Dankesrede von Sten Nadolny zum Buchpreis Stiftung Ravensburger Verlag 2012
Ich freue mich über diesen sympathischen Buchpreis, der so eng mit einem ehrwürdigen alten Verlag und seiner guten, kinderfreundlichen Vergangenheit und Gegenwart zu tun hat. Ich danke der Stiftung und der Jury und freue mich speziell darüber, dass die Jury, die ja die Aufgabe hatte, einen „Familienroman“ zu prämieren, „Weitlings Sommerfrische“ als einen solchen erkannt hat, obwohl er ein ziemlich verkappter Familienroman ist!
Er unternimmt den Versuch, gegebene Familienverhältnisse zu überlisten und andere an deren Stelle zu setzen - durch Setzung eben, Autoren können das. Darin sind sie ein klein bisschen gottähnlich. In jeder anderen Hinsicht sind ihre Möglichkeiten eher begrenzt. Und jetzt zitiere ich Kurt Tucholsky: „Irgendeine Möglichkeit, sich der Familie zu entziehen, gibt es nicht.“ Mein alter Freund Theobald Tiger singt zwar: „Fang nie was mit Verwandtschaft an – denn das geht schief, denn das geht schief!“, aber diese Verse sind nur einer stupenden Lebensunkenntnis entsprungen. Man fängt ja gar nichts mit der Verwandtschaft an – die Verwandtschaft besorgt das ganz allein. Und wenn die ganze Welt zugrunde geht, so steht zu befürchten, dass dir im Jenseits ein holder Engel entgegenkommt, leise seinen Palmenwedel schwingt und spricht: „Sagen Sie mal – sind wir nicht miteinander verwandt –?“ Und eilends, erschreckt und im innersten Herzen gebrochen, enteilst du. Zur Hölle. Das hilft dir aber gar nichts. Denn da sitzen alle, alle die andern.«
Man sollte vielleicht den von Tucholsky erwähnten Theobald Tiger etwas ausführlicher zitieren, damit seine Abneigung wenigstens verständlich wird: „Fang nie was mit Verwandschaft an, denn das geht schief, denn das geht schief. Sieh lieber dir ne fremde Landschaft an, die Familie wird gleich so massiv. Denn so von Herzen hundsgemein kann auf der Welt kein Fremder sein. Fang nie was mit Verwandtschaft an, dann bist du wirklich glücklich dran.“Hinter Theobald Tiger verbirgt sich im übrigen niemand anderes als Kurt Tucholsky selbst. Beiden sollte aber nun widersprochen werden. Denn es muss nicht alles schiefgehen mit der Familie, sonst wären wir ja samt und sonders unrettbar Schiefgegangene. Richtig ist, dass wir aus Familien kommen und daran nichts ändern können.
Der Mensch ist kein Individuum aus eigener Kraft, er hat sich nicht selbst gezeugt, geboren und aufgezogen, er hat zwei Eltern, vier Großeltern, acht Urgroßeltern – wenn man es weit genug zurückverfolgt, ist er mit der Bevölkerung ganzer Kontinente verwandt.Vielleicht liegen im unausweichlichen Verwandtsein manche Übel begründet. In einem Menschen setzen sich zweifelhafte Charakterzüge seiner Vorfahren fort. Er übernimmt Ehrvorstellungen und Vorurteile aus der Steinzeit. Und wenn er dann auch noch selbst eine Familie gründet, stellt er deren Wohl über das von Staat und Gesellschaft, hält seine Kinder skrupellos von Tagesstätten fern, rafft Geld und hinterzieht Steuern, all das in der Annahme, dass die Seinen es dadurch einmal besser haben.Andererseits muss man sagen: Wir werden als Familienwesen ja manchmal auch bessere Menschen: Nur wer Liebe erfahren hat, kann auf die Idee kommen, sie an andere weiterzugeben. Und noch eines: In der Familie wird Hilflosigkeit erfahren – die eigene, die der Kinder, die der Alten. Wer das bei den Menschen erfahren hat, die ihm lieb sind, lässt wohl auch andere nicht im Stich, die er in einer vergleichbaren Lage sieht, vielleicht erkennt er solche Situationen auch einfach rascher. Und der egozentrische Standpunkt: „nach mir die Sintflut“ fällt wohl nicht ganz so leicht, wenn man Enkel hat.
Ich will jetzt aber keine Liste vorlesen - wenn ich für die Familie oder für die Gründung von Familien Reklame machen wollte, könnte sie recht lang werden. Allerdings, Tucholsky und der Wahrheit zuliebe müsste ich bei jedem Punkt vermerken: „Kann schiefgehen!“ Womit wir beim Konjunktiv wären: Hätte ich ein anderer, womöglich sogar besserer Mensch werden können, wenn dies und jenes geschehen, oder wenn dies und jenes nicht geschehen wäre?Wie wäre ich geworden, wenn mein Vater ein bisschen anders oder wenn meine Mutter gar nicht meine Mutter gewesen wäre?
Dass solche Fragen keine sichere Antworten finden können, vermindert nicht ihren Reiz im Leben und in den Geschichten. Die Sehnsucht des Menschen, ein anderer zu sein, wird stets auch zum Vergangenheitskonjunktiv: Wenn mir X nicht passiert wäre, dann hätte ich Y versuchen können und wäre heute mit großer Wahrscheinlichkeit einer von den Z-s, einer, den alle um sein Glück beneiden.Müßig sind solche Fragen nicht. Denn gerade wenn wir unserer Phantasie, diesem allzeit jungen Hund in uns, ein bisschen Auslauf erlauben, bequemen wir uns anschließend besser gelaunt zu der Weisheit, dass wir einiges im Leben nicht nachhaltig kontrollieren oder gar ändern können, auch nicht konnten, sondern nur hinnehmen und das Beste daraus machen. Genau dann wird uns wenigstens das, in der verbliebenen Zeit, einigermaßen gelingen.
Ich lese jetzt noch – erwartungsgemäß! – etwas aus meinem Buch vor, aus dem vertrackten und verspiegelten Familienroman also, der aber vielleicht eben dadurch ein bisschen sehender und sogar ein bisschen dankbarer machen könnte. So hoffe ich jedenfalls. Aus dem Konjunktiv wird Indikativ: Der Held, Wilhelm Weitling, findet ein anderes Leben nicht in der Phantasie, sondern, nach einem schwer erklärlichen Zwangsaufenthalt in seiner eigenen Jugend, in der Wirklichkeit nach dem Zurückkehren – er trägt immer noch den gleichen Namen, aber er ist ein anderer. Wer, das muss er noch herausfinden.
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