit. Gut möglich, dass Robert zuerst zur Schulleiterin zitiert wurde, immerhin hatte er sich von den jungen Damen fernzuhalten. Ob man sie wirklich der Schule verweisen würde? Die Restaurantschule war für Karina der erste Schritt in die Unabhängigkeit, und obwohl sie sich mit der strikten Disziplin schwertat, so schätzte sie doch das Wissen, das man sich als junge Frau hier aneignen konnte, und wollte die Lehre unbedingt erfolgreich abschließen.
Karina klammerte sich an die Hoffnung, dass die Schulleiterin das allein ihren Eltern zuliebe nicht tun würde. Immerhin kannte und schätzte sie diese sehr, da würde sie doch gewiss über diese einmalige Verfehlung hinwegsehen. Was war denn auch schon geschehen? Man hatte sie bei einem Kuss erwischt, immerhin waren sie vollständig bekleidet gewesen – wenngleich Karinas Bluse aufgeknöpft und seine Krawatte gelöst gewesen war. Karina hatte sich gerade darangemacht, beim Küssen die Knöpfe seines Hemds zu öffnen, als der Schrei erklungen war.
Eine der Hausangestellten betrat den Raum und wies Karina an, vor der Schulleiterin zu erscheinen. Karina wappnete sich, straffte die Schultern und überlegte, wie sie sich gegenüber Ingeborg Becker geben sollte. Selbstbewusst? Ja, aber nicht zu sehr. Zerknirscht, reuevoll, einsichtig. Sie hatte einen Fehler begangen, gewiss. Aber da war sie bestimmt nicht die Erste.
Karina lief durch die mittlerweile so vertraut gewordenen Korridore, an denen die Bilder ehemaliger Absolventinnen hingen, die mit Bestnoten abgeschnitten hatten. Seit September war sie nun schon hier und hatte noch zwei Jahre vor sich, und ihre Leistungen waren durchweg gut. Das musste einfach schwerer ins Gewicht fallen als der Umstand, beim Küssen erwischt worden zu sein. Sich fortwährend Mut zuredend, stieg sie die Treppe hoch in die Beletage des ehemaligen, weitläufigen Herrenhauses, wo sich die Räumlichkeiten der Schulleiterin befanden. Dennoch schlug ihr das Herz so schnell, dass ihr der Atem in kurzen Stößen ging.
Vor der Tür von Ingeborg Becker blieb sie stehen, sah an sich hinunter, zupfte die Kleidung zurecht und holte tief Luft. Sie straffte sich, hob das Kinn gerade genug an, um nicht wie ein Häufchen Elend zu wirken, gleichzeitig aber nicht kampflustig, selbstbewusst, aber doch ausreichend demütig, um Einsicht zu zeigen. Ja, mir ist mein Fehler bewusst. Nein, so etwas wird nie wieder vorkommen.
Keine zehn Minuten später stand sie wieder vor der Tür, einen Brief an die Eltern in der Hand, in der die Schulleiterin noch einmal schriftlich darlegte, was sie ihr gerade in vernichtender Deutlichkeit gesagt hatte. Karina war nicht einmal zu Wort gekommen. Zittrig lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die Wand, legte den Kopf zurück und musste ein paarmal tief durchatmen, um nicht hier und jetzt in Tränen auszubrechen.
Als sie die Augen öffnete, bemerkte sie zwei junge Frauen, die gerade die Treppe hochkamen, Mappen in den Händen, mit denen sie vermutlich auf dem Weg zur Schulleiterin waren. In Kürze würde es die Runde machen, in welch desolatem Zustand man Karina hier vorgefunden hatte. Sie wich den neugierigen Blick aus und lief zur Treppe. Schon beim Abendessen durfte sie nicht mehr dabei sein, denn obwohl man ihr ausreichend Zeit geben würde zu packen und die Heimreise zu organisieren, so durfte sie am geselligen Leben im Haus nicht mehr teilnehmen. Als sei ihr Vergehen irgendwie ansteckend.
Die Tränen in tiefen, konzentrierten Atemzügen wegatmend, stieg Karina langsam die Treppe hinunter, durchquerte die Halle und ging in den Wohntrakt mit den Zimmern. Wie sollte sie ihren Eltern unter die Augen treten? Nach dieser Geschichte würden sie ihr kein zweites Mal ermöglichen, fern der Heimat zu lernen. Keinesfalls würde man dulden, dass die einzige Tochter des Hotels von Oedinghof Schande über die Familie brachte. Vermutlich blieb ihr nur, zu heiraten und eine brave Hausfrau zu werden.
Karina zerknüllte im Gehen den Brief in der Hand, krallte die Finger so fest darum, als könnte das dazu führen, dass er sich einfach auflöste. Mit jedem Schritt fiel es ihr schwerer, die Tränen zurückzuhalten, sodass ihr immer wieder der Blick verschwamm. Endlich war sie an ihrem Zimmer angelangt, öffnete die Tür und wollte gerade erlöst den ersten Schluchzer tun, als sie ihre Mitbewohnerin, Hanne Schmitz, bemerkte und nur ein Geräusch hervorbrachte, das einem Schluckauf ähnelte. Sie wischte sich mit der Faust, die den Brief hielt, in einer trotzigen Geste über die Augen, warf das zerknitterte Schreiben auf das Bett und ging zu ihrem Schrank, stellte sich auf die Zehenspitzen und hob den Koffer hinunter. Dann öffnete sie die Schranktür und begann achtlos alles auszuräumen und in den geöffneten Koffer zu werfen.
Hanne saß an dem kleinen Schreibtisch und beobachtete sie schweigend. „Sie wirft dich raus, ja?“
Da Karina es nicht einsah, das Offensichtliche auch noch zu bestätigen, schwieg sie und fuhr fort, die Kleidung aus dem Schrank zu räumen. Was sollte sie jetzt nur tun? 
„Was sagen deine Eltern dazu?“ Konnte Hanne etwa Gedanken lesen?
„Die werden entzückt sein, was sonst?“ Sie war dreiundzwanzig und musste nun zerknirscht und reumütig heimkehren wie ein kleines Kind, das einen Fehler zu beichten hatte. Aber was blieb ihr sonst? Sie verdiente kein eigenes Geld, und sollte sie eine Arbeit annehmen, um sich irgendwie über Wasser zu halten, so konnte ihr Vater jederzeit einfach für sie kündigen und sie damit nötigen, nach Hause zu kommen. Zwar war erst in diesem Monat das Gleichberechtigungsgesetz beschlossen worden, aber das galt vor allem für Ehefrauen, hieß es doch darin, dass der Mann bei Meinungsverschiedenheiten nicht mehr allein die abschließende Entscheidung treffen durfte. Als unverheiratete Frau unterstand man jedoch nach wie vor dem Vater.
„Wirst du dich woanders bewerben?“
Karina zuckte mit den Schultern, warf den überquellenden Koffer zu und kniete darauf, um die Schnallen irgendwie zu schließen. Ihre Brüder hatten gewiss auch während der Ausbildung das eine oder andere amouröse Abenteuer erlebt, gerade Lennart war nun wahrlich kein Kind von Traurigkeit. Aber da sagte niemand etwas, solange sie diskret waren.
„Herr Waldberger hat übrigens eine Verwarnung bekommen“, erklärte Hanne. „Hat mir Greta erzählt.“
„Ach?“ Das war ja klar. Vermutlich hatte er es noch so hingedreht, als wäre sie, Karina, allein die Schuldige, hätte den armen Kerl verführt, der ja gar nicht anders konnte, als nachzugeben. Verwünscht sollte er sein, er und seine Nachstellungen. Warum hatte sie überhaupt nachgegeben? Im Nachhinein kam ihr die Verliebtheit in ihn geradezu töricht vor. Allein die Vorstellung, wie er dagestanden und gejammert hatte, nur auf sich selbst bedacht und kein Wort über sie.
Hanne stand auf, kniete sich neben sie auf den Koffer und half ihr, die Schnallen zu schließen. „Rufst du deine Eltern gleich an? In diesem Fall erlaubt die olle Weitzel das bestimmt.“ Normalerweise mussten sie zum Telefonieren zum öffentlichen Fernsprecher gehen. Außer dem Fernsprecher der Direktorin gab es noch einen weiteren, über den die Frau des Hausmeisters wie ein Schießhund wachte.
„Nein. Ich habe es ja nicht weit, ich steige morgen einfach in die Bahn nach Koblenz. Besser, ich sage es ihnen persönlich.“

Nach einer nahezu schlaflosen Nacht stand Karina in aller Frühe auf, nahm ihren Koffer und verließ noch vor dem Frühstück – an dem sie ohnehin nicht teilnehmen durfte – die Schule. Auf dem Hof blieb sie stehen, stellte den Koffer neben sich und sah noch einmal an der Hausfassade hoch. Als sie im vergangenen Herbst angekommen war, hatte es einladend gewirkt mit dem warmen Licht hinter den Fenstern und der Vorstellung kommender Unabhängigkeit. Jetzt, da es in morgendlicher Stille dalag, die Fenster dunkel und mit Vorhängen verhängt, war es nur noch abweisend, eine Welt, in der Karina nicht mehr willkommen war, weil sie einen Mann geküsst hatte.
Seufzend nahm Karina den Koffer, trat hinaus auf die Allee und sah sich um, in der Hoffnung, dass ein Taxi sich in aller Frühe auf die noch menschenleeren Straßen der Bonner Südstadt verirrt hatte. Nachdem jedoch weit und breit nichts zu sehen war, seufzte sie erneut und ging mit ihrem Koffer langsam die Straße hinunter in Richtung Hauptbahnhof.
Nach gut zweihundert Metern tat ihr der Arm weh, und der Schweiß rann trotz der morgendlichen Kühle ihren Rücken hinab. Sie setzte den Koffer ab, zog ein Taschentuch hervor und wischte sich über die Stirn. Als sie die Straße hinaufblickte, war immer noch kein Taxi zu sehen, obwohl das eine oder andere Auto bereits unterwegs war. Ein junger Mann auf einem Lastenfahrrad näherte sich, pfiff dabei ein Lied vor sich hin. Karina trat an den Randstein und winkte ihm zu, was ihn so irritierte, dass er fast jemanden umgefahren hätte.
„Pass doch auf, du Idiot!“, rief dieser und schickte eine obszöne Geste hinterher.
Der junge Mann, der nun keinen Zweifel mehr daran haben dürfte, dass Karina ihn gemeint hatte, kam an den Bürgersteig gefahren und bremste ab. „Ja, bitte?“
„Können Sie bitte meinen Koffer zum Bahnhof fahren? Ich zahle auch.“
„Seh ich aus wie ein Transportunternehmen?“
„Sie bekommen das, was ein Taxifahrer von mir bekommen hätte.“
Er musterte den Koffer, dann wieder Karina. „Und wer sagt, dass ich nicht mit dem Koffer auf und davon fahre?“
„Was wollen Sie denn mit einem Koffer voller Damenkleidung? Also, was ist? Ich muss zum Bahnhof, aber der Koffer ist mir zu schwer.“
„Und dort soll ich dann auf Sie warten? Als hätte ich nichts Besseres zu tun?“
Karina zuckte mit den Schultern. „Dann eben nicht.“ Sie nahm den Koffer auf und ging weiter, aber der junge Mann rief sie zurück.
„He, hab ja nicht Nein gesagt. Aber ich möchte das Doppelte von dem, was ein Taxifahrer bekommt.“
Sie drehte sich zu ihm um. „Ach was? Mit welchem Recht?“
„Der Taxifahrer bedient nur ein Pedal, während er bequem sitzt, aber ich muss mich mit dem schweren Koffer abstrampeln.“
„Also gut.“ Immer noch besser, als alles selbst zu schleppen.
„Woher weiß ich, dass ich mein Geld bekomme?“
„Ich gebe Ihnen die eine Hälfte vorab. Die andere dann, wenn ich meinen Koffer zurückhabe.“
„Abgemacht.“ Er spuckte in seine Hand und hielt sie ihr hin, aber Karina nickte nur.
„Abgemacht.“
Der junge Mann lud den Koffer auf und fuhr los, während Karina ihren Weg zu Fuß fortsetzte. Wenn sie zügig ging, war es eine gute Viertelstunde bis zum Bahnhof, und als sie dort ankam – einigermaßen außer Atem –, stand der junge Mann mit dem Lastenrad bereits davor und betrachtete seine Fingernägel. Er blickte erst auf, als sie unmittelbar vor ihm stand, dann nickte er zu dem Koffer und streckte die Hand aus. Karina zählte das Geld hinein, woraufhin er sich an die Mütze tippte und sich aufs Rad schwang.
Vor dem Bahnhofsgebäude blieb Karina unschlüssig stehen. Wenn sie jetzt ein Billett kaufte und den nächsten Zug nahm, wäre sie pünktlich genug für ein spätes Frühstück. Vorausgesetzt, ihr wäre überhaupt noch nach Essen zumute nach der Begrüßung, die ihr unweigerlich bevorstand. Sie nahm den Koffer, trug ihn in die Bahnhofshalle und setzte sich auf eine Bank. Dann zog sie den Briefumschlag aus der Handtasche, drehte ihn hin und her. Der Umschlag war verschlossen, und ihre Eltern würden vermutlich sehr unleidlich reagieren, wenn sie wüssten, dass Karina ein an sie gerichtetes Schreiben geöffnet und gelesen hatte. Aber kam es darauf noch an?
Sie riss das Kuvert auf, entnahm ihm den Brief, entfaltete ihn und las die vernichtenden Zeilen. Kein Wort über ihre Leistungen, darüber, dass man bedaure, sie gehen zu lassen, angesichts des Vorfalls aber keine andere Wahl hatte. Der einzige Schluss, der sich aus diesem Schreiben ziehen ließ, war der, dass Karina liederlich war. Sie steckte den Brief zurück ins Kuvert und stopfte ihn zurück in die Handtasche.
Dann saß sie eine Weile da und grübelte, ging ihre Möglichkeiten durch. Viele waren es nicht. Genau genommen nur eine. Sie konnte heimfahren, sich dem unvermeidlichen Donnerwetter stellen und dann darauf warten, dass sie eine gute Partie an Land zog, während sie darauf hoffte, dass der Vorfall mit Robert niemandem zu Ohren drang. Denn welcher Mann wollte schon eine Frau heiraten, der man den Stempel „liederlich“ aufgedrückt hatte? Während Karina wohl damit würde leben müssen, am Ende einer Reihe von Eroberungen zu stehen, weil sie es aufgrund ihrer vermeintlichen Untadeligkeit wert war, nicht nur das Bett zu wärmen, sondern auch offiziell den Haushalt zu führen und eheliche Kinder zu gebären. Und das auch nur, wenn der Zukünftige nie erfuhr, dass sie in Wahrheit „liederlich“ war.
Sie war schon lange kein Kind mehr, und es widerstrebte ihr zutiefst, ihren Eltern diesen Brief überbringen zu müssen wie ein Schulmädchen, das eine schlechte Arbeit vorzeigte. Wenn sie ihn allerdings nicht abgab, würden ihre Eltern die Schulleitung anrufen, um zu erfahren, was vorgefallen war. Dann würde diese ihnen erzählen, dass es ein für sie bestimmtes Schreiben gegeben hatte. Karina seufzte. Es war zum Verzweifeln.
Jemand hatte eine Zeitung liegen lassen, und weil Karina nichts Rechtes mit sich anzufangen wusste und nicht nur dasitzen und in die Luft starren wollte, nahm sie die Zeitung, schlug sie auf und blätterte sie durch, wobei ihr Blick mal an einer Schlagzeile hängen blieb, mal einen Artikel querlas. Sie überflog den Gesellschaftsteil und kam bei den Annoncen an. Vielleicht sollte sie direkt zu den Heiratsgesuchen springen, möglicherweise fand sich da ein Witwer mit mehreren Kindern, der nicht wählerisch war.
Dann blieb sie jedoch bei den Wohnungsgesuchen und -angeboten hängen. In der Tat hatte sie kurzzeitig mit dem Gedanken gespielt, sich in ein Hotel einzumieten, um zu überlegen, was sie tun sollte, aber die Gefahr, dass man sie erkannte und ihren Eltern beiläufig zutrug, dass man sich gefreut habe, die Tochter beherbergen zu dürfen, war ihr zu groß gewesen. Aber das hier könnte etwas sein, eine Kriegswitwe, die ein Zimmer zu vermieten hatte. Allerdings würde sie gewiss einen langfristigen Mieter suchen.
Karina riss die Anzeige heraus und stopfte die Zeitung in den Mülleimer neben sich. Es schadete ja nichts, einfach mal zu fragen. Vielleicht konnte sie sich für einen Monat einmieten und in der Zeit überlegen, was zu tun war. Das kam ihr schon fast wahnwitzig vor, gleichzeitig jedoch kribbelte die Aufregung in ihr angesichts eines solchen Wagnisses.
Sie stand auf, nahm ihren Koffer und verließ den Bahnhof wieder. Dieses Mal nahm sie ein Taxi und ließ sich zu der angegebenen Adresse im ruhig gelegenen Ortsteil Kessenich fahren. Mehrmals war sie kurz davor, dem Fahrer zu sagen, er solle umkehren, sie zurück zum Bahnhof bringen. Was sie hier tat, war ja vollkommen verrückt. Ihre Eltern würden doch sofort Wind davon bekommen. Sie blieb jedoch stumm und stand schließlich mit dem Koffer vor einem dreistöckigen Wohnhaus, das aussah wie aus der Zeit um die Jahrhundertwende, ein ausgebleichtes, schmutziges Hellblau mit weißem Stuck. Das Haus nebenan war nur noch eine Ruine, und offenbar war auch dieses Haus von dem Treffer in Mitleidenschaft gezogen worden, denn ein Teil des Daches fehlte. Mit wild klopfendem Herzen ging sie die Stufen hoch zur Eingangstür, drückte diese auf und stieg in den zweiten Stock. Dort blieb sie vor einer der drei Türen stehen und drückte auf den Klingelknopf, neben dem der Name „Riesbeck“ stand.
Kurz darauf waren Schritte zu hören, das Klackern von Schuhen auf Holzdielen, und im nächsten Moment wurde die Tür geöffnet, und Karina sah sich einer Frau in einem dunkelgrauen Kleid gegenüber. Rotblonde Locken fielen ihr offen auf die Schultern, und sie wirkte jünger, als Karina erwartet hatte, höchstens Ende dreißig. Sie hatte mit einer matronenhaften Entscheidung gerechnet, doch die Frau vor ihr war schlank und grazil und hatte ein offenes, freundliches Gesicht.
„Ja, bitte?“
„Erika Riesbeck?“
„Die bin ich.“
„Mein Name ist Karina von Oedinghof. Ich komme wegen Ihrer Anzeige.“
„Das Zimmer? Oder die Verkaufsanzeige für das Herrenrad?“
„Das Zimmer.“
Die Frau sah an Karina vorbei zu dem Koffer, und um ihre Lippen zuckte es spöttisch. „Sie wollen gleich einziehen?“
Wärme kroch Karina in die Wangen. „Ähm, ich … wenn es geht, schon.“
Jetzt blitzte ein Funke echter Erheiterung in dem Gesicht der Frau auf. „Kommen Sie erst einmal rein. Wir reden, und dann entscheide ich, ob ich mir Sie als Mitbewohnerin vorstellen kann.“ Sie wies in den Eingangsbereich, von dem sechs Türen abgingen.
Zögernd trat Karina mit dem Koffer in der Hand ein. Erika Riesbeck schloss die Tür hinter ihr.
„Hier entlang.“ Sie deutete auf eine der sechs Türen, die halb offen stand.
Karina folgte ihr in ein Wohnzimmer, dessen Einrichtung etwas altbacken wirkte, aber gemütlich. Vermutlich stammte alles noch aus der Zeit vor dem Krieg. Erika Riesbeck bot ihr an, in einem der beiden Sessel Platz zu nehmen, und setzte sich selbst in den anderen ihr gegenüber. Sie schlug ein Bein über das andere, faltete die Hände und sah sie aufmerksam an. Karina fühlte sich an eine ihrer Lehrerinnen erinnert und hatte auf einmal das Gefühl, der Altersabstand zwischen ihnen müsste weit mehr als fünfzehn Jahre betragen.
„Erzählen Sie mir ein wenig von sich? Vor allem interessiert mich, warum Sie bereits mit einem Koffer hierherkommen. Haben Sie keine Bleibe?“
Dachte die Frau etwa, sie hauste auf der Straße? Sei gar eine Vagabundin? Karina sah an sich hinab. Nein, diesen Eindruck machte sie nun wahrhaftig nicht. Als sie wieder aufblickte, bemerkte sie, dass die Frau die Brauen leicht gehoben hatte. Sie wartete immer noch auf eine Antwort.
„Mein Name ist Karina von Oedinghof, meine Eltern betreiben ein Hotel bei Koblenz.“
Die Frau ließ nicht erkennen, ob ihr das etwas sagte. Sie nickte nur unbestimmt und gab Karina damit zu verstehen, sie solle fortfahren.
„Ich habe im Herbst eine Ausbildung in der Restaurantschule von Ingeborg Becker begonnen.“
Wieder nickte Erika Riesbeck, dieses Mal jedoch in einer Art, die deutlich machte, dass sie wusste, von wem die Rede war.
„Und gestern wurde mir mitgeteilt, dass ich die Schule unverzüglich zu verlassen habe.“
„Haben Sie mit einem der Lehrer geschlafen?“
„Nein, natürlich nicht! Einer von ihnen hat mir nachgestellt, und ich habe mich hinreißen lassen, ihn zu küssen. Dabei wurden wir erwischt.“
„Verstehe. Musste er auch seine Sachen packen?“
„Nein.“
Wieder war da dieses spöttische Lächeln. „Und nun möchten Sie hier einziehen? Damit Sie die Schmach daheim nicht beichten müssen?“
„Ja“, antwortete Karina zögerlich.
„Das Zimmer ist nicht umsonst. Wie wollen Sie es bezahlen, wenn Ihre Eltern davon nichts wissen dürfen?“
„Ich bekomme wöchentlich Geld von ihnen, das reicht gewiss. Und ich habe vor, mir eine Arbeit zu suchen. Dann sehe ich zu, dass ich etwas finde, das ausreichend respektabel ist, um es meinen Eltern präsentieren zu können.“ Oder jemanden, fügte Karina in Gedanken hinzu.
„Ich suche allerdings einen Dauermieter und niemanden, der nur seinen Eltern aus dem Weg gehen möchte. Wie lange funktioniert das? Eine Woche? Zwei?“
„Ich muss einfach jede Woche nach Hause fahren, am Wochenende wie bisher. Sie merken es nicht.“
„Was, wenn sie in der Schule anrufen?“
„Warum sollten sie das tun? Wir Auszubildenden dürfen das Telefon dort gar nicht benutzen. Wenn wir telefonieren wollen, müssen wir zum öffentlichen Fernsprecher gehen.“
„Wenn sie Ihnen schreiben?“
„Meine Familie wohnt bei Koblenz, ich fahre jedes Wochenende heim. Warum sollten wir uns Briefe schreiben? Freitagnachmittag fahre ich Richtung Koblenz, Sonntag bin ich wieder hier. Da lohnt sich keine Briefkorrespondenz.“
„Ich hoffe, Ihnen ist klar, dass das hier kein Hotel ist. Das Frühstück bereite ich morgens zu, das ist im Preis inbegriffen, aber um Mittag- und Abendessen müssen Sie sich selbst kümmern.“
„Ich war auf einer Schule für Restaurantfach und Hauswirtschaft. Um nicht zu verhungern, reicht mein Grundwissen allemal. Und ich war gar nicht einmal schlecht, ich lerne schnell.“
Die Frau wirkte, als hadere sie mit sich selbst.
„Wir können doch eine Probezeit vereinbaren“, schlug Karina vor. „Wenn Sie merken, es funktioniert nicht, setzen Sie mich einfach wieder vor die Tür.“
„Und inseriere noch einmal von Neuem?“
„Es herrscht nach wie vor Bedarf an Wohnraum, das Zimmer wird nicht lange leer stehen.“
Erika Riesbeck verengte die Augen, während sie überlegte. Es war nicht ersichtlich, ob die stumme Musterung zu Karinas Gunsten ausfiel, und dieser wurde das Schweigen zunehmend unbehaglich.
„Kein Herrenbesuch“, sagte Erika Riesbeck schließlich.
Vor Erleichterung schlug Karina das Herz so schnell, dass ihr das Blut in den Ohren rauschte. „Natürlich nicht.“
„Ich würde es zudem bevorzugen, wenn Sie nicht mit meinem anderen Mieter ins Bett gingen. Aber falls Sie es doch tun, seien Sie diskret.“
Karina schoss das Blut in die Wangen. „Ich bin doch nicht liederlich!“
Wieder dieses spöttische Lächeln.

Ricardo Liverani verkaufte Illusionen. Morgens arbeitete er in einem drittklassigen Restaurant und servierte den Kunden die Illusion einer köstlichen Mahlzeit. Nachmittags schob er seinen winzigen Eiswagen durch die Straßen und verkaufte die Illusion eines italienischen Sommers an all jene, die ihn sich entweder nicht leisten konnten oder in sehnsuchtsvoller Erwartung ihrer nächsten Reise waren. Dabei lächelte er fortwährend, ebenfalls eine Illusion, die den Menschen vorgaukeln sollte, er sei erfreut darüber, sie zu 
sehen.
Bis in die Abendstunden stand er da, lächelte, plauderte mit dem ein oder anderen, scherzte, war charmant und fragte sich, ob sein Leben nicht auch einfach nur eine Illusion war und ihm nur vorgaukelte, es könnten irgendwann auch Tage voller Zufriedenheit kommen.
Abends packte er seine Sachen zusammen, klappte den Sonnenschirm zusammen, zog ihn aus der Halterung und befestigte ihn seitlich am Wagen. Dann löste er die Bremsen und schob den Eiswagen über die Straßen nach Hause, wobei er immer wieder anhalten und Passanten Platz machen musste. Der Wagen war schwergängig, und die Räder mussten dringend einmal geölt werden. Der Vorbesitzer hatte ihn seinerzeit eingelagert und sich nicht weiter darum gekümmert, hatte aber keine Scheu gehabt, ihn als praktisch neuwertig anzubieten. Eine weitere Illusion. Immerhin hatte Ricardo den Preis ordentlich runterhandeln können. Normalerweise störte ihn die Schwergängigkeit nicht, er hätte einfach aufsteigen und in die Pedale treten können, aber jemand hatte sich einen Spaß daraus gemacht, den Sattel abzumontieren, und für einen neuen fehlte ihm zurzeit das Geld. Die Saison hatte gerade erst begonnen, und er konnte nichts abzweigen.
An dem Haus angekommen, in dem er ein Zimmer bewohnte, bog Ricardo durch das Tor in den Innenhof und schob den Eiswagen in die Remise. Er sicherte ihn mit einer Kette und hob die beiden tiefen Behältnisse heraus, in denen sich das Eis befand – oder besser gesagt das, was davon noch übrig war. Immerhin war es dank des warmen Wetters ein guter Verkaufstag gewesen. Ricardo packte alles, was nicht fest am Wagen verschraubt war, in einen Sack und hängte sich diesen über die Schulter, dann ging er auf das Haus zu und trat durch die Hintertür ein, die eigentlich nur im Notfall benutzt werden sollte. Aber er war müde und hatte keine Lust, um das Haus herumzulaufen.
Er schloss die Wohnungstür auf und war gerade auf dem Weg in sein Zimmer, als eine junge Frau aus der Küche kam, eine Tasse in der Hand. Vermutlich eine Freundin seiner Vermieterin. Er wollte mit einem Gruß an ihr vorbei.
„Mein Name ist Karina von Oedinghof. Sind Sie der andere Mieter?“
Der andere? Er hielt inne, taxierte sie, dann nickte er.
„Ich bin heute eingezogen, meine Familie betreibt ein Hotel in der Nähe von Koblenz.“
Wieder nickte Ricardo nur. Er wollte sich endlich hinsetzen, die schmerzenden Füße hochlegen, und nun stand er hier und war zu höflich, um dieser fröhlich und aufgedreht plaudernden jungen Frau eine Abfuhr zu erteilen.
„Und Ihr Name ist?“
„Ricardo Liverani.“
„Che bello conoscerti.“
„Sie sprechen Italienisch?“
„Ein wenig. Wie gesagt, meine Eltern sind Hoteliers.“
Fragte sich nur, warum eine junge Frau aus einem so offensichtlich reichen Elternhaus – Ricardo war gut darin, Kleidung und die Art, zu sprechen, den richtigen Verhältnissen zuzuordnen – sich ein billiges Zimmer nehmen musste. Aber er hütete sich, zu fragen, da er befürchtete, es würde ein weiterer Redeschwall folgen.
„Sie entschuldigen mich?“
Erst jetzt wurde ihr offenbar bewusst, dass er immer noch mit seinen Habseligkeiten bepackt im Flur stand. „Oh, natürlich. Wir sehen uns dann zum Frühstück.“
Gott bewahre. Er nickte ihr knapp zu – sollte sie da hineindeuten, was sie wollte – und ging in sein Zimmer. Dort stellte er alles ab, musste dann aber doch noch einmal hinaus, um die Eisbehälter in die Küche zu bringen. Dieses Mal war niemand zu sehen, und er trat an die Spüle, reinigte alles und würde am späteren Abend noch einmal kommen, um das Eis für den kommenden Tag herzustellen. Er belegte zwei Scheiben Brot, goss ein Glas seiner am Vortag hergestellten Limonade ein und verzog sich damit in sein Zimmer, wo er sich eine Stunde lesenden Müßiggang gönnte, ehe es ihn wieder in die Küche trieb, da er mit der Eisherstellung beginnen musste. Prompt stand er wieder ihr gegenüber. Ricardo unterdrückte ein Stöhnen.
„Hat Sie auch der Hunger noch einmal herausgetrieben?“, fragte sie.
„Nein, die Arbeit.“
„Was arbeiten Sie?“, kam es auch direkt.
„Ich bin Eisverkäufer.“
„Und nun stellen Sie das Eis her?“, folgerte sie aus den Zutaten, die er auf die Arbeitsplatte stellte.
Er nickte nur knapp.
„Ich habe das auch gelernt.“
„Tatsächlich?“
„Ja, als wir die Zusammenstellung von Desserts durchgenommen haben, stand auch die Herstellung von Speiseeis auf dem Programm. Wir haben es in kleinen Portionen zusammen mit anderen Dessertzutaten serviert.“ Sie schaffte es, währenddessen nicht einmal Luft zu holen.
„Sie sind in der Gastronomie tätig?“
„Nein, ich war auf einer Restaurantschule.“
Ricardo fragte nicht weiter nach, da es ihn schlicht nicht interessierte und er sich auf die Eisherstellung konzentrieren musste.
„Brauchen Sie Hilfe?“, fragte sie nun in sein Schweigen hinein.
„Nein, danke.“ Er stellte Schokoladen- und Erdbeereis her, kannte die perfekte Zubereitung. Von Eisherstellung verstand er etwas, hatte es von Kindheit an gelernt und die Zusammensetzung so weit verfeinert, dass der Geschmack intensiv war, verbunden mit sahniger Cremigkeit, die auf der Zunge zerging. Schon bald breitete sich in der Küche das Aroma von zerschmelzender Schokolade aus, mischte sich mit dem intensiven Duft von pürierten Erdbeeren.
Er hörte, wie sie den Stuhl zurückrückte und zur Spüle ging, kurz darauf das Plätschern von Wasser, als sie ihren Teller abspülte, gefolgt von einem leisen Klirren, als sie ihn zurück in den Schrank räumte.
„Gute Nacht“, sagte sie, und erleichtert darüber, dass er nun endlich seine Ruhe hatte, fiel es ihm leicht, diesen Gruß freundlich zu erwidern.

Morgens war Ricardo immer früh auf den Beinen, jedoch nie früher als seine Zimmerwirtin, denn gleich, wann er aufstand, das Frühstück stand bereits auf dem Tisch. Ricardo hatte großen Respekt vor Erika Riesbeck und der Energie, mit der sie ihr Leben in die Hand nahm, obwohl sie es wahrhaftig nicht leicht gehabt hatte. Seit einem Jahr schon wohnte er hier, und sie hatten sich als Wohngemeinschaft gut eingespielt. Hin und wieder kochte sie für ihn mit, dafür erledigte er anfallende Reparaturen in der Wohnung.
Dass der Neuzugang ebenfalls schon in aller Frühe wach war, damit hatte er jedoch nicht gerechnet. Er hatte die Küche kaum betreten, als sie ihn auch schon mit einem fröhlichen „Guten Morgen“ begrüßte.
Für Ricardo waren frühe Morgen nie gut. Er brauchte immer erst einen Kaffee, um wach zu werden, und vor allem brauchte er seine Ruhe.
„Ich gehe die Stellenanzeigen durch“, erklärte sie, als hätte er auch nur den geringsten Anflug von Interesse bekundet.
Auf der Anrichte stand eine Kaffeekanne unter einer Wärmehülle, und Ricardo schenkte sich die erste Tasse ein, nippte rasch daran, um für den nächsten Redeschwall gewappnet zu sein. Normalerweise fiel es ihm leicht, den ganzen Tag über zu lächeln, aber seine Kunden malträtierten seine Nerven auch nicht mit gut gelauntem Dauergeschwätz.
„Ich brauche dringend eine Arbeit, um mein Leben zu finanzieren.“
„Und wie finanzieren Sie es bisher?“
„Vom Geld meiner Eltern.“
Ah ja. Wenn Ricardo für etwas überhaupt kein Verständnis hatte, dann waren es kapriziöse, verwöhnte Mädchen. Sie hörte in der Restaurantschule auf und stürzte sich nun in ein vermeintliches Abenteuer. Dafür nahm sie jemandem, der es vermutlich dringender brauchte, ein Zimmer weg. Ricardo trank einen weiteren Schluck Kaffee.
„Und die Restaurantschule, von der Sie gestern erzählt haben?“
Als nicht sofort eine Antwort kam, sah er von seiner Kaffeetasse auf und erkannte einen Ausdruck berührender Verletzlichkeit auf dem Gesicht der jungen Frau, den sie jedoch gleich wieder mit einem Lächeln übertünchte. „Man hat mich gestern vor die Tür gesetzt.“
Ricardo fragte nicht, warum, aber er konnte es sich denken. Man setzte eine junge Frau aus guter Familie nur dann vor die Tür, wenn sie sich mit einem Mann eingelassen hatte. Und der Mann – daran zweifelte er keinen Augenblick – war mit einer Verwarnung davongekommen. „Und weshalb sind Sie nun hier?“
„Damit meine Eltern nichts erfahren.“ Das Lächeln verrutschte, wirkte nun sehr bemüht.
Jetzt tat sie ihm doch leid. Schweigend trank er seinen Kaffee aus und spülte die Tasse ab. „Dann wünsche ich Ihnen viel Glück bei der Suche.“ Leicht würde das nicht sein für jemanden, der nie gelernt hatte zu arbeiten und auch keine Ausbildung oder etwas Ähnliches vorweisen konnte.


2 – Zwei Wochenenden …
Juni 1957

Zwei Wochenenden hatte Karina daheim verbracht, und das Geheimnis zu wahren war leichter gewesen als gedacht. Den Brief hatte sie in Bonn gelassen, damit er nicht zufällig ihren Eltern in die Hände fiel, und anfangs schlug ihr das Herz bis zum Hals, wenn die Sprache auf ihre Ausbildung kam. Aber abgesehen davon, dass ihr Bruder Lennart sie bei ihrem letzten Besuch etwas aufmerksamer gemustert hatte, als witterte er ein Geheimnis, schien niemand etwas zu ahnen. Und Lennart gegenüber hatte sie sich gelöst gegeben, gelacht und hin und wieder eine Anekdote eingestreut.
Jetzt saß sie wieder in ihrem Zimmer, ging die Stellenangebote durch und kam sich nicht mehr ganz so wagemutig vor wie zu Beginn. Eine Arbeit zu finden, hatte sie gedacht, konnte ja so schwer nicht sein. Es hatte sich aber recht bald herausgestellt, dass sie vom wirklichen Leben keine Ahnung zu haben schien, dafür war sie wohl trotz Krieg und Entbehrung zu behütet aufgewachsen. Den alltäglichen Kampf ums Überleben auch nach dem Krieg bekam sie nur am Rande mit, und da waren es ja immer die anderen gewesen. Anfangs hatte Karina sich Stellenangebote ausgesucht wie Verkäuferin in einem Waren- oder Modehaus, aber da war schnell klar geworden, dass man sich jemanden mit Erfahrung wünschte, und sie konnte ja nicht einmal ein Arbeits- oder Ausbildungszeugnis vorlegen. Auch Empfehlungen hatte sie nicht vorzuweisen, und so wurde ihr umgehend beschieden, man melde sich. Was natürlich nicht geschah. Anfangs hatte Karina nach drei Tagen nachgefragt, war aber brüsk abgefertigt worden.
Schweren Herzens ging sie dazu über, sich bei kleineren Geschäften zu bewerben, schließlich sogar in Kolonialwaren- und Lebensmittelläden, aber nicht einmal dafür reichte es. In ihrer Verzweiflung sprach sie sogar in einer Wäscherei vor, aber die Vorarbeiterin sah erst sie an, dann ihre Hände, fragte, ob sie jemals ein Wäschestück gewaschen hätte. Damit war klar, dass Karina nicht einmal dafür taugte.
Karina legte die Zeitung beiseite und stand auf. Es ging auf den Abend zu, und während alle Welt zu arbeiten schien, saß sie daheim und lebte vom Geld ihrer Eltern, das sie zweckentfremdete, indem sie ein Lügengebilde um sich schuf. Vielleicht war das Ganze einfach eine dumme Idee gewesen, geboren aus Verzweiflung und der Angst vor den Konsequenzen. Jetzt allerdings fragte sie sich, ob sie hier wirklich das Richtige tat. Jedes Wochenende bei ihren Eltern konnte alles auffliegen. Und was, wenn sie doch mal in der Schule anriefen? Weil es einen Notfall gab und sie unbedingt nach Hause kommen musste? Der Plan war gewesen, dass Karina ihnen beweisen konnte, dass sie auf eigenen Beinen stand. So jedoch würde einzig und allein herauskommen, dass sie vom Geld ihrer Eltern ein Zimmer gemietet hatte und sonst nichts zustande brachte.
Als Karina das Zimmer verließ, betrat zeitgleich ihr Mitbewohner die Wohnung, und wie immer, wenn sie ihm begegnete, wirkte er trotz der freundlichen Fassade kühl und reserviert. Das wiederum führte dazu, dass Karina viel zu viel redete, als wollte sie sich irgendwie beweisen oder gar rechtfertigen, dass sie überhaupt hier war. Vom ersten Moment an war das so gewesen. Sie hatte das Gefühl, er hätte sie angesehen und direkt gewusst, mit wem er es zu tun hatte – einer verwöhnten jungen Frau, die vom wahren Leben keine Ahnung hatte. Die Vorstellung, wie er und Erika Riesbeck sich ansahen – so von Lebenserfahrenem zu Lebenserfahrener – und gleich wussten, mit wem sie es bei Karina zu tun hatten, war so unangenehm, dass sie nur zu bestrebt war, diesen Zustand schnellstmöglich zu ändern.
„Guten Abend“, sagte sie.
Er erwiderte den Gruß, und für einen Moment flackerte ein Ausdruck von Überdruss in seinen Augen auf, der Karina bewies, dass sie richtiglag mit ihrer Einschätzung. Zwar lächelte er gleich darauf, aber das schien den Eindruck nun, da Karina ihn so unverhüllt bemerkt hatte, nur zu verstärken. Sie verzichtete darauf, ihn, wie sonst immer, in ein Gespräch zu verwickeln, sondern ging schweigend in die Küche, um sich einen Tee zu kochen. Ricardo Liverani folgte kurz darauf, stellte die Behälter für das Eis in den Spülstein und ließ Wasser hineinlaufen.
Karina beobachtete ihn verstohlen. Er war attraktiv, das war ihr sofort aufgefallen, als sie ihm an ihrem ersten Tag hier begegnet war. Schwarzes Haar, sehr dunkle Augen und dazu diese Stimme. Normalerweise sprangen Männer darauf an, wenn Karina Interesse signalisierte, er jedoch war von Anfang an distanziert gewesen, was dazu führte, dass sie zunehmend ins Plappern geriet, wenn sie ihm begegnete. Das war entwürdigend, Karina erkannte sich selbst nicht wieder.
Da sie kein Gespräch anfing, tat er es auch nicht, was nur umso mehr verdeutlichte, wie ihre Konversation bisher ablief. Karina redete, er antwortete. Sobald Karina nichts sagte, herrschte bedrückendes Schweigen. Mit Erika Riesbeck war es im Grunde genommen ähnlich, sie war spröde und unnahbar. Aus der einen oder anderen Frage und Andeutung war ersichtlich, dass sie in Karina offenbar eine kapriziöse junge Frau sah, die keine Ahnung hatte vom Leben, aber die sie hier wohnen ließ, weil sie Geld einbrachte und man nicht befürchten musste, entweder von ihr im Schlaf ausgeraubt oder gemeuchelt zu werden.
Nachdem sie ihren Tee gekocht hatte, zog Karina sich wieder in ihr Zimmer zurück, ging weiter die Stellenanzeigen durch. Es war zum Verzweifeln, irgendetwas musste sich doch finden lassen. Sie blies sich eine Strähne aus dem Gesicht, nippte dann an ihrem noch viel zu heißen Tee und verbrannte sich prompt die Zunge. Im nächsten Moment fiel ihr Blick auf eine Anzeige, die sie rasch nach dem Stift greifen ließ, um sie zu umkreisen. Konnte das etwas sein? Man suchte eine unverheiratete Dame für die Tätigkeit in der Telefonzentrale eines Warenhauses im Zentrum der Stadt. Keine Vorkenntnisse erforderlich. Natürlich wusste Karina, wie man ein Telefon bediente, und im Hotel hatten sie eine Zentrale, in der die Telefonfräulein die Anrufe in die jeweiligen Zimmer oder die Rezeption weiterleiteten. So schwer sah das eigentlich nicht aus, man musste antworten und Stecker umstecken.
Sie legte die Zeitung auf ihr Nachtschränkchen und trank ihren Tee in kleinen Schlucken. Aus dem Flur waren die Stimmen von Ricardo Liverani und Erika Riesbeck zu hören, lachend, scherzend. Miteinander sprachen sie ganz anders als mit Karina. Ob sie ahnten, dass sie das mitbekam? Oder war es ihnen gleich? Karina stellte die leere Tasse ab und legte sich in die Kissen, lauschte den Stimmen, ohne verstehen zu können, was gesagt wurde.

Nach ihrer Hochzeit hatte Erika ihre Stelle als Lehrerin aufgeben müssen. Heiratete eine Frau, so standen Ehe und Mutterschaft an erster Stelle, in dieser Hinsicht war die Gesellschaft unerbittlich. Die Arbeit hatte ihr gefehlt, aber dann war der Krieg gekommen, und auf einmal hatte man die Frauen in der Arbeitswelt wieder gebraucht. Nicht als Lehrerin, aber in Unternehmen, Krankenhäusern und Fabriken. Erika war zu Beginn des Krieges Mutter zweier Kinder geworden, Zwillinge, ein Mädchen und ein Junge.
„Da haben wir doch auf einen Schlag genau das, was wir wollten“, hatte ihr Ehemann Werner gescherzt. Kurz darauf war sein Einberufungsbefehl gekommen. Kein Jahr darauf fiel er, zwei Jahre später starben beide Kinder kurz hintereinander an einer Lungenentzündung, die sich aus einer zunächst harmlos erscheinenden Erkältung entwickelt hatte. Zuerst war ihr Sohn gestorben, da hatte der Arzt von Beginn an wenig Hoffnung gezeigt, da er von Geburt an schwach auf der Lunge war, wie er sagte. Bei ihrer Tochter schien es erst aufwärts zu gehen, aber dann hatte Erika auch sie morgens tot in ihrem Bettchen vorgefunden.
Fünfzehn Jahre war das jetzt her, und Erika fragte sich, ob es je aufhören würde zu schmerzen. Sie war damals gleich wieder in den Schuldienst zurückgekehrt, aber ihr Leben wurde dort zum Balanceakt, denn die Schulen waren absolut regimetreu und Erika seit jeher ein Freigeist gewesen. Ihr war bewusst gewesen, dass man sie beobachtete, dass sie mit ihren Überzeugungen trotz aller Vorsicht nicht gänzlich hinter dem Berg halten konnte. Nachdem sich einige Eltern besorgt geäußert hatten, legte man Erika nahe, ihre Tätigkeit als Lehrerin zu beenden und sich lieber dem Kriegsdienst an der Heimatfront zuzuwenden. Als Erika das ablehnte, zwang man sie dazu, und sie konnte ihre Tätigkeit als Lehrerin erst nach dem Krieg wiederaufnehmen.
Eigentlich hätte das Gehalt gereicht, um über die Runden zu kommen, aber Erika wollte mehr tun, wollte ihre Wohnung behalten, gleichzeitig aber nicht so viel Wohnraum für sich allein beanspruchen, während andere gar keine Bleibe hatten. Unmittelbar nach dem Krieg waren Ost-Flüchtlinge bei ihr einquartiert worden, und bis vor drei Jahren hatten immer wieder ganze Familien bei ihr gelebt. Danach standen die Zimmer leer, bis vor einem Jahr Ricardo bei ihr eingezogen war.
Obwohl ihr von Anfang an wichtig gewesen war, dass das Verhältnis zwischen ihnen auf jene Art distanziert blieb, wie es bei Vermieterin und Mieter angebracht war, unterhielten sie sich doch ab und an. Mal beim Frühstück, mal, wenn man sich abends in der Küche über den Weg lief. Irgendwann war ein Rohr in der Küche aufgeplatzt, und Ricardo hatte ihr geholfen, den Boden aufzuwischen und den Schaden instand gesetzt. Mittlerweile war das Verhältnis zwischen ihnen geradezu freundschaftlich, und Erika spürte, dass sie genau das gebraucht hatte, jemanden, der da war, ohne Ansprüche an sie zu stellen. Sie war nicht bereit für eine neue Ehe, würde es vielleicht nie sein, dafür war der Verlust zu schmerzhaft gewesen, saßen die Ängste zu tief. Aber zu wissen, dass sie nicht gänzlich alleine war, genügte schon, um sich wohler zu fühlen.
Jetzt war da zudem diese verwöhnte junge Frau, die sich so offensichtlich in Ricardo verguckt hatte. Erika hatte das kommen sehen, er machte auf Frauen eben Eindruck. Ihn jedoch beeindruckte Karina von Oedinghof ganz und gar nicht, obwohl sie hübsch war mit ihrem dunklen Haar und den graublauen Augen, vielmehr rang er sich ihr gegenüber zwar Höflichkeit ab, war aber auch froh, wenn er ihr aus dem Weg gehen konnte.
„Sie redet und redet und redet“, vertraute er Erika an, als die junge Frau nicht in Hörweite war. „Vor allem morgens, wenn ich einfach meine Ruhe haben will.“
„Sei nachsichtig mit ihr.“ Dabei hatte Erika selbst nur wenig Verständnis. Es war für viele Frauen so schwer, über die Runden zu kommen, und Karina von Oedinghof verspielte ihre Möglichkeiten mit einer Naivität, die für Erika von einem schwachen Charakter zeugte. Aber letzten Endes war es ihr gleich, sie war ihre Mieterin und nicht ihre beste Freundin.
Im Erdgeschoss des Hauses wohnten drei verwitwete alte Frauen, im ersten Stock ein älteres Ehepaar, außerdem eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern, während ein weiteres betagtes Ehepaar im zweiten Stock auf einem Flur mit Erika wohnte. Dem Paar aus dem ersten Stock gehörte die winzige Wohnung in der Mansarde, die an einen jungen Mann vermietet worden war. Da diese Wohnung als einzige über kein eigenes Bad verfügte, war gegenüber in einer Kammer, durch deren Tür man nur geduckt kam, ein Klosett eingebaut worden. Erika war dem Mann mehrmals im Treppenhaus begegnet, meist abends, wenn er staubbedeckt heimkehrte. Dann war alles an ihm grau, das Haar, die Kleidung, das Gesicht, selbst die Wimpern über den blauen Augen. Hin und wieder lächelte er, dann blitzten die Zähne weiß zwischen den grauen Lippen auf, und der Staub sammelte sich in den Lachfältchen. Wie verschwenderisch jung er war, dachte Erika dann meist, obwohl er von Kopf bis Fuß grau war.
Das Haus hatte im Krieg einen Treffer abbekommen, wobei die Sprenggranate nicht direkt eingeschlagen hatte, sondern ins Nachbarhaus. Aber die Druckwelle hatte einen Teil des Daches weggerissen, und anstatt alles instand zu setzen, hatte man einfach eine neue Wand gezogen, die Mansarde verkleinert und den anderen Teil offen gelassen. Ein Teil der Wand stand noch, sodass der offene Teil von einer Art bröckligen Mauer umgeben war. Nachdem der Schutt fortgeräumt worden war, hätten die Bewohner des Hauses diesen Bereich gerne genutzt, um bei schönem Wetter Wäsche zu trocknen, aber das wollte das Ehepaar, dem die Mansarde gehörte, nicht. Immerhin war auch dieser Teil ihr Eigentum, und „was Recht ist, muss Recht bleiben“. Also blieb für die Wäsche weiterhin nur der viel zu kleine Trockenboden.
Erika ging abends dennoch auf die „Dachterrasse“, wie sie es nannte. Dort saß sie an die neu errichtete Wand gelehnt und rauchte, während sie in den dunklen Himmel sah und an ihre Kinder dachte. Als sie einmal sehr spät dort draußen saß, hatte sie Gesang aus der Mansarde gehört, wehmütige Klänge in einer fremden Sprache. Polnisch vielleicht, sie hatte die Sprache bei Besuchen in Masuren öfter gehört und glaubte sie zu erkennen. Seither ging sie immer zur selben Zeit hoch, lauschte auf den Gesang und rauchte. Einmal hatte sie vergeblich gewartet, dafür war irgendwann das Seufzen und Stöhnen einer Frau zu hören gewesen. Abrupt und mit dem absurden Gefühl, betrogen und verraten worden zu sein, war Erika aufgesprungen und die Treppe hinuntergeeilt, ohne sich darum zu scheren, dass man dies gewiss hörte. Daraufhin beschloss sie, nie wieder dort zu sitzen und zum offenen Fenster hin zu lauschen. Als sie ihm Tage später wieder im Flur begegnete, lächelte er, und sie lächelte zurück. Und wenige Stunden später saß sie an die Wand gelehnt, rauchte und lauschte auf seinen Gesang.

Die Aussicht auf eine Stelle hatte Karina beflügelt, sodass sie nach einem raschen Frühstück gleich mit der Anzeige in der Hand zum Kaufhaus eilte. Dort hörte man ihr zu und setzte sie dann probehalber einen Tag lang in die Telefonzentrale, zusammen mit fünf weiteren Bewerberinnen, und Karina stellte sich offenbar ausreichend geschickt an, dass man sie nicht rundheraus ablehnte. Die Arbeit war allerdings auch nicht weiter schwer, erforderte nur ein hohes Maß an Konzentration, damit man nicht versehentlich jemanden mit der falschen Person verband. Es gab unzählige Anschlüsse, und ständig blinkte irgendwo ein Licht auf, das bedeutete, dass wieder ein Anruf angenommen werden musste. Sicher keine Arbeit, die Karina auf Dauer ausüben wollte, aber ausreichend, um ihr ein Einkommen zu sichern. Und so konnte sie wenigstens bei den nächsten Gesprächen mehr vorweisen als den Umstand, reiche Eltern zu haben. Man erbat sich Bedenkzeit und versprach, sich in den kommenden Tagen zu melden. Karina hoffte, dass dies nicht wieder eine Art Floskel war, mit der man eine direkte Absage und mögliche Diskussionen vermied.
Als sie abends in der Küche ihr Abendessen vorbereitete, kam Ricardo nach Hause, und wie immer überfiel sie diese seltsame Befangenheit in seiner Gegenwart. Sie zwang sich, nicht wieder gegen sein Schweigen anzureden, und begnügte sich mit einem knappen Gruß. Die Ablehnung ärgerte Karina. Sie hatte ihm schließlich nichts getan, weder ihm noch Erika Riesbeck, und trotzdem fühlte sie sich hier wie eine Aussätzige.
„Wissen Sie, wo man abends tanzen gehen kann?“, fragte sie, weniger, weil ihr wirklich danach war, als vielmehr, um seine Reaktion auszuloten.
Er drehte sich zu ihr um. „Tanzen? Keine Ahnung, ich gehe nicht tanzen.“
„Dachte ich mir schon, aber hätte ja sein können, dass Sie trotzdem das ein oder andere Tanzlokal kennen.“
„Das dachten Sie sich schon? Was soll das denn heißen?“
Sie zuckte nur mit den Schultern und biss in ihr Brot.
„Nun, im Gegensatz zu Ihnen arbeite ich den ganzen Tag und habe niemanden, der mich finanziert. Da bleibt keine Zeit zum Tanzen.“
Karina hob nur kurz die Brauen, schwieg weiterhin und biss wieder in ihr Brot.
„Ich tanze im Übrigen hervorragend.“
„Na, dann begleiten Sie mich doch.“
„Wie bereits gesagt …“
„Ja, ja, Sie arbeiten den ganzen Tag, während ich reiche Eltern habe. Ich weiß. Aber gerade dann tut so ein Ausgleich doch gut.“
„Ich will kein Geld für diese Art von Müßiggang verschwenden.“
„Ach du lieber Himmel, Sie sehen gar nicht so dröge aus, wie Sie klingen. Ich lade Sie ein.“
„Ich nehme keine Almosen.“
„Ich leihe Ihnen das Geld.“
„Ich mache keine Schulden.“
„Ich bin ganz allein und kaufe mir Ihre Gesellschaft für eine Nacht.“
Jetzt hob er spöttisch eine Braue. „Ach was? Die ganze Nacht?“
„Ich mache keine halben Sachen.“
„Und wie stellen Sie sich den weiteren Verlauf der Nacht vor, nachdem wir uns müde getanzt haben?“
„Bis ich mich müde getanzt habe, ist die Nacht vorbei.“
„Ich muss morgen arbeiten.“
„Morgen ist Samstag.“
„Ich arbeite in der Gastronomie.“
Sie verdrehte die Augen. „Sie fangen samstags erst um elf Uhr an. Das weiß ich, weil Sie das Haus immer kurz vor mir verlassen. Ich muss ja auch einigermaßen früh raus, da der Besuch bei meinen Eltern ansteht.“ Immerhin hatte sie es geschafft, dass sie nicht mehr freitags nach Hause fahren musste, denn das wurde nach der Arbeit einfach zu spät. Sie redete sich mit Lernen heraus und neuen Freundinnen, sodass sie erst Samstagmorgen heimfuhr.
„Die immer noch nichts wissen?“
„Natürlich nicht.“
Er ließ Wasser in den Eiskübel laufen. „Bedaure, aber ich lehne dennoch ab.“
Sie stieß langsam den Atem aus. „Dann eben nicht.“
Karina nahm ihren Teller und ging damit zurück in ihr Zimmer, wo sie sich an den kleinen Tisch setzte und aß. Am kommenden Tag galt es, wieder zwei Tage lang zu schauspielern und ein Leben vorzugaukeln, das in den vorgeschriebenen Bahnen verlief. Eines, in dem es keinen Brief gab, der den Eltern beschied, die Tochter sei liederlich. Immerhin konnte Karina, wenn alles gut ging, jetzt ihren Lebensunterhalt bestreiten. Telefonistin in einem Kaufhaus – das klang zwar nicht besonders großartig, und ihr Vater würde die Stelle vermutlich sofort kündigen, wenn er davon erfuhr, aber es war immerhin ein Anfang.
Sie hörte Ricardo Liverani durch den Flur gehen, hörte, wie er sein Zimmer betrat und die Tür ins Schloss drückte. Irgendwann öffnete jemand die Haustür und schritt den Flur entlang. Karina ließ den leeren Teller auf dem Tisch stehen und legte sich ins Bett. Sie waren hier keine Wohngemeinschaft, das musste sie sich immer wieder sagen. Erika Riesbeck war ihre Vermieterin, Ricardo Liverani ein Mieter. Sie musste sich nicht mit ihnen anfreunden. Und es musste ihr auch keinen Stich versetzen, wenn sie jedes Gespräch mit ihr mieden und sie gleichzeitig hörte, wie Ricardo Liverani nun wieder aus seinem Zimmer trat und mit ihrer Vermieterin ein Gespräch begann, die Stimme sanft und weich. Karina wünschte, er würde mit ihr so sprechen.

Anna Jonas

Über Anna Jonas

Biografie

Anna Jonas wurde im Münsterland geboren, hat einen Teil ihrer Kindheit im hohen Norden verbracht und lebt seit ihren Studententagen in Bonn. Nach ihrem Germanistikstudium widmete sie sich dem Schreiben. Die DELIA-Preisträgerin reist gerne und liebt das Stöbern in Bibliotheken, wo sie für ihre Romane...

Pressestimmen
Radio Euroherz

„Alles in allem ein Buch, das gut und kurzweilig unterhält!“

Ruhr Nachrichten

„Die 50er-Jahre-Geschichte ist ein federleichter Urlaubsroman – charmant, witzig und mit Herz geschrieben.“

nadine_dietz

„Ein wahrer Wohlfühlroman, der zum Träumen und Abschalten einlädt.“

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