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Das Glück meiner Mutter - eBook-Ausgabe Das Glück meiner Mutter

Thommie Bayer
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Roman

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Das Glück meiner Mutter — Inhalt

Eine Lebenskrise, ein Ferienhaus in Italien, eine fremde Frau und endlich: Antworten

Der Schriftsteller Phillip Dorn  nimmt sich eine Auszeit und fährt über die Alpen nach Norditalien. In der Abgeschiedenheit seines Ferienhauses, bei Espresso und Rotwein, lässt er die Gedanken schweifen. Zu Brigitte und nicht zuletzt zu seiner Mutter, der er so nahestand und der er doch den größten Schmerz ihres Lebens zufügte. Eines Nachts reißt eine Fremde ihn aus seinen Erinnerungen, als sie heimlich seinen Pool benutzt. Die beiden kommen ins Gespräch, kommen einander näher - was Phillip nicht weiß, ist, dass sie der Schlüssel zu seiner drängendsten Frage ist.

„Thommie Bayers Romane trösten. Sie sind Balsam für die Seele.“ SWR 2

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 15.03.2021
256 Seiten
EAN 978-3-492-99790-4
Download Cover
€ 12,00 [D], € 12,40 [A]
Erschienen am 30.06.2022
224 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31886-0
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Leseprobe zu „Das Glück meiner Mutter“

Prolog


Wie oft hatte ich mir als Kind gewünscht, meine Mutter würde diesen kalten, schweigenden Mann verlassen, wie oft versucht, sie dazu anzustiften, aber als sie eines Tages den Mut aufbrachte, kam er mir abhanden.

Ich war in Kathrin aus meiner Klasse verliebt, die mich zwar nicht beachtete, aber das würde sich ändern, wenn ich erst mit meiner Band beim Schulball aufgetreten wäre. Wir probten im Keller unseres Bassisten, dem auch die Gesangsanlage gehörte, weil sein Vater Bauunternehmer war und ihm jeden Wunsch von den Augen ablas. Mitten in More than [...]

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Prolog


Wie oft hatte ich mir als Kind gewünscht, meine Mutter würde diesen kalten, schweigenden Mann verlassen, wie oft versucht, sie dazu anzustiften, aber als sie eines Tages den Mut aufbrachte, kam er mir abhanden.

Ich war in Kathrin aus meiner Klasse verliebt, die mich zwar nicht beachtete, aber das würde sich ändern, wenn ich erst mit meiner Band beim Schulball aufgetreten wäre. Wir probten im Keller unseres Bassisten, dem auch die Gesangsanlage gehörte, weil sein Vater Bauunternehmer war und ihm jeden Wunsch von den Augen ablas. Mitten in More than this von Roxy Music hämmerte es an die Kellertür, und Svetlana, die Haushälterin, rief mich ans Telefon.

Als sie sagte, meine Mutter sei dran, rannte ich die Treppe hoch. Ich dachte, etwas Schlimmes sei passiert. Meine Mutter hatte noch nie dort angerufen.

Sie lade mich zum Eis ein, sagte sie, ob sie mich nach der Probe abholen solle oder wir uns lieber in der Stadt beim Cortina treffen wollten.

„Cortina“, sagte ich, um zu vermeiden, dass meine Bandkumpels sich über ihre Zärtlichkeiten lustig machen würden. Meine Mutter konnte ihre Hände einfach nicht bei sich lassen. Immer musste sie an mir herumzupfen, mir durch die Haare wuscheln, mich anfassen oder sich bei mir unterhaken. Sie war mir nicht peinlich – diese Phase hatte ich schon hinter mir –, aber ich wollte nicht, dass die anderen mir einen Spitznamen verpassten, der irgendwie an einen Teddybär oder Schoßhund erinnerte.

 

~

Mein Bananensplit und der Früchtebecher meiner Mutter standen noch nicht auf dem Tisch, als sie mich fragte, ob ich mit ihr nach Italien ziehen würde.

„Ohne den Alten?“

„Ohne deinen Vater. Ja.“

Sie ignorierte den Balztanz des Kellners beim Servieren, wie sie auch die Unruhe unter den Männern an den umliegenden Tischen und das forcierte Lachen und Reden der Frauen ignorierte. Sie wusste, was vor sich ging, wo immer sie auftauchte, und seit ich selbst eine etwas weniger vage Vorstellung von dem hatte, was die Evolution mit Männern und Frauen vorhat, glaubte ich auch, dass sie es genoss, aber sie ließ sich niemals etwas anmerken und spielte ohne Patzer und Versprecher die Rolle der makellosen, zu jedermann freundlichen und über jeden Zweifel erhabenen Lehrerin und Pfarrersfrau.

Ich weiß noch, dass in der Musikbox Pazza Idea von Patty Pravo lief, als ich fragte: „Wieso Italien?“

Sie habe dort im letzten Jahr einen Mann kennengelernt, sagte sie und sah mich an. Sie schrieben einander postlagernde Briefe seither, er sei Offizier bei der amerikanischen Armee, in Livorno stationiert, Witwer, habe eine vierjährige Tochter und bitte sie, ihn zu heiraten. „Er ist es wert“, sagte sie.

Ich dachte an Kathrin, an den Bandwettbewerb im September, auf den wir uns jetzt schon vorbereiteten, die Lehrer, die mich mochten, und die pompöse Flachmusik aus Italien, denn jetzt drangen die ersten Zeilen von Piccola e fragile von Drupi aus dem Inneren des Cortina, ich dachte daran, dass Soldaten, zumal amerikanische, das Letzte waren und ich allenfalls mit einer gleichaltrigen oder älteren Schwester etwas anfangen konnte, und ich glaube, meine Mutter sah mir an, dass mir ihre Befreiung solche Opfer nicht wert war, denn sie sah schon traurig aus, bevor ich sagte: „Ich kann dich doch auch in den Ferien besuchen. Die vier Jahre, bis ich achtzehn bin, halte ich jetzt auch noch mit ihm aus.“

„Nein“, sagte sie. „Ohne dich geh ich nicht.“

Wir schwiegen beide. Meine Mutter tat so, als höre sie dem Lied zu, schloss die Augen und wiegte den Kopf hin und her, und ich tat so, als schmecke mir das Eis, das ich am liebsten von mir weggeschoben hätte, denn mein Egoismus und meine Feigheit hatten mir den Appetit verdorben.

Ich versuchte mir einzureden, der Ami sei bestimmt ein Blender, er wolle meine Mutter nur als Trophäe, bei ihm erwarte sie über kurz oder lang dieselbe Einsamkeit, der sie zu entkommen hoffte, einen guten Mann konnte sie doch auch hier finden, sie brauchte doch nur mit den Fingern zu schnippen. Sie konnte jeden haben.

Es war der siebzehnte Mai, der Tag vor meinem vierzehnten Geburtstag, mein Vater saß zu Hause an seiner Predigt, meine Mutter versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht weiter anmerken zu lassen, verlor ein Stückchen Ananas vom Löffel und wischte mit ironisch hochgezogenen Augenbrauen den Fleck von ihrem hellgrünen Sommerkleid mit blauen, orangefarbenen und weißen Blüten, während Ti amo von Umberto Tozzi abrupt abbrach, weil die antike Rock-Ola-Musikbox samt ihrem längst veralteten Inhalt just in diesem Moment für immer den Geist aufgegeben hatte.

Meine Mutter wurde jetzt von einer Gruppe Mädchen umringt, die wissen wollten, was man alles für das Pfingstlager in der nächsten Woche einpacken sollte, und sie versprach, eine Liste zu schreiben und am Samstag in der Schule zu verteilen. Mir schob sie währenddessen einen Umschlag zu, in dem hundert Mark steckten, fünfzig von ihr, fünfzig von meinem Vater, mit denen ich, zusammen mit Erspartem, endlich den Chorus-Effekt für meine Gitarre kaufen konnte, den ich für die Songs von Police brauchte.

 

~

Das Thema kam nicht wieder zur Sprache. Unser Leben ging noch ein paar Jahre so weiter. Am Esstisch redeten sowohl mein Vater als auch meine Mutter nur mit mir, nie miteinander, und wenn es sich nicht vermeiden ließ, den jeweils anderen zu erwähnen, dann klang das sarkastisch. Auch das Schweigen klang sarkastisch.

Nach dem sonntäglichen Gottesdienst oder bei anderen kirchlichen Veranstaltungen gaben sich die beiden als das stabile Ehepaar mit dem charismatischen Mann, den die Gemeinde ob seiner Klugheit und Güte verehrt, und der tüchtigen, bezaubernden Frau, die alles unter einen Hut bekommt: Gemeindearbeit, Schule, Familie und Ehrenämter. Erst wenn sich die Wohnungstür im ersten Stock des Pfarrhauses hinter ihnen schloss, fiel der Ausdruck entspannter Freundlichkeit von ihren Gesichtern wie pulverisierte Schminke, und mein Vater verschwand in sein Arbeitszimmer.

 

~

Nach dem Tag, an dem die Rock-Ola ihr Leben ausgehaucht hatte, veränderte sich meine Mutter. Sie weinte nicht mehr heimlich, oder sie verbarg es noch besser vor mir, sie sang nicht mehr, wenn wir allein zu Hause waren, ihr Interesse an meinen Plänen und Träumen nahm ab, und sie wuschelte mir immer seltener und irgendwann gar nicht mehr durch die Haare. Ihr Stapel von Kunstbüchern und Reiseprospekten wurde immer höher, sie zog sich allmählich aus der Gemeindearbeit zurück und fuhr in den Ferien mit ihrem kleinen Renault alleine durch Europa oder schloss sich geführten Reisegruppen an, die Kirchen, Schlösser und Museen besuchten.

Mein schlechtes Gewissen vergaß ich bald wieder, denn ich war mit anderem beschäftigt. Liebeskummer und Enttäuschung, denn Kathrin war schon mit ihren Eltern nach Brüssel gezogen, als unser Auftritt beim Schulball mit Schulterzucken hingenommen wurde, weil wir zu wenige von den angesagten Hitparadensongs spielten. Zum Bandwettbewerb wurden wir nicht zugelassen, mit der Begründung, der Schlagzeuger und ich seien zu jung für eine Abendveranstaltung. Außerdem wurde nach und nach meine Vorstellung von den Plänen der Evolution genauer und bald zur Hauptsache, der alles andere untergeordnet war: Schule, Musik, Eltern und sogar die Kriminal- und Science-Fiction-Romane, die ich bis dahin in jeder freien Minute gelesen hatte.


1


Ich saß im ICE von Nürnberg nach Frankfurt und dachte auf einmal wieder an meine Mutter, weil im Bahnhof Aschaffenburg die Anzeigetafel am Nebengleis den Regionalexpress nach Wertheim ankündigte. Ich war seit ihrem Tod vor drei Jahren ein einziges Mal dort gewesen, obwohl ich eigentlich vorgehabt hatte, alle drei Monate ihr Grab zu besuchen. Ich fragte mich, ob die längst fortgezogene Familie Scaremme so klug gewesen war, die alte Musikbox mitzunehmen, anstatt sie auf den Müll zu werfen, denn inzwischen würden Sammler dafür ein Vermögen hinblättern, ich fragte mich, ob noch mehr als zehn alte Omas am Sonntag in die Kirche gingen, und ich nahm mir vor, auf dem Rückweg dort vorbeizufahren.

Nein, es lag nicht an der Anzeigetafel – es lag am Datum: siebzehnter Mai. Vor genau fünfunddreißig Jahren hatte mich meine Mutter gefragt, ob ich mit ihr wegziehen würde.

Ich war auf dem Weg nach Frankfurt, um dort das Geburtstagsgeschenk abzuholen, das ich mir selbst gemacht hatte, einen weißen Mini Countryman Cooper S mit schwarzem Dach und nur knapp zehntausend Kilometern auf dem Tacho, den ich mit roter Nummer nach Nürnberg fahren und dort anmelden würde, um dann für eine Woche mit ihm zu verreisen.

Erst jetzt, da mir meine Mutter in ihrem hellgrünen Sommerkleid wieder als strahlende, wenn auch traurige Vierzigjährige vor Augen stand, fiel mir auf, dass mein Ziel, eine kleine Stadt in der westlichen Toskana, nur einen Steinwurf von Livorno entfernt lag. Na ja, Steinwurf war vielleicht falsch, aber viel mehr als fünfzig Kilometer würden es nicht sein.

 

~

In der Taxischlange vor dem Frankfurter Hauptbahnhof nahm ich meine Geldbörse aus der Gesäßtasche und steckte sie in die seitliche Hosentasche, weil mir die Nähe zu Fremden unangenehm war und ich mich an eine Szene in Paris erinnerte. Dort waren meine Mutter und ich im Gedränge der Metrostation Saint Michel tief unter der Erde an den Schranken, die sich nur öffneten, wenn man sein Billet einsteckte, geschubst und angerempelt worden, und kurz darauf hatte sie entdeckt, dass ihre Brieftasche weg war. Zum Glück hatte sie darin nur Geld und einen Kalender verwahrt und Ausweis, Scheckkarte und Führerschein im Hotel gelassen.

Als ich ins Taxi stieg, nahm der Fahrer ein kleines Paket von der Rückbank und legte es neben sich auf den Vordersitz. Ich nannte ihm die Adresse in der Hanauer Landstraße und überlegte mir, ob in dem Päckchen Geld oder Drogen sein konnten. Ich spiele immer mit den Anblicken, die sich vor mir auftun, weil ich Kriminalromane schreibe und jedes Stückchen Wirklichkeit brauchen kann. Ich machte mir eine Notiz: Taxi, Drogen, Geldwäsche, und als ich mein Handy wieder einsteckte, fuhren wir über den Main.

Auf der Fahrt zum Ostbahnhof fiel mir jeder vorbeifahrende Mini auf, das war schon seit ein paar Jahren so, seit ich von einer Buchhändlerin mit einem vom Bahnhof abgeholt und zum Hotel gefahren worden war. Das verspielte, etwas kindliche und gleichzeitig protzige Interieur hatte mich damals zuerst amüsiert, und dann gefiel es mir. Jetzt freute ich mich darauf, endlich in mein eigenes Spielzeug einzusteigen und damit loszufahren.

 

~

Die Formalitäten waren schnell erledigt, ich unterschrieb den Kaufvertrag und eine Erklärung, in der ich mich verpflichtete, das Fahrzeug binnen dreier Werktage anzumelden und die roten Nummernschilder zurückzuschicken, dann brachte mich Herr Bosic zu meinem blitzblanken, makellosen Auto, das ich zuerst umkreiste, tätschelte und dann an der Fahrerseite öffnete, um einzusteigen.

Herr Bosic setzte sich zu mir auf den Beifahrersitz und gab mir eine Einweisung, wie ich mit dem Navi sprechen musste, wie Klimaanlage, Tempomat, Radio, Licht und Scheibenwischer funktionierten, falls ich deren Schalter nicht auf Automatik stehen ließe. Ich stellte mir den Sitz ein und streichelte das Lenkrad.

„Mit dem werden Sie viel Freude haben“, sagte Herr Bosic und stieg aus.

Ich stieg ebenfalls aus, um ihm die Hand zu schütteln, er wünschte mir gute Fahrt und wartete, bis ich wieder eingestiegen und losgefahren war. Mit einem peinlichen Hüpfer und aufheulendem Motor, weil ich im ersten Gang zu viel Gas gegeben hatte. Er lächelte und winkte, ich winkte ebenfalls und zog davon. Allerdings nur bis zur Einfahrt eines Aldi-Markts, wo ich in Ruhe das Navi fütterte, um so schnell wie möglich auf die A 3 nach Würzburg zu kommen. Das war nicht nötig, wie sich herausstellte, denn die Auffahrt zur A 661 lag ein paar Hundert Meter weiter direkt an meiner Straße.

Die Freude, die Herr Bosic mir versprochen hatte, stellte sich augenblicklich ein, obwohl ich mich noch einige Male mit dem Schalten beziehungsweise dem Gaspedal vertat. Aber ich war froh um das Stück Trainingsparcours, bedankte mich bei der Navistimme für ihre präzisen Anweisungen, ließ das Fenster herunter, um den Fahrtwind zu spüren, und schloss es erst wieder, als ich beim Offenbacher Kreuz von der 661 auf die A 3 und dort nach dem Einfädeln bei der ersten Gelegenheit auf die Überholspur wechselte.

 

~

Beim Rasthof Würzburg, während ich auf den Parkplatz rollte, verschob ich den Besuch in Wertheim auf ein andermal. Es war kurz vor vier, und ich würde auf der Bundesstraße in den Feierabendverkehr geraten, im Süden war der Himmel grauschwarz und sah nach Gewitter aus – was sollte ich im Regen durch die Stadt oder über den Friedhof spazieren, mein schönes neues Auto aus den Augen lassen und womöglich irgendeinen Bekannten oder Schulkameraden treffen, der mich zu einem Gespräch über alte Zeiten nötigen würde. Danach war mir nicht.

Ich stieg aus und umkreiste den Wagen wieder, wie schon beim Autohaus, lauschte dem unregelmäßigen Ticken des abkühlenden Auspuffs, wischte mit einem Tempotaschentuch ein paar tote Fliegen von den übellaunig heruntergezogenen Mundwinkeln des Kühlergrills und sah mir mein bulliges, schwarz-weißes Geburtstagsgeschenk aus verschiedenen Blickwinkeln an.

Neunundvierzig. Meine dreißig Jahre alten Jeans passten mir noch, meine Haarfarbe war dieselbe wie beim Kauf dieser Jeans. Nur im Bart, wenn ich ihn stehen ließe, wären zwei graue Flecken wie seinerzeit bei Georges Moustaki, den meine Mutter so geliebt hatte. Le Métèque und Ma Solitude hatte sie oft vor sich hin gesungen und Sacco e Vanzetti an den Lagerfeuern der Pfadfinder immer wieder spielen müssen, weil alle mitsingen konnten.

Die ersten fünf Akkorde auf der Gitarre hatte sie mir mit House of the Rising Sun beigebracht. Die reichten dann auch fast schon für Suzanne, das jahrelang unser gemeinsames Lieblingslied war. Meine Mutter hütete die Schallplatte und kaufte sie nach, als wir irgendwann die Knackser und Hüpfer nicht mehr überhören konnten.

Ihr hätte der Mini auch gefallen. Unsere letzte gemeinsame Reise vor fünf Jahren hatten wir in meinem alten Jaguar unternommen, und sie lobte dessen Schönheit bei fast jedem Aus- und Einsteigen. Wir waren einfach losgefahren in Richtung Brenner, hatten am ersten Abend in Meran Station gemacht und es schließlich bis Rom geschafft.

Leider hatte sie da schon Schwierigkeiten mit dem Gehen, und wir mussten immer wieder Pausen machen und nach kurzer Zeit umkehren. Sehen konnten wir auf diese Weise nicht mehr allzu viel, aber das Sehen war ihr ohnehin nicht so wichtig, wie einfach in Bewegung zu sein.

Auf den ersten Reisen, die ich mit ihr zusammen gemacht hatte, war es mir schwergefallen, das zu verstehen, denn schon als Kind hatten ihre Kunstbuchstapel und Erzählungen bei mir den Eindruck erweckt, sie glühe leidenschaftlich für Malerei, Architektur und Kunsthandwerk. Auf die Idee, dass all diese Sehenswürdigkeiten nur eine Art Alibi sein könnten, kam ich damals nicht. Aber ich blätterte selbst immer wieder in den Prachtbänden. Sie übten eine merkwürdige Anziehungskraft auf mich aus.

Vielleicht war ich deshalb auch später in Erlangen bei Kunstgeschichte und Romanistik gelandet, nachdem ich alles dafür Nötige beisammenhatte, Abitur mit mittelmäßigem Notendurchschnitt, Führerschein, einen roten Alfa Giulia und die angesagten Diesel-Jeans.

Bis zum Abschluss kam ich nicht, weil mein Eifer nach wenigen Semestern erlahmt war und ich mir keinen Beruf vorstellen konnte, für den ich das Diplom brauchen würde. Außerdem spielte ich in einer Nürnberger Band, die eine Zeit lang recht erfolgreich war, widmete mich der Liebe mit wechselnden Freundinnen und betrieb mein Studium bald nur noch wie ein Hobby. Im siebten Semester gab ich auf und konzentrierte mich ganz auf den Nebenjob, der mir zwischenzeitlich zugefallen war – Übersetzungen italienischer Krimis für einen kleinen Nürnberger Verlag zu lektorieren. Ich hatte zwei Auslandssemester in Bologna verbracht und mir davor und danach Italienischunterricht bei einer Dozentin, in die ich verliebt war, geleistet. Sie hatte mich nie erhört, also waren auch nie negative Gefühle zwischen uns getreten, und ich konnte sie nach idiomatischen Wendungen fragen, als ich mich später selbst als Übersetzer versuchte. Besonders gut waren die Übersetzungen, die ich machte, wohl nicht, dafür auch nicht besonders gut bezahlt, aber sie brachten mich in Kontakt mit einem großen Münchner Verlag, dem ich dann irgendwann mein erstes eigenes Manuskript anbieten konnte.

Dass ich mich schon vor dem Studium für alles Italienische interessierte und bald auch begeisterte, mag eine küchenpsychologische Erklärung haben, nämlich die, dass es mich noch immer beschämte, nicht meiner Mutter zuliebe dort hingezogen zu sein, aber egal aus welchem Grund, dieses Land übte eine immer größere Faszination auf mich aus, je mehr ich davon erfuhr und kennenlernte, und irgendwann stellte ich fest, dass ich mich spätestens in Rovereto lebendiger und wacher fühlte als dort, wo ich herkam. Als wohnte in mir eine italienische Seele, die ich leider zu spät entdeckt hatte.

 

~

Weil ich seit dem Frühstück nichts gegessen und das Angebot im Speisewagen auf der Hinfahrt verschmäht hatte, protestierte mein Kreislauf, und ich kaufte ein Sandwich zu dem Cappuccino, nahm beides mit nach draußen, setzte mich in den Wagen und öffnete das Dach und alle vier Fenster. Das Thermometer zeigte vierunddreißig Grad an, die Sonne stach und glasierte die Umgebung mit hyperrealistischem Licht. Ich bemerkte, dass sich die Gewitterwolken von Süden her auf mich zubewegten. Noch war kein Wind zu spüren, aber in einer halben Stunde konnte es schon losgehen.

Ich beeilte mich deshalb mit Essen und Kaffee und beschloss, die Zigarette, die ich danach rauchen wollte, nicht gemütlich im Stehen, sondern lässig wie Belmondo beim Fahren zu genießen.

 

~

Es klappte. Ich fuhr dem Wetter davon und kam ohne Wasserflecken oder gar Hagelschäden nach Hause, fand einen Parkplatz wenige Meter von meiner Haustür entfernt und sah mir das Auto noch eine Weile vom Gartentor aus an. Das Dröhnen von der Autobahn blieb noch in meinem Kopf. Immer wenn ich schneller als hundertzwanzig gefahren war, hatte sich das Rauschen von Reifen und Fahrtwind mit dem Brummen des Motors zu einem konstanten Lärm vermischt.

Auf dem Weg zu meiner Wohnung, der obersten im Haus, sah ich einen Zettel auf der untersten Stufe des letzten Treppenabsatzes liegen. Willst du mit uns essen? Halb acht?

Ich klopfte an die Tür, und Martina öffnete. „Gern“, sagte ich, „was gibt’s.“

„Pommes frites und Tomatensalat. Für Nick und mich noch Fischstäbchen dazu.“

„Kann ich was helfen?“

„Pommfritze schneiden. Geschält hab ich die Kartoffeln schon.“

„Gut, bis gleich“, sagte ich und ging nach oben, um mir die Hände zu waschen, das Jackett an den Haken zu hängen und eine Flasche Carmenère aus dem Regal in der Speisekammer zu nehmen. Ich rauchte noch eine Zigarette am Fenster meines Arbeitszimmers, von dem aus ich die Straße übersehen konnte, und schaute mir den Mini von oben an.

Mein Arbeitszimmer war aufgeräumt, der Schreibtisch leer wie bei einem Wirtschaftsboss oder Diktator, nichts wies auf Arbeit hin, kein aufgeschlagenes Buch, keine Stapel von Zetteln oder ausgedruckten Unterlagen, sogar der Aschenbecher glänzte. Ich war vor einer Woche mit zwei Projekten fertig geworden, die ich am Ende parallel gestemmt hatte, weil eines vor einem halben Jahr verschoben werden musste, sodass die Abgabetermine nur noch zwei Wochen auseinanderlagen.

So etwas lasse ich normalerweise nicht zu, ich plane sorgfältig und arbeite diszipliniert, aber diesmal hatte ich mich mit dem Rechercheaufwand des einen verschätzt und viel mehr Zeit gebraucht, weshalb ich den Verlag bitten musste, die Veröffentlichung eine Saison später einzuplanen.

Wenn ich mit einem Buch fertig bin, werfe ich mit Erleichterung und einem gewissen Triumphgefühl alles weg, was ich dafür gebraucht habe. Das Literaturarchiv in Marbach wird sich nicht für meine Notizen und Rechercheunterlagen aus dem Fenster lehnen, und irgendein Student wird sich, wenn überhaupt je, für seine Abschlussarbeit allenfalls an der Darstellung heteronormativer Geschlechterrollen oder der Erwähnung von Markenartikeln abarbeiten – die Entstehung meiner Manuskripte interessiert niemanden.

Unter meinem eigenen Namen schreibe ich Geschichten, in denen ganz normale Leute in kriminelle Aktivitäten verwickelt werden, oft ohne ihr eigenes Zutun, aber manchmal auch durch kleine Sünden, Gelegenheiten, die sie spontan ergreifen, ohne die Folgen zu bedenken, oder Intrigen, deren Opfer sie anfänglich sind, bis sie dann selbst zu Tätern werden. Mein Name klingt wie ein Pseudonym: Phillip Dorn.

Unter dem wirklichen Pseudonym Carlo Spinoso schreibe ich eine Reihe, die sich um einen frühpensionierten Polizisten dreht, der mit seiner italienischen Frau nach Florenz gezogen ist und dort als Privatermittler für die Oberschicht allerlei dunkle Machenschaften aufklärt.

Ich leiste mir den Luxus, ohne explizite Grausamkeiten, Serienkiller und psychopathische Frauenfolterer auszukommen, entziehe mich dem Wettlauf um das immer noch perversere Blutbad und komme damit ganz gut über die Runden.

Jedes Mal, wenn ich alles losgeworden bin, fühle ich mich nicht mehr so richtig wohl in meiner Wohnung. Ich weiß dann nichts mit mir anzufangen und brauche eine gewisse Zeit, um mich vom Roboter in den Müßiggänger zurückzuverwandeln. Ich lese dann zwar endlich wieder, gehe auch mal ins Kino oder leihe mir Filme auf DVD aus, aber es dauert seine Zeit, bis ich das Gefühl habe, dass mir dieser Müßiggang auch zusteht.

Auf Reisen ist das einfacher, da ist Flanieren, Schauen, Ausruhen und zielloses Denken genau das Richtige, deshalb fahre ich fast immer, wenn mein Teil der Arbeit getan ist, nach Italien.

Ich löste mich von dem Anblick meines properen Autos und ging nach unten zu Martina und Nick.

 

~

Die Pommes frites prasselten in der elektrischen Fritteuse, und die Fischstäbchen lagen schon auf den Tellern – ich hatte mich erfolgreich um die Arbeit herumgetrödelt.

„Setz dich“, sagte Martina und reichte mir den Korkenzieher. Zwei Weingläser hatte sie schon hingestellt, weil sie mich kannte und wusste, dass ich eine Flasche mitbringen würde. Bis sie die fertigen Pommes frites in einer Schüssel gesalzen und durcheinandergeschüttelt hatte, war ich mit dem Öffnen des Weins beschäftigt, und als Nick sich von seiner X-Box losgerissen hatte und zu uns stieß, wollte er wissen, ob man das Auto von hier oben aus sehen könne.

„Aus deinem Zimmer, ja“, sagte ich.

„Zeig.“

„Fisch wird kalt“, sagte Martina, aber sie wusste, dass das auf taube Ohren stieß, und schenkte mir und sich von dem Wein ein, während Nick mich hinter sich herzog.

„Geil“, sagte er, als ich ihm das Auto zeigte. „Fährst du eine Runde mit mir nachher?“

„Essen!“, rief Martina aus der Küche, und wir gingen zurück und setzten uns.

„Und?“, fragte Martina, „macht er Spaß?“

„Ja. Willst du nachher eine Runde fahren?“

„Auf dem Beifahrersitz. Die erste Beule machst du besser selber rein.“

Sie hatte schon seit Jahren kein Auto mehr, weil sie zur Arbeit nur zwei Straßen weiter musste und wir alle zwei Wochen zusammen den Großeinkauf mit meinem Wagen machten. Nick fuhr mit dem Bus zur Schule, und zum Hauptmarkt brauchte man zwanzig Minuten zu Fuß, ein Auto war überflüssig, wenn man so wohnte wie wir. Aber ich wollte nicht ohne sein. Seit meinem achtzehnten Geburtstag hatte ich immer ein Auto gehabt. Und immer eines mit Gesicht.

Nach dem Alfa war es ein Ford Mustang gewesen, dann ein Citroën DS, ein Mercedes, ein BMW, ein Jaguar, der alle paar Hundert Kilometer in die Werkstatt musste, und schließlich einer, der länger als zehn Jahre ohne Macken lief, bis ich ihn schweren Herzens mit dreihundertvierzigtausend Kilometern einem Bastler schenkte, der mir versprach, ihn für die Ewigkeit zu erhalten. Der Mini jetzt ist das erste kleinere Auto seit der Giulia meiner Studentenzeit.

„Gibt mir einer von euch ein Fischstäbchen ab?“, fragte ich, und Martina legte mir eins auf den Teller.

„Ist sowieso gut fürs Gehirn“, sagte sie.

„Dann bist du hiermit vom Vegetarier zum Flexitarier geworden“, sagte Nick und grinste.

„Ich nehme die Ernennung an“, sagte ich und grinste ebenfalls.

Für einen Zwölfjährigen war Nick noch erstaunlich wissbegierig und kommunikativ. Er hatte die Alles-ist-so-öde-und-ich-bin-so-cool-Phase noch nicht erreicht, stellte Fragen, erzählte Witze und las meine Bücher eins nach dem anderen, seit Martina es ihm vor einem halben Jahr erlaubt hatte.

Vier Jahre zuvor war Nicks Vater ausgezogen und Martina bei der Scheidung die Wohnung zugesprochen worden. Wir hatten beide genügend Erfahrung, um die folgenden Gelegenheiten für eine Affäre verstreichen zu lassen, und wurden deshalb nach und nach zu der lockeren Quasi-Familie, die sich ein paarmal in der Woche abwechselnd bei mir oben oder hier zum Essen traf, hin und wieder einen Ausflug machte, sich für Großeinkäufe absprach und Kino-, Badesee oder Frankenstadion gemeinsam besuchte. Nick war ein glühender Club-Fan, Martina und ich gingen mit, weil uns seine Begeisterung gefiel.

Insgeheim war ich froh, dass Martina sich anscheinend nicht nach einem neuen Lebensgefährten umsah, obwohl ihr das eigentlich nicht schwerfallen dürfte – sie war knapp über vierzig mit einem Gesicht wie von Feuerbach gemalt, schön auf eine stille, ungeschminkte und eher introvertierte Art und etwa in dem Alter, in dem meine Mutter bereit gewesen war, neu anzufangen.

Vielleicht sah sie sich ja um und tat es so diskret, dass Nick und ich nichts davon mitbekamen, um uns erst, wenn es wirklich ernst werden sollte, damit zu konfrontieren.

Ich selbst tat das nicht mehr. Meine langjährige Freundin Bettina war vor zwei Jahren ausgezogen, und ich hatte mich damit abgefunden, das Paarungsgeschehen hinter mir zu lassen.

Auch sie war knapp vierzig gewesen, als sie sich entschlossen hatte, nach Berlin zu ziehen, wo sie eine Stelle an der Humboldt-Universität antrat, deren Tätigkeitsbeschreibung ich schon nicht mehr verstehen wollte.

Es wäre so ungerecht wie sarkastisch von mir zu behaupten, ihre Unzufriedenheit mit mir sei einmal im Monat aufgetreten, aber viel größer waren die Intervalle oft nicht. Sie störte sich dann meist an Eigenschaften, die ich nicht loswerden konnte, zum Beispiel, dass ich langweilig war, weil ich tagein, tagaus am Schreibtisch saß und nur selten irgendeine Aktivität vorschlug. Wenn ich dann sagte, das Schreiben sei kein Achtstundenjob, bei Autoren komme es darauf an, dass ihre Bücher nicht langweilten, und wer sich plaudernd mit der Welt befasse, brauche nicht zu schreiben, sie solle froh sein, dass ich sie nicht mit jedem Gedanken, der mir durch den Kopf ging, belästigte, dann wurde sie erst recht zornig und fand, ich mache den Mund nur für Widerspruch auf.

Damit hatte sie recht. Meine Art, einen Gedanken aufzugreifen, war, ihn mit Gegenargumenten abzuklopfen. Ich wollte mir diese Art auch nicht abgewöhnen, denn ich hatte viel gelernt damit und war selbst immer dankbar, wenn mich jemand durch Nachfragen, Einspruch und Logik dazu brachte, einen Sachverhalt oder eine Idee am Ende besser zu verstehen.

Wenn ich mitbekam, wie Bettina mit ihren Freundinnen und Kolleginnen sprach, hatte ich den Eindruck, irgendwelche Zustände oder Gedanken würden nicht untersucht und befragt, sondern konstatiert, bestätigt und ad acta gelegt, um sich möglichst schnell über das wirklich Wichtige, nämlich Gefühle oder Personen, austauschen zu können.

In der weit überwiegenden Zeit, die nicht von Bettinas Umsichschlagen getrübt wurde, waren wir ein glückliches und liebevolles Paar, sie verstand und unterstützte, dass ich viel Zeit mit meiner Mutter verbrachte, holte mich mit fröhlicher Ignoranz aus deprimierten Stimmungen und freute sich mit mir über Erfolge, die ich alleine einfach so hingenommen hätte, mit ihr aber feierte und genoss.

Ihr Humor war frei von Schadenfreude, ihr Interesse an anderen Menschen aufrichtig und freundlich, ihre Spontaneität anstrengend, aber entwaffnend, und wenn sie in einer Sommernacht um elf noch im Jägersee schwimmen wollte, ließ ich dafür alles andere stehen und liegen.

Wenn sie mich ihren Freundinnen als perfekten Hausmann vorstellte, spielte ich mit, obwohl das weder stimmte noch meinem Selbstwertgefühl bekam, und wenn sie erschöpft von ihrer Arbeit in der Nachrichtenredaktion nach Hause kam, ließ ich ihr ein Bad ein und stellte etwas zu essen auf den Tisch.

Nachdem sie gegangen war, brauchte ich lange, fast zwei Jahre, um sie nicht mehr zu vermissen. Und ich hatte einen Knacks weg. Ich wollte nicht mehr. Das immer gleiche Spiel von Anziehung und Abwehr, Verschmelzung und Selbsterhalt schien mir aus der neu gewonnenen Distanz auf einmal öde und vorhersehbar, alles lief auf Abnutzung und Missverstehen hinaus, als könne es Liebe zwischen zwei Menschen nur in Phasen geben, nach deren Ablauf man sich die eigene Ernüchterung so lange nicht eingestand, bis ein äußeres Ereignis, eine neue Verliebtheit, ein Job in einer anderen Stadt oder ein irreversibel verletzender Streit für klare Verhältnisse sorgte.

 

~

Nick räumte das Geschirr in die Spülmaschine, ich steckte den Korken auf die halb volle Weinflasche, und Martina nahm den Schlüssel vom Haken. Es war immer noch so warm, dass wir keine Jacken brauchten.

„Der guckt wie ein Boxer“, sagte Nick, als wir unten vor dem Auto standen, „gibst du ihm einen Namen?“

„Noch nicht drüber nachgedacht“, sagte ich, während ich die Beifahrertür für Martina öffnete, „hast du eine Idee?“

„Joe Louis“, sagte er.

„Woher kennst du denn den?“

„Internet.“

„Joe ist gut. Anschnallen.“

Ich fuhr brav mit dreißig bis zum Stadtgraben, dann rechts zum Planetarium und durch Gostenhof zum Frankenschnellweg, wo ich ab Fürth immerhin mit hundert dahinziehen durfte. Martina probierte währenddessen verschiedene Beleuchtungseinstellungen für die Armaturen durch, und Nick hatte sich so gesetzt, dass er zwischen uns beiden nach vorne schauen konnte. Er war begeistert.

„So einen will ich zum Führerschein“, sagte er, und Martina schlug vor, er solle rechtzeitig anfangen, seinen Vater zu bearbeiten, damit dieser das Geld zusammensparen könne.

„Zum Abitur“, sagte ich, „wenn du einen Schnitt von zwei machst. Dann leg ich was dazu.“

„Erpresser.“

In der folgenden Stille begriff ich, dass mein so locker dahingesagtes Angebot eine Art Treueerklärung war. Wir würden zusammenhalten, ich würde Teil der Familie bleiben, was auch immer sich ergäbe, ein neuer Liebhaber für Martina, ein Wegzug oder ein Abkühlen unseres Verhältnisses – ich stand im Wort und würde es halten. Vielleicht dachte Martina etwas Ähnliches, denn sie wechselte die Beleuchtung von Blau auf Rot und sah mich von der Seite an, als liege ihr etwas auf der Zunge, das sie vor Nick nicht aussprechen konnte.

 

~

Nachdem wir in Erlangen am Schlossgarten Eis gegessen hatten, holte sich Martina bei Starbucks einen Espresso, denn sie musste noch an einer Präsentation arbeiten, die anderntags gezeigt werden sollte. Ich nahm denselben Weg zurück, obwohl ich eigentlich lieber über die Dörfer gekurvt wäre, aber wir waren schon über eine Stunde unterwegs, und Nick musste ins Bett.

„Ich könnte die ganze Nacht so durchfahren“, sagte Martina, als ich am Kreuz Nürnberg/Fürth auf die B 8 wechselte. Das Licht hatte sich automatisch eingeschaltet, und am Himmel verblasste das Grünorangegelb, während die Farben der Ampeln und Leuchtreklamen an Intensität gewannen.

 

~

Die halb volle Flasche Wein nahm ich mit nach oben, weil Martina behauptete, sie trinke nie allein, und wenn ich ab morgen weg sei, verkomme der gute Stoff.

Nick hatte sich gleich ins Bad und danach in sein Zimmer verzogen, und ich hatte den Eindruck, die Küsse, die mir Martina auf die linke und rechte Wange gab, seien eine Spur herzlicher als sonst. Vielleicht weil ich das mit Nicks Abitur gesagt hatte. Sie wünschte mir gute Fahrt und trug mir auf, ein Foto zu schicken, was ich versprach, aber wohl nicht einhalten würde, weil ich mein Handy normalerweise vergesse, solange es nicht klingelt.

 

~

Ich holte den großen Koffer vom Schrank und füllte ihn relativ wahllos mit zu viel von allem, T-Shirts, Hosen, Unterwäsche, alles in Dunkelblau, legte ein zweites Paar Schuhe dazu, mein Wasch- und Rasierzeug und trank nebenbei ein Glas Wein. Dann suchte ich CDs fürs Langsamfahren heraus und nahm nur italienische, De Gregori, Dalla, Testa, De André, sogar eine von Zucchero legte ich dazu, obwohl dem in meinen Ohren das stolze Understatement fehlt, das die anderen vier auszeichnet.

Dass italienische Musik flach sei, dachte ich schon lange nicht mehr, das war damals ein Missverständnis gewesen, weil wenig anderes mein Ohr erreicht hatte als Drupi, Tozzi, Nannini oder Celentano.

Ich schloss den Koffer, zündete mir eine Zigarette an und spürte, dass ich lächelte, weil mir meine Mutter einfiel, die auf ähnlich langen Reisen mit weniger als halb so viel Gepäck ausgekommen war. Und das als Frau, die wusste, dass üblicherweise aller Augen auf sie gerichtet sein würden. Sie hatte ein solches Geschick beim Kombinieren, dass ihr Koffer in zehn Minuten gepackt und sie immer gut angezogen war.

In diesem Moment wäre es mir recht gewesen, sie am nächsten Morgen abzuholen und in den Süden zu chauffieren. Sie hatte das Reisen mit mir genossen, irgendwann war es das Einzige geworden, worauf sie sich freute in ihrem immer gleichförmigeren und einsameren Leben.

Den Menschen, die ihr nicht wegstarben, gab sie selbst nach und nach den Laufpass, so als wolle sie ihr Leben ausleeren, um irgendwann mit leichtem Gepäck daraus zu verschwinden. Dabei war sie immer ein geselliger und kommunikativer Mensch gewesen, hatte sich wohlgefühlt mit anderen, sich gesonnt in deren Zuneigung und diese mit Freundlichkeit und Unterstützung vergolten, aber irgendwann waren die Männer tot und nur noch Frauen übrig geblieben, die ihr nachtrugen, dass ihre Gatten früher nicht die Augen von ihr gelassen hatten. Meine Mutter spürte das und löste sich.

Und bei jedem Besuch nötigte sie mir Bücher auf, die sie nicht mehr lesen würde, und kramte so lange in Schränken und Schubladen, bis sie irgendetwas, einen Aschenbecher aus Silber oder ein Kästchen aus Halbedelsteinen, gefunden hatte, das ich unbedingt mitnehmen sollte.

 

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Ich schlief schlecht und träumte von Papierstapeln, die nicht liegen bleiben wollten, sondern entweder auf einer schrägen Tischplatte abrutschten oder von Windböen im ganzen Raum verteilt wurden, von einem Kind, das in einer fremden Sprache flehentliche Appelle an mich zu richten schien, von einer Katze, die seelenruhig neben mir durch Grand Central in New York spazierte, und jedes Mal wachte ich kraftlos, angstvoll oder erschüttert auf, nur um festzustellen, dass es noch immer Nacht war.


2


Als irgendwo im Haus eine Tür knallte und gleich darauf im Hof jemand den Deckel einer Mülltonne zufallen ließ, war es kurz vor acht, und die Sonne schien ins Zimmer. Ein paar Minuten später hätten ihre Strahlen mein Gesicht erreicht und mich ohnehin geweckt. Ein Amselmännchen gab sein Bestes, um von einer stummen Zuhörerin in Betracht gezogen zu werden, und ich stand auf, öffnete die anderen Fenster in der Wohnung, stellte die Espressomaschine an und ging unter die Dusche.

 

~

Pünktlich um neun wartete ich mit drei anderen vor der Tür der Zulassungsstelle, und kurz vor zehn hatte ich die Nummernschilder anmontiert und packte die roten in den vorbereiteten Umschlag.

„Wir nehmen sonst immer die Initialen“, hatte die Frau mit skeptischem Blick auf meinen Ausweis gesagt, „aber zusammen mit …“

„Auf keinen Fall“, unterbrach ich sie, „da müsste ich die Stadt wechseln.“

Sie lächelte erleichtert und gab mir die Buchstabenkombination N-ZZ 1805, nachdem sie mir alles Gute zum Geburtstag gewünscht hatte.

Meinen Koffer und den Rucksack mit der Kapselmaschine, ohne die ich nicht mehr verreise, hatte ich schon im Kofferraum, also konnte ich, nachdem ich den Umschlag mit den Nummernschildern bei der Post losgeworden war, sofort in Richtung Süden aufbrechen.

 

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Den dichten Verkehr um München herum hatte ich schon kurz nach Mittag hinter mir, weil ich Joe Louis die linke Spur gezeigt und keinen Gedanken ans Musikhören verschwendet hatte.

Das holte ich nach, nachdem ich am Rasthof Irschenberg für einen Cappuccino und ein Sandwich angehalten hatte, ich stellte den Tempomaten auf hundertzwanzig und hörte das gemeinsame Live-Album von Dalla und De Gregori, schlängelte mich entspannt zwischen Lastwagen und Sprintern hindurch ins immer grauer werdende Wetter über den Alpen.

Ab Innsbruck regnete es, am Brenner schlich der Verkehr mit fünfzig dahin, und die Scheibenwischer schlugen so heftig wie vergeblich nach den dicken Wasserschleiern, durch die alles, was man sehen konnte, irreal und deformiert wirkte.

Ich näherte mich Bozen, als der Himmel wieder restlos blau war, den Tempomaten hatte ich kurz davor auf hundertdreißig eingestellt, und ich überlegte, ob ich von der Autobahn abfahren und an der Westseite des Gardasees nach einer Unterkunft für die Nacht suchen, mich von Riva nach Salò am Ufer entlanghangeln und meinen aufgegebenen Träumen von einem Domizil zwischen Zitronenbäumen nachhängen sollte, aber es war erst Nachmittag, viel zu früh, um schon den Schwung zu verlieren, also überließ ich mich der Magie des beständigen Vorankommens und dachte erst in der Nähe von Verona wieder daran, mein Tempo zu drosseln.

 

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Vor vierzehn Jahren war ich hier mit Bettina gestrandet. Wir hatten nach Venedig gewollt, aber der Jaguar, mein erster, war einfach stehen geblieben wie ein stures, schlecht gelauntes Muli und hatte, anstatt den Motor zu starten, nur ein spöttisches Husten von sich gegeben. Zum Glück geschah das auf einer Raststätte, und zum Glück schickte die Versicherung einen Abschleppwagen, der uns nach Verona brachte, den Jaguar in die Werkstatt und uns beide zu einer Autovermietung, wo wir einen Mercedes bekamen, mit dem wir unsere Reise fortsetzen konnten.

Das wollten wir an diesem Tag nicht mehr, deshalb suchten wir in der Stadt nach einem Hotel, und weil ich in dieser Zeit mit Drehbüchern für Fernsehkrimis eine Menge Geld verdiente, wählten wir das prächtigste, das wir fanden. Es hieß Gabbia d’Oro und lag um die Ecke der Piazza delle Erbe.

Ich war verliebt und wollte Bettina beeindrucken, spielte den Weltläufigen, der sich lässig unter reichen Leuten bewegt, und hoffte, sie damit von den Skrupeln, weil sie ihren Mann betrog, abzulenken. Sie war zweiunddreißig damals und führte eine Wochenendehe, weil sie in Bamberg beim Fränkischen Tag arbeitete und er in Marburg an der Universität.

 

~

Kennengelernt hatten wir uns in der Buchhandlung ihrer Schwester in Bamberg bei oder besser nach meiner Lesung dort. Die Buchhandlung war klein und konnte sich kein Hotel für mich leisten, am nächsten Tag musste ich weiter nach Kassel, und es war unsinnig, nachts nach Hause in die Gegenrichtung zu fahren, also sollte ich bei der Buchhändlerin übernachten. Die beiden Schwestern wohnten zusammen in einem Loft, einem langen Saal mit hohen Sprossenfenstern, einer von Bücherregalen flankierten Küchenzeile in der Mitte, davor Sofas und Sessel und jeweils an den Schmalseiten einem Bett für jede.

Sie hatten ein kaltes Abendessen vorbereitet mit Wein, Schinken und Melone, gegrilltem Gemüse, Oliven und Käse, wir waren zu fünft mit zwei Lehrlingen, und nachdem die sich verabschiedet hatten, die ersten beiden Flaschen geleert waren und schließlich auch noch der Strom ausfiel, saßen wir bei Kerzenlicht und redeten irgendwann über die Liebe.

Carmen, die Buchhändlerin, hatte einen Freund, von dem sie glaubte, dass er sie betrog. Er war Verlagsvertreter und die ganze Woche unterwegs, und sie wusste aus eigener Erfahrung, wie sein Charme auf den weiblichen Teil der Branche wirkte. Er weigerte sich, mit ihr zusammenzuziehen, beschwor aber mit großen Worten und teuren Geschenken seine Leidenschaft für sie.

„Willst du denn mit ihm zusammenziehen?“, fragte ich.

„Weiß ich nicht“, sagte sie, „aber ich weiß, dass ich jetzt dann irgendwann mal erwachsen werden will.“

„So erwachsen wie ich?“ Bettina hatte ein Lächeln in der Stimme, und weil ich sie fragend angesehen haben musste, hob sie die Hand, um mir ihren Ehering vor die Nase zu halten. „Männer sehen so was normalerweise nicht“, sagte sie.

„Du warst schon immer mein Vorbild“, sagte Carmen. Es klang ironisch, aber ich glaube, dass sie es ernst meinte. „Du hast alles richtig gemacht.“

„Ich habe gar nichts gemacht“, sagte Bettina nachdenklich, „es kam einfach so.“

Als ich fragte, wie man wissen könne, wer der Richtige sei, schwiegen sie eine Zeit lang, dann zuckte Carmen die Schultern, und Bettina sagte: „Man merkt es, wenn er vor einem steht.“

„Hast du eine Freundin?“, fragte Carmen nach einer Weile, vielleicht um die auf einmal entstandene Stille nicht zu lang werden zu lassen.

„Gerade wieder mal nicht“, sagte ich, und während ich den Rest aus der dritten Flasche in unsere Gläser verteilte, dachte ich, Carmen glaubt jetzt, ich bin so einer wie ihr Vertreter, und Bettina bedauert mich. Ich wollte nicht herausfinden, ob ich damit recht hatte, und war froh, als das Gespräch sich anderen Themen zuwandte.

Die Lesung und die anschließende Fragerunde waren sehr gut gelaufen, das Publikum begeistert, die Stimmung herzlich, der Laden übervoll gewesen, und ich schwebte noch auf dem weichen Luftkissen der Zuneigung, die ich erfahren hatte. Außerdem spürte ich, dass mich diese beiden Frauen mochten, keiner von uns wollte ins Bett gehen, als die Kerzen heruntergebrannt waren und wir im Dunkeln saßen. Das heißt, dunkel war es nicht, denn die ehemalige Spinnerei lag gegenüber einer Aral-Tankstelle, deren blaues Licht sich mit dem weißen der Straßenlaternen mischte und die Sprossen der Fenster auf dem grau gestrichenen Dielenboden nachzeichnete.

Nachdem wir eine vierte Flasche angebrochen, aber nicht mehr geleert hatten, rissen wir uns irgendwann voneinander los, um endlich zu schlafen. „Carmens Bett ist größer, du kriegst meins“, sagte Bettina, „ich hab es heute Mittag frisch bezogen.“

„Und wir beide kuscheln wie früher“, sagte Carmen.

„Mir wäre auch das Sofa recht“, bot ich an, aber erntete damit nur Kopfschütteln. Die beiden gingen gemeinsam ins Bad, um ihre Zähne zu putzen, und kamen zurück in langen schwarzen T-Shirts.

Ich bin eigentlich nachlässig, was abendliches Zähneputzen betrifft, aber ich folgte dem Beispiel meiner beiden Gastgeberinnen, um keinen schlechten Eindruck zu machen, und legte mich in Unterwäsche ins Bett. Zu Hause schlief ich immer nackt, aber das wollte ich hier nicht, weil es aufdringlich oder selbstgefällig wirken konnte.

Nachdem sie beide von ihrer Seite des Saals her „Schlaf gut, hoher Besuch“ und „träum was Schönes“, gesagt hatten, bat ich darum, falls ich schnarchen sollte, mit einem Schuh nach mir zu werfen, und versuchte einzuschlafen, aber es gelang mir nicht.

Der Saal war lang, vielleicht fünfzehn Meter, und neben meinem Bett stand ein etwa schulterhohes Regal mit Büchern, Puppen und einer kleinen Stereoanlage, das wie ein Paravent meine Schlafecke abschirmte, also hatte ich meinen privaten Bereich, aber wenn ich die Augen schloss, sah ich die beiden Frauen vor mir, dachte mir die schwarzen T-Shirts weg, dachte sie mir ins Bett, neben mich, vor mich, um mich und spitzte die Ohren, ob ich noch ein Kichern oder eine leise Unterhaltung mitbekäme.

Vermutlich träumt jeder Mann davon, einmal im Leben mit zwei Frauen zu schlafen, ich tat es jedenfalls in diesem Moment und wurde davon immer erregter und wacher. Ich ließ den Abend vor meinem inneren Auge Revue passieren, das nette und lustige Zusammensein mit den Lehrlingen und das zusehends intimer und vertrauter werdende Gespräch zu dritt, das Verschwinden der Farben, als der Strom ausgefallen war, das Kerzenlicht, in dem die beiden ohnehin schönen Frauen noch schöner geworden waren, die größere, brünette Bettina mit ihrem kinnlangen dichten Haar und die etwas kleinere, dunkelblonde Carmen mit dem Pferdeschwanz, der ihr eine Anmutung von Tatkraft und Pragmatismus verlieh, die Formen, die ich unter Bettinas knielangem hellroten Sommerkleid vermutete und die unter Carmens dunkelblauer Leinenhose und schräggestreiftem T-Shirt in Anthrazit und Grau.

Irgendwann dachte ich darüber nach, ins Bad zu schleichen und mich zu erlösen, aber ich wusste nicht, ob sie noch wach waren, und es wäre entsetzlich peinlich gewesen, wenn sie mich gehört und geahnt hätten, was vorging.

Ich weiß nicht, wie lange ich so dalag und der Stille lauschte, vielleicht eine halbe Stunde, vielleicht auch länger, bis ich irgendwann das Tapsen nackter Füße hörte und kurz darauf einen beweglichen Lichtschein aus der Mitte des Zimmers wahrnahm. Das leise Klirren eines Glases und das Plätschern von Flüssigkeit gleich danach ermutigten mich aufzustehen, meine Hose anzuziehen und mich zu Bettina zu gesellen, die am Tisch saß und eine kleine Taschenlampe auf eine Kopie des Zeit-Rätsels gerichtet hielt. Die beiden hatten einen ganzen Stapel von diesen Kopien, den ich vor Stunden vom Tisch auf eine Kommode gelegt hatte, um Platz für unser Essen zu machen. Bettina schenkte sich einen Schluck Wein ein, stellte die Flasche ab, hielt das Glas in der Hand zusammen mit einem Bleistift, der ihr ins Gesicht stechen würde, wenn sie es ansetzte.

„Hab ich dich geweckt?“, flüsterte sie.

„Nein. Ich bin noch zu aufgedreht.“

„Ich auch.“

„Sollen wir spazieren gehen?“

„Nein. Zu kalt.“

„Zeit-Rätsel lösen?“

„Dachte ich, aber ich hab doch keine Lust.“

„Was willst du dann machen?“

„Etwas, das ich morgen bereue.“

Eigentlich bin ich schüchtern und habe es noch nie gewagt, irgendeine Art von erstem Schritt zu unternehmen, aber jetzt streckte ich meine Hand in ihre Richtung – sie saß etwa einen Meter entfernt von mir –, und sie griff danach, fasste mich aber nicht an der Hand, sondern am Handgelenk, ich tat dasselbe, sodass wir einander hielten, als müsse einer von uns den anderen aus einem Abgrund in Sicherheit ziehen.

Eine Zeit lang saßen wir so, dann stand sie auf, flüsterte „leise“ und ging mit mir zum Bett. Das Tappen unserer nackten Füße war das einzige Geräusch, das wir dabei machten, die Dielen lagen fest wie ein Steinboden unter uns und gaben kein auch noch so winziges Knarren von sich.

Erst nachdem wir uns aufs Bett gesetzt hatten, küsste sie mich und fuhr mit den Händen unter mein T-Shirt. Ich strich mit meinen über ihre Arme, an ihren Seiten entlang abwärts bis zu den Hüften, so weit ich konnte an den Schenkeln entlang, über die Knie, die Beine hinab, bis ich zurückmusste, weil sich sonst unser Kuss gelöst hätte.

Ich war froh, meine Zähne vorher geputzt zu haben, und dachte, vielleicht war das nicht Manieren geschuldet gewesen, sondern der Hoffnung auf das, was jetzt geschah.

„Wir müssen sehr, sehr leise sein“, sagte sie dicht an meinem Ohr, als wir für einen Moment voneinander ließen, und sie zog mein T-Shirt über meinen Kopf, öffnete die Knöpfe an meiner Hose, zog sich dann ihr eigenes T-Shirt aus, und ich sah zum ersten Mal ihre Brüste im blauen Dämmerlicht, die vom darüberhuschenden weißen eines vorbeifahrenden Autos flüchtig gestreichelt wurden.

Als ich meine Hose losgeworden war, setzten wir uns, langsam, um kein Geräusch zu machen, einander gegenüber im Schneidersitz aufs Bett und ließen unsere Hände über alle erreichbaren Höhen, Tiefen und Ebenen gleiten.

Mit Händen und Mündern machten wir so lange weiter, bis sie in einem langen, geräuschlosen Orgasmus zitterte, und erst dann erlaubten wir uns das letzte Stück Nähe. Sie legte sich auf den Bauch und dirigierte mich in sich hinein, ich kniete auf ihr, rührte mich kaum, in der Hoffnung, mein Glück zu verlängern, aber es war viel zu schön, und ich kam schon nach wenigen Bewegungen. Sie hatte ihre Hand unter sich zwischen den Beinen, und es schien mir, als habe sie einen zweiten Orgasmus zusammen mit mir.

Halb aufeinander- und halb nebeneinanderliegend, die Gesichter einander zugewandt und immer noch konzentriert darauf, unseren Atem nicht zu laut werden zu lassen, lagen wir da, bis Bettina flüsterte: „Jetzt schlafen wir aber wirklich“, und aufstand, um zu ihrer Schwester ins Bett zu schlüpfen.

Bevor ich noch richtig begriff, dass ich so etwas noch nie erlebt hatte, nicht in längeren Beziehungen und erst recht nicht in Fällen wie diesem, beim ersten Zusammentreffen, wo im Allgemeinen Missverständnisse und Ungeschicklichkeiten dominieren, wurde ich tatsächlich müde und versank in einen vermutlich traumlosen, hoffentlich aber geräuschlosen Schlaf. Irgendwann ging das Licht wieder an, und der Kühlschrank brummte, das nahm ich wie im Traum wahr und hörte noch, dass jemand durch den Saal tappte und die Lichtschalter betätigte. Und jemand gab mir einen Kuss auf die Schulter. Dann war ich wieder weg.

 

~

Am nächsten Morgen hatte ich das Loft für mich allein, nur ein Zettel lag auf der Küchenzeile. Fühl Dich wie zu Hause, vergiss uns nicht, und fahr vorsichtig, Carmen und Bettina.

Daneben war ein Frühstück angerichtet, Brötchen, Käse, Wurst und Marmelade, ein Ei im Topf auf dem Herd und eine Tasse vor der feuerwehrroten Espressomaschine.

 

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Einen Monat später betraten wir unser Zimmer im Gabbia d’Oro und ließen uns, wie schon im Auto auf einem Waldweg in der Nähe des Chiemsees, ineinanderfallen, empfanden den Luxus und die Schönheit des Zimmers mit seinen brokatbezogenen Einbauschränken, gelben Wänden, Spiegeln und Kupferstichen, dem Marmorrelief im Badezimmer und gelben Rosen auf einem Beistelltisch als Aphrodisiakum, dessen wir nicht bedurften.

„Glaubst du an Schicksal?“, fragte ich sie später, als wir matt und satt nebeneinanderlagen, um den Echos unserer Lust hinterherzuhorchen.

„Da gibt’s doch nichts zu glauben. Ein Schicksal hat jeder.“

„Ich meine, Vorbestimmung. Ich meine, dass wir uns treffen mussten.“

„Ich bin auf jeden Fall damit einverstanden. Das Schicksal hat es gut gemeint mit uns. Ob es nun die Macht hatte, uns zusammenzubringen oder nicht, ist mir egal.“

„Ich will dich nie wieder loswerden“, sagte ich, als ich spürte, dass sie wieder an ihren Mann dachte und sich zu schämen begann.

Sie schwieg.

Um das Thema zu wechseln und das Ganze in einen weniger ernsthaften Ton zu überführen, sagte ich noch: „Weißt du, dass ich an dem Abend bei euch daran dachte, wir könnten vielleicht zu dritt ins Bett gehen?“

„Das haben wir fast getan“, sagte sie lächelnd, „Carmen hat es sich selbst gemacht, als wir dabei waren.“

Jetzt schwieg ich. Die Vorstellung verwirrte mich, und ich wusste, weiterer Leichtsinn wäre nicht angebracht.

„Aber wehe, sie erfährt, dass du das weißt“, sagte sie ernst. „Und wehe, du schlägst das jemals vor.“

 

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Ich tankte voll und trank einen Espresso Macchiato an derselben Raststätte, an der uns damals mein dunkelroter Jaguar im Stich gelassen hatte, und beschloss, Verona links liegen zu lassen, um noch ein Stück weiterzufahren.

Eigentlich hätte ich gern den kleinen Innenhof besucht, in dem Julias Balkon von Touristen belagert wird, und an der Wand des tunnelartigen Eingangs nach unserer Inschrift Phillip + Bettina geschaut – die meiner Eltern hatte meine Mutter mir vor Jahren zeigen wollen, aber sie war nicht mehr aufzufinden gewesen. Ich ließ es sein, ich wollte nicht in Nostalgie versinken, sondern ins Offene fahren. Nicht zuletzt deshalb hatte ich mir einen Ort ausgesucht, an dem ich nie zuvor gewesen war, der keinen Stempel hatte wie so viele andere der schönsten Städte, die ich Bettina voller Stolz zu Füßen gelegt hatte.

 

~

Meine Mutter hatte an ihrem sechzigsten Geburtstag gesagt, das Reisen mache ihr keine Freude mehr, es sei öde, ohne Begleitung in Hotels herumzusitzen, mit den Frauen, die sie kenne, wolle sie nicht unterwegs sein, die würden ihr nur noch auf die Nerven gehen, Männer gebe es keine, und alleine gereist sei sie jetzt lange genug.

„Und wenn ich mitkomme?“, fragte ich.

„Das ist was anderes. Dann könnte ich dir alles zeigen, was ich in den letzten zwanzig Jahren gesehen habe. Aber hast du nichts Besseres zu tun, als mit einer alten Frau herumzugondeln?“

„Nicht immer“, sagte ich, „und für eine alte Frau hält dich garantiert niemand. Mit dir kann ich angeben, wo immer wir aufschlagen.“

Sie lachte zwar, aber es stimmte. Noch immer war sie der Mittelpunkt des Interesses, auch wenn der erotisch grundierte Anteil daran abgenommen haben mochte, weil ihre inzwischen fast weißen Haare signalisierten, sie könne sich aus dem Spiel genommen haben. Sie blieb die Schönheit, die sie seit ihrer Jugend gewesen war, und so mancher mag sich gewünscht haben, an ihrer Seite etwas von der Bewunderung, die ihr galt, mitzunehmen.

Sie bestand darauf, alles zu bezahlen, es gelang mir nicht, sie umzustimmen, also konnte ich nur hier und da eine Tankquittung unterschlagen, bei Beträgen, die ich ausgelegt hatte, schummeln oder heimlich das Trinkgeld für Kellner oder Zimmermädchen erhöhen.

Anfangs hatte ich Mühe, mich auf sie einzustellen, weil sie fast ununterbrochen redete, sich selbst unterbrach, mich unterbrach, das Thema wechselte, so gut wie nie etwas vertiefen, einen Gegenstand oder Gedanken verstehen und untersuchen wollte, ihr genügte die bloße Erscheinung oder Erwähnung und dass sie selbst und ihr Mund in Bewegung waren. Sobald sich die Räder drehten, legte sie los. Später beobachtete ich das noch öfter bei anderen älteren Leuten. Einsame Menschen reden, sobald sie in Gesellschaft sind, was ihre Einsamkeit unweigerlich perpetuiert, denn die anderen Einsamen reden genauso drauflos.

Ich schaltete irgendwann ab und bekam nur noch Bruchstücke mit, weil ich mir angewöhnte, parallel zu denken.

Dabei hätte ich besser die Ohren gespitzt, denn später, nach ihrem Tod, wurde mir klar, dass ich aus ihrer Vergangenheit nur bruchstückhafte Einzelbilder und Szenen mitbekommen hatte. Eine missgünstige und feindselige große Schwester, die ihr keine Sekunde gefehlt hatte, nachdem sie mit einem GI nach Amerika ausgewandert war, und um die sie keine Sekunde getrauert hatte, als ein Greyhound-Bus mit geplatztem Vorderreifen sie irgendwo in den Wäldern von Maine mitsamt ihrem Auto von einer Brücke in die Tiefe schleuderte, eine Kinderfreundin im Lager Friedland, wo sie mit Mutter und Schwester nach der Flucht aus Ostpreußen ein Jahr lang gelebt hatte, die abweisenden Nachbarn in der schwäbischen Kleinstadt, in der sie dann gelandet waren, der ausgezehrte Vater, der erst, als sie acht Jahre alt war, aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt und ihr zeitlebens fremd geblieben war, der Theologiestudent aus der nahen Universitätsstadt, der sie aus dem Kleinstadtmief herausholte, ins Casino der französischen Garnison zum Essen ausführte und schließlich mein Vater wurde, Schulfreunde, Lehrerkollegen, Nachbarn in den verschiedensten Städten – ich hätte als Autor eigentlich aufmerksam sein müssen, mir Notizen machen, die Chance wahrnehmen, einen Blick in die Zeit vor meiner Geburt zu werfen, aber ich wurde regelmäßig konfus und müde von ihrem sprunghaften Redefluss und driftete ab.

Und weil sie für nichts außer Blumen, Stoffe und seltsamerweise die Grundrisse von Gebäuden Augen zu haben schien, versuchte ich extragenau hinzusehen, was mich noch zusätzlich hinderte, ihren Erzählungen zu folgen. Sie zeigte mir großartige Bauwerke, Bilder, Plätze und Landschaften und schien dabei die ganze Zeit nach innen zu schauen – wir standen in der Sixtina, mir tat das Genick weh vom ständigen Blick nach oben, und sie erzählte von einem alten Mann in Herrenberg, der vor ihr ausgespuckt hatte, weil er sie für eine Jüdin hielt, wir standen vor Sacré-Cœur, den Blick über ganz Paris vor uns, und sie sprach von ihrem Vater, der sie geschlagen hatte, weil sie von der Frau des Bäckers in einem Minirock gesehen worden war. Ganz oben in der Kuppel von Brunelleschi erzählte sie mir von Curt Bruckheimer, dem amerikanischen Offizier, der sie hier in Florenz, im Glauben, sie sei Italienerin, nach dem Weg gefragt hatte.

Das war auf unserer fünften gemeinsamen Reise. Bis dahin war diese Geschichte ein Tabu zwischen uns gewesen. Sie ahnte wohl, dass mir meine damalige Zögerlichkeit noch immer leidtat, und wollte mir nicht die Verantwortung dafür einreden, dass sie die einzige Gelegenheit, vom falschen Leben in ein vielleicht richtiges zu wechseln, nicht hatte wahrnehmen können.

Du kannst nichts dafür, sagte sie beim Abstieg durch den schmalen Gang zwischen den beiden Kuppeldächern, du warst ein Kind, und es war der falsche Zeitpunkt.

 

~

Bei Mantua im Berufsverkehr musste ich seit Langem wieder den linken Fuß zum Kuppeln benutzen – das Gleiten im sechsten Gang war vorbei. Ich nahm einen letzten Espresso auf dem nächsten Rasthof, staunte über das demonstrative Tempo des Barista, der mit herrischer Heiterkeit und viel Lärm die Tassen nur so auf die Theke schmiss und sich in der stummen Anerkennung der Lastwagenfahrer sonnte, die es ihm dankten, dass er ihre letzte Etappe bis Genua oder Livorno nicht unnötig hinauszögerte.

Draußen auf dem Parkplatz genoss ich den Geruch von Benzin, Kaffee, Rauch und Reifen und das Kommen und Gehen der Geschäftsleute, Pendler, Lkw-Fahrer und Handwerker. Wohnmobile oder SUVs mit Ferienreisenden waren kaum unterwegs, nur hier und da seltsam ähnliche ältere Paare in Jeans und T-Shirt, der Mann bärtig, die Frau bewusst grauhaarig, denen ich unterstellte, froh zu sein, dass keiner ihrer Bekannten sie jetzt mit dem Pappbecher in der Hand sehen konnte, dessen gedankenlose Verwendung sie zu Hause vielleicht mit sanfter Entrüstung quittiert hätten.

Ich beschloss, noch bis Parma zu fahren, holte mein iPad aus dem Auto und suchte zuerst nach einem Parkhaus, dessen Adresse ich ins Navi eingab, und dann nach einem Hotel, das ich mit derselben App gleich buchte. Es lag nur ein paar Schritte vom Parkhaus und der Kathedrale entfernt mitten in der Altstadt. Es war günstig und kam mir bekannt vor – vielleicht hatten meine Mutter und ich vor vielen Jahren dort schon einmal übernachtet. Mit Bettina war ich nie in der Stadt gewesen, es hatte immer ein glamouröseres Ziel gegeben.

 

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Im Parkhaus gab ich den Autoschlüssel ab, denn der Wagen würde platzsparend auf den Zentimeter genau von den Angestellten rangiert werden. Das kannte ich aus Venedig und Florenz. Ich nahm Waschzeug und Wäsche für eine Nacht, die ich schon zu Hause in einen Stoffbeutel gepackt hatte, legte das iPad dazu und ging zu Fuß zum Hotel Torino, wo ich mir ein bisschen Wasser ins Gesicht warf und das Zimmerfenster öffnete, obwohl ich damit die Hitze hereinließ. Die war mir lieber als die sterile Klimaanlagenluft, die mich empfangen hatte.

Obwohl ich Hunger hatte und von der langen Fahrt erschöpft war, schlenderte ich zuerst durch die Straßen mit ihrem abendlichen Trubel, schlug Haken, wenn mich irgendetwas anzog, ein Schaufenster, ein Brunnen, ein Gebäude am anderen Ende einer Gasse, bis ich vor der Kathedrale und dem Baptisterium landete und schließlich, ein paar Ecken weiter, an der Piazza Garibaldi.

Dort setzte ich mich an einen Restauranttisch mit Blick auf den Palazzo del Governatore und bestellte mir Penne all’arrabbiata und Salat. Ich fühlte mich einsam und verstand nicht, weshalb. Ich war es doch gewohnt, allein zu sein, ich mochte das, trauerte weder um meine Mutter noch um Bettina, suchte keine Geliebte mehr und war seit Jahren nicht mehr der Mensch, der sich in Gruppen wohlfühlt, dennoch fehlte mir jetzt jemand, der meine Freude und Müdigkeit, meinen Appetit und meine Lust auf das Glas Wein, das der Kellner vor mich hinstellte, teilen würde.

Es war ein sanft-melancholisches Mangelgefühl, kein Schmerz wie früher, als ich noch im Auftrag der Evolution unterwegs gewesen war. Vielleicht hatte ich die männlichen Wechseljahre schon hinter mir und die Lizenz zur Vermehrung meiner Gene eingebüßt. Nicht erst seit Bettina mich verlassen hatte, sah ich die Frauen mit anderen Augen als früher. Damals waren sie alle heilige Huren gewesen, ihre Anziehungskraft mythisch und verehrungswürdig, sie standen auf einem Sockel, von dem herab sie entschieden, wer ihnen zu Diensten sein durfte und wer nicht, und sie waren in ihrer Schonungs- und Schutzbedürftigkeit erhaben und sakrosankt.

Vermutlich parallel zur Abnahme bestimmter Hormone in meinem Körper hatte sich mein Blick verändert – jetzt sah ich ebenso kleinliche, gierige, machtlüsterne und egoistische Wesen wie die Männer, nur eben mit anderen Methoden und Instrumenten zum Erreichen ihrer Ziele. Und natürlich auch ebenso großzügige, hilfsbereite und rücksichtsvolle.

Dieser veränderte Blick war sicher eine Art Gewinn für meinen Geist, aber ein trauriger, wie immer, wenn eine Illusion sich in Luft auflöst und man sich klüger, aber ärmer fühlt.

 

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Ich hatte mein iPad dabei, aber ich nahm es nicht zur Hand, als der Kellner meinen Teller abräumte und gleich darauf ein zweites Glas Wein brachte. Eigentlich hatte ich ein paar Schlagzeilen überfliegen wollen – das tue ich regelmäßig, denn Plotideen kommen oft aus Zeitungsmeldungen, und ich würde mein Italienisch auffrischen, wenn ich in den Corriere della Sera oder Il Mattino schaute, aber das Treiben auf dem Platz gefiel mir so gut, es war ein bisschen wie nach Hause zu kommen. Mein wohlwollender Altherrenblick registrierte die Kinder mit ihren Fahrrädern und Skateboards, die Mädchen, die eingehakt auf und ab gingen, die Ehepaare, Jünglinge, die schwarzen Straßenhändler und den bärtigen Gitarristen, der von Wonderwall bis Losing my Religion alles spielte, was Pflicht war. Was sich da vor mir ausbreitete, war schön und tat mir gut: die verblassten Brauntöne der Hausfassaden, Klang, Geräusch und Lärm des Platzes und der Straße, die Gerüche aus dem Inneren des Restaurants und die adrette Kleidung der Menschen, die sich wie ich dem Frühsommerabend hingaben. Ich dachte einmal mehr, irgendwann werde ich in Italien leben. Irgendwo. Es ist hier überall so, dass mir das Herz aufgeht.

Eine junge Mutter, die aus dem Restaurant gekommen war und ein kleines Mädchen auf dem Arm hielt, stieß mit dem leeren Kinderwagen, den sie mit der freien Hand schob, an einen der Stühle neben mir, ich zog ihn zur Seite, damit sie Platz haben würde, sie lächelte und bedankte sich, ich schaute ihr noch eine Zeit lang hinterher, wie sie den Platz überquerte, und fand, sie wirkte stolz mit ihren dunkelblauen Jeans, hellrosa Turnschuhen und dem schwarzen, dünnen Top, stolz auf ihr Kind, auf sich selbst, auf ihr zukünftiges Glück, auf irgendwas, das ich nicht wissen oder erraten konnte, und ich hatte in diesem Moment das Gefühl, das müsse der Unterschied zwischen den Italienern und uns Deutschen sein. Wir waren nicht stolz. Wir waren allenfalls arrogant.

Als Kind war ich stolz auf meine Mutter gewesen und sie auf mich. Ganz blass erinnere ich mich sogar an Zeiten, in denen ich stolz auf meinen Vater gewesen war, wenn er vor der Gemeinde stand und alle ihm lauschten, aber dann war dieses Schweigen zwischen die beiden getreten, und sie hatten ein Kind in zwei Hälften aus mir gemacht, eine Hälfte für den Vater – das war die vernünftige, verlässliche und disziplinierte, und eine für die Mutter, die zärtlich, verspielt und verzagt sein durfte.

Auf unserer Reise die Loire entlang und durch die Bretagne hatte meine Mutter mir dieses Schweigen erklärt. Sie hatte ihm einen Seitensprung gestanden, mit einem Lehrerkollegen auf Klassenfahrt, hatte bereut, um Verzeihung gebeten und versprochen, nie wieder schwach zu werden, aber er hatte sie von da an nicht mehr angerührt, angesprochen oder gar angelächelt, hatte sich geweigert, überhaupt ein Gespräch darüber zuzulassen oder auch über eine Scheidung nachzudenken, geschweige denn, ihr zu vergeben.

Als ich später Die Blendung von Canetti las, sah ich vor meinem inneren Auge Kreidestriche auf dem Boden unserer Pfarrhauswohnung.

Weil sie beide nett zu mir waren und mich keiner von ihnen aktiv auf seine Seite zu ziehen versuchte, dauerte es eine Weile, bis ich innerlich ganz zum Soldaten meiner Mutter geworden war, der ihren Feind ablehnte und ignorierte. Noch als Zwölfjähriger war ich das gespaltene Kind. Nach und nach sah ich aber bei Freunden zu Hause, dass Männer ihre Frauen in den Arm nahmen, ihnen Blumen schenkten, sie zum Tanzen ausführten oder zum Lachen brachten – all das simulierten meine Eltern nur außerhalb des Hauses für die Gemeinde, und obwohl sich beide zu Hause gleich verhielten, sodass ich keinen als Ursache dieses Grabens zwischen ihnen erkennen konnte, gab ich schließlich meinem Vater die Schuld. Er war der Mann. Der Mann musste über seinen Schatten springen, was auch immer das für ein Schatten sein mochte.

 

~

Das Autobahndröhnen in meinem Kopf hatte sich verflüchtigt, die inzwischen leiseren oder zumindest seltener auftretenden Geräusche des Platzes drangen wieder klar zu mir durch. Acht Stunden Fahrt waren mit dem Jaguar eine wesentlich entspanntere Angelegenheit gewesen, der hatte seine Kraft nur übers Gaspedal demonstriert, während der Mini sich wie ein Jugendlicher auf der Kirmes auch akustisch produzierte.

Ich freute mich dennoch darauf, morgen wieder mit ihm loszuziehen, ihm die Apuanischen Alpen zu zeigen, die kleinen kurvigen Bergsträßchen und Dörfer, die heruntergekommenen Schnellstraßen zwischen Lucca, Pisa und Florenz und die Gassen und Winkel der Städte.

Ich war nicht der letzte Gast, aber die wenigen anderen um mich herum schienen mir nur noch wartende Familienangehörige derer zu sein, die im Restaurant arbeiteten. Die Piazza hatte sich geleert, und die Straßenlaternen zeichneten ein anderes Bild von Licht und Schatten, als ich das iPad, in dem ich doch noch ein bisschen herumgestöbert hatte, zur Seite legte und vom Kellner die Rechnung erbat.

Es war noch nicht elf, als ich im Hotel mein Zimmer aufschloss, eigentlich viel zu früh, um schlafen zu gehen, aber ich war so müde von der langen Fahrt und drei Gläsern Wein, dass ich nur noch alles von mir streifte und mich mit zufriedenem Seufzen unter das dünne Laken legte. Das Fenster ließ ich offen.

Thommie Bayer

Über Thommie Bayer

Biografie

Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm die Romane „Das Glück meiner Mutter“, „Das innere Ausland“ und der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman »Eine...

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