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„Was war Luther nur für ein Mensch?“

Donnerstag, 26. Oktober 2017 von Tilman Röhrig


Interview mit Tilman Röhrig zu „Die Flügel der Freiheit“

Martin Luther – was hat sie an der Figur gereizt?
Ich schreibe meine Romane über Eckpunkte und Scheidewege der europäisch-deutschen Geschichte. Warum sind wir als Deutsche und Europäer so geraten, wie wir uns jetzt darstellen? Dazu gehört natürlich auch der Umbruch vom Mittelalter zur Neuzeit. Und Luther – halb noch mittelalterlich verwurzelt, halb schon angeregt vom Feuer einer neuen Ordnung. Von ihm lernen, sich vor allem aber auch an ihm reiben, das war schon immer ein brennender Wunsch von mir.
 

Haben Sie sich für „Die Flügel der Freiheit“ zum ersten Mal intensiv mit ihm als Person auseinandergesetzt oder war er schon früher Gegenstand Ihrer Recherchen?
Die Person Luther hat so viele Licht- und Schattenseiten, dass ich sie nicht in einem einzigen Buch aufzeigen wollte. So teilte ich mir Luther ein.
Für meinen Roman ‚Riemenschneider’, diesen wunderbaren Künstler, mit dem ich dank der Schwärmerei meiner Mutter den Vornamen Tilman teile, habe ich den jungen Luther recherchiert. In vielen Kapiteln zeige ich in dem Roman Luthers Kindheit, die übermäßig strengen, ja hartherzigen Eltern bis hin zu seiner Zeit als Mönch und das große Aufbegehren zur Zeit des Thesenanschlags.
In den ‚Flügeln der Freiheit’ behandele ich die entscheidenden Jahre der Reformation. Luther muss sich entscheiden: Entweder die schon als junger Mönch erstrebte Veränderung radikal herbeiführen, wie es etliche seiner Anhängern verlangen und es auch schon versuchen, mit der Gefahr dabei alles zu verlieren? Erfolg und wohlmöglich sogar das Leben? Oder einen Pakt mit den Mächtigen eingehen, um seine Reformation zu retten, auch gegen Mitstreiter.
Während der Recherche verlor Martin Luther für mich mehr und mehr vom althergebrachten Glanz, bis er endgültig vom Sockel zu uns herabsteigen steigen musste. Eifersucht, Zorn, Ungerechtigkeit und Judenhass gehören auch zu seinen Eigenschaften.   
 

Wie steht es mit Thomas Müntzer, Luthers Gegenspieler, der auf den knapp 480 Seiten vor allem als radikal-fanatischer Aufwiegler von sich reden macht?
Thomas Müntzer war mir schon lange vorher geläufig. Wirklich kennengelernt aber habe ich diesen Prediger während der Recherche zu den ,Flügeln der Freiheit’.
Je mehr ich über Müntzer erfuhr, seine Texte studierte, sein Handeln kennenlernte, um so mehr reizte er meinen Zorn.
Müntzer ein Held des Volkes? Ein Vorkämpfer für die Gerechtigkeit? Oder gar ein Retter des kleinen Mannes?! Ich weiß, in vielen Teilen Deutschlands wurde Müntzer früher so oder so ähnlich in den Schulen und Universitäten gefeiert. Bei meinen Recherchen ergab sich ein anderes Bild. Müntzer war ein Theologe, kein Revolutionär, und er war ein großer Verführer, das ist ganz sicher. Angestachelt vom eigenen Macht- und Rachebedürfnis führte er mehr als siebentausend Männer an einem einzigen Tag in den Tod. Und er selbst floh schon nach dem ersten Schuss vom Schlachtfeld, verkroch sich ...
 

Wie haben Sie für diesen Roman recherchiert?
 Mit viel Mühe und Fleiß ... Auf den Punkt gebracht: Lesen, lesen und lesen, danach in den Fußnoten nach Quellenangaben suchen, dann die Quellen erforschen bis hin zu den Urquellen, also Handschriften oder den ersten Drucklegungen. Diese finde ich dann in Museen, Archiven und Bibliotheken. Fachleute befragen. Das dauert oft mehr als ein Jahr.
 

Greifen Sie auf filmisches Material zurück?
 Eigentlich nicht. Ich sehe mir zwar gerne Filme über die Zeit meiner Handlung an. Keinesfalls aber, um historische Fakten zu erfahren. Nein, mich interessieren die Kostüme, denn diese Kleidungsstücke sind meist sorgfältig recherchiert und der Zeit nachempfunden.
 

Sind Sie an die Schauplätz des Romans gereist?
Natürlich reise ich zu den Schauplätzen. Ich muss Landschaften, Orte und Gebäude des Geschehens möglichst genau erleben. Wie oft prüfe ich zum Beispiel Wege von Haus zu Haus oder Straßen von Stadttor zu Stadttor auf ihre Länge, um Handlung oder Gespräche dem anzupassen.
 

Um den Leser so richtig in die Atmosphäre vergangener Zeiten eintauchen zu lassen, schrecken Sie nicht davor zurück, Ihren Figuren derbe Ausdrücke in den Mund zu legen – welchen Reiz haben Luthers Sprache und Zeit für Sie? 
Auch die Sprache malt ein Bild von uns Menschen. Bei Luther faszinierte mich die Zwiespältigkeit in ihm. Auf der einen Seite beschenkt er uns mit dem wunderbaren, bildhaften Deutsch in seiner Bibelübertragung, und kaum befällt ihn der Zorn, so kommen Unflat und schamloser Dreck aus seinem Maul, so würde Luther seine eigene Ausdrucksweise kommentieren.
Um zu schreiben, muss ich in den Alltag der Zeit eintauchen, muss erahnen, wie meine Figuren gefühlt, gedacht und gelebt haben. Was haben sie gegessen, was gab es für Musik, wie haben sie zur Nacht gebetet? Wie feierten sie, wie sahen ihre Wohnungen aus? - Luther soll sehr unordentlich, ja unsauber gewesen sein, aber er war ein leidenschaftlicher Sänger und Musiker, der gern Brathering mit kaltem Erbsbrei und Senfsoße aß. Ich will wissen, welches Wetter gab es, wie sahen die Straßen damals aus, wie roch es da? Nur so kann ich die Leser mitnehmen in die andere Zeit.
 

Katharina von Bora, Ottilie von Gersen – wie wichtig sind die Frauenfiguren in „Die Flügel der Freiheit“?
Als Katharina nach ihrer Flucht aus dem Kloster zum ersten Mal Martin Luther begegnete, sagte sie: „Schade. Er ist auch nur ein Mensch.“
Auch Ottilie floh aus dem Kloster. Sie kam zu Thomas Müntzer, und fragt sich nach der ersten für sie so peinlichen Begegnung mit ihm: „Ob alle Männer so sind?“
Diese beiden Frauen und nicht zu vergessen auch die dritte, Dorothea, sie sind das Salz des Romans. In ihnen wächst Widerstand gegen Althergebrachtes, sie wagen es Regeln zu brechen.
Männer machen Geschichte, aber sie, die Frauen müssen oft diese Geschichte tragen und ertragen.
 

Können Sie uns schon verraten, auf welches Thema sich Ihre Leser als nächstes freuen dürfen?
Da gab es zwei Freunde, die Geschichte gemacht haben, beinah die halbe Welt verändert haben. Der eine in Trier geboren, der andere in Wuppertal. An ihnen beweist sich, dass der Wegweiser nicht den Weg geht, den er zeigt. Und über den einen, den aus Wuppertal, der auch noch mein entfernter Vorfahre ist, über ihn schreibe ich den Roman, natürlich ohne den anderen dabei zu vernachlässigen. Erraten Sie es? Richtig: Friedrich Engels und Karl Marx.

geboren 1945, lebt in der Nähe von Köln. Der ausgebildete Schauspieler ist seit über vier Jahrzehnten als freier Schriftsteller tätig. Die größten Erfolge brachten ihm seine historischen Romane, die allesamt Bestseller und vielfach übersetzt wurden. Für sein literarisches Werk erhielt der Autor, dessen lebendige Lesungen begeistern, zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Großen Rheinischen Kulturpreis. 

...fühlt der Wahrheit auf den Zahn

„Abgesehen vom Studium theologischer und politischer Problematik galt es für mich auch den so leicht daher geschrieben historischen Abläufen auf den Grund zu gehen. Natürlich: Katharina von Bora ist mit anderen Nonnen aus dem Kloster geflohen.

Aber wie haben die jungen Frauen die gefahrvolle Flucht wirklich bewerkstelligt? Es gibt Theorien, doch keine hielt einer gründlichen Prüfung stand. Also musste ich mir mit Hilfe aller Quellen und Kenntnis der Örtlichkeit einen nachvollziehbaren Hergang erarbeiten. Auf keinen Fall saßen die Nonnen in leeren Heringsfässern ...“

...am Tatort

„Es liest sich nüchtern in den Quellen: Bei der Schlacht nahe Frankenhausen starben bis zu achttausend Männer an einem Tag.  Dann war ich auf dem Schlachtberg, schritt die Maße des Bauernlagers ab, entdeckte Weg und Bachlauf ins Tal hinab. Dort floss knietief das Blut von den Erschlagenen. Oberhalb von Frankenhausen sah ich das einfache Straßenschild. Noch heute heißt  der Weg: Blutrinne. Da erst war das Elend und die Verzweiflung dieses furchtbaren Tages wirklich zu spüren.“

...dem Menschen auf der Spur

„Ich war bemüht, auch den Mensch Martin Luther mit seinen Fehlern und Vorzügen kennen zu lernen. Wie jeder von uns, so hatte er auch eine Lieblingsspeise: Brathering mit kaltem Erbsbrei! Man staune ... Ich hab’s probiert und mich nach der Mahlzeit wieder mal gefragt: Was war Luther nur für ein Mensch?“

Tilman Röhrig

Blick ins Buch
Die Flügel der FreiheitDie Flügel der Freiheit

Historischer Roman

Es hat geschneit. Auf den Wehrmauern liegt weißer Schimmer, als Barthel die Wartburg erreicht. Wie befürchtet überbringt er Luther die Nachricht, dass radikale Kräfte seine Reformation gefährden. Zurück in Wittenberg gelingt es Luther, seine Schriften und Predigten praktisch umzusetzen, während gleichzeitig auch seine Gegner erstarken. Vor allem sein einstiger Weggefährte Thomas Müntzer fordert den Aufstand gegen die weltliche Obrigkeit und bringt damit zahlreiche Menschen in Gefahr. Als sich die Lage mehr und mehr zuspitzt, beschließt Luther, den Kampf gegen Müntzer aufzunehmen …

1

Und er ließ einen langen Furz. „Weiche, Satan“, flehte er, „so fahre aus mir!“ Angstvoll wagte sich Martin Luther neben seinem Schreibpult wieder aufzurichten. Nur ein Moment der Erleichterung. Dann eckte und riss der übermächtige Peiniger weiter gegen die Innenwände des Bauches. „Oh großer Gott, hilf!“

Er presste beide Hände an den Leib, versuchte gegen die Welle der Qual zu atmen. Endlich ließ der Schmerz etwas nach. Schweiß sickerte ihm von den Schläfen in den Bart. Martin wischte über die Augen, rückte das Blatt auf der Unterlage gerade und vertiefte sich wieder in die Korrektur seiner Übersetzung. „… Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem Heiligen Geist … Oh hilf!“ Martin unterbrach die Lektüre, mühsam ging er die wenigen Schritte durch seine Studierstube zum Fenster.

Auf dem Sims stand der Krug mit angedickter Milch. In Klumpen rutschte die weiße Masse in den Becher. „Trinkt davon“, hatte Burghauptmann Hans von Berlepsch ihn ermuntert, „Sauermilch löst.“ Seit Martin Luther hier auf der Wartburg inkognito als Junker Jörg auf kurfürstlichen Befehl in Schutzhaft gehalten wurde, war der Ritter sein Wächter, Beschützer und einziger Gesprächspartner: bedächtig, fürsorglich und der evangelischen Sache aufgeschlossen.

Martin schluckte von der Dickmilch. Der Geschmack verursachte Ekel. Nur halb vermochte er den Becher zu leeren. „Oh Hans! Wenn ich nicht wüsste, dass du es gut mit mir meinst …“ Er kehrte zum Sessel zurück, schwer ließ er sich nieder. „Es ist erneut eine Prüfung. Satan nutzt seine heimtückischen Waffen gegen mich.“

Mit einem Seufzer konzentrierte er sich auf den Brief des Paulus an die Römer. „… Verstöre nicht um der Speise willen Gottes Werk … Es ist besser, du essest kein Fleisch und trinkest keinen Wein …“ Er las, bald schon griff er nach der Feder, glättete einen Versanfang, sprach leise vor sich hin, hörte auf den Klang und glättete erneut. „Aber der Gott des Friedens zertrete den Satan unter euren Füßen …“ Kaum kam ihm der Name des Versuchers über die Lippen, wurde er zum Ruf nach innen. Der Angriff bäumte Martin hoch. Sein Klagestöhnen mündete in einen Wutschrei: „Gift!“ Er stieß den Sessel nach hinten, war am Fenstersims. Mit dem Milchkrug in der Hand stürzte er zur Tür, riss sie auf. „Hans!“, schrie er die schmale Außentreppe hinunter: „Zeige dich!“ Gleichzeitig schwang er das Gefäß, schleuderte es hinab. Ein harter Aufprall, der Ton zerplatzte und dicklich weiße Masse ergoss sich zäh über die Stufen. „Hans!“

Unten trat Ritter von Berlepsch aus der Wohnung, blickte zu seinem Gast hoch, sah die besudelte Stiege und rieb sich das Kinn. „Aber, Herr?“

„Nicht Herr. Hier steht der Prophet Elias und fährt gleich mit Feuer über Euch. Was habt Ihr mir angetan?“

„Ich verstehe nicht …“ Eine dunkle Stimme, bedächtig langsam, zu langsam.

„Diese vergorene Milch sollte mir Linderung verschaffen. Das Gegenteil hat sie bewirkt.“ Martin drohte mit der Faust. „Satan hat mich wieder im Hintern geschlagen. Oh verflucht! Er verklemmt mit kantigen Erzklumpen mein Gedärm. Und jetzt zergärt diese Milch auch noch meinen Magen, dass ich sie bald ausspucken muss.“

„Aber meine Gemahlin hat mir dieses Mittel als vorzüglich …“ Wie stets behielt Berlepsch den Rest des Satzes für sich und rief nach ihr. Wenig später trat Frau Anne mit dem kleinen Sohn auf dem Arm nach draußen. „Liebste, du sagtest, Dickmilch wird unserm Junker Jörg helfen, ich solle …“

„Nicht so, mein Guter.“ Die Hausfrau schüttelte den Kopf. „Du hast es verwechselt. Erst nach dem Schei…“, sie stockte, blickte zur drohenden Gestalt hoch auf der Stiege, „wollte sagen: Erst nach der Entleerung sollte die Dickmilch helfen das Gedärm zu pflegen.“ Sie wandte sich an ihren Gatten. „Öl. Ich hatte dir Öl hingestellt. Ein halber Becher gleich am Morgen sollte endlich die Erlösung bringen.“

Martin Luther streckte den Arm, deutete über die Burgmauer hinweg weit über Eisenach und die Wälder Thüringens. „Ich muss nach Erfurt, dort wird mir geholfen.“ Mit Schwung wandte er sich ab und verschwand in seiner Studierstube.

„Bei allen Heiligen …“ Der Burghauptmann faltete die Hände. „Nicht schon wieder. Gib mir das Öl, Frau! Ich muss …“


Die Fäuste auf die Lehnen des Holzsessels gestemmt, empfing Martin seinen Wächter. „In diesem Zustand kann ich nicht arbeiten. Auch an Schlaf ist nicht zu denken. Wie soll ich das Neue Testament in schönes Deutsch fassen, wenn ich bei jedem zweiten Atemzug an den verhärteten Unflat in mir erinnert werde?“

„Bitte verzeiht mir die Milch.“ Berlepsch stellte das Ölfässchen auf den Fenstersims. „Das hier wird schnellen Erfolg bringen. Ganz sicher. Weil meine …“

„Keine Kur mehr. Ich will nach Erfurt. Dort gibt es Doktoren mit Verstand.“

Berlepsch verschränkte die Hände hinter dem Rücken, leicht hob er die Stimme: „Bitte versteht, ich kann Euch nicht gehen lassen. Einmal habt Ihr mich übertölpelt. Was Anfang Dezember geschah, wird sich nicht wiederholen …“

Vor knapp zwei Monaten war sein Gast unter dem Vorwand auszureiten, einfach weitergeritten bis nach Wittenberg, hatte dort unerkannt als Junker Jörg mit Bart und vollem Haar, mit umgehängtem Schwert und ritterlichem Wams nach dem Wachsen seiner Reformation geschaut, war bei Freund Amsdorf drei Tage untergeschlüpft und dann wieder nach Eisenach auf die Wartburg zurückgekehrt. „Mit Verlaub, damals habt Ihr mein Vertrauen missbraucht. Ich bin für Eure Sicherheit …“

„Nicht missbraucht“, trotz der Übelkeit bemühte Martin ein Lächeln, „es gibt Zwänge, die mich nach Wittenberg zurückziehen.“

Als drohe erneut Gefahr, verstellte von Berlepsch mit breiter Gestalt den Ausgang. „Ihr seid der wichtigste Mann, der mir bisher von seiner kurfürstlichen Durchlaucht anvertraut wurde. Auch all unsere Gespräche … Und ich gestehe, dass ich stolz darauf bin. Aber Ihr seid auch mein Gefangener. Und deshalb …“

Martin hob den Sessel an und stellte ihn mit Wucht zurück. „In dieser Einsamkeit bin ich tausend Teufeln vorgeworfen. Ich falle von einer Not in die andere.“ Er stieß den Zeigefinger zur Decke: „Wenn Gott mich ruft, dann werde ich dieses Patmos verlassen.“

Der Zorn prallte an Hans von Berlepsch ab. „Nur wenn ich diesen Ruf schriftlich habe, von offizieller Stelle. Und deshalb, bitte bleibt und trinkt das Öl!“

„Ganz gleich, was Ihr aus mir gemacht habt.“ Der Gefangene zerrte am roten Wams, griff sich in den vollen Bart: „Junker Jörg. Aber trotz aller Tarnung bin und bleibe ich Luther, Dr. Martinus Luther.“

Der Burghauptmann nickte. „Den ich hoch verehre und dem ich gute Besserung wünsche.“ Er wandte sich zum Gehen, sagte halb über die Schulter: „Zwingt mich nicht, die Außentreppe wegzuschieben …“


2

Die Stute weigerte sich, blieb vor dem niedrigen Haufen aus Geröll und Gestrüpp stehen. „Sei nicht so faul.“ Barthel wendete das Pferd auf der Fahrstraße. In genügendem Abstand richtete er das Tier wieder auf das Hindernis aus. „Jetzt aber hopp!“ Leicht stieß er die Stiefel in die Flanken. Kein kraftvolles Nachvorn, gemächlich trabte die Braune bis zu den Steinen und weigerte sich erneut. Barthel hob die Fellkappe an, kratzte sich durchs rote Haar und stülpte sie zurück über die Ohren. Vor Kurzem war wohl drüben vom Steilhang des Wartbergs ein Erdrutsch abgegangen, Ausläufer hatten die Burgstraße erreicht. „Kein Wunder, bei dem Regen letzte Nacht.“ Er blickte nach oben. Auf Wehrmauern und Dächern der Wartburg lag weißer Schimmer. „Und da in der Höhe hat es sogar geschneit.“

Die Sperre war nicht übermäßig, aber Lisa weigerte sich. „Früher wären wir drüber weggeflogen.“ Als hätte die Stute verstanden, schüttelte sie den Kopf. „Ist schon recht.“ Der Neunzehnjährige strich ihr die Mähne, tätschelte den Hals und stieg aus dem Sattel. Mit wenigen Griffen räumte er Äste und Brocken beiseite, schaffte einen Durchgang. „Na komm, altes Mädchen! Bis rauf zur Burg ist es nicht mehr weit. Gehen wir den Rest zu Fuß.“ Ohne Sträuben folgte ihm die Stute, stupste ihn sogar hin und wieder mit den Nüstern gegen den Rücken.

Steiler wurde die Straße, auf dem letzten Stück überzog Reif das Pflaster. Nur noch vorsichtig, Schritt für Schritt, endlich gelangte Barthel mit der Stute vor das Torhaus. Die Brücke war heruntergelassen.

Aus dem dunklen Bogen löste sich ein Wächter, unter seinem offenen, dick gesteppten Schultermantel blinkte der Brustharnisch. „Was willst du?“ Die Augen rot unterlaufen, über den gedunsenen Nasenrücken zog sich ein Netz bläulicher Adern. „Wir erwarten niemand. Und bei dem Sauwetter schon gar nicht. Mach’s Maul auf!“

Barthel ballte die Hand hinter dem Rücken. Wieso fährt der mich so an? Ich hab noch kein Wort gesagt. Dieser thüringische Eisenklotz … Nein, bleib ruhig, befahl er sich, ganz ruhig, und öffnete langsam wieder die Faust. „Sehr freundlicher Empfang. Ich grüße zurück.“

„Arbeit gibt es nicht. Wir haben Leute genug.“ Der Wächter patschte mit der Linken gegen die Schwertscheide. „Wenn du was anderes willst, dann sag es mir, dem Walter.“

Barthel verschluckte den Fluch. „Ich komme von Wittenberg. Als Bote“, er deutete auf die Satteltaschen, „hab Briefe …“

„Wie heißt du?“, unterbrach ihn der Klotz.

„Bartholomäus Reiche aus Salza.“

„Kerl“, langsam wuchtete sich der Wächter auf ihn zu, „sagtest du nicht gerade, aus Wittenberg?“

Gegen Schwert und Rüstung war nichts auszurichten. Barthel wich bis zur Stute zurück und nahm die Fellmütze ab. „Beides stimmt. Hab Vater und Mutter in Salza, und Arbeit hab ich in Wittenberg. Von da komme ich“, tapfer reckte er das Kinn, „mit Briefen.“

„Her damit!“

Noch einen Schritt zurück. „Ich muss sie persönlich abliefern. Das ist mein Auftrag. Von Hand zu Hand sozusagen. An den Junker Jörg. Der ist doch hier? Oder?“

Die Linke raffte die Mantelhälfte über dem Schwertknauf. „Du bist kein Bote, du willst spionieren?“

„Nein. Wieso?“ Barthel tastete nach Lisas Halfter, drängte sein Pferd herum, als er den Fuß zum Steigbügel hob, zückte der Kerl das Schwert. „Halt! Wag dich nicht vom Fleck.“ Die Schwertspitze zielte auf den Hals. „Jetzt hast du dich verraten. Ein Spion.“

Der Mund wurde trocken. Kein böser Traum. Hart schlug das Herz. Dieser Wahnsinnige meinte es ernst. „So hör doch, ich … ich bin nur Bote“, stammelte Barthel. Das geschliffene Eisen wippte vor seiner Kehle. „Bin kein Spion. Warum auch?“

Da stieß der Wächter höhnische Grunzer aus. „Das sagen sie alle. Nein, Bursche, mich, Walter, kannst du nicht täuschen. Runter auf die Knie.“ Sein Opfer reagierte nicht. „Runter, sag ich!“

Ohne die Schwertspitze aus den Augen zu lassen, bog Barthel den Kopf zurück und sank langsam nieder.

„Walter!“ Eine scharfe Stimme vom Torhaus. „Was gibt es da?“

Über die Schulter rief der Wächter. „Ich hab einen, Herr! Einen Spion. Keine Angst, hab ihn sicher.“

Aus dem Torbogen trat Ritter von Berlepsch, den Pelzkragen hochgeschlagen, dicht gefolgt von einem zweiten Wachmann.

Schnellen Schritts kam der Burgvogt über die Fallbrücke. „Walter, nimm die Waffe runter!“

„Aber so ein Spion ist gefährlich.“

„Gehorche!“

Widerwilliges Knurren. Der Wächter zögerte, wollte die Beute nicht aus den Fängen lassen.

„Wird’s bald!“

Endlich folgte Walter dem Befehl, stieß das Schwert zurück in die Scheide.

Von Berlepsch wies in Richtung Torhaus. „Dahin mit dir“, befahl er wie einem Hund.

„Aber, Herr?“ Vorwurf und Kränkung zugleich. „Äußerste Wachsamkeit. Habt Ihr selbst befohlen. Und jetzt hab ich endlich einen erwischt.“

„Ich erkläre es dir später. Und nun geh auf deinen Posten!“ Berlepsch gab dem zweiten Wächter einen Wink, und beide zogen sich zurück.

„Dem Himmel sei Dank.“ Barthel erhob sich, betastete seinen Hals. „Das war knapp. Dachte schon, ich bin an Raubritter geraten.“

„Hüte deine Zunge“, warnte der Burghauptmann, „auch ich traue dir noch nicht.“

„Oje“, Barthel schlug mit der Fellkappe auf die Satteltasche. „Ich bringe Nachrichten aus Wittenberg.“

„So? Beiseite!“ Mit einem Handschlenker scheuchte Berlepsch ihn einige Schritte von der Stute weg. Kurz prüfte er Maul und Augen des Tieres, griff in die Mähne, betastete die Flanke. „Aus Wittenberg, sagst du? Das wundert mich. Der Gaul ist nicht lange gelaufen … Außerdem zu alt für den weiten Ritt …“

„Das kann ich erklären.“ Barthel knautschte die Mütze zwischen den Händen. „Bis nach Salza hab ich das Pferd von meinem Meister geritten …“ Dort bei seinen Eltern hatte er es mit der Stute getauscht. „Weil ich meine alte Lisa so lange nicht hatte. Da wollte ich ihr und mir ein Vergnügen machen … Herrgott, besser ich hätt sie zu Haus gelassen.“

Ritter von Berlepsch maß den kräftig gebauten Burschen von den Stiefeln über das Wollwams bis hinauf zu den wirren roten Haaren. „Du bringst Nachrichten?“

„So ist es. Für einen Junker Jörg. Der soll hier wohnen.“

Bei Erwähnung des Namens hob der Burgvogt die Brauen. „Wer schickt dich?“

„Der ehrenwerte Meister Lucas Cranach. Bei dem bin ich Geselle. Aber es sind auch von anderen Briefe dabei: von Herrn Melanchthon, von Herrn Amsdorf …“

„Genug, diese Namen genügen mir als Ausweis. Sei willkommen!“ Ritter von Berlepsch wandte sich zur Fallbrücke. „Erst bringst du deine Lisa zum Stall, dann stelle ich dich dem Junker vor.“

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